Neuer Mauerbau, Stalins Schatten und der Terror des Digitalen – zum umstrittenen DAU-Kunstprojekt in Berlin

Fotografie aus dem „Institut" (Charkiw). (© Gruber / Berliner Festspiele)

Rätselhafte Fotografie aus dem „Institut“ (Charkiw). (© Gruber / Berliner Festspiele)

Vor 29 Jahren fielen in Berlin die Mauer und der „Eiserne Vorhang“. Das war der Auftakt vom Ende des Realen Sozialismus und einer Diktatur des Proletariats, die immer nur ein ideologischer Popanz war, mit dem sich schamlose Partei-Bonzen der herrschenden Nomenklatura die Macht über das Volk sicherten. Neben einigen unverbesserlichen Nostalgikern, die sich gern die schlechte Vergangenheit schön reden, gibt es jetzt auch einige Künstler, die vom (temporären) Wiederaufbau der Mauer träumen.

Direkt in Berlins Mitte, in einem etwa 300 mal 300 Meter großen, von einer russischen Beton-Mauer abgeriegelten Areal zwischen Staatsoper und Bauakademie, soll direkt an der Straße Unter den Linden vom 12. Oktober bis 9. November ein neo-stalinistisches Menschenexperiment durchgeführt werden, das sich als freiheitliches Kunst-Projekt tarnt und den Besuchern neue und ungeahnte Möglichkeiten der Wahrnehmung und Partizipation verspricht.

Erlebniszone mit „historischen Echoräumen“

Unter dem kryptischen Kürzel „DAU Freiheit“ wird, so lassen die als Mitveranstalter auftretenden Berliner Festspiele verlauten, eine „Zone markiert, die für vier Wochen zu einem besonderen Erlebnisraum wird“, „historische Echoräume öffnet“ und angeblich die Chance bietet, „eine politisch-gesellschaftliche Debatte über Freiheit und Totalitarismus, Überwachung, Zusammenleben und nationale Identität zu eröffnen.“

Wer denkt, das klinge arg nach politischer Überhöhung eines künstlerisch größenwahnsinnigen Projekts, liegt wohl nicht ganz falsch. Doch worum geht es eigentlich beim „DAU“-Projekt, dieser seltsamen Mixtur aus Performance und Reality-Show, die in Berlin unter dem Begriff „Freiheit“ auftritt, bevor sie – entschlackt und ohne Mauer – weiter zieht und in Paris als „Gleichheit“ und in London als „Brüderlichkeit“ für verwirrte Gemüter sorgen wird?

Auf den geheimnisvollen Spuren des Physikers Lev Landau

Mit der Französischen Revolution und ihren hehren Idealen hat „DAU“ jedenfalls nichts zu tun. Eher schon mit der Negation der Digitalmoderne, die hinter der Maske der totalen Transparenz den gläsernen Menschen schafft. Namensgeber des Projekts ist der russische Physiker und Nobelpreisträger Lev Landau (1908-1968), der von seinen Freunden „Dau“ genannt wurde und in Moskau ein streng geheimes „Institut für Physikalische Probleme der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften“ betrieb.

Weitere Fotografie aus dem „Institut" (Charkiw). (© Orlova / Berliner Festspiele)

Weitere Fotografie aus dem „Institut“ (Charkiw). (© Orlova / Berliner Festspiele)

Um dem Rätsel des geheimnisumwitterten Physikers auf die Spur zu kommen, ließ der russische Regisseur Ilya Khrzhanovsky im ukrainischen Charkiw, wo Landau eine zeitlang lebte und arbeitete, ein gigantisches, 12.000 Quadratmeter großes Filmset aufbauen: einen eigenen, von Zäunen begrenzten Stadtteil, in dem von 2009 bis 2011 über 400 Menschen lebten und das – mit allen Mitteln des Terrors und der Totalüberwachung – so funktionierte wie Stalins Machtimperium.

…und die Kamera war immer dabei

In Charkiw wurde drei Jahre lang geforscht und geliebt, wurden Experimente durchgeführt und Kinder gezeugt. Und die Kamera von Jürgen Jürges, der früher mit Fassbinder und Wenders drehte, war immer dabei. Kunst-Performerin Marina Abramovic war zu Gast und Regisseur Romeo Castellucci, Pop-Musiker von Massive Attack und Star-Dirigent Theodor Currentzis. Aus dem so entstandenen Film-Material sollen 13 Spielfilme und eine Vielzahl von Mini-Serien geschnitten worden sein. Nichts Genaues weiß man nicht, alles liegt im Dunkeln der künstlich angeheizten Gerüchteküche.

