Schauriges Vergnügen mit Hexen und Geistern: Aalto-Opernchor Essen singt Musik der „dunklen“ Romantik

Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Die Damen sind nicht unattraktiv: Rosige Wangen, wunderweiße Haut gleich Schwänen auf einem Teich, liebliches Nicken und Küsschen. Nur die grünen Haare sind etwas seltsam. Kein Wunder, dass der Schäferknab‘ seine Herde im Stich lässt. Das Ende ist weniger hold: Da senkt der Dichter Siegfried Kapper Grabesstille über den Wald.

Der heute kaum mehr bekannte Österreicher Robert Fuchs, bei dem von Korngold über Mahler und Schreker bis Richard Strauss viele Berühmtheiten studierten, hat das Gedicht „Die Waldinnen“ vertont. Erzählende Strophen, dichter Satz, kaum „romantische“ Effekte: Es wird hörbar, warum Fuchs (fälschlich) als Brahms-Epigone gilt. Der Essener Opernchor bringt die ins Unheimliche gebrochene Idylle geteilt in zwei Chöre: Die Stimmen der Waldfrauen sind aus der Erzählung ausgegliedert.

Ein gutes Dutzend solcher Kompositionen, dazu einige bekannte Nummern aus Opern präsentierte der Aalto-Openchor unter Leitung von Jens Bingert bei einem Konzert im ausverkauften Foyer des Theaters. Der Klangkörper hat es mehr als verdient, einmal einen eigenen Auftritt zu genießen. Denn Opernchöre haben es nicht leicht: Sie müssen ein vielfältiges Repertoire beherrschen. Abend für Abend erwartet man von ihnen präzises und klangvolles Singen, manchmal in akustisch ungünstigen Bühnenbildern.

Die Sängerinnen und Sänger brauchen viel Flexibilität für den raschen Wechsel von musikalischen und szenischen Proben zu Abendvorstellungen. Da gilt es, sich auf die Atmosphäre des Stücks einzustellen, ob skurrile Heiterkeit oder tragische Verdunkelung. Und dann geht die Kritik, wenn überhaupt, gerade mal in einem Satz auf das Ergebnis wochenlanger Arbeit ein.

Das Mägdlein folgt dem feuchten Kerl

Das Thema der 90 Minuten war Chormusik der „dunklen“ Romantik, unbegleitet oder vom Klavier (Christopher Bruckman) statt dem Orchester gestützt. In den Texten spielen Elfen, Hexen, und Wassergeister eine Rolle, so in Max Regers harmonisch anspruchsvollem „Jäger und Nixe“. In Robert Schumanns „Wassermann“ ist das Verführungs-Verhältnis auch einmal umgekehrt – da folgt das Mägdelein dem feuchten Kerl in den Neckar.

Bingert nutzt den Raum, um den Chor variabel aufzustellen und die Akustik auszureizen. Die wohl bekannteste Nummer, Friedrich Silchers „Loreley“ kommt vom Rang: Der Klang bricht sich und wird weich, während beim frontalen Singen, etwa in Heinrich von Herzogenbergs beschaulichem „Wie schön hier zu verträumen die Nacht im stillen Wald“ sich die Stimmen nicht ausreichend mischen und manch tremolierender Sopran überdeutlich heraustritt. Für den Mondchor aus Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ verteilen sich die Sängerinnen und Sänger im Raum. Der Zuhörer hat den Eindruck, vom Klang umflossen zu werden – ein Erlebnis, das die Bühne nicht bietet.

Gemessener Schauder in der bürgerlichen Stube

Deutlich wird, dass die „dunkle“ Romantik zwar mit dem Schauder spielt, ihn aber meist in wohliger Harmonie und gemessener Melodik zähmt. Zwei historische Balladen sprechen von der Sehnsucht nach vergangener Zeit, in Ludwig Uhlands „Harald“ von entrücktem Heldentum, in Friedrich Rückerts „Der alte Barbarossa“ mit einer deutlichen, damals wohl politisch virulenteren Sehnsucht von „des Reiches Herrlichkeit“. Joseph Rheinberger und Friedrich Silcher vertonen diese Texte mit einer musikalischen Imagination der Szene – dem Reiter-Rhythmus in „Harald“ etwa, oder der geisterhaften Atmosphäre und der „altertümlichen“ Tonart im „Barbarossa“ – und der Chor singt diese Momente mit Theater-Instinkt und einer klanglichen Bandbreite zwischen satter Präsenz und geisterhaftem Piano.

