Im Dunstkreis russischer Propaganda: Teodor Currentzis dirigiert Verdis „Messa da Requiem“ im Konzerthaus Dortmund

Teodor Currentzis nimmt im Konzerthaus Dortmund den Beifall entgegen. Rechts ist der Sänger Matthias Goerne zu sehen. (Foto: Holger Jacoby)

Darüber lässt sich keine übliche Konzertkritik schreiben: In Dortmund tritt ein Dirigent auf, der sich bisher erfolgreich um eine eindeutige Distanzierung von Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine gedrückt hat, sich mit seinem Ensemble aber nach wie vor von Sponsoren mit Putin-Nähe fördern lässt.

Teodor Currentzis bringt ins Konzerthaus  statt der angekündigten konzertanten „Tristan und Isolde“-Aufführung Giuseppe Verdis „Messe da Requiem“ mit. Ein Statement gegen den Krieg? Der Abend in Dortmund sieht nicht so aus: Die bürgerliche Kunstreligionsfeier geht ungebrochen vor sich; im Programmheft ist kein Wörtchen zu lesen, das der Aufführung irgendeine über den Event selbst hinausgehende Bedeutung geben würde. Das Publikum im nicht ganz vollbesetzten Saal begrüßt Chor und Orchester von MusicAeterna mit verhaltenem, aber langem Beifall. Als Currentzis mit viertelstündiger Verspätung aufs Podium springt, gibt es bereits einzelne Bravos. Der Schlussbeifall ist ebenfalls durchmischt mit – künstlerisch verdienten – Anerkennungsrufen. Gilt’s also nur der Kunst?

Auf Gazprom-Tournee

Wenn es so einfach wäre, hätte sich die Kunst tatsächlich aus der gesellschaftlichen Relevanz verabschiedet. Denn im Falle von Currentzis und MusicAeterna geht es nicht um moralische Bewertung privater Meinungen oder um idealistischen, von den Niederungen der Politik elfenbeinern abgeschiedenen Musik-Enthusiasmus, sondern es geht um ein Ensemble und einen Dirigenten, die auf Gazprom-Konzerttour gegangen sind, als die sogenannte Spezialoperation längst im Gange war. Das Verdi-Requiem, das nun in Dortmund zu hören war, gab es kurz zuvor in Sankt Petersburg – und das etwa ohne Förderung von Gazprom oder der sanktionierten VTB-Bank, deren Sponsoring schon vor dem Krieg auf Kritik stieß?

Currentzis hat sich medial wahrnehmbar nicht einmal mit einer allgemein gehaltenen Aussage gegen Krieg und Gewalt von dem distanziert, was da seit Monaten in Europa an Grausamkeiten verübt wird. Er schweigt und entzieht sich den Fragen von Medien – und die machen, wie der Musikjournalist Axel Brüggemann dokumentiert hat, problemlos mit. Wo sonst um jede Straßenumbenennung eine Debatte geführt wird, ist die Haltung eines Nutznießers des Putin-Systems offenbar nicht der hartnäckigen Nachfrage wert. Dabei ist es naiv anzunehmen, man könne in der gegenwärtigen politischen Situation einfach nur Kunst um der Kunst willen genießen: Currentzis wird, ob er will oder nicht, Bestandteil der russischen Propaganda; ein Teil eines kulturellen Krieges, der nicht nur auf den Schlachtfeldern in der Ukraine ausgefochten wird.

Problematische Finanzierung

Die Kölner Philharmonie hat klare Kante gezeigt und ein Konzert mit Currentzis und dem SWR Sinfonieorchester abgesagt. So weit gingen weder der Ex-Dortmunder Benedikt Stampa in Baden-Baden noch Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech. Dem Bayerischen Rundfunk sagte er über die Finanzierung, er halte sie für kritisch, wisse aber, dass das nicht so schnell änderbar sei. Das mag so sein, aber wenn ein Ensemble keinerlei Indizien erkennen lässt, dass es seine Finanzierung von problematischen Sponsoren unabhängig gestalten könnte, ist das auch ein Statement. Und ob ein Klangkörper mit einem Sony Classical Exklusivvertrag und Hochglanz-Auftritten in ganz Europa – einem umstrittenen Event bei den Salzburger Festspielen dieses Jahres eingeschlossen – beim Abschied von problematischen Sponsoren gleich an den Rand seiner Existenz geraten würde, ist fraglich: Vielleicht hätte sich nach einer Distanzierung ein neuer Sponsor gefunden, der solchen Mut gewürdigt hätte?

