Lebende Legenden und Aufsteiger: Das Klavier-Festival Ruhr startet am 7. Mai in Bochum den Reigen seiner Konzerte

Eröffnet am 7. Mai das Klavier-Festival Ruhr in Bochum: Daniel Barenboim, hier bei einem Konzert des Festivals im Jahr 2014. Foto: Mark Wohlrab

Eröffnet am 7. Mai das Klavier-Festival Ruhr in Bochum: Daniel Barenboim, hier bei einem Konzert des Festivals im Jahr 2014. (Foto: Mark Wohlrab)

Gastautor Robert Unger über das bevorstehende Klavier-Festival Ruhr:

Drei Komponenten machen einen Star im klassischen Sinne aus: Erfolg, Kontinuität und Image. Kommen diese Elemente zusammen und reift eine Persönlichkeit mit einem lang andauernden Erfolg, spricht man von einer Legende. Solche will das Klavier-Festival Ruhr vorstellen, das am 7. Mai unter dem wenig spezifischen Motto „Living Legends“ und „Rising Stars“ startet.

Klassik und Jazz, Recitals, Liederabende, Kammer- und Orchesterkonzerte finden sich im außerordentlich vielfältigen Konzertangebot des Festivals, das vom Initiativkreis Ruhr gefördert wird. Das Klavier-Festival Ruhr 2019 rückt diesmal kein Land und keinen Komponisten in den Fokus, sondern richtet den Blick auf die Biografien seiner Künstler. So stellt es die Verbindungen zwischen den Generationen und zwischen Menschen verschiedener Herkunft her und schaut auch auf ein Weltbürgertum, das in der Musik wie im Leben seine Wurzeln kennt, aber seine Entfaltung jenseits zwischenstaatlicher Grenzen findet.

Das ausverkaufte Eröffnungskonzert am kommenden Dienstag, 7. Mai (im Anneliese Brost Musikforum Ruhr, Bochum), steht ungewollt exemplarisch für diese Verbindung. Ursprünglich sollte Menahem Pressler, einer der großen Pianisten unserer Zeit, das Festival eröffnen. Doch seine gegenwärtige gesundheitliche Verfassung lässt dies leider nicht zu. Daniel Barenboim übernimmt das Eröffnungskonzert und lässt es in Verbundenheit zu dem legendären Gründer des Beaux Arts Trios zu einer Hommage für seinen anwesenden Freund werden. Die Freundschaft geht zurück bis ins Jahr 1954, als der damals 31-jährige Menahem Pressler in Tel Aviv mit dem 12-jährigen Daniel Barenboim einen Duo-Abend gab.

Zum Glück noch keine Legende, sondern vitale Gegenwart: Krystian Zimerman kommt am 10. Mai in die Philharmonie Essen. Foto: Bartek Barczyk

Zum Glück noch keine Legende, sondern vitale Gegenwart: Krystian Zimerman kommt am 10. Mai in die Philharmonie Essen. (Foto: Bartek Barczyk)

Gleich in den ersten Tagen, am 10. Mai, spielt Krystian Zimerman eines seiner raren Konzerte in der Philharmonie Essen mit einem Brahms-Chopin-Programm. Mit Emanuel Ax im Anneliese Brost Musikforum Ruhr ist am 14. Mai eine weitere Klavier-Legende zu erleben. „Poetische Stimmungsbilder“ kreiert die Preisträgerin des Klavier-Festivals Ruhr 2018, Elena Bashkirova, mit Mozart, Dvořák und Bartok im Gustav-Lübcke-Museum Hamm am 19. Mai.

Im Konzerthaus Dortmund ist am 24. Mai mit Hélène Grimaud eine weitere angesehene Pianistin zu erleben. Nicht weniger aufregend werden wohl die Konzerte mit Größen wie Marc-André Hamelin am 5. Juni in Mülheim, Jean-Yves Thibaudet am 6. Juni in Wuppertal mit der deutschen Erstaufführung eines Orchesterwerks von Richard Dubugnon und dem Grandseigneur des Tastenspiels Grigory Sokolov in der Historische Stadthalle Wuppertal am 14. Juni. Evgeny Kissins Auftritt mit Beethoven-Sonaten am 3. Juli in der Essener Philharmonie ist so gut wie ausverkauft; auch die Konzerte von „Living Legends“ wie András Schiff am 2. Juli in Düsseldorf und Martha Argerich – mit dem Cellisten Mischa Maisky am 16. Juli in Essen – dürften das Publikum locken.