Grusel für die Bürgerstube; die Ausnahme schaffen Giuseppe Verdi und Richard Wagners. Die Hexen aus „Macbeth“ mögen zunächst harmlos, fast tänzerisch klingen, aber das scharfe Martellato der Begleitung und die basslosen, fahlen Stimmen machen sie zu unwirklichen Wesen einer Sphäre jenseits des Fasslichen. Und Wagners „Holländer“-Gespenster sind unheimlich-aggressive Wesen. Da teilt sich der Aalto-Chor, singt von unten, und aus dem Treppenhaus steigt Nebel des Grauens auf. Fazit: Schauriges Vergnügen mit meist kaum mehr bekannter Musik.




Verkannte Moderne: Essener Philharmoniker mit spannendem Programm

Seltsame Wege geht die Geschichte manchmal: Was bleibt? Was wird vergessen? Von der spannenden Zeit der anbrechenden musikalischen Moderne im deutschen Sprachraum bis zum Ersten Weltkrieg, auch von der Vielfalt in den Zwanziger Jahren, ist wenig geblieben: Richard Strauss vor allem; auch der erst seit wenigen Jahrzehnten wiederentdeckte Gustav Mahler. Und natürlich die Wiener Schule, gehätschelt von den „Fortschrittlichen“ nach dem Krieg, wenig geschätzt von einem auf Genuss und Wiedererkennungswert fixierten Publikum.

Entsprechend abgemagert war, was Dirigenten und Orchester für ihre Abo-Reihen – manchmal bis heute – auswählen. Und so war das Schönste am Neunten Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker das ungewöhnliche Programm mit drei Aspekten der Moderne, das sich nicht wieder in den Göttern des Genres erschöpfte.

Der erste verbindet sich mit Max Regers „Lustspiel-Ouvertüre“ von 1911, das Werk eines einst gefeierten Sonderlings, dem die technische Brillanz des Komponierens über alles ging. Man wagt nicht sich vorzustellen, welches „Lustspiel“ die Musik hätte einleiten sollen. Reger führt in dem dicht gewebten Satz alles vor, was ein Meisterkomponist zu beherrschen hat: Sonatenform, Haupt-, Neben- und Seitenthema, kunstfertige Kontrapunktik, Abwandlung, Kombination und Verarbeitung des thematischen Materials, rasante Modulationen. Man staunt, was in knapp zehn Minuten alles an formaler Kreativität möglich ist.

Hyeyoon Park. Foto: Giorgia Bertazzi

Hyeyoon Park. Foto: Giorgia Bertazzi

Aber die Lust ist – mit Verlaub – die eines geschickten Handwerkers: Taucht einmal ein melodischer Gedanke, eine rhythmische Figur auf, gehen sie sogleich im Mahlstrom der Polyphonie unter. Das mag alles mit intellektuellem Gewinn zu lesen sein; mit sinnlicher Lust zu hören ist es nicht.

Gastdirigent Patrick Lange tat nichts, um Regers artifizielles Geflecht durchsichtig zu machen. Die Philharmoniker produzierten einen Klang so fett wie die Braten, die der Ur-Oberpfälzer zu verschlingen pflegte. Die Bruchstücke Mendelssohnscher Pianissimo-Fragilität oder Nicolaischen Rhythmus-Charmes reichen nicht, um die üppige Zubereitung leichter zu machen.