Immerhin schließt von Hoensbroech weitere Auftritte von MusicAeterna im Konzerthaus Dortmund vorerst aus. Einige Musiker, die sich in sozialen Medien für den Krieg positioniert hatten, wurden suspendiert – ob nur für den Auftritt in Dortmund oder auf Dauer, ist unklar. Dazu zählt auch der Geiger, der in einem Video-Post angekündigt hatte, er zerstöre Deutschlands Wirtschaft, und dazu ein Heizkörperventil aufgedreht hat. Den Witz muss man nicht verstehen. Aber er könnte wohl auch als Indiz für die Haltung in Teilen der Orchesters verstanden werden und damit mehr als nur eine individuelle Entgleisung darstellen.

Die Kunst muss sich nicht verstecken

Um die Kunst soll es nun aber auch gehen – und in dieser Hinsicht braucht sich MusicAeterna nicht zu verstecken. Schon im „Te decet hymnus“ gibt der Chor eine erste Probe seiner Präzision, die sich im Verlauf des „Dies irae“ und in der „Sanctus“-Doppelfuge atemberaubend bestätigt. Selten ist diese oft als musikalisches Schlachtengemälde missverstandene Sequenz so durchhörbar und genau gestaltet zu erleben. Currentzis wägt sorgfältig ab, welche Gruppen im Orchester gerade dominieren und welche zurücktreten sollen, erzeugt so einen tief gestaffelten, bei aller Wucht variablen Klang, lässt hören, dass Verdi hier keine bloße Überwältigungsstrategie fährt und die differenziert ausgearbeitete Partitur nicht als Lektürevergnügen, sondern als blutvoll ausmusizierte Vorlage dienen soll.

Dass Currentzis mit seinen Manierismen nicht bricht, ist jedoch auch hörbar. Die Celli zu Beginn sind in ihrer absteigenden Dreiklangfigur kaum wahrnehmbar: Ein solch übertriebenes Pianissimo ist nicht im Sinne Verdis, der von den Instrumenten einen leisen, aber sonoren Klang verlangt. Der Chor singt das erste „Requiem“ nicht, sondern murmelt es vor sich hin, so wie er in „Quantus tremor“ das Zittern vor dem Weltenrichter flüsternd skandiert. Die Piano-Abstufungen gestaltet er jedoch meisterlich, auch wenn ihm dann die süße Wendung zum „lux perpetua“ nicht so recht gelingen will. Das „Te decet“ setzt nicht nur einen entschiedenen Kontrast, sondern platzt heraus: Da wäre weniger mehr gewesen. Zum „Dies irae“ bringt sich Currentzis in Stellung, aber er verzichtet tatsächlich auf Effekthascherei, schafft es stattdessen, den Sinn des Textes ausdeuten zu lassen, schafft es auch, „teste David cum Sibylla“ entspannt zurückzunehmen, damit sich die Kräfte der Dynamik wieder ballen und erneut losbrechen können.

Teodor Currentzis mit seinen Solisten. (Foto: Holger Jacoby)

Die Auswahl der Solisten hängt wohl mit dem ursprünglich geplanten „Tristan“ zusammen: Weder Andreas Schager – einer der führenden Tristan-Sänger heutiger Tage –, noch der Liedsänger Matthias Goerne passen in Verdis vokales Profil. Und sie harmonieren nicht mit dem Sopran Zarina Abaeva und dem Mezzo Eve-Maud Hubeaux, was vor allem im nur leise harmonisch gestützten Quartett („fac eas de morte transire ad vitam“) durch zerrissenen Klang Schmerz bereitet. Andreas Schager müht sich bewundernswert darum, seine Soli textsinnig und klangschön zu gestalten, aber schon das „Kyrie“ ist nicht leuchtend, sondern nur laut. Ein schönes Legato fällt ihm schwer. Im „Ingemisco“ sucht er den bittenden Ton, aber die Stimme ist nicht geschmeidig genug, auch nicht, um das „Inter oves“ in seinem fast kindlichen Flehen in einen schwerelosen Klang zu kleiden. Zarina Abaeva erweist sich dagegen als stilgewandte Verdi-Sängerin, die sich nicht zu vibratosatter Tongewalt hinreißen lässt und die Höhe auch im Piano sicher ans Zentrum anzubinden weiß. Ihr „Libera me“ erfleht sie sich von der Chorempore herab; vielleicht bleibt seine innere Bewegung deshalb etwas blass.

Eve-Maud Hubeaux und Andreas Schager. Foto: Holger Jacoby)

Nichts bleibt ungesühnt

Bei Matthias Goerne spürt man die Qualität des Liedgestalters: Kaum einer singt das dreimalige „mors“ jedes Mal anders aufgeladen – erschüttert, bitter, resigniert; kaum einer gestaltet die rhythmische Feinheit des „Hostias“-Beginns so klug wie Goerne. Aber schon im Kyrie befremdet der gewohnte, weit hinten gebildete, kehlige Klang der Stimme, der sich zu gurgelnder Intensität steigert und einen sinistren Gegensatz zum schlank-samtigen Timbre von Eve-Maud Hubeaux aufbaut. Die Schweizer Mezzosopranistin – die Amneris der Salzburger Festspiele 2022 und Eboli der Wiener Staatsoper 2020 – ist kein breiter italienischer „Contralto“, sondern eine präsent artikulierende Sängerin mit einer definierten Emission, die nur im Wechsel in die Bruststimme („latet apparebit“) ihren ästhetischen Ton nicht mitnehmen kann.

Hubeaux singt in der mittelalterlichen „Dies irae“-Sequenz den einen Satz, der sich in der gebannten Stille nach dem Verklingen des letzten „Libera me“ (und eines prompt einsetzenden Handy-Gebimmels) aufdrängt: „Nil inultum remanebit“. Nichts bleibt – glaubt man denn an einen Gott und ein Weltgericht – ungesühnt. Dieser Satz sollte den Mächtigen in den Ohren gellen, die heute ihre Gewaltorgien in der Ukraine und in vielen Teilen der Welt toben lassen. Der gerechte Gott ist die Hoffnung der Opfer. Das wäre das Statement dieses Requiems.




Die Liebe, ein sehnsüchtiger Wunsch: Das Hamburg Ballett unter John Neumeier in Essen

Logo: Hamburg Ballett

Logo: Hamburg Ballett

Das Licht verlischt, der Horizont glüht blassblau auf. Christoph Eschenbachs Charakterkopf und der Flügel zeichnen sich scharf konturiert vor dem Hintergrund ab – wie ein Scherenschnitt des 19. Jahrhunderts. Eine Tänzerin tritt an den Flügel, ihr Kostüm ist einfach; reines Weiß.

Eschenbach beginnt zu spielen, leicht und verträumt. Schumanns „Kinderszenen“ eröffnen das Gastspiel des Hamburg Balletts in der Essener Philharmonie. Es sind stille, in sich versunkene Momente; die Tänzer bilden in fließenden Abläufen poetische Bewegungs-Bilder.

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

Eschenbachs Schumann-Interpretation, die er auch bei der Premiere des Balletts 1974 spielte, war ein Grund für die Entstehung der Choreografie, bekennt John Neumeier in seinen Lebenserinnerungen. Der Mann ist jetzt schon eine Legende: dienstältester Ballettdirektor der Welt, über 140 eigene Choreografien. Seit 1973 prägt Neumeier das Hamburg Ballett. Im September 2013 feiert die Compagnie die 40-jährige Zusammenarbeit mit dem Amerikaner, der ihr ein unverwechselbares Profil gegeben hat.

Eine Uraufführung für Essen

Pünktlich zum Jubiläum hat es die Philharmonie Essen geschafft, Neumeiers Truppe zu einem Gastspiel an die Ruhr zu bringen. Es gab auch ein Geburtstagsgeschenk: Damit ist nicht die Torte gemeint, die Intendant Johannes Bultmann am Ende der gefeierten Gala aufs Podium bringen ließ. Sondern eine Uraufführung: John Neumeier schuf unter dem Titel „Um Mitternacht“ eine neue Arbeit zu den Rückert-Liedern von Gustav Mahler, die er 1976 schon einmal choreografiert hatte. Vom „In Residence“-Künstler Christoph Eschenbach mit feinsten Nuancen begleitet, sang Matthias Goerne die ergreifend resignativen Klagen Mahlers mit seinem dumpfen, gurgelnden Timbre, prekärer Wortverständlichkeit und unklarer Vokalisierung – stets ein neues Rätsel, warum dieser Bariton zu den führenden Liedsängern zählen soll.