Till Hoffmann steht am Beginn seiner Karriere. Foto: Matthias Matthai

Till Hoffmann steht am Beginn seiner Karriere. (Foto: Matthias Matthai)

Die Nachwuchspianisten dieser Festival-Saison als Ausdruck des Mottos „Rising Stars“ zeigen die Vielfalt an Talenten und zugleich wohl den größeren Mut für ein breiteres Repertoire. So spielt der gebürtige Sizilianer Giuseppe Guarrera, der zugleich Stipendiat des Klavier-Festivals Ruhr 2018 ist, am 17. Juli im LEO Theater im Ibach-Haus in Schwelm selten aufgeführte Sonaten von Domenico Scarlatti sowie Werke von Ferruccio Busoni und Franz Liszt.

In den beiden Abo-Konzerten der Reihe „Die Besten der Besten“ stellen sich am 20. und 21. Juni im Haus Fuhr in Essen-Werden die Preisträger bedeutender internationaler Wettbewerbe, Changyong Shin und Nicolas Namoradze, mit ausgewählten Programmen vor. Sein Debüt beim Klavier-Festival Ruhr gibt auch der erst 23jährige Till Hoffmann am 15. Juni in Bottrop mit einem Programm, das über fünf Jahrhunderte reicht: von Bachs Englischer Suite Nr. 6 über Rachmaninow bis hin zu den so unterschiedlichen Variationszyklen von Brahms, Webern und dem jungen Jakob Raab, der in Karlsruhe bei Wolfgang Rihm Komposition studiert.

Das Festival vergibt auch regelmäßig Kompositionsaufträge. Rund 100 neue Werke wurden so in den letzten Jahren ur- und erstaufgeführt. Dieses Jahr steuert der Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr 2017, Philip Glass, ein neues Werk bei: Am 4. Juli erklingt im Salzlager des Zollvereins Essen die erste Klaviersonate des mittlerweile 82jährigen Amerikaners, gespielt von der mit der Musik Glass‘ seit Jahren vertrauten Pianistin Maki Namekawa.

In der Reihe der „Rising Stars“ finden sich auch Grenzgänger, die in den letzten Jahren immer wieder große Erfolge gefeiert haben, die aber ihren kontinuierlichen Willen zur Weiterentwicklung und ihre Beständigkeit noch unter Beweis stellen müssen. 2009 war Khatia Buniatishvili nur den Insidern der Klavierszene ein Begriff. Doch dann sprang sie für die erkrankte Kollegin Hélène Grimaud beim Klavier-Festival Ruhr ein und gab damit ihr Deutschland-Debüt. Es sollte der Startschuss für eine rasche Karriere sein. Heute – zehn Jahre später und bei ihrem 12. Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr am 4. Juni in der Philharmonie – gehört die Georgierin zu den aufregendsten Pianistinnen der Gegenwart. Im Konzert spielt sie ihren Paradekomponisten Franz Liszt.

Auch die Karriere von Joseph Moog ist schon lange mit dem Festival verbunden. Er ist bereits regelmäßiger Gast in großen Konzerthäusern etwa in Amsterdam, London und New York. Beim Klavier-Festival Ruhr ist der 31-Jährige bereits zum achten Mal zu erleben – in ununterbrochener Folge seit 2013. Seitdem hat er sich vom „Rising Star“ zu einem anerkannten Pianisten der jungen Generation entwickelt. Deshalb spielt er in diesem Jahr erstmals das Abschlusskonzert am 19. Juli in der Stadthalle Müllheim, für das er ein facettenreiches Programm zusammengestellt hat: mit Werken von Schubert, Brahms, Chopin und Ravel.

