„Im Grunde blieb kein Stein auf dem anderen“: Neu aufbereitete Interviews mit Christa Wolf zur Wendezeit

Jubelnde Menschen in Ost und West: Diese Bilder prägten 2019 die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Ein ungleich facettenreicheres Porträt der Wendezeit bieten indes die Interviews, die der Filmemacher und Publizist Thomas Grimm mit der Schriftstellerin Christa Wolf im Beisein ihres Mannes Gerhard Wolf vor elf Jahren geführt hat.

Jetzt hat Grimm die Gespräche gemeinsam mit dem Ehemann der 2011 verstorbenen Autorin aufbereitet und um Reden sowie weitere Dokumente erweitert – womit man sich mitten im Geschehen jener Jahre befindet.

„Für unser Land“ heißt ein denkwürdiger Aufruf, den Wolf und eine Reihe von Weggefährten aus Kultur, Kirche und Wissenschaft in den Novembertagen 1989 verfasst haben, wollten sie doch die DDR von der Basis her reformieren. Eine deutsche Einheit, die gern in einem Atemzug mit der Grenzöffnung genannt wird, war für sie nicht das vorrangige Ziel, wie es auch in Christa Wolfs Rede auf dem Alexanderplatz deutlich wird. Vielmehr hatten zahlreiche Intellektuelle vor Augen, „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik“ zu schaffen – ohne Honecker & Genossen.

„In völlig andere Strukturen hinübergehoben““ 

Bekanntlich kam es anders, Kanzler Kohl habe schlau und geschickt agiert, resümiert die Schriftstellerin. Sehr feinfühlig, oftmals mit dem Neuen hadernd, gibt sie wieder, welche Entwicklung fortan ihren Lauf nahm. Man sei im Kulturbereich in völlig „andere Strukturen hinübergehoben worden“, heißt es an einer Stelle, an einer anderen beschreibt Christa Wolf die Veränderung an den Universitäten: „Über Nacht übernahmen die westdeutschen Gesandten die Gremien, und selbst hoch angesehene DDR-Wissenschaftler mussten sich von zweitklassigen Professoren aus dem Westen evaluieren lassen. Im Grunde blieb kein Stein auf dem anderen.“

Sozialistisch klingt es, wenn sie erklärt, dass mit der Einheit „das Privateigentum an den Produktionsverhältnissen“ wiedereingerichtet worden sei. So sehr sie das vereinte Deutschland mit vielen Bedenken betrachtet, so kritisch sieht sie aber auch das DDR-System, das die Menschen vereinnahmt, entmündigt und in ihrer Würde verletzt habe. Schließlich wirbt sie dafür, den einstigen DDR-Bürgern Verständnis entgegenzubringen, die es eben nicht gelernt hätten, ihre Meinung zu sagen und sich in demokratischen Spielregeln einzuüben.

Als ein Umbruch noch unwahrscheinlich zu sein schien

Dass sich in dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ überhaupt ein Umbruch anbahnen könne, das schien der Schriftstellerin auch noch in den letzten Monaten vor dem Mauerfall unwahrscheinlich zu sein. Die Hoffnung, die DDR-Führung würde sozusagen von oben einen Wandel einleiten, haben nach Aussagen von Wolf wohl viele Bürger spätestens nach einem Interview mit Funktionär Kurt Hager im Jahr 1987 begraben. Auf die Frage, ob nicht Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion Vorbild für die DDR sein könne, stellte er sinngemäß die Gegenfrage, ob man, wenn der Nachbar die Wohnung neu tapeziere, das denn auch machen müsse.

Den Anfang vom Ende des Systems verortet Christa Wolf allerdings weniger in den Reformprozessen, die Gorbatschow einleitete, vielmehr habe der Zerfall bereits mit der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermanns 1976 begonnen. En passant erwähnt Wolf, dass die Entscheidung Honecker ganz allein getroffen habe, selbst seine Ehefrau sei aus Angst um die Folgen dagegen gewesen. Nun sei zwar Biermann nicht besonders bekannt gewesen in der DDR, dass aber überhaupt jemand ausgebürgert wird und dann noch jemand, dessen jüdischer Vater im KZ umgebracht wurde, hat nach Wolfs Darstellung den Protest katalysiert.

