Deutschland-Premiere für den bleichen Mann vom Mars: David Bowies Musical „Lazarus“ am Düsseldorfer Schauspielhaus

Szene aus „Lazarus“
(Foto: Lucie Jansch)

Die Außerirdischen leben mitten unter uns: Doch leider bleiben sie uns fremd und wir ihnen. Daher sind sie einsam und traurig und wünschen sich hinweg in eine andere Welt – ob dies ihre Heimat ist oder das Jenseits bleibt offen. Zumindest in dem Musical „Lazarurs“ von David Bowie und Enda Walsh, das jetzt im Schauspielhaus Düsseldorf seine Deutschland-Premiere feierte.

Die Story basiert auf dem Film „Der Mann, der vom Himmel fiel“ von 1976, in dem Popstar David Bowie die Hauptrolle spielte. Er verkörpert darin einen seltsam blassen, androgyn schönen Mann vom Mars, der auf die Erde geschickt wurde, um Wasser zu finden. Denn auf dem Mars herrscht eine schreckliche Dürre; um seine Heimatzivilisation zu retten, möchte Thomas Newton gemeinsam mit menschlichen Wissenschaftlern einen Weg finden, das Wasser auf den Mars zu transportieren. Doch stattdessen wird er Opfer medizinischer Experimente und seine Liebe zum Erdenmädchen Mary Lou geht auch schief. Der Rückweg bleibt ihm versperrt, er verfällt dem Gin.

Melancholie vor dem Ende des Lebens

Hier setzt nun die Handlung des Musicals ein, das im Dezember 2015 (wenige Wochen vor David Bowies Tod) in New York uraufgeführt wurde. In der Entstehungszeit war David Bowie bereits krebskrank, so dass die Auseinandersetzung mit dem Sterben der Hauptfigur Thomas Newton als Alter Ego des Künstlers einen ebenso existenziellen wie verzweifelten Zug verleiht. Musikalisch korrespondiert beispielsweise der Titelsong „Lazarus“ mit Bowies letzter CD Blackstar, die zwei Tage vor seinem Tod herauskam: Auch hier bricht sich die Melancholie des Lebensendes Bahn; zugleich spürt man den genialen, wandelbaren Künstler, der sich immer wieder verändert und nicht nur ausdrückt, was er fühlt, sondern auch seismographisch die Zeit erspürt, in der er lebt.

(Foto: Lucie Jansch)

Im Schauspielhaus sitzt der norwegische Performer und Sänger Hans Petter Melo Dahl alias Newton in einer Art Raumschiff-Kuppel auf einem Stuhl, den der Filmliebhaber als den Sessel der medizinischen Experimente wiedererkennt. Dahl sieht dem alternden Bowie verblüffend ähnlich, seine Stimme klingt allerdings ein wenig tiefer, männlicher als man Bowies in Erinnerung hat. Aber vielleicht ist das auch der Bronchitis geschuldet, die Regisseur Matthias Hartmann zu Beginn dem Publikum ankündigt und für die er um Verständnis bittet.

Auch Hartmann ist ein wenig älter geworden, als man ihn als Intendant am Bochumer Schauspielhaus in Erinnerung hatte – kein Wunder, denn das ist ebenfalls 13 Jahre her. Dazwischen liegen das Burgtheater und der Finanzskandal, der zu seiner Entlassung führte. Außerdem hat Hartmann aktuell auch noch eine Art MeToo-Debatte am Hals, in der es aber eigentlich um das autoritäre System des Stadttheaters und unpassende Herren-Witze bei Proben geht – doch das führt hier gerade zu weit…

Ein Ring aus lauter Ginflaschen ums Bett herum

Newton vom Mars jedenfalls lebt in einem New Yorker Penthouse, sein Bett umringt mit Ginflaschen. Er ist so einsam, dass er ein feenhaftes Mädchen (Lieke Hoppe) imaginiert – vielleicht kann sie ihm helfen, zu seinem Planeten zurückzukehren? Ferner umsorgt ihn noch Assistentin Elly (Rosa Enskat), die sich mit einer Ehekrise herumplagt und ihren Chef vergöttert. Das geht so weit, dass sie sich als seine verflossene Geliebte Mary Lou verkleidet, um ihrem unnahbaren Marsmenschen näher zu sein.

Die Rolle des Dämons übernimmt Valentine (André Kaczmarczyk), ausstaffiert als eine Mischung aus Drag-Queen und Todesengel mit schwarzen Flügeln. Er scheint geradewegs Bowies Song „Valentine’s Day“ entstiegen zu sein, der sich um einen Amokläufer dreht. Sie alle singen nun abwechseln David Bowies Hits von „Absolute Beginners“ über „Changes“ und „Life On Mars?“ bis hin zu „The Man Who Sold the World“ – eine Hommage an den Popstar, die dadurch gewinnt, von verschiedenen Figuren performt zu werden. Doch obwohl alle tolle Stimmen haben: An das Original reicht irgendwie keiner heran.

(Foto: Lucie Jansch)

Schade, dass die Dialoge ein wenig platt daherkommen, vielleicht um den amerikanischen Musical-Geschmack zu treffen? Auch bleibt die Handlung stellenweise verrätselt: Es geschehen beispielsweise zwei Morde, deren Motive im Dunkeln liegen. Andererseits gehört das Skurrile, Dunkle, Sinnfreie bzw. Hintersinnige eindeutig zu Bowies Werk. Genauso wie die Liebe zu den Sternen und zum Weltall. Den ganzen Abend habe ich deswegen auf „Major Tom“ (aus Space Oddity) gewartet, doch das Lied kam nicht. Stattdessen schwebt Mr. Newton mit seinem erfundenen Girl zu den Klängen von „Heroes“ in seiner Raumkapsel am Ende gen Himmel. Erlöst und befreit von der Erdenschwere dieser Welt.

P.S. Das Bühnenbild von Volker Hintermeier und die Kostüme von Su Bühler waren übrigens großartig: Da kam richtiges 70er Jahre Feeling auf.

Termine und Karten:
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Amtsstuben und Pferdeställe: Matthias Hartmann inszeniert „Michael Kohlhaas“ nach Kleist in Düsseldorf

Amtsstuben und Pferdeställe – das großartige Bühnenbild von Johannes Schütz lässt sich in beides verwandeln: Es besteht aus unzähligen Tischen und Stühlen, aus denen man verschiedene Holzkonstruktionen zusammenstecken kann, nicht zuletzt den Knast, in dem Michael Kohlhaas am Ende sitzt.