Eine frische Farbe in der JazzLine: Der 24jährige Tausendsassa Jacob Collier kommt nach Gelsenkirchen. Foto: Morgan Hill-Murphy

Eine frische Farbe in der JazzLine: Der 24jährige Jacob Collier kommt nach Gelsenkirchen. (Foto: Morgan Hill-Murphy)

Ebenso prominent besetzt ist die schon lange etablierte Jazz-Line. Till Brönner tritt mit seinen Partnern Jacob Karlzon und Dieter Ilg im Konzerthaus Dortmund am 5. Juli auf. Jacob Collier, der 24jährige Pianist, Sänger, Arrangeur und Komponist, den der englische Guardian einmal „Jazz’s new messiah“ nannte, hat in den letzten Jahren eine atemberaubende Karriere hingelegt. Sie begann 2011 mit selbstproduzierten YouTube-Clips, in denen er sämtliche Instrumente selbst spielte und sich per Multitrackingverfahren sogar in einen ganzen Chor verwandelte. Nun zeigt er sein Können am 8. Juli im Musiktheater im Revier.

Was wäre ein Klavier-Festival ohne die großen Klavierkonzerte? Der 1. Preisträger des Chopin-Wettbewerbes, Rafał Blechacz, präsentiert gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung des renommierten Dirigenten Christoph Eschenbach das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 24 von Wolfgang Amadeus Mozart. Das letzte Klavierkonzert von Mozart in B-Dur (KV 595) ist der Hauptprotagonist im Konzert mit Lars Vogt und der Neuen Philharmonie Westfalen in der Erich-Göpfert-Stadthalle in Unna am 9. Juli.

Leider fehlt in diesem Jahr eine gewisse Würze aus thematischen Bezügen. So hätte es einem Klavier-Festival gut angestanden, den 200. Geburtstag der Komponistin und damals legendären Klavierspielerin Clara Schumann nicht zu ignorieren.

Tickets sind telefonisch unter der Hotline (0221) 280 220 erhältlich oder können im Internet gebucht werden: www.klavierfestival.de

 




„Klassische“ Musik als europäisches Phänomen: Zum Abschluss des Klavier-Festivals Ruhr

Riesenerfolg für den Pianisten Igor Levit beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Felix Broede

Riesenerfolg für den Pianisten Igor Levit beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Felix Broede

Das mit dem „nordischen Ton“ ist so eine Sache: Das Klavier-Festival Ruhr baute rund um die 150. Geburtstage von Jean Sibelius (mehr) und Carl Nielsen (weniger) ein Programm, um die großen Meister Skandinaviens zu ehren. Verdienstvolle Konzerte verwiesen auf die hierzulande kaum bekannte lebendige Musikszene im 18. und 19. Jahrhundert, zu der etwa Ture Rangström oder Wilhelm Stenhammer gehörten. Musiker aus dem Norden wie Olli Mustonen und Ketil Haugsand waren zu Gast.

Aber im Endeffekt zeigte sich, wie die Wege der Musik doch einem gemeinsamen Zentrum zustreben, sich nationalen Grenzen und „Stilen“ verweigern. „Klassische“ Musik ist ein europäisches Phänomen – eine Erkenntnis, die all den nationalen Aberrationen trotzt: Musik hat immer Brücken gebaut, selbst in Zeiten schlimmsten Nationalismus‘ und kulturellen Chauvinismus‘. Wagner hat eben nicht recht, sondern Meyerbeer: Nicht aus dem wie auch immer gearteten „Nationalen“ kommt der innerste Quell von Kreativität, Originalität und Inspiration, sondern aus der lebendigen Verbindung von Völkern, Sprachräumen und Nationen.

Dem widerspricht auch nicht, dass es musikalische Charakteristika und Ausdrucksformen gibt, die sich mit bestimmten Landstrichen verbinden. Ein Ländler ist keine Polka – aber beide sind international geworden. Und die „Volksmusik“, die etwa Jean Sibelius, der schwedische Finne mit dem französischen Vornamen und dem deutschen Studium benutzt, hat ein „Volks“-Idiom, das man möglicherweise auch in Galizien oder der Schweiz wiederfinden könnte.