Edvin Revazov. Foto: Holger Badekow

Edvin Revazov. Foto: Holger Badekow

Neumeier deutet tragisches Scheitern von Liebessehnsucht, Beziehungsnot und Einsamkeit eher an, als sie allzu erzählend auszubreiten. Wenn am Ende der grandiose Solist Edvin Revazov sein Gesicht in die Hände einer der Welt enthobenen Frau in grüner Gaze legt, sich die Farbe des Kleides als Licht über die Szene legt, wird die Entrückung greifbar. In der „realen“ Welt triumphiert derweil die Kälte: Anna Laudere sitzt trotzig mit unbeteiligt gelangweiltem Blick da; Revazov legt seinen Kopf auf ihre Knie: „Liebe um Liebe“, wie sie das Lied „Liebst du um Schönheit“ erträumt, bleibt eine Vision.

Eschenbach folgt am Flügel Mahlers Anweisung, die Tempi „äußerst langsam“ zu nehmen. Dass die Spannung hält, ist seiner Kunst zu verdanken, die Töne zusammenzubinden. Die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts beherrschen die konzentrierte Bewegung so virtuos, dass sie auch in der rubatoverliebten Metrik stets mit Eschenbach zusammen auf einen Punkt kommen.

Souveräne Bewegungs-Kontrolle

Auch in den anderen Choreografien des Abends, frühe Arbeiten Neumeiers aus den siebziger Jahren, weckt die souveräne Kontrolle fließender Abläufe Bewunderung. Neumeier fordert kaum einmal Tempo. Er lässt die Paare sensible, fast schon skulpturenähnliche Figuren bilden: präzise Abstimmung und dosierte Kraft sind bewundernswert. Beispielhaft sei der Solist Alexandre Riabko genannt: In „Vaslaw“ von 1979, einer Hommage an den Tänzer und Künstler Vaslaw Nijinski mit Musik Johann Sebastian Bachs, bildet er mit unglaublicher Körperspannung den ruhenden Gegensatz zu den ausgezirkelten Figuren der Paare und der Solistin Patricia Tichy.

Mitgebracht hatte Neumeier auch das von ihm 2011 gegründete und betreute Bundesjugendballett. Begleitet von dem beherzt zugreifenden jungen Pianisten Christopher Park tanzten drei Paare Strawinskys „Petruschka-Variationen“ (1976) mit Lust an der rhythmischen Mechanik und kraftvoller Geschmeidigkeit.

Der Abend unter dem Titel „Nirgends … wird Welt sein als innen“ ist noch einmal zu sehen: am Samstag, 22. Juni, in Hamburg.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ erschienen).




Tamara Stefanovich mit neuen und alten Musikminiaturen beim Klavier-Festival Ruhr

Die Pianistin Tamara Stevanovich. Foto: Frank-Alexander Rümmele

Pianistin Tamara Stevanovich, regelmäßiger Gast beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Frank-Alexander Rümmele

25 Klavierminiaturen in einem Konzert, 25 musikalische Petitessen aus vier Jahrhunderten, mit Kompositionen von Domenico Scarlatti bis hin zu Thomas Larcher.

Scheinbar ist alles bunt gemischt, genau besehen aber sinnfällig verquickt, ein munteres, spannendes Exerzitium von 75 Minuten Länge, ohne Pause.

Solcherart Konzeptkunst mag den Verdacht schüren, intellektuell überzuquellen. Doch wenn die jugoslawische Pianistin Tamara Stefanovich sich der Sache annimmt, einerseits mit konzentriert kontrolliertem, analytischem Zugriff, zum anderen nicht ohne Emotion, wird daraus eine runde Sache. Mit Aha-Effekten fürs hochaufmerksame Publikum. Seht her, die Moderne, sie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat ihre historischen, ästhetischen Bezugspunkte.