Szenischer Überblick zu "Michael Kohlhaas" (Foto: Sebastian Hoppe)

Szenischer Überblick zu „Michael Kohlhaas“ (Foto: Sebastian Hoppe)

Matthias Hartmann, bis 2015 Intendant des Wiener Burgtheaters, davor u. a. Theaterchef am Bochumer Schauspielhaus, hat die Inszenierung der Novelle von Heinrich von Kleist für das Düsseldorfer Schauspielhaus im Ausweichquartier Central besorgt. Und er schafft es, dass der Text zu uns spricht. Das ist nicht selbstverständlich, denn schließlich hat Kleist genug Bühnenstücke geschrieben, warum sollte sich da ausgerechnet eine seiner Novellen besser für die Performance eignen?

Die Schauspieler haben daher die Aufgabe, zum Text das „sagt er“ mitzuspielen und dabei finden sie allesamt einen guten Rhythmus. Überhaupt ist „Michael Kohlhaas“ sehr spielerisch angelegt, ein wenig wie bei Kindern, die sich aus allen möglichen Möbeln Höhlen bauen und dazu ihre Geschichte entwickeln.

So klappert also munter die Schauspielerschar um das Bühnenbild herum und imitiert den Hufschlag von Pferden, indem sie Kokosnussschalen aufeinanderschlägt. Leider steht am Schlagbaum der sächsischen Tronkenburg ein missgünstiger Grenzer und will den Rosshändler Michael Kohlhaas mit seinen Pferden nicht durchlassen. Schäbig, wie der Junker Wenzel von Tronka dem Kohlhaas dann seine schönsten Rappen abluchst und auch noch herunterwirtschaften lässt. Als dieser sein Pfand für den Passierschein wieder abholen will, sind die Gäule abgemagert und schwach.

Im Vertrauen in den Rechtstaat möchte Kohlhaas dafür Gerechtigkeit. Doch die bekommt er nicht: Durch Vetternwirtschaft, Intrigen, Schwerfälligkeit des Amtsschimmels und Willkür der verschiedenen Obrigkeitsstaaten wird seine Sache erst verschleppt, dann wendet sie sich gegen ihn.

Aus dem braven Kohlhaas wird nach und nach ein Wutbürger und schließlich ein Terrorist, der Selbstjustiz übt: Nicht nur gegen den Junker, der ihn betrogen hat, sondern gegen das verrottete Staatswesen gleich mit. Wenn Unschuldige dabei draufgehen, ist ihm das egal. Diese Verwandlung gelingt Christian Erdmann überzeugend. Wie er erst in die missliche Lage schlittert, wie sich dann aber sein vernünftiges Anliegen in Besessenheit verwandelt und ihn schließlich mitsamt der Familie ins Unglück stürzt, bringt der Schauspieler grandios zum Ausdruck.

Was waren das für Zeiten, denkt man außerdem: Mit all diesen Grenzen und all dieser Ungerechtigkeit für die einfachen Leute. Und wie schnell kann so etwas wieder passieren, wenn man nicht aufpasst: Wie schnell gibt es plötzlich wieder Diktatoren, Willkürherrschaft oder Machthaber, die sich einfach über die Gesetze stellen…

Karten und Termine:
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„Der Idiot“ nach Dostojewskij: Glücksfall einer Roman-Adaption im Düsseldorfer Schauspiel

Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Düsseldorf

Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Düsseldorf

Eigentlich kann ich ja mehr mit Tolstoi anfangen: Krieg und Frieden, Anna Karenina – hier blühen die russischen Leidenschaften, hier lernt man die Familienmitglieder mit der Zeit so gut kennen, als gehörten sie zur eigenen Verwandtschaft. Dostojewskijs Romane schienen mir immer ungleich düsterer, zerquälter.

Da geht es um Schuld, Verbrechen, moralische Abgründe. „Die Brüder Karamasow“ sind zwar außerdem ein packender Krimi, doch im „Idioten“ bin ich steckengeblieben. Bei der Bahnfahrt des Fürsten Myschkin von der Schweiz zurück nach St. Petersburg saß ich noch neben ihm, begleitete ihn auch in das Haus der Familie Jepantschin zum ersten Besuch, doch danach habe ich ihn irgendwie aus den Augen verloren…

Deswegen ist Matthias Hartmanns Inszenierung von „Der Idiot“ am Düsseldorfer Schauspielhaus ein absoluter Glücksfall: So packend, witzig, unterhaltsam und dramatisch habe ich lange keine Roman-Adaption auf der Bühne gesehen – und davon gibt es ja inzwischen viele.

Vielleicht liegt es daran, dass Matthias Hartmann, ehemaliger Intendant der Theater in Bochum und Zürich sowie des Wiener Burgtheaters, die Bühnenfassung gemeinsam mit der Dramaturgin Janine Ortiz und dem Ensemble beim Lesen des Romans auf der Bühne entwickelt hat. Die Schauspieler erzählen dem Zuschauer die Geschichte wie einen Erlebnisbericht. Zugleich spielen sie ihre Figuren absolut großartig.

André Kaczmarczyk gibt den Fürsten Myschkin als ein derart gutherziges, kindliches und engelhaftes Wesen, das in seiner verstrubbelten Sensibilität sofort den Beschützerinstinkt in allen weckt. Jeder möchte nach seiner Begegnung mit ihm ebenso gut sein wie er – doch die meisten schaffen das leider nicht. Deswegen lassen sie sich mitunter dazu hinreißen, den armen Epileptiker einen „Idioten“ zu nennen. Doch auch das nimmt ihnen Myschkin keineswegs übel: Im Gegenteil, er strengt sich nur noch mehr an, die Fehler seiner Mitmenschen zu verstehen, zu verzeihen, auszubügeln – bis dies zum Schluss seine gesundheitlichen Kräfte übersteigt.

Das ebenso flexible wie schlichte Bühnenbild von Johannes Schütz lässt sich in verschiedene Wohnungen und Zimmer verwandeln, ebenso wie das restliche Ensemble immer wieder in verschiedene Rollen schlüpft. Besonders prägnant dabei ist Rosa Enskat als Generalin Jepantschina und Iwolgina, die ihre Töchter schnippisch im Griff hat, im Grunde eine Zicke hoch drei, doch beim Fürsten Myschkin schmilzt auch sie dahin.

Eine bleibt allerdings immer sie selbst, obwohl sie sich nie findet: Yohanna Schwertfeger als die vulgäre Mätresse Nastassja Filippowna, als Kind missbraucht und nun nicht mehr fähig, der Selbstzerstörung zu entgehen. Die Liebe des Fürsten kann sie nicht annehmen, sie ist ihr zu rein. Statt dessen verstrickt sie sich in eine Hassliebe mit dem neureichen Kaufmann Rogoschin (Christian Erdmann), die sie mit dem Leben bezahlt.