Mit dieser Aufnahme der letzten Klaviersonaten Beethovens gewann Igor Levit den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. Die Verleihung fand statt im Rahmen des Abschlusskonzerts. Coverabbildung: Sony Classical

Mit dieser Aufnahme der letzten Klaviersonaten Beethovens gewann Igor Levit den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. Die Verleihung fand statt im Rahmen des Abschlusskonzerts. Coverabbildung: Sony Classical

Insofern hat das Abschlusskonzert des Klavier-Festivals in der Essener Philharmonie bestätigt, dass der „Nordische Ton“ in einen europäischen Kontext gebettet ist. Carl Nielsen schrieb die eröffnende „Helios“-Ouvertüre in Griechenland; ihr Thema ist nicht etwa die Mitternachtssonne, sondern der Lauf des Sonnenwagens, den die griechische Mythengestalt Helios über das Firmament lenkt. Und das Aufdämmern der tiefen Streicher aus dem Nichts, der kraftvolle Einsatz der Hörner, das langsame Crescendo im Wellenspiel der Streicher ruft Erinnerungen an Wagners „Lohengrin“ wach – oder an E.T.A. Hoffmanns Oper „Aurora“.

Das WDR Sinfonieorchester war trotz der Feldherrnpose seines Dirigenten, des Finnen Hannu Lintu, noch etwas befangen im Klang. Hörner und Violinen mussten sich locker spielen, fanden dann aber in Edvard Griegs Klavierkonzert zu schwingender Freiheit. Die breite Einleitung des Adagios strömte gelassen und klangschön dahin; die träumerische Atmosphäre, getragen von den gedämpften Streichern, wurde nicht durchbrochen. Anders in den rhythmisch geprägten beiden letzten Sätzen: Da setzte Lintu schon einmal auf den Effekt eines scharf und präzise geschnittenen Tutti und ließ die Klangwogen über dem Pianisten zusammenschwappen.

Der Pianist war Igor Levit: Noch keine dreißig Jahre alt, gehört er zu den jungen Leuten in der Szene, die seit Jahren die schönsten Erwartungen nähren – und immer wieder übertreffen. Für Edvard Grieg zieht er erst einmal das Jackett aus: Am heißesten Tag des Jahres soll die Etiquette nichts beeinträchtigen, was der Musik dient.

Levit ist keiner, der etwas „zeigen“ müsste; er kann es sich leisten, den markanten Solo-Einstieg nicht narzisstisch zu zelebrieren, sondern selbstbewusst hinzustellen, um dann den kleinen Formen nachzuspüren, eine Arabeske nachsinnend statt spielerisch zu formulieren, die Momente Liszt’schen Glanzes zu verinnerlichen, ohne dem riesigen Crescendo hin zu den markigen a-Moll-Akkorden des Satzschlusses seine Wirkung zu nehmen.

Levit ist auch in den folgenden Sätzen ein Mann der leisen Töne, der klanglichen Delikatesse, der klugen dialogischen Balance mit dem Orchester. Sympathisch seine Zugabe, die „Peter Grimes Fantasy on themes from the opera by Benjamin Britten“ aus dem Jahr 1971 als Hommage an den im März verstorbenen schottischen Komponisten Ronald Stevenson, dem sich Levit sehr verbunden fühlt.

Nochmal der nordische Ton, diesmal gefasst in Sibelius‘ Zweiter. Man fragt sich zunächst, warum es wieder einmal die populärste seiner sieben Sinfonien sein musste, hatte das Konzert doch schon mit Griegs Klavierkonzert den offenbar unverzichtbaren „Reißer“. Dann fragt man sich, warum Hannu Lintu trotz seines akkuraten Schlags manche Kanten weichzeichnet, während er die majestätischen Ausbrüche und die fahlen Holzbläser-Episoden richtig spektakulär ausspielen lässt. Die Frage nach der Folklore verweist auf die Orgelpunkte und Liegetöne, die man auch in anderen als den nordischen Traditionen findet.

