Geschichtlicher Spuk – Maxim Billers Roman „Der falsche Gruß“

Junger Mann namens Erck Dessauer drängt als kommender Autor zum führenden Edelverlag, doch der dort längst etablierte, allseits hofierte Großschriftsteller und jüdische Intellektuelle Hans Ulrich Barsilay scheint ihn daran hindern zu wollen. Nanu?

Gleich zu Beginn begibt sich dieser Skandal, als wär’s eine Phantasmagorie: In einer irrsinnigen Aufwallung zeigt Dessauer diesem Barsilay und dessen eingeschworener Entourage so etwas wie einen zittrigen Hitlergruß. Ein hochnotpeinlicher Moment im Berliner Lokal „Trois Minutes“. Ganz gleich, ob Dessauer damit die vermeintlichen Machtspiele des anderen provokant kenntlich machen wollte: Die gänzlich verunglückte Geste dürfte doch wohl das Ende all seiner Ambitionen bedeuten. Mit seinem publizistischen Einfluss wird Barsilay ihn nun gewiss gesellschaftlich vernichten, oder? Wir werden nun Zeugen einer unkontrolliert anschwellenden Furcht.

In der Villa des Hitler-Vertrauten

In seinem neuen Roman „Der falsche Gruß“ vollführt Maxim Biller mancherlei Zeitsprünge und verquickt manches mit manchem. Einen Altnazi-Großvater. Die Auflösung der DDR. Flüchtlings-„Schicksale“ daselbst. Jüdische Identität im heutigen Deutschland. Intrigen im Literaturbetrieb und im Verlagswesen. Herausgehobene Protagonistin ist die Verlegerin, die sich in einer ehemaligen Villa des Hitler-Vertrauten Martin Bormann hochherrschaftlich eingerichtet hat. Zudem geht’s um Berliner Befindlichkeiten als Brennglas komplizierter deutscher Zustände. Oder ist das alles ein zirzensischer Bühnenzauber mit parodistischem Einschlag? Nun, eher ist es vielfältiger historischer Spuk, der keine Ruhe geben will.

Wer die Arbeitslager perfektioniert hat

Sein Antipode Barsilay, so will es dem stets vorauseilend beleidigten Dessauer jedenfalls scheinen, ist zu allem Überfluss wohl drauf und dran, ihm das Thema wegzuschnappen. Dessauer schickt sich an, ein Buch über Naftali Frenkel zu schreiben, jenen erzkriminellen Abenteurer aus jüdischer Familie, der eines Tages Stalins Aufmerksamkeit auf sich zog, weil er teuflische Vorschläge zur „Rationalisierung“ und Perfektionierung der sowjetischen Arbeitslager gemacht und später selbst umgesetzt hat: Nahrung nur noch für einstweilen nützliche Kräfte, die anderen kann man ja mit winzigen Rationen Hungers sterben lassen. Im Raum schwebt somit die heikle Frage, ob ausgerechnet Frenkel – vor allen Nazis – als „Erfinder“ der Konzentrationslager gelten kann, so dass Ernst Noltes höchst umstrittene These vom NS-Staat als Reaktion auf den Stalinismus neue Nahrung bekäme. Gefährlich vermintes Debatten-Gelände. Aber Hauptsache, Dessauers Buch kommt heraus…

Was sind das nur für Ränkespiele?