Der vierstündige Abend vergeht wie im Flug, die Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Dresden sollten sich Liebhaber der russischen Literatur, aber auch Neulinge auf diesem Gebiet nicht entgehen lassen. Auch in völliger Unkenntnis des Romans begreift man die Essenz dieses abgründigen und zugleich idealistischen Werkes gut – und wird dabei noch bestens unterhalten.

Karten und Termine: www.dhaus.de




Sog der wortkargen Geschwätzigkeit – Deutsche Erstaufführung von Jon Fosses „Todesvariationen“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Gibt es wortkarge Geschwätzigkeit? Normalerweise nicht. Doch beim norwegischen Dramatiker Jon Fosse erlebt man sie konkret.

Seine Personen bilden sehr einfache, knappe Sätze („Es ist nicht so“ / „Du darfst nicht“ /„Kannst du bitte gehen“). Sie quellen melancholisch aus Mündern und tropfen in ein Meer des Schweigens. Doch wie in einer Endlosschleife werden sie in wechselnden Phrasierungen wiederholt, so dass denn doch auf lakonische Art recht viel geredet wird.

Es ist vielleicht die Angst vor dem endgültigen Verstummen, vor dem Tod, welche diese Menschen umtreibt und zum bloßen Sagen am Rande der Sprachlosigkeit drängt. Dies gilt auch fürs Stück „Todesvariationen“, das jetzt in den Bochumer Kammerspielen als deutsche Erstaufführung zu sehen ist. Nach „Winter“ und „Schönes“ ist es bereits die dritte Bochumer Fosse-Premiere. Man erkennt den Autor sogleich am „Sound“ wieder. Dem rhythmischen Sog überlässt sich auch der Regisseur Matthias Hartmann.

Der ruhmreiche Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann hat (passend zum schlackenlosen Text) einen gleißend hellen, leeren Kastenraum bauen lassen. Nichts lenkt in diesem minimalistischen Umfeld von den Worten und Gesten ab, die hier äußerst plastisch hervortreten, obgleich ziemlich verhalten gespielt wird. Jede Handbewegung, jede Schrittfolge gerinnt zum Zeichen.

Familiäres Mysterienspiel

Vor der Bühne schwankt ein Schiffsmast als Signal eines wellengleich wechselhaften Schicksals. Das aber ist gnadenlos hart: Ein älterer Mann und seine Frau (ganz große Besetzung: Hans-Michael Rehberg, Barbara Nüsse) haben ihre einzige Tochter verloren. Sie hat Selbstmord begangen. Schon als Kind wollte sie nur „ihre Ruhe haben“. Doch ihre Tat wird ein Rätsel bleiben, der Text umschleicht den Freitod wie eine schrecklich leere Mitte. Neben den Eltern, die den Schmerz nicht fassen können und den Tod nicht wahrhaben wollen, geistern zwei weitere Paare über die Erinnerungsbühne: die beiden selbst, in früheren Jahren des Beginnens, der Schwangerschaft, der Ehekrisen und der Trennung (Patrick Heyn, Sabine Haupt); sodann die heranwachsende Tochter mit einem Freund (Cathérine Seifert, Johannes Zirner), der sie verlockt, aber auch stets vor sich warnt und vielleicht „der Tod“ selbst ist.

Familiäres Mysterienspiel im Schattenreich eines gleitenden Phasenwandels: Düstere Vorahnungen und verzweifelte Rückblicke kreuzen sich. Die subtil eingesetzten Schattenrisse der Figuren werden zum dramaturgischen Element. Gespenstischer Befund: Jede(r) ist für sich allein, Mitteilungsversuche schlagen fehl.

Ohne nähere Bestimmung müssen diese Gestalten auskommen. Sie sind letztlich alterslos. haben keine erkennbaren Berufe, auch Ort und Epoche des Geschehens sind nicht gewiss. Soziologische und psychologische Erklärungsversuche laufen ins Leere. Hier geht’s existenziell zu, für Interpretationen bleiben weite Spielräume.

Und so kreist der Text zuweilen etwas redundant in sich selbst. Gespielt von mittelmäßigen Darstellern, wäre dies wohl schwer erträglich. Doch in Bochum tragen sie das Stück 80 Minuten über manche Untiefen hinweg, so dass man der linguistischen Kammermusik doch atemlos lauscht. Am Ende schwindet ein leuchtendes Quadrat auf der Wand ins Nichts. Dunkel. Stille. Auslöschung.

Termine: 15. Feb., 2. und 8. März. Karten: 0234/3333-111.




Bruchloser Wechsel an Bochums Bühne – Matthias Hartmann übergibt an Elmar Goerden

Von Bernd Berke

Bochum. Es herrscht Harmonie in der Bochumer Theaterweit: Elmar Goerden (40), designierter Intendant des Schauspielhauses ab 2005, stellte sich gestern glücklich strahlend im Rathaus der Revierstadt vor: „Es ist eine Freude, hier zu sein.“ Am liebsten, so Goerden, würde er nun jeden Mauerstein des Theaters mit eigenen Händen berühren.

Offenbar ist er ein Mann des sinnlichen Zugangs. Und seine guten Erinnerungen an Bochum reichen weit zurück. Als Jugendlicher, so der gebürtige Viersener, sei er vom Niederrhein an die Ruhr gepilgert, um Peymanns Inszenierung der Kleistschen „Hermannsschlacht“ zu sehen. Seither habe er gewusst: „Ich will zum Theater“.

Gesegnete Verhältnisse

Sodann pries er die „gesegneten“ Verhältnisse, die er in Bochum vorfinde. Unter Matthias Hartmann, so Goerden, stehe das traditionsreiche Haus „wie eine Eins da“. Es sei verwurzelt in der Region, das Publikum ströme zahlreich herbei und sei bestens gemischt. Elmar Goerden will daher für einen behutsam akzentuierten, bruchlosen Übergang sorgen und „das Rad nicht neu erfinden“.

Exakte Dramaturgie: Kaum hatte Goerden die lobenden Sätze gesprochen eilte der jetzige Amtsinhaber Hartmann in den Saal. Die beiden sind befreundet. Also kam’s zur herzlichen Umarmung, in die dann auch Bochums Kulturdezernent Hans-Georg Küppers einbezogen wurde.

Küppers rechnet fest mit der Zustimmung des Stadtrats im Januar. Er habe vor der Entscheidung „manche schlaflose Nacht verbracht“, denn die Messlatte für den Hartmann-Nachfolger habe hoch gelegen. Mit Goerden komme ein Intendant, der selbst Regie führe und daher interne Feinstrukturen viel genauer kennen werde als ein bloßer Verwalter.