Und wenn missgünstige, koboldige Bläser eine warme Dvořák-Idylle stören, könnte man sich auch in Böhmen wähnen. Dort, wo Gustav Mahler seine Wurzeln hat, dessen zerrissene Sinfonik die episodenhafte Materialverarbeitung und die Abbruchmomente bei Sibelius vorausahnen lassen. Das WDR Sinfonieorchester gibt sein Bestes, ob in den fantastisch ausgehörten Klangfarben der Holzbläser oder in den Momenten des Messingglanzes, ob in der Transparenz der Balance der Gruppen oder im Kontrast abrupter Brüche und kantabel entwickelter Bögen.

Jahrzehntelang verbunden: Martha Argerich und Misha Maisky

Tags zuvor entzückte wieder Martha Argerich ihre zahlreichen Fans in Essen, diesmal im Bunde mit dem Cellisten Misha Maisky und einem nicht-nordischen, erst kurz vor dem Konzert veröffentlichten Programm. Beethovens Variationen über „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ aus Mozarts „Zauberflöte“ sind ein hübsches Einspiel-Stück’l. Die sieben Veränderungen des poetischen Themas zeugen davon, wie zwei Musiker im Lauf eines jahrzehntelangen Zusammenwirkens wie selbstverständlich aufeinander eingehen, sich in Nuancen abstimmen, aber auch einmal – wie ein altes Ehepaar – dem Anderen ins Wort fallen oder einfach über ihn weggehen.

Misha Maisky und Martha Argerich nehmen den Beifall entgegen. Foto: Peter Wieler / KFR

Misha Maisky und Martha Argerich nehmen den Beifall entgegen. Foto: Peter Wieler / KFR

Argerich zeigte ihre weichen Läufe, ihren diskret perlenden Ton, ihr elegisches Cantabile. Maisky räumte ihr chevaleresk elegante Vortritte ein, bemühte sich um einen noblen, zurückhaltenden Ton. Die folgende Schostakowitsch-Sonate d-Moll (op.40) wirkte manchmal ein wenig unbekümmert dahingespielt – und Martha Argerich erschrak auch mal neckisch, wenn sie sich vergriffen hat. Bei solchen Musikern wäre freilich selbst ein Spielen „prima vista“ aufregender als bei anderen wochenlang geübtes Kunsthandwerk. Da muss nichts mehr bewiesen werden: Der diskrete Klavierton in seinen expressiven Qualitäten nicht, der dicht-gesangliche Klang des Cello auch nicht.

Das zweite Allegro der Sonate beschwört in seinen wild-perkussiven Elementen auch einen „Volkston“, aber Schostakowitsch lässt Ironie mitschwingen – wie im vierten Satz, wo er eine Reihe von Final-Manierismen auf die Schippe nimmt. Die bedeutende Violinsonate César Francks – hier in einer Fassung für Cello – wollte trotz der Kontraste zwischen Lyrizismen und gesteigerten Erregungszuständen nicht recht für sich einnehmen: Maisky fand nicht zu einem gelösten, freien Ton; er verharrte in heiserer Anstrengung zumal in der Höhe. Argerich spielte wie auf einer Zauberharfe aus Glas und Elfenbein. Aber beides wollte sich nicht zu einem organischen Ganzen verbinden, das die Aufmerksamkeit hätte fesseln können. Jubel und drei Zugaben.

 

 




25 Jahre Klavier-Festival Ruhr: „Man muss die Dinge zu Ende denken“

Alle wollen bei der Geburtstagsparty dabei sein: Das Medieninteresse war groß bei der Programmvorstellung des diesjährigen Klavier-Festivals Ruhr, das in diesem Sommer seinen 25 Geburtstag feiert. Vom 4. Mai bis 19. Juli ist die internationale Pianisten-Elite wieder im Ruhrgebiet und angrenzenden Landesteilen zu Gast.