Jetzt sollen die Filme im temporären neuen Berliner Mauer-Staat „DAU Freiheit“ vier Wochen lang präsentiert werden. Dazu soll es Performances und Lesungen, Konzerte und Vorträge, Einzelgespräche und Überraschungen geben. Mit dabei sollen auch wieder Abramovic und Co sein. Doch wer was wann wo vorführt, darüber herrscht (noch) Schweigen. Klar scheint bisher nur, dass im ganzen Kunst-Areal das alte DDR-Flair wieder auflebt, schlechte Beschilderung und dunkle Beleuchtung, muffiger Geruch und beklemmende Atmosphäre wie weiland im Mangel-Staat.

Reanimation des Realsozialismus‘

Wer die neo-sozialistische Reanimation betreten will, muss vorher einen Fragebogen ausfüllen und ein Visum beantragen und dann beim Passieren der Mauer sein Handy abgeben. Dafür bekommt er ein Gerät namens „DAU-Device“, das den Besucher zu den einzelnen Programmpunkten führt: Einlass nur auf Einladung durch das Gerät.

Wer dem Kunst-Terror nicht gewachsen ist, kann ein Notsignal senden und sich befreien lassen. Die Anwohner des Mauer-Parks werden zu „Ehrenstaatsbürgern“ erklärt, haben eigene Zutritts-Möglichkeiten zum Überwachungsstaat und können sich in ihrem angestammten Wohnraum frei bewegen. Ob das ganze Treiben wiederum von Khrzhanovsky und Jürges filmisch begleitet und später in einen neuen Streifen über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit einfließt, ist noch unklar.

Auch ein russischer Oligarch finanziert das Ganze mit

Klar ist nur, und das macht die bizarre Angelegenheit nicht schmackhafter, dass neben den Berliner Festspielen auch Sponsoren das Projekt finanzieren, die nicht gerade ein guten Leumund haben, wie der russische Oligarch Sergej Adonjew. Auch dass es beim Dreh in der Ukraine sexuelle Übergriffe von Seiten des Regisseurs gegeben haben soll, hinterlässt einen bitteren Beigeschmack.

Die Kunst ist frei und wird auch den Größenwahn dieses Menschenexperiments und den Terror des temporären Mauer-Staates ertragen. Der schlimmste Feind der Kunstfreiheit ist aber die Bürokratie: Der Bau einer Mauer und das Leben in einem von eigenen Gesetzen bestimmten Erlebnisraum brauchen Genehmigungen von Bau- und Gewerbeamt, Polizei, Feuerwehr. Die stehen noch aus. Könnte also sein, dass sich alles noch als Luftnummer erweist und alle Kunst-Träume zerplatzen wie heiße Ballons.

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„DAU Freiheit“, vom 10. Oktober bis 9. November 2018.
Ein genaues Programm existiert (noch) nicht, auf dem 300 mal 300 Meter großes Areal und in den kooperierten Häusern und Akademien am Boulevard Unter den Linden sind Filmvorführungen des 700 stündigen DAU-Filmmaterials, Kunst-Performances, Auftritte von Musikern, wissenschaftliche Vorträge u.a. geplant.
Besucher(innen) registrieren sich auf der „DAU-Webseite“, um ein Visum zu erwerben.
Täglich können bis zu 3000 Visa ausgegeben werden. Ein Zwei-Stunden-Visum kostet 15 Euro, ein Tagesvisum 25 Euro, ein 72-Stunden-Visum 45 Euro. Es soll auch Diplomaten- und Presse-Visa geben, die für die gesamte Laufzeit gelten und Zutritt zu allen Veranstaltungen gewährt.

Infos unter www.berlinerfestspiele.de

https://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/dau_freiheit/dau_freiheit_1.php




Denkmal der Deutschen, die Demokratie wagen: Willy Brandt wäre 100 Jahre alt geworden

Wir lauschten in einen Bildschirm, auf dem nur eine Person und deren markantes Gesicht zu sehen war, eine Person, die sich anschickte einer der historischen Bundeskanzler dieser Republik zu werden.