Bisher am Münchner Residenztheater

Welche Schauspieler und weiteren Regisseure er ans Bochumer Schauspiel holen wird, mochte Goerden noch nicht verraten. Er habe bereits genaue Vorstellungen, müsse aber noch Gespräche führen. Vager Richtungsweiser: Am Münchner Residenztheater, wo Goerden derzeit als Oberspielleiter (Intendant: Dieter Dorn) wirkt, hat er zuletzt mit Darstellern wie Lambert Hamel, Oliver Nägele und Rudolf Wessely gearbeitet; beispielsweise in Stücken von Shakespeare, Lessing, Handke und Schimmelpfennig.

Jedenfalls gilt Elmar Goerden als Regisseur, der eine gewisse Texttreue wahrt und Stücke nicht nach Gutdünken „zertrümmert“. Mit seinen Worten: „Der Text ist für mich ein ernst zu nehmendes Gegenüber.“ Es sei ihm daran gelegen, in jeder Saison mindestens einen großen Klassiker^zeitgemäß zu befragen.

Das Bochumer Theater, so der bodenständig wirkende Goerden, könne man nur „mit einer besonderen Passion“ leiten. Dabei wolle er das hohe Gut des Ensemble-Gedankens besonders pflegen. Erkennt den Teamgeist übrigens aus anderer Warte: Goerden war bei Borussia Mönchengladbach mal auf gutem Wege zum Profifußball. Erst eine Verletzung stoppte seine Kicker-Ambitionen.




Feilschen und flackern – Doppelpremiere in Bochum: „Minna von Barnhelm“ und „Electronic City“

Von Bernd Berke

Bochum. Doppelter Premieren-Hieb zum Saisonstart am Samstag in Bochum: Karin Beier setzte Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm“ in Szene. Intendant Matthias Hartmann servierte die Uraufführung von Falk Richters Globalisierungs-Stück „Electronic City“. Ein Kontrastprogramm, fürwahr.

Wollte man denn einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden, so wär’s wohl dieser: Ökonomischer Druck lastet auf den Menschen mitsamt ihren Liebesregungen (oder dem, was davon bleibt).

Lessing zuerst: Jener Major von Tellheim, schnöde aus dem Militärdienst entlassen, daher zutiefst gekränkt und obendrein verschuldet, weist seine große Liebe Minna von Barnhelm nun von sich. Sein schroffes Ehrgefühl lässt die Verbindung nicht zu. Manche List muss Minna anwenden, um wieder anzubandeln. Geld erweist sich als treibende Kraft.

Den Touch der Kostümierung könnte man mit „mühsam verborgene Verwahrlosung“ umschreiben. Das Dekor (Bühnenbild: Thomas Dreißigacker) wird beherrscht von einer Wand mit grässlicher Nussbaum-Anmutung und einem schäbig ausgeflockten Bodenbelag. Auch eine tückische Klappcouch und piefige Lampen deuten auf frühe 1960er Jahre hin, deren Mobiliar derzeit wieder als todschick gilt. Sonderlichen Sinn für die Inszenierung gibt dieses Ambiente nicht her, es schmeichelt eher unserem schrägen Zeitgeist.

Altjüngferlicher „letzter Versuch“

Fisch oder Fleisch vermisst man gelegentlich auch in der Darstellung, die sich nur phasenweise zum Lust-Spiel bekennt, aber auch nicht ohne Scherzen ins Land gehen mag. Dem Text bleibt man recht treu, doch wird mit der hie und da gehudelt. Die Bemühungen Minnas (Johanna Gastdorf), den verstockten Tellheim (Michael Wittenborn) zurückzuerobern, wirken wie ein altjüngferlicher „letzter Versuch“.

Von Erotik spüret man kaum einen Hauch: Hier laufen eher zähe Verhandlungen zwecks Interessen-Abgleich. Am Ende wollen die beiden einander in entgegengesetzte Richtungen ziehen – landläufiges Gezerre zwischen den Geschlechtern.

Immerhin werden Tellheims Abgründe erahnbar: Der Kerl will lieber noch tiefer sinken, als sich in der Schuld anderer zu fühlen. Ein hölzerner deutscher Charakter, den es in dunkle Tiefen zieht. Gut, dass es die Nebenstränge gibt: Felix Vörtler als Wachtmeister und Angelika Richter als Minnas Zofe Franziska geben ein köstliches Komödien-Duo ab, Franz Xaver Zach als schmieriger – Hotelwirt trägt zum Vergnügen bei.

Zahlen-Codes und Onanie zum Pornokanal

Harscher Szenenwechsel in die Kammerspiele, wo Matthias Hartmann sattsam elektronisches Gerät aufgebaut hat, das freilich (wie er erläuterte) zuweilen nicht funktioniert. Die „hilfreiche“ Hotline habe man am Samstag auch nicht erreichen können. Dennoch: Man sieht ausgeklügelte Video-Sequenzen und Bilder von Live-Kameras, die leibliche Präsenz der Schauspieler (vorwiegend junge, gut gemixte Truppe) wird fast zur Nebensache. Technisch und logistisch ist’s meisterlich, darstellerisch geht die Sache auch in Ordnung.

Stromzufuhr tut not. Schließlich heißt das Stück „Electronic City“. Geschrieben hat’s Falk Richter, Jahrgang 1969. Im Premierenpublikum saß auch „Superminister“ und High-Tech-Fan Wolfgang Clement, der selbst beruflich mit Globalisierung ringt. Hier bekommt man atemlos aufgesagt, was es damit auf sich hat: In allen Metropolen der Erde sieht’s gleich aus, Manager und Hilfskräfte jetten heimatlos um den Globus, sie denken nur noch in Zahlen-Codes. Ansonsten onanieren sie zum Flimmern des Pornokanals im Hotel, um sich dann sofort wieder Laptop und Handy zuzuwenden. Merke: Simulation und medialer Overkill töten die Seele.

Glimmspuren der Zuneigung

Am Ende aber wollen es die Protagonisten Tom und Joy trotz aller Endzeit noch mal mit den Glimmspuren ihrer Zuneigung versuchen. Doch so, wie diese erloschenen Individuen verwechselbar werden, so auch diese Art des simultan tönenden und flackernden Theaters mit seinen überwiegend chorisch gesprochenen Zustands-Behauptungen, etwas Agitprop-Stakkato und Debatten-Geklingel plus Traumspiel-Fasern. Es bleibt kaum ein Rest von Geheimnis.

Hartmann lässt de sterilen Spuk die vielleicht bestmögliche Aufbereitung angedeihen. Mit diesem Text hält die Inszenierung allemal Schritt, mehr steckt kaum drin.