„Let’s go to the opera“ heißt das Motto des Jubiläumsprogramms, das damit den 200. Geburtstagen von Richard Wagner und Giuseppe Verdi Reverenz erweist. So wird der Einfluss beider Opernkomponisten auf die Welt der Klaviertranskriptionen und -paraphrasen im 19. und 20. Jahrhundert spürbar. Sein Silberjubiläum feiert das Festival u.a. mit Wiedereinladungen an große Pianisten unserer Zeit, darunter Martha Argerich, Evgeny Kissin, Maria Joao Pires, Murray Perahia, Krystian Zimerman und Marc-André Hamelin, der in diesem Jahr mit dem Preis des Klavier-Festivals Ruhr geehrt wird. Auch die Geiger Gidon Kremer und Frank Peter Zimmermann kehren mit ihren Klavierpartnern zum Festival zurück.

Eröffnet wird die Jubiläumsausgabe des Festivals am 4. Mai um 20 Uhr mit Tschaikowskys 1. Klavierkonzert b-Moll in der Bochumer Jahrhunderthalle, gespielt von dem 1987 im russischen Gorki geborenen Pianisten Igor Levit. Begleitet wird Levit vom WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung von Krzysztof Urbánski, das im Anschluss „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgsky interpretiert. Unter www.klavierfestival.de findet sich das umfangreiche Gesamtprogramm des knapp dreimonatigen Klaviersommers.

„Man muss die Dinge zu Ende denken“, zitiert Festivalleiter Franz Xaver Ohnesorg einen der damaligen Gründungsväter vom Initiativkreise Ruhrgebiet, Alfred Herrhausen. 1988 lernte der Intendant den Wirtschaftsführer auf dem Geburtstag eines gemeinsamen Freundes kennen, erzählt Ohnesorg bei der Pressekonferenz. Nun, im 25. Jahr des anfangs unter dem Titel „Bochumer Klaviersommer“ gestarteten Pianistentreffens hat Traudl Herrhausen die Schirmherrschaft übernommen. Seit zwei Jahren wird das Klavierfestival als eigene Stiftung geführt.

Das AufTakt-Projekt, Foto: Frank Mohn

Das AufTakt-Projekt, Foto: Frank Mohn

„Den Gründungsvätern aus der Wirtschaft kam es darauf an, einen kulturellen Akzent im Ruhrgebiet zu setzen“, so Traudl Herrhausen. Das hat das Festival schon lange geschafft. Inzwischen gilt es, neben dem Konzertpublikum auch den Nachwuchs nachhaltig für Musik zu begeistern. Was 2006 mit der „Little Piano School“ für 2-6jährige Kinder begonnen hat, hat sich unter dem Stichwort „Education Programme“ als fester Bestandteil auf dem Gebiet der kulturellen Bildung etabliert.

Damit Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft kreative musikalische Erfahrungen sammeln können, bringen die „Discovery Projects“ Förderschüler, Grundschüler und Gymnasiasten in Duisburg Marxloh zusammen. In diesem Jahr geht es um das Thema „Hochzeit“, passend dazu stehen „Les Noces“ von Igor Strawinsky im Mittelpunkt der Workshop-Arbeit. Mehr als 50 türkische Brautmodengeschäfte reihen sich auf der Weseler Straße in Duisburg Marxloh aneinander. „Viele Kinder sind regelmäßig zu Familienhochzeiten eingeladen“, berichtet der Leiter der Education-Programme, Tobias Bleek. „So können Hochzeitsrituale der unterschiedlichen Herkunftskulturen in die Choreographie einfließen.“

Der bildungsbiographisch entscheidende Übergang zwischen Kindergarten und Grundschule steht im Zentrum eines Pilotprojekts, das das Klavierfestival Ruhr in Zusammenarbeit mit der Stiftung Mercator entwickelt. Im „KlavierGarten“ des Klavierfestivals erleben Kindergartenkinder oft ihre erste musische Bildung. Um dieses Potential auch in der Grundschule weiter zu entwickeln, vernetzt das Projekt Kindertagesstätten und Grundschulen. Eine mit klassischer Musik illustrierte Version von „Wo die wilden Kerle wohnen“ bildet den Bezugspunkt; Profi-Musiker und Festival-Pianisten verwandeln den bekannten Stoff in klingende Geschichten. Weitere Informationen: www.klavierfestival.de/education




