Gegenentwurf zu Brecht: „Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch in der Berliner Volksbühne

Kathrin Angerer und Milan Peschel in „Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch. (Foto: Apollonia T. Bitzan)

Nach dem Abgang von Frank Castorf, dem Scheitern von Chris Dercon und dem Rauswurf von Klaus Dürr schien die Berliner Volksbühne künstlerisch am Ende. Dann übernahm Bühnen-Berserker René Pollesch und versuchte, den führungs- und ideenlos in den Kultur-Wogen schlingernden Theater-Panzerkreuzer am Rosa-Luxemburg-Platz wieder auf Kurs zu bringen. Als der Dramatiker und Regisseur am 26. Februar 2024 völlig unerwartet mit 61 Jahren starb, verfiel die Volksbühne in Schockstarre.

Nachdem auch noch im Zuge der radikalen Sparmaßnahmen des Berliner Senats die zu Interims-Intendanten ernannten Vegard Vinge und Ida Müller ihre Posten räumten, wurde bereits das Sterbeglöckchen für die Traditions-Bühne geläutet. Doch um den Theatertod zu bannen, haben sich einige Schauspieler, die mit Pollesch große Erfolge feierten, einen Text vorgenommen, der noch nie das Bühnenlicht erblickte. Gemeinsam inszenieren sie das Stück „Der Schnittchenkauf“, das Pollesch für eine Ausstellung in einer Berliner Galerie als kritischen Kommentar zu Brechts „Der Messingkauf“ und als lockeren alltagsphilosophischen Gegenentwurf zur strengen Belehrungs-Theorie des epischen Theaters verfasst hat.

Da Pollesch immer nur mit unverbindlichen Spielideen in die Proben kam und seinen Schauspielern den Text zur freien Improvisation überließ, geben sie sich alle Mühe, einen Kessel Buntes anzurühren und eine Bühnen-Party zu feiern, die ihrem verstorbenen Freund wohl gefallen hätte.

Kathrin Angerer und Martin Wuttke, Milan Peschel, Rosa Lembeck und Franz Beil stecken in aberwitzig-hässlichen Kostümen und sehen aus, als würden sie zu einer Safari oder Expedition nach Nirgendwo aufbrechen. Jan Speckelbach umkreist das muntere Treiben mit einer Live-Kamera, aus den Lautsprechern plärren unentwegt Schlager-Melodien und Pop-Songs. Die zwischen Sperrholz-Container und japanischer Futon-Landschaft changierende, sich allmählich in eine Müllhalde verwandelnde Bühne hat Leonard Neumann, der Sohn des genialen, ebenfalls viel zu früh verstorben Bert Neumann gebaut. Das passende Ambiente, um ein paar Runden mit dem Fahrrad zu drehen und sich an langen Tischen zu versammeln, Butterstullen zu schmieren und mit Schnittlauch zu bestreuen.

Manchmal verirren sich Kathrin Angerer und Martin Wuttke in Edward Albees Bühnenklassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, mutieren zu Martha und George und verknäueln sich lustvoll in derben Eheschlachten. Meistens aber quasseln alle einfach drauflos, inspizieren sie die „Vierte Wand“, die Schauspieler und Zuschauer trennt, verdammen das Theater als verlogene Illusionsmaschine und vergeblichen Sinn-Produzenten.

Milan Peschel rollt genervt mit den Augen und stampft mit Cowboystiefeln durchs anschwellende Chaos. Kathrin Angerer beschwört zitternd und zeternd die Liebe und das Leben. Rosa Lembeck verheddert sich im  Kommunikations-Wirrwarr und beleuchtet den Unterschied zwischen Sender und Empfänger. Franz Beil stottert sich (im Rattenkostüm!) durch seine Texthappen und berichtet, wie er sich einmal in eine Theatervorstellung geschmuggelt hat, weil es hieß, dort gebe es kostenlose Schnittchen. Martin Wuttke pafft unentwegt Zigaretten und erklärt uns, dass es kein Sein gibt: „Es gibt nur das Werden“, mit dem man den eigenen Tod hinauszögern und das Theater-Sterben aufhalten kann. Aha!

Überhaupt kann Wuttke das Gerede von der Apokalypse nicht mehr ertragen: „Wir hören ständig, dass wir am Ende der Geschichte angelangt sind, aber dieses Ende zieht sich hin und bringt sogar einiges Genießen mit sich.“ Das Publikum amüsiert sich köstlich und feiert zu recht eine mit fröhlicher Melancholie zwischen Gestern und Morgen irrlichternde Theater-Kuriosität.

„Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch. Volksbühne Berlin. Nächste Vorstellungen: 16. März (18 Uhr) und 31. März (19.30 Uhr). https://www.volksbuehne.berlin.de




Götz George als sein umstrittener Vater Heinrich: Entlastung aus lauter Sohnesliebe

Seit Wochen schreiben die Zeitungen in gehöriger Länge darüber. Jetzt ist das Fernseh-Ereignis erstmals bei arte zu sehen gewesen. In „George“ spielt der große Götz George seinen vielleicht noch größeren Vater Heinrich George. Der hatte sich in der NS-Zeit zutiefst verstrickt und in üblen Propagandafilmen wie „Jud Süß“ oder „Kolberg“ mitgewirkt.