Im atonalen Frost verwelkt

Ein zweiter Aspekt der Moderne: Erich Wolfgang Korngolds Violinkonzert, eine 1947 uraufgeführte romantische Spätblüte, schnell verwelkt im atonalen Frost der Nachkriegszeit. Das Gegenteil von Reger: süffige Melodielinien, schmeichlerische Harmonik, statt inneren symphonischen Zusammenhangs ein rhapsodisches Zitieren aus Korngolds Filmmusiken. Kein Wunder, dass eine technikverliebte musikalische Epoche diese kunstvoll assoziativ verknüpfte Musik nicht würdigen konnte. Korngold galt als Edel-Kitsch mit dem sentimental-süßlichen Odeur der Operette.

Dass dem nicht so ist, dass Korngold, das „Wunderkind“ des Wiener Fin de Siècle, sein „Handwerk“ souverän beherrschte, ist auch im Violinkonzert ablesbar. Die Überleitungs- und Durchführungspassagen des ersten Satzes verlangen Musikalität und Formgespür – bloßer üppiger Ton reicht da nicht. Auch nicht für das Seitenthema: Es erinnert an den Opernkomponisten Korngold, dessen „Tote Stadt“ mittlerweile wieder zum Repertoire gehört.

Hyeyoon Park spielt mit leuchtendem Ton und angemessener Aufmerksamkeit für den Gehalt jenseits sinnlicher Vordergründigkeit. Aber für die erotisch glühende Melodik ist der Porzellanton der 1992 geborenen Koreanerin zu kühl – auch wenn sie mit siebzehn Jahren mit diesem Konzert den ARD-Wettbewerb gewonnen, auch wenn die Kritik die natürliche Süße ihres Tons gepriesen hatte.

Den schwelgerischen Überschwang einer Anne-Sophie Mutter braucht es nicht, aber die Kantilene darf blühen, der Ton hin zu befreiender Fülle drängen. Der transparente zweite Satz überzeugt eher: Hyeyoon Park gestaltet die Phrasierung manchmal verletzlich filigran, findet dezentes lyrisches Schimmern. Hier zeigt sie, wie sie mit Tönen modelliert.

In den spieltechnischen Raffinessen des dritten Satzes ist sie in ihrem Element: leichtfüßige Staccati, ein pfeffriger Tarantella-Rhythmus, mit souveränem Schwung durchformulierte Melodik, Temperament in der Stretta. Der Beifall war begeistert – sicher auch, weil das Orchester bemüht war, Korngold vom Klischee der Filmmusik – mit der er höchst erfolgreich war – wegzurücken. Das bei der Uraufführung heftig getadelte Vibraphon jedenfalls bringt wie andere Instrumente des reichen Schlagwerks wunderbare Schattierungen in die Farbpalette des klassischen Instrumentariums.

Musikalische Meisterschaft und philosophischer Tiefgang

Zum Dritten schließlich Alexander Zemlinskys „Lyrische Sinfonie“ von 1924. Sie verbindet technische Meisterschaft, formale Reflexion, sinnliche Unmittelbarkeit und philosophischen Tiefgang. Die sieben Liebesgedichte von Rabindranath Tagore spiegeln die unnennbare Sehnsucht, das abgründige Verlangen, das ruhe- und ziellose Begehren der Zeit wider, spielen mit bedeutungsvollen Naturmotiven und symbolträchtigen Bildern. Zemlinsky findet dafür einen hochdifferenzierten Ton, nutzt den Reichtum des Orchester-Instrumentariums gedankenvoll und virtuos aus, kennt die rhythmische Schärfe, das raunende Piano, die Majestät des Blechs.

Wieder lassen es die Essener Philharmoniker an subtiler Modellierung des Klangs fehlen. Dirigent Patrick Lange dämpft nicht ab, daher ist das Orchester oft zu laut, zu wenig atmosphärisch im Klang. Der Bariton Heiko Trinsinger schöpft in der Deutung der Worte aus seiner Erfahrung, setzt seine große, nach wie vor flexible Stimme ein. Katrin Kapplusch ringt ihrem Sopran gestoßene Töne, ein hartes Vibrato und schrille Höhen ab. Zemlinskys raffinierte Klangwelten wurden umrundet, aber nicht erobert.

Informationen: http://www.essener-philharmoniker.de/sinfoniekonzerte/9-sinfoniekonzert-der-essener-philharmoniker-lyrisch.htm