Ein Hoch der Tastenkunst: Martha Argerich beim Klavier-Festival Ruhr

Der Jubel war programmiert: Martha Argerich, eine der bekanntesten Pianistinnen weltweit, gehört zu den geschätzten „Stammgästen“ des Klavier-Festivals Ruhr. Solo-Konzerte gibt die Dame mit den langen grauen Haaren seit langem nicht mehr gerne. Sie macht mit Musikern, die sie schätzt, Kammermusik. In diesem Jahr konzentrierte sich ihr Auftritt in der Philharmonie auf das Klavier. Zwei Flügel, vier Spieler, acht Hände: Der Tastenkunst wurde Tribut gezollt!

Argerich eröffnete den Abend mit ihrer langjährigen Klavierpartnerin Lilya Zilberstein. Mozarts D-Dur-Sonate zu vier Händen (KV 381) schnurrte in perfekter Gleichzeitigkeit dahin. Die Damen gönnten sich kein Innehalten, preschten durch den ersten Satz. Kein idealer Zugang zu Mozart: Farbwechsel wären durch die Noten beglaubigt und würden die Vorherrschaft des rein Motorischen brechen. Dass Mozart zum Beispiel die Staccato-Treppchen schon nach vier Takten durch Bindebögen, nach weiteren vier Takten durch Rhythmuswechsel ersetzt, hat für die beiden stürmischen Damen keine Konsequenz für ihre Rhetorik. Und der piano-Einsatz ab Takt 14 zählt nicht als Zäsur, nach der sie die Artikulation verändern. Der zweite, schön fließende Satz gestand Mozart jedoch die Tiefe der Empfindung zu; im dritten Satz waren die Pianistinnen brillant-gelöst im Allegro molto angekommen.

Lilya Zilberstein (links) und Martha Argerich bei ihrem Essener Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Lilya Zilberstein (links) und Martha Argerich bei ihrem Essener Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Aus zweien von Debussys „Trois Nocturnes“ hat Maurice Ravel ein effektvolles Stück für zwei Klaviere gemacht, in dem Zilberstein und Argerich in ihrem Element sind: Konzentration auf magische Klangmomente, meditatives Kreisen, ein raffiniertes Spiel mit der Spannung, aber auch rasantes Martellato. Wenn im zweiten Stück, „Fêtes“, die dunkle Bässe „ausrollen“, die Spannung der Musik verebbt, noch einmal ein paar Töne aufklingen, wie Schaumkrönchen sich an einem Felsbrocken am Strand bilden, bevor bestimmende Bass-Akkorde das Ende signalisieren, dann wird beim Zuhören klar, wie souverän die beiden zu gestalten wissen.

In Franz Liszts „Concerto pathétique“ steigern sie die Ausdrucksmittel noch: Musikalische Gesten werden – wie im Stummfilm – expressiv überzeichnet: schmerzliches Pathos, aufgewühlte Bewegung, verzehrende Intensität, bittersüße Melancholie. Doch in einer von Martha Argerich unvergleichlich innig erzählten Melodie klappt jemand – schnapp – die Handtasche zu. Kein Augenblick der Zeit ist vollkommen …

Der Abend wurde auch genutzt, den Söhnen von Lilya Zilberstein zu ihrem Klavier-Festival-Debüt zu verhelfen: Daniel und Anton Gerzenberg verstärkten das Damen-Duo in Bedrich Smetanas Sonate für zwei Klaviere zu acht Händen. Füllig und orchestral kommt diese Musik daher, aber Smetana war doch wohl eher Melodiker als ein Freund kontrapunktischer Herumfeilerei. Die harmonischen Subtilitäten sind bei den Vieren in schön ausbalancierten Händen. Daniel und Anton, zwei sympathische Jungs, können leider – auch in der Zugabe eines Smetana-Rondos – nur beflissenes Teamwork beisteuern. Da die beiden seit 2008 als Klavierduo auftreten, wird es wohl irgendwann die Gelegenheit geben, zu hören, was sie wirklich können.

Ans Ende – vor die drei heftig beklatschten Zugaben – setzen Argerich und Zilberstein acht Sätze aus Tschaikowskys „Nußknacker“: Tanzmusik vom Feinsten, mit Geschmack, blitzender Präzision und einem kleinen Schuss Sentiment veredelt. Noch ein Hinweis: Am 20. Juli erscheint Martha Argerichs neuestes Album. Mit Gidon Kremer (Violine), Yuri Bashmet (Viola) und Misha Maisky (Cello) spielt sie Brahms‘ Klavierquartett op. 25 und Schumanns Fantasiestücke op. 88.




Akkurates Herantasten an Chopin

Der Pianist Ingolf Wunder. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Der Pianist Ingolf Wunder hat seine nunmehr dritte CD vorgelegt. Mit Musik von Frédéric Chopin. Die Veröffentlichung ist zugleich sein Debüt beim renommierten Label „Deutsche Grammophon“. Das Gelb-Etikett hat ihn nicht zuletzt deshalb für sich entdeckt, weil Wunder einen wundersamen Lebens-Meilenstein namens Chopin-Wettbewerb vorweisen kann.

Ja, da war doch was im vergangenen Jahr, beim berühmten, ein wenig sogar berüchtigten internationalen pianistischen Kräftemessen in Warschau: Der 25jährige Österreicher Wunder bekam den 2. Preis; und er hätte doch den Spitzenplatz verdient – sprach das Publikum, tobte ein Teil des Feuilletons. „Skandal“ riefen manche frei heraus.

Nun wissen wir schon seit den Zeiten, als wir uns noch für die skurrile Sportart namens Eis“kunst“lauf interessierten und über abstruse Begriffe wie „Doppelter Rittberger“ staunten, dass eine Jury fehlbar ist. Besonders wenn es um die Wertung ästhetischer Darstellung geht. Darüber lässt sich bekanntlich wunderbar streiten – oder eben auch nicht.

So also ist den Preisrichtern in Sachen Chopin-Deutung kein Vorwurf zu machen. Eher noch den Kollegen, die 1980 einen exzentrischen Jungen namens Ivo Pogorelich fallen ließen, sodass Martha Argerich wütend ihr Jury-Mandat zurück gab. Doch was lehrt uns dies: Ein schöner Skandal kann zum Erfolgsgeheimnis werden.

So sehr das, zumindest wenn man den PR-Strategen glaubt, bei Wunder funktioniert, so traurig ist es, dass die amtliche Siegerin des letztjährigen Chopin-Wettbewerbs, die junge Russin Yulianna Avdeeva, in der öffentlichen  Wahrnehmung nahezu untergegangen ist. Das hat sie nicht verdient. Denn was sie an poetischer Ausdruckskraft und an gestalterischer Vielfalt mitbringt, geht Wunder ab.

Zurück also zur CD. Der Pianist hat Chopins 3. Sonate eingespielt, dazu die Polonaise-Fantasie As-Dur, die 4. Ballade, sowie Andante spianato/Grande Polonaise brillante. Alles gediegen akkurat, oft aber etwas steif musiziert, alles wie kalkuliert abspulend. Es scheint, als traue sich Wunder weder zu, den Figurationen schwebende Leichtigkeit zu geben, noch, Emotionen zuzulassen.

Seine Sensibilität wirkt pauschal, dynamische Dramatisierungen klingen wie aufgesetzt, nicht einem natürlichen musikalischen Prozess entwachsend. Eleganz oder differenziertes Klangfarbenspiel wollen sich nicht einstellen. Vielleicht lag die Warschauer Jury ja doch nicht so ganz falsch.

Das CD-Cover zeigt, wie Wunder über sein Instrument läuft, ganz vorsichtig, balancierend. Welch Sinnbild: tastende Schritte in einer noch jungen Karriere. Das gilt für seine Chopin-Deutung in gleichem Maße.