Wir, das waren Christine Markhoff, Malte Markhoff, Klaus Mendel und Rosel Linner und ich (das war so ziemlich der Kernbestand der damaligen Schwerter Ruhrnachrichten). Politisch waren wir aus unterschiedlichen Ecken, doch eines einte uns: Wir waren ziemlich gefesselt von dem, was dieser Willy Brandt 1969 als persönliche Botschaft ins Land schickte: „Mehr Demokratie wagen!“

Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt beim Besuch der Dortmunder Zeche Minister Stein am 1. März 1974. (Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt beim Besuch der Dortmunder Zeche Minister Stein am 1. März 1974. (Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Er ist bereits vor seinem Tode am 8. Oktober 1992 sein eigenes Denkmal gewesen, er ist dieses bis heute für seine Partei, die SPD. Im Foyer des nach ihm benannten Hauses der SPD-Zentrale in Berlin steht er als solches, überlebensgroß, in Bronze gegossen, geformt vom Bildhauer Rainer Fetting. Furchig, die personifizierte Weisheit, eine erklärende, mahnende Körpersprache, aber keinen Widerspruch duldend: Willy Brandt eben, der wesentlich härter sein konnte, als sein Weggefährte Herbert Wehner („Der Herr duscht gern lau“) ihm zutraute, der ungeduldiger sein konnte, als seine ruhige Redner-Sprache verriet, der unleidlicher werden konnte, wenn es nicht so ablief, dass es seinen Vorstellungen entsprach.

Ja, ich weiß, dass er als Herbert Ernst Karl Frahm zur Welt kam. Meine Eltern sagten es mir so häufig und meist so abfällig, dass ich eine Zeitlang glaubte, meine Bewunderung gelte einem Menschen, der dem gesunden deutschen Wiederaufbau destruktiv entgegenarbeite. Aber selbst deren, aus Willy Brandts subversiver Nazi-Widerstandsarbeit gespeiste Abneigung wurde im Laufe der Jahre durch dessen (mindestens in der SPD) unerreichtes Charisma weg gehobelt. Die Abfälligkeit ersetzten sie durch einen distanzierten Respekt.

Willy Brandt begleitet mich in Lebensphasen, die für mich einschneidend und entscheidend waren. Ich sah ihn nach dem Mauerbau, als Regierender Bürgermeister war er damals ebenso wehrlos wie unerschrocken empört (ähnlich wie einst sein Vorgänger Ernst Reuter, als der die „Völker dieser Welt“ aufrief, auf Berlin und die Blockade zu schauen). Ich sah ihn, als er US-Präsident John F. Kennedy zuhörte, dessen „Ich bin ein Berliner“ sich in die Erinnerung erschütterten Republik grub. Ich sah und hörte ihn, als er begann, für sein Konzept der Aussöhnung mit Osteuropa zu werben und zu streiten. Ich sehe das legendäre Bild des Kniefalls von Warschau und höre die „Willy, Willy“-Rufe von Erfurt, als die DDR-Bürger pfiffig den Vornamen von Willi Stoph skandierten und keine Konsequenzen fürchten mussten.

Und ist sehe auch heute noch sein bewegtes Gesicht, als die Mauer fiel und „zusammenwachsen sollte, was zusammen gehört“.

Willy Brandt war aus der Ferne ein Wegbegleiter, ein Vorbild, ein Magnet, der mir den Eintritt in eine Partei erleichterte und die Auswahl, welche Partei es sein sollte, beinahe zwingend auf eine fokussierte. Er hat ganz sicher jede Menge Fehler gemacht, er hatte ganz sicher auch persönlich jede Menge davon, aber er hatte für diese Republik einen ganz besonderen Wert. Er konnte Menschen jeden Alters und beinahe jeder politischen Herkunft für eine große und gute Idee begeistern: die Demokratie und ihre Freiheiten, für die es lohnt zu streiten und zu kämpfen.

Ich habe ihm einmal, als ich ganz und gar nicht einverstanden mit seinem Handeln war, einen Brief geschrieben. Das war im Frühjahr 1987, als er die parteilose Margarita Mathiopoulos zur zukünftigen Parteisprecherin küren wollte. Heute sehe ich das so: Wir hatten beide recht. Er, weil er seiner SPD neue Wege erschließen wollte, ich, weil Margarita Mathiopoulos sich später bei einer wirtschaftsliberalen FDP und Herrn Westerwelle besser aufgehoben fühlte. Willy Brandt antwortete natürlich nie, was ich ihm auch nicht übel nahm.

Ich schreibe auch an dieser Stelle nicht, was ich ihm wirklich stets nachtragen werde, was ich insgeheim an meinem Idol ernsthaft zu mäkeln habe. Das wäre in meinen Augen auch klein (von mir) und seiner historischen Bedeutung unangemessen.

Michail Gorbatschow wollte ihn wenige Tage vor seinem Tod unangemeldet besuchen. Willy Brandts Frau öffnete nicht, weil sich Gorbatschow über die Gegensprechanlage mit seinem Namen meldete, und sie das Ganze für einen schlechten Scherz hielt. So kamen die beiden Männer, deren Wege im jeweiligen Heimatland ähnliche Schleifen gehen mussten und Willys politische Vorarbeit Teile des Weges von Michail Gorbatschow pflasterten, nicht mehr zusammen.

Willy Brandt wurde neben Ernst Reuter auf dem Berliner Waldfriedhof Zehlendorf beigesetzt. Zwei große Männer, die für Berlin, die Bundesrepublik und das freie, demokratische Deutschland unbeirrt ihren Traum verfolgten.

Am 18. Dezember 2013 wäre der Mann, für den wir damals „Willy wählen!“ an jede sich bietende Häuserwand pappten, 100 Jahre alt geworden. Und noch immer begleitet er alle die, die noch immer „mehr Demokratie wagen“ wollen, durch den beschwerlichen Alltag.




Politiker mit Widersprüchen: Buch lenkt den Blick auf die menschliche Seite von Willy Brandt

Die Willy-Welle schwappt durch das Land, unter anderem Spiegel, Stern und Zeit haben ihm ausführliche Rückblenden gewidmet. Der 100. Geburtstag von Willy Brandt am 18. Dezember ist auch der Anlass für die Neuauflage der Biographie von Gregor Schöllgen.

„Eine Annäherung“ wäre für das Buch des renommierten Professors für Neuere Geschichte an der Uni Erlangen wohl der treffende Untertitel, schaut der Autor doch vor allem auf den Menschen Willy Brandt mit allen seinen Widersprüchen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Schöllgen, der den Nachlass des Friedensnobelpreisträgers von 1971 mitherausgegeben hat, legt hier keine Homestory vor. Er zeichnet vielmehr den Lebensweg des langjährigen SPD-Politikers nach, einen Weg, auf dem Siege und Niederlagen, Höhen und Tiefen meist ganz nah beieinander lagen.

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Dabei war es wohl, wenn man den Ausführungen Schöllgens folgt, die menschliche Seite Brandts (der durchaus das Leben zu genießen wusste), die zu seiner Popularität maßgeblich beitrug. Aber es war auch die Achillesferse. Sehr deutlich arbeitet der Geschichtswissenschaftler heraus, dass Brandts Rücktritt 1974 keine zwingende Konsequenz aus der Guillaume-Affäre darstellte, sondern der Kanzler politisch müde, gesundheitlich angeschlagen und von Gegnern bedrängt das Amt aufgab.

Intimfeind Herbert Wehner

So sehr der Intimfeind, SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, an Brandts Sturz mitgewirkt haben mag, so kann man aber auch nicht übersehen, wie massiv den Sozialdemokraten die Strapazen, die die Aufgaben als Regierungschef mit sich brachten, und die ständigen Quengeleien in Fraktion und Koalition ihm zugesetzt hatten. Schöllgens Schilderungen lassen das Bild vom allzu schnell verglühten Stern am Polithimmel aufkommen, der mit dem zweiten Wahlsieg 1972 eigentlich schon seinen Zenit überschritten hatte.

Ein neuer Stil, weltoffen, modern und diskussionsfreudig, hatte mit ihm und seiner Frau Rut Einzug gehalten in das politische Bonn Ende der 60er Jahre. Trotz des positiven Echos, das dem Paar gegönnt war, ist Brandt selbst aber nie wirklich in Bonn heimisch geworden.