Stefanovich ist nicht zuletzt ein Ziehkind des Klavier-Festivals Ruhr, bei dem sie seit 2004 regelmäßig auftritt, und dem sie eben zum 25jährigen Jubiläum dieses außergewöhnliche Konzert geschenkt hat. Sie kredenzt uns in Wattenscheid sowohl Barockes wie auch Werke der Romantik, der klassischen Moderne wie vier Uraufführungen – diese geschrieben wiederum zum runden Geburtstag der Pianistin.

Ein Abend mit melancholischer, aufbrausender, verspielter, sentimentaler, quicklebendiger wie attackierender Musik. Klangvolle Episoden, die mitunter wie aus eines Komponisten Baukasten wirken. Wild Dramatisches im Wechsel mit zauberhaften Ruhepunkten. Pianistin und Publikum forschend und hörend im Steinbruch der Tonmassen. Ein Genuss für jeden, der neugierig ist.

Neugierig etwa auf den englischen Komponisten John Woolrich, der Stefanovich eine Etüde gewidmet hat. Basierend auf nur einem Ton, der an Gewicht gewinnt, umspielt wird, sich auswächst in wild dissonante Akkorde, sich mit ein bisschen Jazzidiomatik umgibt, um am Ende zart und ruhevoll dahinzugleiten. Und wenn sich daran György Ligetis 7. „Musica ricercata“ anschließt, ganz gemächlich, romantisch gefärbt, diese wiederum in Verbindung gebracht wird mit Chopin und Skrjabin, dann hören wir, wie die Jüngeren von den Altvorderen zehren.

Komponist Vassos Nicolaou. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Komponist Vassos Nicolaou. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Seinen Beitrag zur Gattung Etüde hat der Grieche Vassos Nicolaou ebenfalls der Pianistin zugeeignet, gleich drei an der Zahl. Hochvirtuos ist diese Musik, mit überraschenden Wendungen und Beschleunigungen, voller Kniffe und Tücken also.

Der Kontrast zu solcher Attacke kann kaum größer sein, wenn im Anschluss ein Walzer Ligetis gewissermaßen in sich kreiselt, melancholisch (mit Bartók im Rücken) das alte Österreich-Ungarn aufblühen lässt, immer durchzogen vom Dreivierteltaktbrodeln wie in Ravels Endzeitstück „La Valse“.

Dritter im Bunde der Neuschöpfer und Stefanovich-Gratulanten ist der Franzose Franck Amsallem, der eine grüblerische Improvisation schuf („Brooding“). Ein gewichtiges, dunkles musikalisches Schreiten mit zunehmendem Erregungsgrad – bedrohliche Bassfiguren treffen auf klirrende Diskantschläge. Schließlich York Höller, der sein Opus kurzerhand „Für Tamara“ nennt. Getragen von archaischen Akkorden, verdichtet sich die Materie immer mehr zu einem kraftvollen Fließen – damit unmittelbar hinlenkend auf das letzte Stück des Abends, Olivier Messiaens „Insel des Feuers“.

Komponist York Höller. Foto: Mark Wohlrab

Komponist York Höller. Foto: Mark Wohlrab

All dies interpretiert Stefanovich präzis, ohne einem analytischen Buchstabieren zu verfallen. Dass sie dabei in der Lage ist, stilsicher zwischen den Jahrhunderten zu wandeln, darf getrost als bravourös bezeichnet werden. Virtuose Manier kennt die Künstlerin im übrigen nicht. Nur Empathie, technisches Können und ein Gespür fürs jeweilige Kolorit. Mit einem Programm, das dem Klavier-Festival Ruhr gut zu Gesicht steht – abseits des allgefälligen Repertoires.

Tamara Stevanovich ist am 5. Juni (20 Uhr) erneut Gast des Klavier-Festivals. Mit dem Bariton Matthias Goerne interpretiert sie u.a. Lieder von Brahms, Alban Berg und Schostakowitsch – im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Robert-Schumann-Saal.

Info: www.klavierfestival.de

 

 




Wagner-Jahr 2013: „Parsifal“ im Dortmunder Konzerthaus – zurück zur Mystifizierung?