Wie die Händler des Todes mobben – Matthias Hartmann inszeniert in der Sparkasse „Die Direktoren“ mit Harald Schmidt

Von Bernd Berke

Direktor Denfert trägt eine besorgte Unschuldsmiene zur Schau, doch dieser Konzern-Jurist ist ein arger Mobbing-Teufel. Dem Direktionskollegen Odéon vom Finanzressort wispert er den dringlichen Rat zu, er solle ruhig den „Kosten-Koeffizienten“ auf 45 Prozent steigern. Der arme Wicht geht darauf ein.

Nun erzählt Denfert allen anderen, Odéon sei offenkundig verrückt geworden. Der wolle doch tatsächlich den Koeffizienten steigern. Wenn die Firma so teuer anbiete, bekomme sie nie Aufträge . .. Der Mann will nach oben, will hinauf zur Vorstandsebene – dorthin, wo sich Montparnasse (Harald Schmidt in seiner zweiten Bochumer Rolle) bereits befindet.

Denfert (aus der Deckung attackierend: Martin Hörn) hat noch viele Giftpfeile im Köcher. Seine Strategien treiben das Stück „Die Direktoren“ an, für das der Franzose Daniel Besse zwei Molière-Preise kassiert hat. Es geht nicht nur um Postenjagd, sondern auch um brisante Rüstungsgeschäfte von „Delta Espace“. Den Briten will man Raketen verkaufen und dabei die US-Konkurrenz ausstechen.

Handlung direkt und via Bildschirm

Bochums Bühnenchef Matthias Hartmann bringt die deutschsprachige Erstaufführung des tragikomischen Inüigen-Reigens nicht etwa im Schauspielhaus, sondern in der Sparkasse heraus: Mit dem Aufzug geht’s in den vierten Stock. Es ist just die trostlos gediegene Chefetage. Dort verteilen sich die Zuschauer auf drei Räume. Vom Geschehen sehen sie je etwa ein Drittel leibhaftig, den Rest nur per Direktübertragung – schwarzweiß auf großen Bildschirmen. Liegt es nur daran, dass man sich in einem recht konventionellen Konversationsstück fürs ambitionierte Fernsehspiel wähnt?

Von avantgardistischen Mühen ist der Text sternenweit entfernt. Doch er bietet eine solide Basis für Schauspielkunst der angenehm traditionellen Art. Kameras folgen den Schauspielern bis auf die Toilette. Die Bildschirmdarstellung, in nahtloser Abfolge mit Realszenen eine logistische Leistung, bewirkt auch diesen Eindruck: Die Figuren (alle nach Pariser Metro-Stationen benannt) scheinen einem Schattenreich zu entstammen.

Gestalten huschen vorbei, um plötzlich via „Fernsehen“ aufzutauchen. Ganz so, als überwache sie ein allgegenwärtiges Auge. Vielleicht ist’s ja das göttliche Auge der Historie, das schon alles gesehen hat und dessen Blickwechsel Hartmann so beschwört: Mittendrin tragen auf einmal alle Bosse barockisierende Kostüme und Perücken. Derart im Kerzenlicht verfremdet, gleitet die Handlung in kunstreich verschnörkelte Ränkespiele à la Marivaux hinein. Mobbing als Phänomen der Hochkultur.

Kultivierte Form der Gemeinheit

Im Gegensatz zu Becketts „Godot“, wo er als Prominenter in den Hintergrund trat, ist Harald Schmidt diesmal kenntlich. Sein Wein- und Golf-Kenner Montparnasse verkörpert eine ähnlich luzid-luziferische Mischung aus Kultiviertheit und Gemeinheit, wie sie Schmidt in seiner TV-Show pflegt. Die Rolle passt ihm wie angegossen.

Und erneut fügt er sich zum Ensemble, als habe er stets dazugehört. Herausragend neben ihm und Martin Hörn: Felix Vörtler als serviler Generaldirektor Bercy, zu jeder Demutsgeste bereit; Patrick Heyn als großmäulig-sexbesessener Châtelet, im Grunde ein ganz einsames Würstchen. Und Martin Rentzsch, der als Mobbing-Opfer Odéon flackert zwischen um Schonung bettelnder Zutraulichkeit, bodenloser Wut und Verzweiflung. Er endet bitterlich. Geschäfte und Karrieren gehen weiter. Es sind letztlich ganz normale Charakter-Fieslinge, die da mit dem Tod handeln. Unvorstellbar? Nein, jetzt höchst vorstellbar.

Nächste Termine in der Sparkasse Bochum (Massenbergstr. 4-6, Nähe Hauptbahnhof): 3., 9., 10. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Die Luftgeister des Leidens – Bochumer Uraufführung von „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“

Von Bernd Berke

Bochum. Es war wohl das vornehmste deutsche Theaterereignis dieses Monats: Nicht der ursprünglich vorgesehene Peter Stein in Berlin, sondern Matthias Hartmann in Bochum inszenierte die Uraufführung des neuen Stückes von Botho Strauß. Und so herrschte am Samstag knisternde Spannung, als das Spiel begann.

Der Titel der 20-teiligen, in Bochum vierstündigen Szenenfolge passt komplett in kein Schauspielführer-Register: „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“. Vermutlich wird man ihn aufs klangvolle Rätselwort „Pancomedia“ verkürzen – und darunter ist vielleicht die allumfassende (Tragi)-Komödie heutigen Menschseins zu verstehen, das sich (einem Stückzitat zufolge) „zwischen Ariel und Hiob“ spannt; ein Drahtseilakt also zwischen dem Luftgeist, der zum Höheren oder ins Flüchtige strebt, und der biblischen Figur erdenschweren Leidens.

Zentraler Ort ist die Empfangshalle des Hotels „Confidence“ (Vertrauen). In einem Saal des Etablissements, das in Erich Wonders magischem, durch und durch roten Bühnenbild an einen riesigen Uterus gemahnen mag, gibt es eine Dichterlesung. Die Schriftstellerin Sylvia Kessel (Dörte Lyssewski) nimmt etwas schüchtern am Tischchen Platz und trägt mit zunehmend brüchiger Stimme aus ihrem Roman „Rapunzelzopf oder Vom Ende der Greisenrepublik“ vor.

Bis zum Schluss in der Schwebe 

Diese gläsern empfindlichen, doch hin und wieder aufbrausenden Visionen aus einer überalterten Gesellschaft werden von einem notorischen Zwischenrufer unterbrochen. Es ist der Kleinverleger Zacharias Werner (Tobias Moretti), der das gesamte Programm seiner „edition 24″ in einem Rucksack bei sich trägt. Ständig mit dem Aufkauf durch einen großen  Buchkonzern des jovialen Großsprechers Brigg (Alexander May) bedroht, laviert sich dieser Mann durch eine geldverderbte, immerzu mit Handys und Börsenkursen befasste Welt.

Soll man diesem Werner glauben, dass er für die wirklich wichtigen Bücher kämpfen und sich auch für Sylvia Kessel bedingungslos einsetzen will? Oder ist er nur ein finanzieller und sexueller Filou? Wäre er am Ende gar nur ein unverdrossen durch die Zeit schweifender Narr? Es bleibt bis zum Schluss in spannender Schwebe, und das ist eine reife Leistung von Tobias Moretti, der mit der TV-Serie „Kommissar Rex“ halt sein gutes Geld verdient hat.

Eine grandiose Gesellschafts-Belauschung

Rings um die beiden Hauptfiguren, deren Liebes-Zukunft letztlich gleichfalls ungewiss, doch nicht gänzlich hoffnungslos bleibt (wie gut tut dies einmal, angesichts aller sonst so gängigen, pessimistisch-schwarzen Bühnen-Phantasien), entfaltet sich ein ungeheuer facettenreiches Panorama der Paare und Passanten. Die 31 Darsteller verkörpern in diesem rauschenden, manchmal zu Tableaus einfrierenden Reigen rund 100 Figuren in immer neuen Gruppierungen. Er ist eine grandiose Gesellschafts-Belauschung: Einmal geht eine Engels-Figur mit einem überdimensionalen Ohr in den Händen durch die Menschen-Pulks, allerlei markante Beziehungs-Satzfetzen einfangend.

Dies alles ist so sehr aus dem Heute geronnen und so unumstößlich zur Sprache gebracht, dass es zum Lachen reizt und gleichermaßen schmerzt. Botho Strauß zeigt hier ganz und gar, was das Theater vermag. Es ist, als spiele er dessen Möglichkeiten zwischen Alltags-Niederung und mythischem Fluge („Weltliebesbrand“, „Zerschlagt die Ideen“) bis zur Neige durch.

Wie in einem hellsichtigen Traum

Hartmann tut es ihm nach: Der allzeit gleitenden Bewegung des Textes folgend, wandelt er wie in einem hellsichtigen Traume durch all die Ticks und schrägen Manieren, die grotesken, innigen, sehnsüchtigen, absurden, witzigen, traurigen, desolaten, zu Tode bestürzten Momente.

Requisiten kommen wie von Zauberhand auf Rollen herein und hinaus. Mit Drehbühne und sphärischer Flüster-Musik (Parviz Mir Ali) ergeben sich daraus geradezu geisterhaft schön fließende Übergänge. Eins erwächst aus dem anderen und treibt das nächste aus sich hervor. Und wie die Narren bei Shakespeare, so spiegeln hier die beiden Varieté-Typen Alfredo und Vittoro (Fritz Schediwy, Ernst Stötzner) das Tun und Treiben. Man denkt an abstruse Dialoge eines Karl Valentin, doch auch an die urkomischen Verzweiflungen eines Samuel Beckett.

Wen dürfte man nur hervorheben aus dem starken Ensemble? Moretti und Lyssewski tragen das Gerüst. Sie haben sichtlich Bodenhaftung und vermögen dennoch – als leidvoll Freigesetzte – ins Jenseitige auszugreifen, ganz wie es Strauß entspricht. Doch ohne all die anderen gingen sie durch luftleere Räume.

Ein an Gedanken und Empfindungen, reicher, ein erhebender Abend. Frenetischer Beifall.

Termine: 15., 16., 22. April. 5., 6., 19., 20. Mai. Karten: 0234/33 33-111.




Im Fegefeuer der Intrigen – Matthias Hartmanns Bochumer Triumph mit der Schiller-Rarität „Der Parasit“

Von Bernd Berke

Bochum. Hand aufs Herz: Wer kennt Friedrich Schillers „Der Parasit“? Nein, nein. Keine Ballade ist’s, sondern ein richtiges Theaterstück. Und doch taucht es noch nicht mal im zweibändigen Hensel-Schauspielführer („Spielplan“) auf, der sonst fast immer Rat weiß. Es ist eine Rarität, die Bochums Intendant Matthias Hartmann zum Bühnenleben erweckt. Und zwar fulminant!

Die „Quote“ durfte man schon damals nicht ganz außer Acht lassen: Auf der Suche nach einer Komödie mit Kassen-Chancen stieß Schiller anno 1803 auf den Stoff des Franzosen Louis Benoît Picard. Er übertrug dessen Text, verwandelte die Verse in flüssige Prosa, verschob inhaltliche Akzente – und fertig war ein funkelndes, effektvoll gebautes Konversationsstück, bei dem man nie und nimmer an den sonst so ernsten Schiller denkt. Eine Gelegenheitsarbeit, kein Hauptwerk. In Bochum erweist sich freilich, dass darin eine Menge steckt.

Ein Mitläufer aller Systeme

Hartmann verlegt die Karriere-Intrigen im Dunstkreis eines Ministeriums in die Angestellten-Welt. Vor ehedem vielleicht gediegener, nun aber etwas verschlissen wirkender Kulisse (unmodische Wandfarben, verstaubter Gummibaum, schäbige Plastik-Planen / Bühnenbild: Petra Korink) betreibt jener „Parasit“ namens Selicour (einfach wunderbar präsent: Michael Maertens) seine Ränkespiele, um endlich Gesandter zu werden. Als erotische Zusatz-Trophäe lockt Charlotte (Lena Schwarz), 17jährigesTöchterlein des neuen Ministers Narbonne (Felix Vörtler).

Eminent komisch ist’s, wie dieser Selicour mit tausend Wort-, Bein- und Körper-Verdrehungen es eilfertig jedem recht machen will; wie er, wachsam in jeder Sekunde, dem Minister schmeichelt und dessen Mutter (Veronika Bayer) becirct, die darob ganz lüstern wird. Wie er jede Schwäche anderer für sich münzt, nach oben buckelt und nach unten keilt. Schon dem verwerflichen Vorgänger hat Selicour, Mitläufer (und Motor) jedes Systems, gedient. Nun schmäht er ihn. Er war ja schon immer dagegen.

Dieser Kerl ist so verflucht geschickt

Dieser Kerl ist so verflucht geschickt, dass selbst seine Gegner wankend werden. La Roche (Thomas Büchel), den Selicour kurzerhand entlassen hat und der aus Rachedurst eine Gegen-Intrige ins Werk setzen will, wird nach allen Regeln der Kunst umgarnt, als er sich beim Minister beschwert. Selicour bedient sich zudem virtuos der Fähigkeiten anderer: Dem redlichen Beamten Firmin (Ralf Dittrich) luchst er ein kluges Dossier ab, von dessen in Charlotte verliebtem Sohn Karl (Manuel Bürgin) erhält er glühende Gedichte.