Sehnsucht nach Berlin

Mit Wehmut dachte er häufig an die Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin zurück, wo er sich eins fühlte mit der Bevölkerung und diese ihn hochachtete. In der geteilten Stadt gründete sich eine Popularität nicht zuletzt auf sein Verhalten beim Mauerbau. Er stand zu den Berlinern, als diese sich von Kanzler Adenauer und den Westmächten im Stich gelassen fühlten. Neue Pfade hatte Brandt aber auch in Berlin beschritten. Er setzte auf eine vorwärtsgewandte SPD, die sich zum einen mit den Realitäten des geteilten Deutschlands abfinden und zum anderen nicht mehr nur als Arbeiterpartei verstehen sollte. Seine Wahlkämpfe waren von Anleihen in der amerikanischen Politik geprägt, gezielt wusste er sein Familienleben in Szene zu setzen und für seine Zwecke zu nutzen.

Jemand wie Brandt reizte folglich zum Widerspruch – auch und gerade in den eigenen Reihen. Die Stärke des Buches liegt vor allem darin, diese Konfliktlinien sehr deutlich herauszuarbeiten. Die Partei wusste, was sie an ihm hatte, und für ihn, der nach heutigen Maßstäben in einer Patchwork-Familie aufwuchs, erfüllte die Partei eine Ersatzfunktion familiärer Art. Sein Redetalent, seine Schreibbegabung (als gelernter Journalist), seine Fähigkeit, „mit Menschen zu können“, brachten ihm viele Sympathien und anfänglich auch den Rückhalt von Wehner ein, der immer mehr von ihm ließ, als vermeintliche Schwächen sich bemerkbar machten. Zu einer echten Versöhnung sollte es auch später nicht mehr kommen, anders beim innerparteilichen Kontrahenten Helmut Schmidt, mit dem er sich in den letzten Lebensjahren zumindest aussprach.

Schwieriges Verhältnis zur SPD

Das Verhältnis zwischen Brandt und der SPD war längst nicht durchgängig entspannt. Beispielhaft steht dafür die Haltung des Vorsitzenden zum Nato-Doppelbeschluss und die Proteste Anfang der 80er Jahre.
Partei hin oder her, sind mit dem Namen Willy Brandt aber nicht viel mehr Ereignisse wie der Kniefall von Warschau, der Tag von Erfurt oder sein Slogan „Mehr Demokratie wagen“ verbunden? Wo bleiben sein Engagement als Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen oder der Nord-Süd-Kommission? Das alles sind, daran lässt Schöllgen keinen Zweifel aufkommen, Marksteine im politischen wie auch persönlichen Leben des Sozialdemokraten.

Wer Brandt aber verstehen möchte, der muss seinen Werdegang von Beginn an nachvollziehen. Dazu gehört die kleinbürgerliche Welt in der Geburtsstadt Lübeck, was keineswegs despektierlich zu verstehen ist, dazu gehört vor allem auch sein Exil in Norwegen und Schweden, als er vor den Nazis flüchtete. Die Jahre sollten Stoff liefern für Diffamierungen und Verleumdungen, unter anderem machte man ihm zum Vorwurf, mit der Sowjetunion kollaboriert zu haben. Verbindungen hätten zwar in Ansätzen existiert, aber nach dem Überfall Hitlers auf die UdSSR sei er da keineswegs allein gewesen, unterstreicht der Autor. Die immer wiederkehrenden Anwürfe gegen den Sozialdemokraten lassen nach den Worten von Schöllgen vor allem übersehen, dass Brandt sich politisch gegen die Nazis engagierte und der Widerstand in Deutschland sehr wohl den Kontakt zu ihm gesucht habe.

Frauengeschichten nur Nebensache

Widersacher, die ihm das Leben schwer machen, hat Brandt zur Genüge erlebt, doch auch er wusste auszuteilen, beispielsweise, als die Teilung Deutschlands überwunden war. Von Oskar Lafontaine, den er zunächst protegierte, wandte er sich enttäuscht ab, als der die Einheit Deutschlands mit großer Skepsis betrachtete.