Irgendwann hat sich ja auch der Knoten gelöst – und es schwinden die seit dem „falschen Gruß“ virulenten Angstattacken Dessauers. Warum? In Barsilays überall hochgelobtem Buch „Meine Leute“, dem auch er nicht seine Bewunderung versagen konnte, hat Erck Dessauer eine Passage entdeckt, in der jener seine schockhafte Erschütterung beim Besuch der Auschwitz-Gedenkstätte schildert, ja geradezu als entscheidende Lebenswende zelebriert. Dessauer findet heraus, dass es sich bei den näheren Umständen um Erfindung handeln muss, ja, dass Barsilay nicht einmal in Polen gewesen ist. Also hat er jetzt etwas Gewichtiges gegen seinen Widersacher in der Hand, das die Sache mit dem Hitlergruß womöglich aufwiegt. Auschwitz und der deutsche „Kult“ um den Holocaust, so sein zwiespältiger Befund, verzeihen keine Lügen. Aber wer lügt und belügt sich hier eigentlich am meisten? Und überhaupt: Was sind das für irrwitzige Ränkespiele, wo es doch inhaltlich um die schlimmsten Verbrechen der Geschichte geht?

Womöglich auch noch ein Schlüsselroman

Und sonst? Haben wir auch hier einen Hauch vom Ewigweiblichen, das hinan und hinab ziehen kann. Im Tross des Hans Ulrich Barsilay (solch ein Name aber auch!) bewegt sich zeitweise die aufreizende Russin Valeria, die selbst der sonst erotisch nur schwer ansprechbare Dessauer (vergebens) zu begehren scheint. Mittlerweile hat Barsilay in einem Buch mit dem Titel „Lustlos“ Valeria sexuell bloßgestellt, worum sich Gerichtsverfahren ranken – ein juristisches Feld, auf dem auch Maxim Biller mit „Esra“ so seine Erfahrungen gesammelt hat. Doch auch das bleibt Episode, wie so vieles in diesem Roman-Konstrukt, in dem schon mal solche Sätze ‚rausgehauen werden: „Freundschaften, das fand ich schon lange, waren nur etwas für Frauen und Verlierer.“ Klingt halt obercool.

Ist „Der falsche Gruß“ am Ende etwa auch noch ein Schlüsselroman über eine real existierende Welt des Scheins, über gewisse intellektuelle Kreise und Figuren der deutschen Hauptstadt? Mag sein. Aber vielleicht sollten kundige Herrschaften in Berlin das Rätsel unter sich ausmachen. Es ist ja gar nicht so furchtbar spannend. Und wer weiß, ob Biller nicht auch hiermit sein Verwirrspiel treibt.

Ganz ehrlich: Ich habe mich eher missmutig durch die bisweilen raffiniert verknüpften, streckenweise aber auch wirr verschlungenen Handlungsmuster des doch eigentlich recht kurzen Romans gequält. Vielleicht finde ich einfach keinen Zugang zu Billers Schreibweise, die mir – bei all seiner funkelnden Intelligenz und polemischen Potenz – zumindest unterschwellig arrogant und anmaßend vorkommt. Tja. Das wäre dann im Grunde m e i n Problem, nicht wahr?

Maxim Biller: „Der falsche Gruß“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 128 Seiten, 20 Euro.




Traumatische Familiengeschichte: Maxim Billers Roman „Sechs Koffer“ als Geflecht aus Fakten und Fiktionen

Wir müssen uns Maxim Biller als ebenso verletzenden wie verletzlichen Menschen vorstellen: Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust.

Als Kolumnist und Kritiker gibt der 1960 in Prag geborene Autor gern den ungehobelten Rüpel und geht lustvoll an die Schmerzgrenze fieser Beleidigungen und übler Nachrede. Als Erzähler dagegen schafft er es immer wieder, uns mit nachdenklichen Skizzen, zärtlichen Tönen und poetischen Porträts zu überraschen. Vor allem dann, wenn er sich dem unverarbeiteten Trauma seiner eigenen Familiengeschichte widmet und in einem Geflecht aus Fakten und Fiktionen in die dunklen Geheimnisse seiner weit verzweigten jüdischen Herkunft vorwagt.

Das Schweigen durchbrechen

Sein neuer Roman, „Sechs Koffer“, ist ein geglückter Fall verzweifelter literarischer Erinnerungsarbeit und humorvoller Rekonstruktion dessen, worüber man in der Familie Biller lieber schweigt: Denn bis heute ist ungeklärt, wer 1960 den Großvater in der Sowjetunion als Devisenschmuggler denunziert hat und dafür verantwortlich ist, dass der „Tate“ hingerichtet wurde.