Ein wahrlich heikles, geschichtlich schwer belastetes Thema, das unbedingt eine filmische Aufarbeitung wert ist. Man kann nur zu gut verstehen, dass Götz George sich dem Mythos seines Vaters nähern möchte, der ihn seit jeher umtreibt. Aber es war wohl keine gute Entscheidung, dass er den Altvorderen selbst dargestellt hat. Was da alles mit hineinspielt! Und wie da in nahezu jeder Szene die dringend nötige Distanz fehlt…

Götz George als Heinrich George - in der Rolle des "Götz von Berlichingen". (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – in der Rolle des „Götz von Berlichingen“. (© SWR/Thomas Kost)

Fehlende Distanz

Natürlich läuft der Film also letzten Endes auf eine weitgehende Entlastung des Schauspielers Heinrich George hinaus – allen Brüchen zum Trotz. Wer auch hätte Götz George zum 75. Geburtstag den innigen Wunsch ausschlagen sollen, seinem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Allerdings ist es eben die Gerechtigkeit des liebenden, allzeit bewundernden Sohnes, der seinen Vater ganz am Schluss noch einmal persönlich anspricht: „Du warst halt immer besser. Besessener.“ Sicherlich ist das sehr berührend und geht zu Herzen. Doch man kann Heinrich George auch ungleich kritischer betrachten, als Götz George dies vermag. Dann hätte man wahrscheinlich auch nicht Heinrich Georges „Faust“-Inszenierung im russischen Lager derart breiten Raum gegeben.

Fakten und Fiktion vermischt

In manchmal kaum noch überschaubarer Weise vermischen sich in Joachim Langs Film, der zehn Jahre Recherche erfordert haben soll, Fakten und Fiktion, dokumentarische und gespielte Sequenzen. Eins fließt ins andere, so dass man als Zuschauer bisweilen gar nicht mehr weiß, woran man momentan ist. Da geht der zivil gewandete Götz George mit seinem älteren Bruder Jan durch Schauplätze des Films. Sodann wird er als Heinrich George für große Rollen („Götz von Berlichingen“) geschminkt. Dazwischen sieht man seinen Vater in alten Schwarzweiß-Aufnahmen in derselben Rolle. Und so fort. Stellenweise ist es noch komplizierter, als ich es hier schildern möchte.

Hinterhältige Russen

Dramaturgische Leitlinie ist die hartnäckige Befragung Heinrich Georges durch die russischen Besatzer, die ihm partout nachweisen wollen, er sei ein Faschist gewesen. Die Russen erscheinen anno 1945 als unnachsichtige, durchaus hinterhältige Triumphatoren, die auch schon mal ein entlastendes Dokument verschwinden lassen und ansonsten in altbekannter Manier gerne antreiberisch „Dawai, Dawai“ rufen. Vor einem solchen Tribunal muss Heinrich George (trotz mancher Verfehlungen) wie ein unschuldig Verfolgter aussehen. Erst recht, wenn er seinen kleinen Sohn Götz am Lagerzaun in die Arme schließt und überwältigt „Mein Großer – Kleiner“ ausruft. Dann muss man einfach auf seiner Seite sein. Muss man tatsächlich?

Verstrickung ins NS-Regime

Freilich ist das Ganze auch eine Studie darüber, wie einer, der angeblich nur der hehren Kultur dienen und sich unpolitisch geben will („Ich bin nur Schauspieler, sonst nichts“), den braunen Machthabern umso mehr auf den Leim gehen konnte. Vom NS-Propagandaminister Joseph Goebbels ließ er sich – mehr oder weniger wider Willen – einspannen und zum Intendanten des Berliner Schillertheaters ernennen. Vor lauter Eitelkeit ließ er sich hinreißen, dem Regime zu Diensten zu sein. Andererseits rettete er einige jüdische oder linke Theaterleute vor Tod und Drangsal. Es war eine furchtbare Gratwanderung.

Götz George als Heinrich George - bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Bei aller problematischen Herangehensweise haben wir beachtliche schauspielerische Leistungen gesehen, das Ensemble des Films sucht ja auch Seinesgleichen. Vor allem Martin Wuttke als Goebbels und Muriel Baumeister als Heinrich Georges Frau Berta Drews oder auch Hanns Zischler als Maler Max Beckmann (der ein Familienporträt der Georges für die Villa am Wannsee malte und dann ins Exil ging) ragten heraus – von Götz George selbst gar nicht zu reden, der sich jedoch notgedrungen in der familiären Nähe verheddern musste.

Missbrauchtes Genie

Höchst eindrucksvoll waren auch einige Zeitzeugen, deren teils Jahrzehnte zurück liegende Aussagen zwischendurch eingespielt wurden. Und Heinrich George selbst. Schon die kurzen Filmausschnitte (u. a. aus Puschkins „Der Postmeister“) ließen ahnen, welch ein Genie er gewesen ist. Umso betrüblicher, dass er missbraucht wurde und sich missbrauchen ließ.

Die ARD wird „George“ am Mittwoch, 24. Juli, leider erst ab 21.45 Uhr ausstrahlen. Götz Georges Zorn über den ungünstigen Ferientermin, an dem Millionen Menschen in Urlaub sind, kann man nachvollziehen.

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen.