Pläne im Museum Folkwang: Digitale Abenteuer, Ideen für Krisenzeiten

In der digitalen Welt: Rafaël Rozendaal „much better than this, 2006″, Multimedia-Installation, Times Square, New York City, 2015. (© Rafaël Rozendaal / Upstream Gallery, Amsterdam)

Das Jubiläumsjahr neigt sich dem Ende zu: Essens Museum Folkwang besteht seit 100 Jahren und hat den Anlass vielfältig begangen, u. a. mit der opulenten Kunstschau „Renoir, Monet, Gauguin“, aber auch mit etlichen Festivitäten und Aktionen im Stadtgebiet, worauf Folkwang-Direktor Peter Gorschlüter besonderen Wert legt – ebenso wie auf Nachhaltigkeit, die sich neuerdings in Photovoltaik auf den Flachdächern des Museums manifestiert.

Derart viel „Wumms“ (sagt man heute manchmal so) wird es 2023 wohl nicht geben können. Derweil erfordert es einige Phantasie, um sich Details zum einen oder anderen Projekt überhaupt vorzustellen.

Da wäre etwa eine Ausstellung des Niederländers Rafaël Rozendaal (21. April bis 20. August 2023), der in New York lebt und als Digital-Künstler von sich reden macht. Als eines der ersten Institute wagt sich das Museum Folkwang dabei aufs Terrain der „NFT“-Kunst, die sich aus der ihrerseits nicht leicht zu begreifenden Blockchain-Technologie herleitet und sich noch im Pionierstadium befindet.

Die Abkürzung NFT steht für „Non Fungible Token“ (ungefähr: „nicht austauschbare Wertmarke“) und bezeichnet digitale Dateien, denen vertragsähnliche Merkmale implementiert werden, so dass die entsprechenden Kunstwerke nicht frei im Netz schweben, sondern als Besitz existieren, der eindeutig zugeordnet werden kann. Einstweilen klingen die Pläne etwas kryptisch, so werden im Museum „Transit-Räume“ eingerichtet. Lassen wir uns überraschen, was sich hinter all dem verbirgt und wie es zu vermitteln ist. Thomas Seelig vom Folkwang-Leitungsteam (Spezialgebiet: fotografische Sammlung) findet jedenfalls, dass sich die Museen zur aufkommenden NFT-Kunst positionieren sollten, es betreffe ja auch die Zukunft ihrer Sammlungs-Tätigkeit. Wir werden sehen.

Henri Matisse: „Icare“ (Ikarus), Blatt 1 aus dem Portfolio „Jazz“ (1947), Druckgrafik, 42 x 65,5 cm (© Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Beinahe konventionell mutet demgegenüber eine Ausstellung an, die wiederum mit drei berühmten Künstlernamen umschrieben wird: „Chagall, Matisse, Miró – Made in Paris“. (1. September 2023 bis 7. Januar 2024). Aber was heißt in diesem Kontext schon konventionell? Diese und andere Künstler erprobten seit Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls neuartige Strategien, die ihrer Zeit voraus waren. Es geht um Mappenwerke, Editionen und Künstlerbücher, deren Urheber auf weite Verbreitung (Fernziel: „Kunst für alle“) abzielten. Im Vordergrund steht Druckgraphik, die u. a. durch Zeitschriften in hohen Auflagen verbreitet wurde. Herausragende Beispiele sind Henri Matisse mit seiner Scherenschnitt-Mappe „Jazz“ oder Marc Chagall mit einem Zyklus um die antiken Gestalten „Daphnis und Chloé“. In jenen Jahren wurden, zumal in Paris, immer mehr auf künstlerische Druckgraphik spezialisierte Werkstätten gegründet, die unternehmerisch arbeiteten und Gewinn anstrebten. Vereinzelt existieren sie bis heute. Auch dieser Aspekt soll ausführlich dargestellt werden.

Die vielleicht aufwendigste Ausstellung des nächsten Jahres erfordert wiederum Vorstellungsvermögen, sie heißt „Neue Gemeinschaften“ (ab 24. November 2023) und blickt zurück auf utopische Lebensentwürfe in den Künsten und sozialen Bewegungen der letzten 120 Jahre. Vielleicht sind ja Energien zu entdecken, die auch in der heutigen Krisenzeit Impulse geben können. Es erhebt sich also die gewaltige Frage, wie wir künftig leben wollen, ohne den Planeten weiter zu zerstören.