Ist Brandts Biographie eigentlich unvollständig erzählt, wenn man die Frauengeschichten weglassen würde? Wurden sie ihm nur angedichtet, um ihn zu Fall zu bringen? Schöllgen stellt hier eher Aussage gegen Aussage und lenkt, und da ist man als Leser auch nicht befremdet, den Blick auf die Lebensleistung des Sozialdemokraten.

Sein eigenes Leben hat Willy Brandt vor allem durch Schreiben verarbeitet und so viele Bücher veröffentlicht wie kaum ein anderer Politiker des 20. Jahrhunderts. Es wurde aber auch über kaum einen anderen so viel geschrieben wie über den Mann, mit dem die SPD erstmals einen Kanzler stellte, der zwei Mal in dieses Amt gewählt wurde, der drei Mal verheiratet und Vater von vier Kindern war. Schöllgen gibt einen Überblick über die Literatur und ordnet sie ein – auch das ist eine lesenswerte Orientierungshilfe.

Gregor Schöllgen: „Willy Brandt. Die Biographie“. Berlin Verlag. 336 Seiten. 19,99 Euro.




Zutaten der Erinnerung – Klaus Modicks Roman „Klack“ zoomt die frühen 1960er heran

„Au Backe!“ – „Zieh Leine!“ – Das sagt doch heute kein Mensch mehr. Richtig. Klaus Modicks Roman „Klack“ führt uns zurück in die Jahre 1961 und 1962, also geradewegs in die Zeit zwischen Erstarrung und keimender Aufbruchshoffnung, zwischen Adenauer und Beatles.

Das Titel gebende „Klack“-Geräusch kommt von einer billigen Agfa-Clack-Kamera, die der Ich-Erzähler namens Markus damals auf der Kirmes gewonnen und mit der er fortan Szenen und Vorfälle aus seinem damaligen Alltag festgehalten hat – eigentlich nach bloßem Zufallsprinzip und gleichsam aus der Hüfte geschossen, aber dennoch, über die Jahrzehnte hinweg, selbst im Misslingen vielsagend.

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Markus steckt in der tragikomischen Klemme zwischen Kindheit und Pubertät, er wächst in einer norddeutschen Provinzfamilie auf. Die Oma hält strikt auf Anstand und Sitte, schon Grass’ „Blechtrommel“ gilt ihr als scheußliche Pornographie. Der Vater (Apotheker) faselt unentwegt vom staunenswert zähen „Iwan“, will aber ansonsten vom Krieg nichts Genaues mehr wissen. Die Mutter fügt sich in die Hausfrauenrolle. Die ältere Schwester Hanna macht offenbar heimlich ihre ersten erotischen Erfahrungen; erst recht, als ein französischer Untermieter in die Dachkammer einzieht.

Im Grunde geht’s ihnen ja schon wieder gold. Nicht nur deswegen fühlt man sich hin und wieder im Duktus an Walter Kempowski erinnert. Auch mögen germanistische Seminare sich künftig am Vergleich mit Gerhard Henschels ähnlich gestrickten Büchern („Kindheitsroman“, „Jugendroman“) abarbeiten. Hier wie dort darf man sich an Generationsgenossenschaft wohlig wärmen, wohldosierte Zeitkritik aus sicherer Entfernung inbegriffen.

Die eigentliche, recht übersichtliche Handlung kommt in Gang und Markus’ Seele in Wallung, als nebenan, ins Haus, das ohnehin als „Schandfleck“ gilt, Italiener einziehen. Sie wurden seinerzeit in der bräsigen Wohlstandsrepublik Deutschland weithin als Schwächlinge des Zweiten Weltkriegs und „Spaghettifresser“ verunglimpft. Es ist lang her, doch vielleicht gar nicht so weit weg.

In diesem Falle gibt es noch mehr Empörungsstoff: Der italienische Vater, der (was sonst?) eine Eisdiele eröffnen will, ist Kommunist und spielt Gitarre, die halbwüchsige Tochter Clarissa hängt ihren roten (!) Schlüpfer sichtbar an die Wäscheleine. Unerhört, findet Markus’ Großmutter und lässt – ausgerechnet in jener Zeit des Berliner Mauerbaus – eine hohe Trennwand zwischen beiden Grundstücken hochziehen.

Markus selbst hingegen verguckt sich bebend in die süße Clarissa. Überhaupt sagen ihm jetzt italienische Lebensart und Sangeslust in höchstem Maße zu. Doch dieses Neigung, so glaubt er, muss er in seinem Herzen verschließen.