Herrlich, wie Hartmann und die Darsteller den typenkomödiantisch zugespitzten Charakteren flackernde Doppeldeutigkeit ablauschen. Minister Narbonne (gestisch zwischen dem Komiker Heinz Erhardt und dem CSU-Altvorderen Franz Josef Strauß angesiedelt), hat zwar etwas Salomonisches, bei Konflikten will er stets beide Seiten hören. Doch lässt der Schelm nicht die Gegner wie Gladiatoren gegeneinander antreten?

Sogar mit Selicour, so wie Maertens ihn anlegt, kann man Mitleid haben. Aus kleinen Verhältnissen stammend, will er halt hinauf. Verzweifelt strampelt er sich ab bis zur Erschöpfung, schmort selbst gehörig im Fegefeuer seiner Intrigen. Als sich Erfolge (trügerisch) abzeichnen, kann er es nicht recht fassen, geschweige denn genießen. Wäre Selicours Seelendrang nur etwas anders gelagert, so taugte er zum guten Menschen, denn er kann sich doch so gut in alle hineinversetzen…

Drei Lösungen für das Lustspiel

Bis dahin war’s schon köstlich, man hat sich im Voraus auf jede Szene diebisch gefreut. Doch der Geniestreich folgt erst noch: Im Schnellgang spielt Hartmann drei Lösungen des Lustspiels durch – und alle scheinen irgendwie höllisch plausibel. Einmal obsiegt (der Vorlage gemäß) der seriös-zurückhaltende Firmin, dann zieht mit La Roche der nächste Opportunist seine Schleimspur, schließlich triumphiert Selicour.

Nicht etwa mutwillig aufgepfropft sind diese Varianten. sondern unmittelbar aus vorherigen Kernsätzen des Stückes geronnen. So wird’s unversehens ein ganz heutiges Drama: der Text als Spielmaterial wechselnder, einander überlagernder Bedeutungen.

Stehende Ovationen für alle Mitwirkenden. Bochum ist wieder eine zentrale Pilgerstätte des deutschen Theaters!




Gewalt frisst die Sprache auf – Matthias Hartmann inszeniert Kleists „Familie Schroffenstein“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Ringsum zugemauert, sieht die Bühne aus wie das Innere eines Mausoleums. Hier wird wohl kein freies Leben erblühen, das ahnt man gleich. Und richtig: Rechts und links, einander feindlich gegenüber, nehmen die beiden finsteren Clans Platz, die sich in „Die Familie Schroffenstein“ aufs Blut befehden.

Bochums neuer Intendant Matthias Hartmann hat etwas riskiert, indem er Heinrich von Kleists Stück erkor. Das Frühwerk aus dem Jahre 1800 gilt vielfach als unfreiwillig komische „Scharteke“. Doch weit gefehlt! In dieser Vorlage steckt wilder, entfesselter Furor – wie in Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“.

Sehr richtig schon Hartmanns Entscheidung, die in Spanien angesiedelte Urfassung („Die Familie Ghonorez“) zu wählen, deren bloße Rollen-und Ortsnamen schon ungleich mehr Hitze ausstrahlen als die spätere Eindeutschung mit all ihren Ottokars und Gertrudes.

Ein Erbvertrag als Quell des Übels

Zurück zum Eingangsbild. Wie undurchdringliche Menschen-Mauern sitzen die feindlichen Familien da. Vollends ungerührt bleiben sie, wenn einer aus der Phalanx hervortritt und etwa seine Irritation über diesem versteinerten Zustand bekundet.

Quell allen Übels: Ein fataler Erbvertrag besagt, dass beim Aussterben der einen Sippe deren gesamte Habe der anderen zufällt. Alsbald wünschen sie einander Pest und Verderben an den Hals – und als ein Kind zu Tode kommt, werden „die da drüben“ gleich des Mordes bezichtigt, was ungeheuerliche Steigerungen nach sich zieht. jedes Gerücht, jedes Missverständnis birgt jetzt Sprengkraft. Keiner will des anderen Worte wirklich hören. Wir erleben in Bochum vor allem das Drama einer nachhaltigen Sprach- und Sinn-Zerstäubung. Gewalt frisst die Sprache auf.

Bei Hartmann klappern die Clans zu Beginn mit Löffeln, als wollten sie den (Lebens)-Rhythmus der Gegenseite zerstören. Bedrohlich kakophon klingt es, passend untermalt von vier Musikern aus einem kleinen Orchestergraben. Raimond, Graf aus dem Hause Ciella (Fritz Schediwy), tritt wie ein krähenhafter Diktator ans Mikrophon und schwört bitterste Rache für besagten Kindstod. Er spuckt, krächzt, würgt und zerhackt die Konsonanten seiner Hass-Worte. So militant und gewaltbereit rasselt hier die deutsche Sprache, dass es zum Fürchten ist. Man lese nur nach: Es ist bei Kleist schon angelegt.

Die ganze Hysterie steht schon im Text

Auch wenn man bisweilen fürchtet, die Inszenierung könne zapplig aus den Fugen geraten: Ständiges Stammeln, hysterische Ausbrüche und marionettenhafte Ohnmachten sind aus dem Text herzuleiten. Überhaupt lauscht Matthias Hartmann jeder Sequenz ihre ganz eigenen, zumeist schrecklich dumpfen oder angstvoll kreischenden Tonfälle ab – und er verfügt über ein Ensemble, das diese dunklen verbalen Triebkräfte, die schier unaufhaltsame Dynamik der Feind-Bilder, auch fassbar macht. Statt eines dürr-theoretischen Regie-„Konzeptes“ waltet hier die sorgsame Arbeit am Gehalt der Szenen.

Raimond geriert sich zunehmend als blutgieriger Rache-Teufel. Fritz Schediwy legt die Rolle als wahres Pandämonium an. Man sieht ihm fassungslos zu, auch atemlos. Während seine Gemahlin Elmire (Ulli Maier) ihn vergeblich zu beschwichtigen sucht, treibt auf der Gegenseite Franziska (Veronika Bayer) ihren Alonzo (Ernst Stötzner) an. Bis dieser kühlere Kopf seinerseits Rache übt, dauert es lange. Doch dann ist das Schwungrad nicht mehr anzuhalten.

Gegenwelt der Liebenden

Sehr anrührend die machtlose Gegenwelt der Liebenden. Wie Romeo einst Julia, so liebt Raimonds Sohn Rodrigo (Johann von Bülow) die Tochter aus dem verfeindeten Hause, Ignez (Sonja Baum). Zuerst diese Angst voreinander, dann allmähliche Näherung, Überschwang frischen Glücks, doch auch schon das erste Necken und Keifen, daraufhin wieder verzückte Umarmungen. Ein ergreifendes Wechselspiel der Liebe. Später dieses bannende Bild: ihrer beider paradiesische Nacktheit als höchst bedrohte Utopie eines anderen Lebens.