Der Reigen beginnt mit frühen Lebensreform-Ideen (Stichwort Kolonie Monte Verità) im erhofften Einklang mit der Natur. Ferner geht es um die kristalline Bauweise der Architektur-Gruppierung „Gläserne Kette“ in den 1920er Jahren, um die Hippie-Kultur der späten 1960er Jahre, um „Afro-Futurismus“ und um Überwindung des Menschen-Zeitalters („Anthropozän“). Ganz recht: Was all das zu bedeuten habe, wird sich – so oder so – wohl erst vollends in der Ausstellung zeigen können. Die Pläne klingen nach geistigem Abenteuer und nach tastender Suche.

Übrigens wird auch noch in diesem Jahr eine bemerkenswerte Ausstellung eröffnet: Am 2. Dezember beginnt im Museum Folkwang eine Retrospektive zu Helen Frankenthaler (1928-2011), die als eine Leitfigur der Farbfeldmalerei und des Abstrakten Expressionismus gilt.

Weitere Infos, auch zu Plänen der fotografischen Abteilung:
www.museum-folkwang.de

P. S.: Und wie wappnet sich das Museum gegen Attacken mit Kartoffelbrei und sonstigen Substanzen? Mit Taschenkontrollen – und mit weiteren Maßnahmen, die man nicht öffentlich ausposaunt. Außerdem, so heißt es, stehe man im vertrauensvollen Dialog mit Klima-„AktivistInnen“.




Sich in Faultiere und Birnen einfühlen – ja, selbstverständlich geht das!

Weckerbrüllt! Uff… nur… ne Viertelstunde noch… konzentriert schlafen (jawoll, das geht)…

»Schorsch (nach Picasso)« Scherl, 2015

»Schorsch (nach Picasso)« © Scherl, 2015

…wenn dann Kater Schorsch sein aggro-beleidigtes MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! raushaut ohne Luft zu holen, weil er der Meinung ist, daß er sogleich Hungers stirbt, wenn ich ihn nicht sofort fütter (Essenszeit für ihn in zwei Stunden!), hau ich mein 100% aggro RUHEJETZTVERDAMMTESCHEIßE! raus, daß die metallenen Bettpfosten mitsingen.

Es kümmert ihn zwar keinen feuchten Kehricht, aber immerhin hab ich das erhebende Gefühl, daß mir wenigstens ein Ding auf Erden Resonanz gibt – und wenn’s nur die Bettpfosten sind.

Wenn ich dann allerdings zB versuche, mich in ein Faultier einzufühlen, weil ich einen Faultiershirtentwurf machen muß und das Vieh so richtig schön faul werden soll oder das gleiche in drei Birnen für eine Auftragszeichung, damit da auch wirklich die richtige Geschichte erzählt wird mit dem Obst (ja freilich kann man sich in Birnen einfühlen. Bin ich Künstler oder Hobby-?) und der schwarze Pelzsatan legt dann los mit seinem Geschrei (wofür er in 99% aller Fälle exact (ja, mit »c«)) den richtigen Zeitpunkt findet und auch nicht eher aufhört, bis ich entweder keine Zeit mehr hab oder mir auch noch das letzte bissl Muse zerrüttet ist), packt mich einfach nur noch tiefste Verzweiflung und eine Stimme fragt in mir:

»Was hätt Picasso an meiner statt getan? Oder Matisse? Oder Cezanne? Oder Christian Schad? Oder…« (Zwischenruf einer anderen Stimme: »Charles Manson?«) und es antwortet: »Sie wären ins Atelier gegangen und wenn sie da schon gewesen wären, in ’n anderes.«, dann kommentiert die nächste: »Thomas, schreib auf deinen ‹Ziele 2016›-Zettel ganz oben, ganz groß: ‹1. Viel Geld verdienen, 2. Atelier mieten›.«

Done.

(Also das mit dem Zettel.)




Museum Folkwang: Bis zum Rausch in Farben schwelgen

Von Zeit zu Zeit schwingt sich das Essener Museum Folkwang immer mal wieder auf, mit kräftiger Sponsorenhilfe die Spitzenposition im Ruhrgebiet zu behaupten. Das geht schon seit Jahrzehnten so. Diesmal heißt das Ereignis (eigentlich wenig originell) „Im Farbenrausch“.

So oder ähnlich tauft man eben jene populären Ausstellungen, deren Macher mit Besucherzahlen weit oberhalb der 100 000 kalkulieren können. Sei’s drum. Dass sich die Farbe irgendwann vom umrissenen Gegenstand gelöst hat und vorwiegend Stimmungsträger wurde, gehört zum bildnerischen Basiswissen. Hier kann man’s vielfach sinnlich nachvollziehen und dabei ins Schwärmen geraten.

Davon abgesehen, eröffnet sich immerhin die Chance, Teile des Essener Eigenbesitzes im ungewohnten Kontext neu zu bewerten. Denn 24 von 153 Exponaten gehören zum Essener Fundus. Die Schau, die sich im Kern auf die Jahre 1905 bis 1911 beschränkt, ist also sozusagen in den Beständen verankert. Deren Anfangsgründe gehen bekanntlich auf den Hagener Mäzen Karl Ernst Osthaus zurück, der sehr vorausschauend Arbeiten seiner Zeitgenossen gesammelt hat und dessen Kunstschätze 1922 nach Essen wanderten.

Henri Matisse: "Les toits de Collioure / Die Dächer von Collioure", 1905 (Staatliche Eremitage, St. Petersburg / © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatliche Eremitage, Vladimir Terebenin, Leonard Kheifets, Yuri Molodkovets)

Henri Matisse: "Les toits de Collioure / Die Dächer von Collioure", 1905 (Staatliche Eremitage, St. Petersburg / © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatliche Eremitage, Vladimir Terebenin, Leonard Kheifets, Yuri Molodkovets)

Der Untertitel lautet „Munch, Matisse und die Expressionisten“, es werden also zwei geniale Anreger namentlich genannt. Etwas wolkig sprechen die Kuratoren (Sandra Gianfreda, Mario-Andreas von Lüttichau) von geistiger Verwandtschaft und daraus entspringender subjektiver Empfindung, welche die Bildsprache(n) geprägt hätten.

Punktuell oder auch streckenweise gibt es tatsächlich frappierende Anklänge. Marianne von Werefkin hat mit „Die Landstraße“ (1907) ganz offenkundig Munch nachgeeifert. Heckels „Die Elbe bei Dresden“ scheint aus dem Geiste Van Goghs zu fließen, Pechsteins „Seine-Brücke“ sich den Anstößen der Fauves zu verdanken. Überhaupt hat besonders Pechstein hier einige grandiose Auftritte, etwa mit „Sitzendes Mädchen“ oder „Liegendes Mädchen“, beide von 1910.

Edvard Munch: "Sitzender Akt auf dem Bett", 1902 (Staatsgalerie Stuttgart / © The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatsgalerie Stuttgart)

Edvard Munch: "Sitzender Akt auf dem Bett", 1902 (Staatsgalerie Stuttgart / © The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / © Foto: Staatsgalerie Stuttgart)

Doch vielfach kann man auch und gerade die Unterschiede besichtigen. Vor allem Munch hebt sich von allen anderen deutlich ab. Zwar wird das eine oder andere seiner Sujets etwa von deutschen Expressionisten aufgegriffen, doch Bildsprache und Atmosphäre sind unvergleichlich.

Eine finanziell derart gut gepolsterte, eher auftrumpfende und prunkende als feinjustierte und konzentrierte Ausstellung (der RWE-Konzern tritt als Sponsor an) wartet selbstverständlich mit vielen Berühmtheiten, etlichen Schauwerten und strahlender Schönheit auf. Etwas name dropping, beinahe schon lexikalisch: Munch, Matisse, Van Gogh, Gauguin, Cézanne, Derain, Signac, de Vlaminck, Braque, Kandinsky, Jawlensky. Dazu deutsche Künstler wie Kirchner, Pechstein, Heckel, Schmidt-Rottluff, Marc, Nolde, Münter. Wenn das nichts ist…

Ernst Ludwig Kirchner: "Mädchen unter Japanschirm", um 1909 (Kunstsammlung NRW, Düsseldorf / © Foto: Walter Klein, Düsseldorf)

Ernst Ludwig Kirchner: "Mädchen unter Japanschirm", um 1909 (Kunstsammlung NRW, Düsseldorf / © Foto: Walter Klein, Düsseldorf)

Allein was hier an Aktbildern, Badenden, Damen mit Hut oder auch an Fluss- und Bootsbildern zusammengetragen wurde, nötigt Bewunderung ab. Die Schar der hochmögenden Leihgeber reicht bis Canberra (Australien), auch gibt es noch nie öffentlich gezeigte Raritäten aus Privatbesitz zu sehen, so etwa Kirchners „Torhaus“ (1910).

Die Hängung folgt mal chronologischen, mal thematischen oder auch biographischen Ansätzen. In verschiedenen Grautönen gehaltene Säle, teils schwelgend und nicht allzu trennscharf benannt („Aufbruch zur Farbe“, „Orgie der reinen Farbtöne“, „Die Suche nach dem Beständigen“, „Streben nach künstlerischer Synthese“), bündeln, gliedern oder verstreuen die Werke. Da wird unterwegs zwischen erlebtem und ersehntem Arkadien unterschieden, als ergäbe das auf dem Felde der Kunst einen Sinn. In einem finalen Bereich werden kurzerhand Stillleben und Figurenporträts miteinander präsentiert, als hätten sie sonst nirgendwo mehr Platz gefunden.

Erich Heckel: "Badende am Waldteich", 1910 (Museum Folkwang, Essen, Dauerleihgabe aus Privatbesitz, seit 2005 (© Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen / © Foto: Museum Folkwang)

Erich Heckel: "Badende am Waldteich", 1910 (Museum Folkwang, Essen, Dauerleihgabe aus Privatbesitz, seit 2005 (© Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen / © Foto: Museum Folkwang)

Natürlich haben sich Größen wie Matisse, Munch und andere damals weithin ausgewirkt. Wer sie überhaupt nicht rezipiert hätte, wäre ein Ignorant gewesen. Übrigens können die „jungen Wilden“ des deutschen Expressionismus im internationalen Vergleich recht gut bestehen, sie haben das Spektrum des Kontinents bereichert, wenn auch nicht so grundlegend wie die Franzosen.

Beim Rundgang wird man auch finden, wie sehr sich nördliches vom südlichen Licht abhebt und die Bilder der Deutschen mitbestimmt. Ein banaler, jedoch oft unabweislicher Befund. Hin und wieder wird man gar versucht sein, die in Deutschland vorherrschende Malweise „kantiger“ und weniger fließend zu finden, womit man bei Uralt-Klischees angelangt wäre. Vorsicht also mit vorschnellen Schlüssen. Lieber den prächtigen Parcours noch einmal absolvieren, den Katalog studieren und jeden Künstler, jedes Bild auch für sich selbst gelten lassen. Um das Einzigartige zu bewahren, was beim Vergleichen zu entgleiten droht.

Max Pechstein: "Flusslandschaft", um 1907 (Museum Folkwang, Essen / © 2012 Pechstein, Hamburg/Tökendorf / © Foto: Museum Folkwang)

Max Pechstein: "Flusslandschaft", um 1907 (Museum Folkwang, Essen / © 2012 Pechstein, Hamburg/Tökendorf / © Foto: Museum Folkwang)

„Im Farbenrausch“ Munch, Matisse und die Expressionisten. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. Bis 13. Januar 2013. Geöffnet Di-So 10-20, Fr 10-22.30 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 12 (ermäßigt 7) Euro, Katalog 35 Euro.

Internet:
http://www.museum-folkwang.de
http://www.folkwang-im-farbenrausch.de

P. S.: Wer der klassischen Moderne noch mehr auf den Grund gehen will, reist weiter nach Köln und besucht im Wallraf-Richartz-Museum die Ausstellung „Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes“ (bis 30. Dezember 2012), Katalog 39,90 Euro.




Von Luxus, Lust und Melancholie – Düsseldorfer Kunstsammlung NRW wartet mit famoser Matisse-Ausstellung auf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Picasso ist in Deutschland leichter zu zeigen. Denn das Werk von Henri Matisse (1869-1954) wurde hierzulande häufig als bloß „bürgerlich dekorativ“ abqualifiziert. Das Urteil war wohl auch durch nationale Rivalitäten mit Frankreich getrübt. Jedenfalls haben sich hiesige Museen bis in jüngere Zeit mit Ankäufen zurückgehalten.

Umso erstaunlicher ist, was Düsseldorf nun aufbietet: Die Kunstsammlung NRW hat eine immense Fülle von Matisse-Werken zusammengetragen – dank guter Kontakte zu den großen Museen der Welt. Sollte der Ansturm dem Anlass entsprechen, so könnte das Haus gar logistische Probleme bekommen.

Wie bei Schauen dieses Formats üblich, will man nicht nur imposant anhäufen und gängige Meinungen bestärken, sondern just „Legenden“ in Frage stellen, die sich um Matisse ranken. Der Franzose, so behaupten die Ausstellungsmacher, sei längst nicht nur der schwelgerische Prophet eines „Goldenen Zeitalters“ und eines kunstvoll schönen Gleichgewichts gewesen. Nein, sein Werk zeuge vielfach auch von Instabilität und Gebrochenheit.

Weite Teile der Dauersammlung mussten weichen. Das Oeuvre von Matisse erstreckt sich somit über drei Etagen. Dennoch konzentriert man sich vorwiegend auf Interieurs (also Innenräume, Zimmer) und Frauenbildnisse aus allen Schaffensphasen – von der noch traditionell akademisch bestimmten Themenfindung bis hin zu flächig komponierten, fast musikalisch freien Formen.

Besessen vom weiblichen Leib

Matisse muss besessen gewesen sein vom weiblichen Leib, doch auch inspiriert von durchgeistigten Valeurs erotischer Ausstrahlung. Das „Ewigweibliche“ durchtränkt jede Faser der Bilder. Es ergießt sich über die Dinge, durchströmt die Räume, teilt seine Geheimnisse vorzugsweise mit Tieren oder Blumen – doch nie mit männlichen Wesen, den Künstler freilich ausgenommen.

Vielfältig sind die immer neuen Reize der Bildstrategien: Mit raffinierten Spiegeleffekten setzt Matisse manche Frauen und Räume entgrenzend in Szene. Oder er spielt subtil auf den Blick des Kunstbetrachters an, indem er ein Mädchen versonnen ins Goldfischglas schauen lässt.

Überhaupt scheinen all diese Frauen, ob nun Berufsmodelle oder engere Gefährtinnen des Künstlers, ganz in sich selbst und ihre Träumereien versunken. In überaus aparten Farbmischungen und oft überraschenden, zuweilen kühnen Perspektiven lässt Matisse etwa die zahllosen Leserinnen erglühen. Im Bann ästhetischer Moden malt er reihenweise hingegossene Odalisken. Das Wort meinte ursprünglich weiße Sklavinnen im orientalischen Harem orientalischen Harem. Hier aber sind es träge, laszive Heroinen, die von zeitloser Lust und Luxus künden.

Anfangs mögen manche Bilder auch schockiert haben. Doch natürlich ergeben sich daraus denn doch höchst dekorative Schauwerte; zumal im Spätwerk, wo sich der Drang zu ungeahnten Formen besänftigt. Auch spürt man – anders als etwa bei Pablo Picasso und so vielen anderen – von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts in diesen Bildern kaum einen Hauch.

Es ist jener Art von erlesener Schönheit, die sich vor den Übeln der Zeit ins gepflegte Interieur zurückzieht – zwischen Klavier, edle Bücher und kostbare Möbel. Allerdings weht auch ein wenig Melancholie durch diese spätbürgerliche Welt. Doch diese Bilder können allen Streit und Gram der Tage überstrahlen.

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Größte Schau seit langem

• Die Düsseldorfer Matisse-Schau ist seit 1970 die größte in Europa und seit 1930 die größte in Deutschland. Sie umfasst 90 Gemälde, 80 Zeichnungen und 25 Skulpturen.

• Umfangreich auch das Rahmenprogramm. Beteiligt: Filmmuseum und Institut Français.

• Ausstellung in der Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, Grabbeplatz: 29. Oktober 2005 bis 9.Februar 2006. Geöffnet: tägl. außer Mo 10-20 Uhr. Eintritt 10 Euro, Katalog 25 Euro.