Angela Denoke und Simon O'Neill in "Parsifal" im Dortmunder Konzerthaus. Foto: Petra Coddington

Angela Denoke und Simon O’Neill in „Parsifal“ im Dortmunder Konzerthaus. Foto: Petra Coddington

Wagner und die Religion: In keinem anderen Werk kristallisiert sich dieses Verhältnis so heraus wie im „Parsifal“, der die „Weihe“ schon in seiner Bezeichnung trägt.

Spätestens seit der tempophilen Aufnahme mit Pierre Boulez gehört es zum gängigen ideologischen Repertoire moderner Deutungen, vom „Bühnenweihfestspiel“ den Weihrauch wegzublasen. Schluss mit der Mystifizierung, weg mit den erhabenen Tempi vergangener Tage – und das mit Unterstützung durch Wagner-Zitate, etwa der Klage, seine Musik werde doch stets viel zu langsam gespielt.

Nun ist die Frage nach dem Religiösen in Wagners Philosophie – die sich ja nicht auf die Musik beschränkt – ein Irrgarten mit vielen Ausgängen. Und Inszenierungen der letzten Jahre (von Schlingensief in Bayreuth bis Bieito in Stuttgart) haben sich dem Thema sehr unterschiedlich genähert. Einig waren sie nur in einem: Mit der „Kunstreligion“ alter Prägung wollten sie nichts mehr zu tun haben.

Genau jene holt nun Thomas Hengelbrock wieder in den Konzertsaal. So sehr er musikalisch für den Weg zurück zu den Klangvorstellungen der Zeit Wagners als Schritt vorwärts wirbt, so konservativ wünscht er historisch gewordenes Verhalten: Bei der Aufführung des „Parsifal“ auf Instrumenten der Wagner-Zeit im Konzerthaus in Dortmund fordert er auf, nach dem ersten Aufzug nicht zu applaudieren, bringt erste Klatscher mit einer Geste zum Schweigen. Sind wir wieder in der Kunstkirche Richards des Allergrößten? Was soll die Retro-Mystifizierung der Grals-Enthüllung zum Pseudo-Gottesdienst?

Dass Hengelbrock ansonsten musikalisch nichts „heilig“ ist, steht dazu in einem auffälligen Gegensatz: Denn der Dirigent, der seit Jahren für frischen Wind in der Szene der „historisch informierten“ Aufführungspraxis gesorgt hat, hinterfragt auch im Falle Wagners konsequent die bisherigen Gepflogenheiten. Bach, Händel, Mendelssohn auf Darmsaiten? Keine Frage! Aber Wagner auf organischem Material? Das war für viele Musiker, obwohl historisch unhinterfragbar, bisher kein Thema. Kritisch sieht Hengelbrock auch den Klang moderner Holzblasinstrumente. Flöte, Oboe, Englischhorn: In seinem Balthasar-Neumann-Ensemble, mit dem er in Dortmund – und bald in Essen und Madrid – den „Parsifal“ konzertant aufführt, spielen nicht moderne Weiterentwicklungen, sondern sorgfältig durch Quellen und Studien abgesicherte Instrumente, wie sie sich Wagner wohl gewünscht oder wie er sie gehört hat.

Das Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht erhellend: Ein schlanker, lichter Streicherklang, der durchaus die Substanz für das überwältigende Crescendo mitbringt; flexible, farbenreiche Holzbläser, die eigenständig neben die Streicher treten, statt wie in „konventionellen“ Aufführungen oft lediglich als Farbakzent im Mischklang wahrnehmbar zu sein. Auch das markante Blech bringt ein Spiel voller Nuancen und koloristischer Finessen mit ein. Selten waren die Bläser zu Beginn des Klingsor-Aktes so rau zu hören wie in Dortmund: Das Böse grinst aus ihrem Spiel.

Kein Zweifel: Das Erlebnis des Klangs wird vielfältiger, detailreicher. Schwerer herzustellen sind freilich jene geheimnisvollen, unverortbaren, sensualistischen Mischungen, die – auch ohne Plädoyer für den Weihrauch in der Musik – die Faszination des „Parsifal“-Klangbilds ausmachen. Wagner war, glaubt man seinen eigenen Beschreibungen, von diesem mystisch angehauchten, aus weiter, weiter Ferne schwebenden Ton fasziniert und berührt. Und er steht für viele „Parsifal“-Anhänger ja auch für jene zeitlose Mystik, die dem Werk innewohnt. Um ihn zu schätzen, muss man keine mystische Vernebelung betreiben; aber vielleicht gilt es anzuerkennen, dass ein „Parsifal“ ohne Transzendenz, wie er einer materialistischen Deutung vorschwebt, dem Werk und den Intentionen seines Schöpfers nicht gerecht wird.