Womit denn noch ein paar Klischees angeklungen wären.

Was noch passiert, ist insgesamt nicht allzu überraschend. Man fühlt sich zwar ganz leidlich unterhalten, aber niemals sonderlich gefordert, auch nicht durch die eingestreuten Reflexions-Partikel über den Wirklichkeitsgehalt der Fotografie und die trügerische Erinnerung.

Doch halt! Am Ende besteht der Witz der munteren Erzählung wohl gerade darin, dass so gut wie nichts geschehen ist.

Wie zum Ausgleich trägt der Oldenburger Klaus Modick (Jahrgang 1951), ein angenehm bodenständiger und „geerdeter“ Autor, in seiner Geschichte das Zeitkolorit geradezu pastos auf. Er wird nicht müde, Moden, Musiktitel, Konsumgewohnheiten oder Redensarten jener Jahre anzuhäufen, als müsse er den Zeitrahmen der Handlung eigens immer wieder beglaubigen. Zur Not steht hier immer ein Kofferradio bereit, aus dem der passende Schlager plärrt. Im Extremfall hören sich Modicks Sätze schon mal so überaus umständlich an: „Hanna, schnieke rausgeputzt mit schwarzem Dralonrolli, dreiviertellanger, eng anliegender, am Saum geschlitzter schwarzer Caprihose, schwarzen Pumps und schwarzem Popelinemantel, eilte zur Tür.“ Im Neckermann-Katalog standen wahrscheinlich auch nicht mehr Details.

Die nachrichtlichen Großereignisse kommen gleichfalls vor, sofern ihre Folgen bis in den Alltag reichen: Mauerbau im August 1961, Sturmflut im Februar 1962, Kubakrise im Oktober 1962. Und unter allem schwelt im Kalten Krieg insgeheim die Angst vor der atomaren Vernichtung des ganzen Planeten… Wie klein und nichtig war dagegen der ganze Kram, über den man sich sonst so aufgeregt hat.

Klaus Modick: „Klack“. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 223 Seiten, 17,99 Euro.




Als der Widerstand wuchs: Gesichter der „Wende“

Des welthistorischen Tages wollen wir auch an dieser Stelle gedenken: Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, hat das DDR-Regime mit dem schändlichen Mauerbau begonnen. Doch wir zäumen die Sache von hinten auf und betrachten ein Buch über die „Wende“ von 1989, die diese Mauer schließlich zu Fall gebracht hat.

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Der Dortmunder Fotograf Dirk Vogel porträtiert in dem Bildband „Gesichter der Friedlichen Revolution“ insgesamt 63 Protagonist(inn)en jener bewegenden Phase deutscher Geschichte. Es sind durchweg aufrechte, anständige Charaktere, deren Lebensleistung hohen Respekt verdient. Unter teilweise großem persönlichem Risiko haben sie Courage in einer Diktatur bewiesen. Auch wenn einige es selbst nicht gerne hör(t)en, so darf man sie wohl Heldinnen und Helden der Zeitgeschichte nennen, Vorbilder weit über den Tag hinaus. Doch selbst Helden sind mitunter fehlbar.

Die kurzen Begleittexte zu den fotografischen Porträts stammen von 23 verschiedenen Autoren, sind also zwangsläufig von schwankender Qualität. Hie und da würde man sich wünschen, die Dargestellten mit deren eigenen Äußerungen wiederzufinden. So klingt manches etwas steril, weil praktisch nur von makellosen Menschen die Rede ist. Das liest sich schon mal wie Hagiographie oder landläufige Nachrufprosa. Ein Buch über Leute, die entschieden Widerspruch erhoben und Widerstand geleistet haben, dürfte ruhig etwas kontroverser sein. Hier aber hat es den Anschein, als würden (hochinteressante) Biographien im Idealzustand eingefroren und somit gleichsam stillgestellt.

Doch mit und zwischen den Zeilen lernt man auch hinzu. Von prägnanten Einzelheiten abgesehen, entsteht nämlich eine Art Typologie des Widerstands. Es werden die verschiedenen Triebkräfte sichtbar, die zur Friedlichen Revolution geführt haben. In erster Linie sind hier kirchliche Anstöße zu nennen. Auch sind die widerständigen Kräfte zuvörderst bürgerlich im traditionell besten Sinne.