Jetzt die Hauptmahlzeit! – Umfangreiche Matisse-Ausstellung in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Autofahrer können es kaum übersehen. Als hieße so ein neuer Düsseldorfer Stadtteil, geleiten Schilder mit der Aufschrift „Matisse“ den Ortsunkundigen zur Kunsthalle am Grabbeplatz. Dem logistischen Aufwand entspricht ein nahezu sensationelles Ereignis: Noch nie war in einem deutschen Kunsttempel das Schaffen von Henri Matisse derart umfassend dokumentiert wie jetzt am Rhein.

Genau 97 Exponate sind zu sehen, Leihgaben aus aller Welt. Die Ausstellung, die 1982 in Zürich Furore machte, dürfte derzeit eine der wichtigsten überhaupt sein. Stolz verglich denn auch Kunsthallen-Direktor Jürgen Harten die Schau mit der „kleinen“ Bielefelder Matisse-Ausstellung 1981, die lediglich ein „hors d’oeuvre“ (Vorspeise) gewesen sei, während man nun in Düsseldorf die „Hauptmahlzeit“ serviere.

Nahezu alle avantgardistischen Stilrichtungen bezogen oder beriefen sich in irgendeiner Form auf Henri Matisse (1869-1954), Picasso ebenso wie die wichtigsten Vertreter der US-amerikanischen Popart. Neuerdings richtet sich wieder ein verstärktes Interesse auf die Werke des Nordfranzosen, der nun auch als früher Vorläufer einiger Tendenzen in der Ausdrucks-Malerei der „Neuen Wilden“ gehandelt wird.

Die Düsseldorfer Ausstellung ist zwar gegenüber jener in Zürich (dort wurden 119 Werke gezeigt) geschrumpft, doch hat der Zürcher Museumsdirektor Felix Baumann, der auch die Hauptarbeit bei der Zusammenstellung für Düsseldorf leistete, zum Ausgleich einige rare Werke aufgetrieben, die in der Schweiz nicht zu sehen waren. Besonders stolz ist man darauf, das „Portrait d’Auguste Pellerin“ erstmals in der Bundesrepublik der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können. Bislang kannten allenfalls Spezialisten dieses Bild.

Ein Novum ist auch, daß die Erben von Henri Matisse Bilder für eine Ausstellung in Deutschland zur Verfügung stellten. Es ist nur zu verständlich, daß dies bisher nicht der Fall war, denn Angehörige der Familie Matisse wurden als Mitglieder der Résistance (Widerstandsbewegung) von Deutschen verhaftet. Wie Jürgen Harten, Direktor der Kunsthalle, ausführte, sei es gelungen, in Düsseldorf eine glückliche Mischung aus verschiedenen Präsentationsformen zu finden: „Die Skala reicht von Monumentalität bis zur Intimität.“ Großflächige Matisse-Werke, so etwa „La danse“ („Der Tanz“) gewinnen im weiten, offenen Raum an Wirkung. Andere Bilder wiederum, die sich dafür eignen, wurden in kleinen „Inseln“ aufgehängt.

Die Ausstellung ist ein Erlebnis, und zwar allein schon deshalb, weil man hier ohne aufwendige Auslandsreise erstmals die Entwicklung von Henri Matisse an Originalbeispielen nachvollziehen kann. Gerade sein meisterhafter Umgang mit flächigen Farbwerten nämlich kommt selbst in teuren Reproduktionen nicht annähernd zum Ausdruck.

Außerdem liegt in Düsseldorf ein Schwerpunkt auf dem bisher wenig beachteten Spätwerk aus den 1940er Jahren. Aber auch aus der frühen, impressionistischen Phase sind genügend Werke (darunter „Le jardin du Luxembourg“ von 1901/02 und „Notre-Dame“ von 1905) vertreten, so daß man sich auch hier einen Überblick verschaffen kann. Wenn man genügend Zeit mitbringt, bleibt es nicht beim Überblick. Einige Werke – mir ging es so zum Beispiel mit „Interieur mit Harmonium“ – nehmen einen länger gefangen als nur für einen flüchtigen Augenblick.

Henri Matisse. Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz. 29. Januar bis 4. April 1983. Öffnungszeiten: dienstags bis donnerstags 10 bis 18 Uhr, freitags bis sonntags 10 bis 20 Uhr; montags und am Sonntag, dem 13. Februar, geschlossen, Karfreitag und Ostern (1. bis 4. April) von 10 bis 21 Uhr. Katalog (122 Abbildungen) 40 Mark.