Die Problematik der Hengelbrock’schen Deutung sehe ich eher im Tempo und in der Phrasierung. Schon im Vorspiel lässt er keine Zeit, den Ton ausschwingen zu lassen, schneidet die Phrasen allzu korrekt zurecht. Sein Karfreitag mutet eher an wie die Prozession einer preußischen Militärmusik. Hengelbrock meidet vor allem in rein instrumentalen Teilen eine atmende, organische Phrasierung – die er den Sängern ohne weiteres zugesteht. Das macht die „Parsifal“-Musik manchmal steif und im schlimmsten Falle belanglos: ein Manko, das seinem Bayreuther „Tannhäuser“ 2011 in Teilen des Feuilletons und des Publikums zu Recht viel Kritik eintrug.

So fehlt dann auch die Zeit für den Klang, sich einzuschwingen – ein Phänomen, das durch den historisch fragwürdigen Verzicht auf jegliches durchgehendes Vibrato noch verstärkt wird. Dennoch: Hengelbrocks Experiment wirft auf den „Parsifal“ und auf das Mühen um einen historisch verantworteten und musikalisch tragfähigen Klang für Wagner ein aufschlussreiches Licht. Er hat mit seinem „Parsifal“ nicht der Weisheit letzten Schluss vorgelegt, aber einen Meilenstein gesetzt. Anderen ist es aufgegeben, diesen Weg weiterzugehen.

Frank van Hove als Gurnemanz in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Frank van Hove als Gurnemanz in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Unter den Sängern der Dortmunder Aufführung darf Angela Denoke an erster Stelle genannt werden: Ihre Kundry war beglückend entspannt, geistig durchreflektiert und mit stimmlichen Mitteln bewegend gestaltet. Die Sängerin hat einen langen und bisweilen dornigen Weg der stimmlichen Entwicklung hinter sich; das Ergebnis ist rundum überzeugend. Auch Johannes Martin KränzlesKlingsor erschöpft sich nicht in einer schönen, wohlgeformten Stimme, sondern bringt mit Hilfe einer reifen Technik zum Ausdruck, was in dieser komplexen Figur steckt: Die aus Verletzungen und Traumata erwachsende Bosheit hat selten ein Sänger so überzeugend in vokale Farben getaucht.

Der Gurnemanz wurde erst kurzfristig mit dem Bass Frank van Hove besetzt: eine klare, nicht sehr große, geradlinige Stimme, ausgezeichnet artikulierend und sorgfältig den Text ausdeutend, freilich auch ohne die Sonorität und Fülle einer klassischen Wagner-Stimme. Diesem Ideal kommt eher Victor von Halem als Titurel entgegen; allerdings muss man bei ihm auch die kehlige Färbung der Töne in Kauf nehmen. Simon O’Neills Parsifal war trotz seines gestalterischen Engagements keine Offenbarung: zu klein, beengt in der Emission, knödelig quäkend im Ton. Nur im zweiten Aufzug gelang es ihm, sich zu befreien, seinen Tenor hin und wieder strömen zu lassen statt ihm eine grelle Tonproduktion aufzudrängen.

Mit großen Erwartungen befrachtet, enttäuschte Matthias Goernes Auftritt als Amfortas. Es ist vor allem das gedeckte, unfreie Timbre, das den Klang eindimensional werden lässt, dazu kommen guttural klingende Vokale und begrenzte Expansionsfähigkeit. Seine Textausdeutung dagegen ist tadellos und verrät die Erfahrung des Liedsängers. Der Balthasar-Neumann-Chor und die Knaben der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund beschworen eher Palestrina – mit dem sich Wagner eingehend befasst hatte – als den füllig-sensiblen Klang, der aus den mystischen Höhen Bayreuths herabströmt. Am 26. Januar ist der Hengelbrock’sche „Parsifal“ in der Philharmonie Essen zu erleben.