Offene Worte über die Kontakte zur Stasi

Der Zusammenbruch 1989 geht, wie Christa Wolf anschaulich beschreibt, auf mehrere Ereignisse zurück, wozu Aktionen der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung ebenso gehören wie die öffentlichen Berichte zu den Manipulationen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 und schließlich die Übergriffe der Staatsmacht bei den Demos im folgenden Oktober. Wie schwierig die Aufarbeitung solcher Vergehen sich gestalten kann, darauf geht Christa Wolf ein, als sie über ihre Mitarbeit in der Untersuchungskommission berichtet, die beispielsweise einen Erich Mielke interviewen musste. Sehr offen spricht sie über ihre Kontakte zur Stasi, berichtet davon, wie überrascht sie bei Sichtung der eigenen Akten gewesen sei, als IM geführt worden zu sein. Ihre kritische Haltung zu Partei und Staat, so mutmaßt Wolf, habe wohl dazu beigetragen, dass man an ihr als Informantin dann doch wohl kein Interesse hatte. Selbst hätte sie es sowieso nicht gewollt.

Wenn man heute ein solches Buch liest, das vertiefende Einblicke in Strukturen und Zusammenhänge der DDR bietet, kommt unweigerlich die Frage auf, ob sich irgendwo Erklärungsmuster für das Erstarken von Populismus und Rechtsextremismus finden. Einen Hinweis gibt Christa Wolf direkt selbst. Der Aderlass an jungen Menschen gleich mit Öffnung der Mauer hat nach ihrer Ansicht die ostdeutsche Gesellschaft anfälliger für solches Gedankengut gemacht. Zudem hebt Wolf darauf ab, wie sehr doch eine ablehnende Haltung gegenüber dem Staat während in der DDR ausgeprägt war, woraus sich die Frage ergibt, welche Folgen das für eine spätere Gesellschaft haben kann. Und schließlich spricht sie davon, dass – wenn auch eher auf alternative Lebensformen bezogen – sich Menschen in Zirkeln und Vereinigungen Nischen suchen, um der Globalisierung zu entkommen.

Christa Wolf: „Umbrüche und Wendezeiten“, hg. von Thomas Grimm unter Mitarbeit von Gerhard Wolf, Suhrkamp, 141 Seiten, 12 Euro.




„Kein Wunder“ – ein enttäuschender Roman von Frank Goosen

Sommer 1989: Nichts ist mehr so, wie es mal war und doch hat sich (noch) nicht allzu viel verändert. Die Schulfreunde Förster und Brocki studieren vor sich hin, gehen altvertraute Wege, besuchen altvertraute Kneipen und wagen sich nur zaghaft an Neues. Weniger aus Angst vor dem Unbekannten als aus einem diffusen „Ist doch alles ganz nett so“-Gefühl heraus.

Ganz anders ihr alter Kumpel Fränge. Der hat immerhin einen kleinen Aufbruch gewagt. Nach Berlin hat er sich aufgemacht, angeblich vor der Einberufung „geflüchtet“. In Wahrheit wurde er ganz unprosaisch ausgemustert, aber auch sonst strickt er gerne an seiner eigenen Mär eines coolen und aufregenden Lebens. Fränge ernennt sich zum Weltenwanderer der Liebe, im Westen der geteilten Stadt unterhält er eine Beziehung zu Marta, im Osten zu Rosa.

Den ungleich größeren Aufbruch im Osten bekommt er dennoch lange nur am Rande mit. Erst als die Mauer durchlässig und seine Jonglage schwieriger wird, realisiert Fränge, dass er eigentlich mittendrin statt nur dabei war. Selbst die schwer auf sich konzentrierten Förster und Brocki bekommen bei ihrem Berlin-Besuch mehr von der Ost-Berliner Dissidenten-Szene mit.

Förster? Brocki? Fränge? War da nicht mal was? Die kennen wir doch? Richtig, die drei Spezialisten turnten schon mehr oder weniger unbedarft durch Goosens (nicht besten) Roman „Förster, mein Förster“. Da waren sie 30 Jahre älter, wenn auch nicht unbedingt weiser als in Frank Goosens neuem Roman „Kein Wunder“.