Am Ende, über den Leichen ihrer Kinder, haben die Herrscher noch nicht genug vom Feldgeschrei. In babylonischer Sprachverwirrung irren alle gespenstisch umher, jeder nur mit seinen Worten, seinem Wahn beschäftigt. Wo sich bei Kleist am Ende eine gar zu späte Reue ergibt, lautet hier der allerletzte Satz: „Wir müssen vorwärts!“ Geht’s denn noch weiter hinab in die Hölle?

Frenetischer Beifall mit Bravos für alle. Fast wie zu Peymanns Bochumer Zeiten.

Termine: 1., 5., 11., 19., 20., 28. Nov. Karten: 0234/3333 111.

 




Der wahre Traum vom Theater – Auftakt zur Ära Hartmann mit Turrinis „Die Eröffnung“ und Marivaux‘ „Triumph der Liebe“

Von Bernd Berke

Bochum. Am Samstag pochte in Bochum das Herz unserer Theaterwelt. Die Spitzenkräfte der „Großkritik“ waren angereist – endlich einmal wieder, nach jahrelanger Ignoranz, mit der sie den vormaligen Intendanten Leander Haußmann abgestraft hatten. Nun aber galt es, den Beginn der neuen Ära Matthias Hartmann zu begutachten.

Gleich zwei Premieren wurden aufgeboten: Als Uraufführung gab’s Peter Turrinis dem Anlass angegossenes Stück „Die Eröffnung“ (Regie: Hartmann), hernach vollzog sich der „Triumph der Liebe“ (Regie: Patrick Schlösser) von Pierre Carlet de Marivaux, ein rokokohaft abgezirkeltes erotisches Intrigenspiel des 18. Jahrhunderts, als Vorbotschaft heutiger „Coolness“ und taktisehen Kalküls im Umgang der Geschlechter zu deuten. Keine schwere Kost also, doch beileibe keine Leichtgewichte.

„Ich eröffne Ihnen mein Leben. Ich bin für die Bühne geboren…“ So beginnt Turrinis Text, den „Der Mann“ (Michael Maertens) praktisch im Alleingang bewältigt. So vieles wird er uns noch „eröffnen“: sein Glück und Unglück, sein Jauchzen und sein Krächzen zum Tode. Vor allem aber seinen Traum vom Theater. Hierzu führt er einen weißen Kasten mit sich, in dem sich eine verkleinerte Maschinerie verbirgt – samt goldener Souffleusen-Muschel und einem Pappkrönchen für den „König der Schauspieler“. Für diesen hält sich jener Mann, der zunächst Handys feilgeboten hat. Denn irgendwann hat er alle großen Rollen gespielt – vom „Faust“ bis zum „Hamlet“ und retour. Auch den „Jeeeedermann“-Drohruf des Todes hat er parat, wirklich zum Steinerweichen.

Gefangen ist er im engen Bühnen-Geviert. Später windet er sich gar in einer Zwangsjacke, doch immer wieder träumt er sich weit über derlei Bedrängnis hinaus. Aber, ach, das Leben löst die Träume nicht ein: Der „Arsch“ seiner Freundin erscheint ihm plötzlich viel zu breit. Die Trennung von ihr macht ihn „Herz-los“, später findet er (oh, Anspielung auf Haußmanns liebstes Bühnen-Emblem) ein „dreckiges Herz“ im Staube. Kaum hat sich ein einzelner Zuschauer darob ein „Buh“ abgerungen, so erweist sich die unzerstörbare Theater-Lebendigkeit des Organs. Es pulsiert und blutet noch.

Auch dieser Text pulsiert. Zwischen Schmerz und Groteske wirbelt er gar vieles vom Urgrund des Theaterdaseins auf. Das Theater scherzt mit sich selbst (mal wie eine Bierzeitung, mal subtil), es ist auch bestürzt über sich, scheint jedoch rettende Kräfte zu bergen. Und es ist viel mehr als ein Kabinettstück, was Michael Maertens dem abgewinnt. Von Comedy bis Tragödie, von gepresstem Frust bis zum haltlosen Jubel durchmisst er die Gefühls-Skala. Rasender Beifall. Das Publikum war im Handstreich gewonnen.

Sodann: „Triumph der Liebe“. Bei Kerzengeflacker war die Bühne anfangs so düster wie nur je in in der Steckel-Epoche des Hauses. Ratternd raste der Text dahin, als sei er abgespeichert und werde nur nur angeklickt. Doch das betraf die erotischen Finten. Sobald sich daraus Gefühle (oder deren Surrogate) ergeben, fließt die Rede schmeichelnd; bis zum illuminierten Schlussbild, das in ein fernes Märchenreich zu weisen scheint. Dieser Triumph der Liebe dürfte eine bloße Illusion sein, nur Widerhall der Wünsche.

Hier entsteht Tiefgang ganz von selbst

Leonida, Prinzessin von Sparta (herb sich gebende Entschlusskraft: Johanna Gastdorf), will das Herz des jungen Agis (Patrick Heyn) gewinnen. Einst raubte ihr Geschlecht dem Seinen den Thron. Sie muss nun seinen Sippen-Hass überwinden. Zudem muss sie in jene Einsiedelei vordringen, in der Agis vom Philosophen Hermokrates und dessen Schwester Leonine vor der Welt beschirmt wird.

Ergo: Sie hat, um ihr Ziel zu erreichen, diese beiden in sich verliebt zu machen. Umstellt von Lauschern, setzt sie die zittrige Mechanik der Täuschungen in Gang. Köstlich, wie jene Versteinerten, die noch nie geliebt haben, allmählich errötend zu hoffen wagen: der eitle Philosoph (Armin Rohde), die altjüngferliche Schwester (Margit Carstensen). Zwei wunderbare Darsteller!

Einmal wird Bernd Spiers Gassenhauer „Das kannst du mir nicht verbieten“ gesungen, dazu leuchtet ein Gemälde von Michelangelo auf. Doch derlei Überwürzung ist schon ein rarer Ausrutscher ins Spaßtheater. Insgesamt geht die Sache einen anderen Gang, wobei Tiefgang wie von selbst entsteht. Auch zeugt der Zugriff erlesene Gestalt: Patrick Schlösser arbeitet souverän mit Symmetrien und deren Auflösung im zuckenden Taumel, mit Licht- und Schattenwerten sowie fast filmischen Einblendungen.

Nochmals Jubel. Nehmt alles nur in allem: ein verdammt starker Auftakt in Bochum.

Termine: 27, 28. Okt, 2., 10., 11., 15. und 16. Nov. (Die Eröffnung); 26. Okt, 4., 8. und 9. Nov. (Triumph der Liebe). Karten: 02 34/3333-111.