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Bei vielen stand am Beginn des Aufbegehrens die Verweigerung des Waffendienstes bei der NVA (Nationale Volksarmee der DDR), also ein im weiteren Sinne friedensbewegter Ansatz. Andere kamen über umweltpolitische Fragen (Tschernobyl, Bitterfeld, AKW-Bau bei Stendal), Frauengruppen oder kulturelle Impulse allmählich zur grundlegenden Kritik am SED-Staat. Fast alle sind von der Stasi drangsaliert worden und haben Haftstrafen verbüßt. Doch man erfährt auch, dass jede auf Einschüchterung angelegte Repression verschärften Widerstand erzeugen kann. Eines steht fest: „Ostalgie“ kann hier wirklich nicht aufkommen.

Im Gegensatz zu den Texten sind Dirk Vogels eindringliche Schwarzweiß-Fotografien (grundsolide aufgenommen mit Leica-M-Modellen der Jahre 1956 und 1963), obgleich den Personen jeweils individuell angemessen, nahezu „aus einem Guss“. Es wird durchweg ein beachtliches Niveau gehalten, Vogel erweist sich als Porträtist von einigen Graden. Schmerzliche und freudige Lebenserfahrungen (welch eine Euphorie hat 1989 geherrscht, die hernach vielfach enttäuscht wurde) meint man den Gesichtern anzusehen, zuweilen auch Charisma, Trotz oder Verzagtheit, mehr oder weniger milde Ironie über die wechselhaften Zeitläufte, doch praktisch keine Verbitterung. Und immer wieder leuchtet in den Gesichtern die spürbare Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit auf. Lebensschätze, die in Wort und Bild aufgehoben werden müssen. Nicht zuletzt als Wegzehrung für kommende Zeiten.

Dirk Vogel hat Erfahrungen mit womöglich heiklen, jedenfalls vielschichtigen Themen gesammelt. So hat er sich fotografisch intensiv und leidenschaftlich mit jüdischem Leben in Deutschland, mit Sinti und Roma sowie mit dem Alltag behinderter Menschen befasst. Das alles verlangt Gespür für Nuancierungen und Empfindlichkeiten. Bemerkenswert überdies, dass ein Fotograf aus dem deutschen Westen dieses hauptsächlich östliche Feld bestellt. Vogel war 1989 Bundeswehr-Soldat in Niedersachsen. Als immer mehr DDR-Flüchtlinge kamen, sollte die Kaserne vielen von ihnen zunächst als erste Bleibe im Westen dienen. Die Begegnungen von damals waren prägend.

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Ein wenig beneidet man den Fotografen, dass er für sein aufwendiges Projekt all diese Menschen der „Wendezeit“ persönlich kennen lernen durfte. Um nur einige aufzuzählen: Wolf Biermann, Marianne Birthler, Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Lilo Fuchs, Katja Havemann, Roland Jahn, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Vera Lengsfeld, Markus Meckel, Matthias Platzeck, Lutz Rathenow, Friedrich Schorlemmer, Konrad Weiss. Und all die anderen. Sie hatten jeweils die Wahl des Ortes und des Ambientes, doch die Kompositionen waren Aufgabe des Fotografen. Man ahnt dieses (niemals feindselige) Widerspiel in manchem Bild.

„Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel“. Mit einem Essay von Claudia Rusch. Herausgeber: Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Archiv der DDR-Opposition). 144 Seiten, 19,80 Euro (ISBN: 978-3-938857-10-6)

Hier nochmals der Link zu sämtlichen Fotos des Bandes:
http://vogel-d.de/Frei/index.html
Ausgewählte Bilder sind verschiedentlich ausgestellt worden, u. a. in Berlin.
Am 3. Oktober 2011 (ab 19 Uhr) hält der Fotograf Dirk Vogel einen Vortrag beim Bochumer Kulturrat (Lothringer Straße 36 c) und stellt einige Bilder aus, siehe auch: http://www.kulturrat-bochum.de/index.php?id=141
Nach den Sommerferien 2012 (!) wird die Städtische Galerie Iserlohn alle 63 Porträts zeigen.

Alle Abbildungen sind dem besprochenen Band entnommen (Fotos: Dirk Vogel)