Praktisch für den Autor: keine Arbeit mit neuen Figuren

Praktisch für den Leser, da braucht er sich nicht schon wieder an neue Figuren zu gewöhnen. Noch praktischer für den Autor, braucht er doch keine neuen Figuren zu entwickeln. Noch praktischer für den Autor, in der Zeit zurückzugehen, hat man nicht soviel Arbeit mit der Weiterentwicklung von Charakteren. Führt unpraktischerweise nur leider beim Leser schnell zu Langeweile. Wieder von denselben Befindlichkeiten im einmal geschaffenen Mikrokosmos zu lesen, hat etwas zutiefst Ermüdendes. Vor allem, wenn man weiß, dass sie dreißig Jahre später immer noch nicht so viel weiter sind.

Die Werke des Bochumer Schriftstellers und Kabarettisten Frank Goosen werden gerne als eine Art Chronik des Ruhrgebiets u n d der Babyboomer-Generation verstanden. Möglicherweise fiel Goosen auf, dass in dieser Chronik die Zeit des Mauerfalls fehlte, möglicherweise war ihm die Zeit der Post-Pubertät mit seinem ersten Roman „liegen lernen“ noch nicht genügend abgearbeitet – was auch immer sein Motiv war, klar wird es nicht in „Kein Wunder“.

Sonst reicht es bei Goosen, wenn er wie sein Protagonist Förster agiert: „Zuschauen. Und sich alles merken. Und irgendwann aufschreiben“. Diesmal ganz und gar nicht. Es ist ohnehin selten eine gute Idee, wenn Menschen mittleren Alters sich am Coming of Age versuchen.

Wo ist die lockere Art von früher geblieben?

Goosen ist weit weg von seinem Mittzwanziger-Ich. Mehr als ein paar extrem bemühte Kratzer an der Oberfläche schafft das Buch nicht. Scheinbare Mühelosigkeit war sonst immer ein Markenzeichen des Autors. Ein Blick in das locker runtergeschriebene Nachwort reicht, um die Diskrepanz zwischen bisherigen Goosenschen Texten und der bemühten Krampfigkeit von „Kein Wunder“ zu erkennen.

Nicht einmal für einen nennenswerten Wiedererkennungswert reicht es. Beschreibt er einen reviertypischen Arbeiterhaushalt, sieht man sofort die Ekel-Alfred Kulisse vor sich, der frankophile Akademiker-Haushalt ist auch nicht mehr als eine platte Karikatur. Und die Befindlichkeiten der Freunde? Sorry, aber so oberflächlich waren die wenigsten in den 80ern. Dieses hingeschnodderte „Krupp/Thyssen – war da nicht mal was?“ – ein Armutszeugnis. Hat wirklich keiner in Bochum etwas von den Demos in Duisburg auf der Brücke der Solidarität mitbekommen?

Als die Ruhris nach Berlin aufbrachen

Genauso die Szenen aus der Nacht des Mauerfalls. Was will uns der Autor damit sagen? Neue Wege im Osten, neue Böden im Westen? Betroffenheit kommt erst auf, als Förster merkt, dass aus seinem Filmprojekt über den Niedergang des Ruhrgebiets nichts mehr wird. Die intellektuelle Avantgarde hat sich bereits vom Revieracker gemacht in Richtung Berlin.

Sollte es Goosen darum gegangen sein, die Chronik der Babyboomer um die Zeit des Mauerfalls zu vervollständigen, kann man nur sagen: das hat Sven Regener bereits deutlich berührender erledigt. Sollte es Goosen darum gegangen sein, den Stellenwert des Ruhrgebiets zu heben und den Hype um Berlin zu relativieren, dann sei ihm gesagt: Wissen wir schon. Ein alter Hut. Frag‘ er seine Omma: „Woanders ist eben auch Scheisse“.

So bleibt nach Lektüre der einzige Erkenntnisgewinn, dass die Aussage „reisen nach dem Ausland sind ….“ grammatikalisch falsch war. Prima, dass endlich einer darauf hinweist.

Frank Goosen: „Kein Wunder“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 352 Seiten, €20,00