Lange Zeit war Onkel Dima als Verräter ausgemacht, hatte er doch fünf Jahre in der damaligen Tschechoslowakei im Knast gesessen und, um seine eigene Haut zu retten, bestimmt einige (kleinkriminelle) Familiengeheimnisse preisgegeben. Doch seit der Autor als Fünfzehnjähriger den nach Zürich geflohenen Onkel besucht und bei ihm einige Geheimdienstunterlagen gefunden hat, weiß er, dass Dima als Verräter nicht taugt.

Politische Abgründe des 20. Jahrhunderts

Mit feinem Gespür für hinterhältige Pointen und überraschende Wendungen erzählt Biller aus verschiedenen Perspektiven, wie sich die politischen Abgründe des 20. Jahrhunderts auf die jüdische Familie auswirken. Wie die Billers von Moskau nach Prag und von dort aus nach Hamburg fliehen. Wir lernen Billers Vater kennen, der aus dem Russischen übersetzt und nicht mehr mit seinen Brüdern sprechen mag. Und wir begegnen Tante Natalia Gelernter, die einst als Regisseurin eine große Hoffnung des tschechischen Kinos war und dann am Antisemitismus der Kulturbonzen scheiterte: Ihr Film „Hanka Zweigová“ über eine Jüdin, die den Holocaust überlebt und danach nur noch Spaß haben und mit Männern schlafen will, die an Krieg und Katastrophe keinen Gedanken verschwenden, gilt als eine ebenso gelungene wie gewagte künstlerische und politische Provokation.

Zum Finale der literarischen Öffnung von sechs mit Geschichten vollgestopften Koffern erzählt Biller von seiner Schwester Jelena. Auch sie hat gerade einen autobiografisch grundierten Roman über die Familien-Geheimnisse geschrieben. Sie lebt jetzt in London und kommt auf Einladung des NDR nach Hamburg, um über ihr Buch zu sprechen. Während sie mit dem Taxi vom Flughafen zum Sender fährt, erinnert sie sich an all die verschwiegenen familiären Abgründe, die ihr Leben belasten, sie überlegt, ob sie die Tür zur dunklen Kammer aus Verdrängung und Verrat vor dem Mikrofon wirklich öffnen soll. Hatte ihr Bruder nicht einmal in einer Talk-Show auf die Frage, warum er so viel und so unnachgiebig über seine Familie schreibt, gesagt: „Weil ich keine Geheimnisse mag“?

Maxim Biller: „Sechs Koffer“. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 200 Seiten, 19 Euro.




Verhext von Maxim Biller: „Im Kopf von Bruno Schulz“ am Schauspiel Köln uraufgeführt

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Maxim Billers Kolumnen in der „Zeit“ lese ich ganz gerne. Als nun eine Uraufführung nach einer Novelle von ihm auf dem Spielplan des Schauspiel Köln auftauchte, dachte ich: Unbedingt hin zu „Im Kopf von Bruno Schulz“, in der Regie von Christina Paulhofer. Merkwürdig verhext habe ich 90 Minuten später das Depot 2 wieder verlassen.

Dabei beginnt die Angelegenheit ganz dynamisch, um nicht zu sagen hektisch. Der Bühnenraum (Jörg Kiefel) ist in eine Turnhalle von anno dunnemals verwandelt, mit den typischen blauen Matten, Kästen, Böcken, Trampolin und Schwebebalken. Über eine Leinwand flimmern Schwarz-Weiß-Filmchen von turnenden Schülern in paramilitärischem Drill.

Zwei Schauspieler (Robert Dölle, Sean McDonagh) keuchen, rennen und schwitzen ebenfalls auf den Geräten, eine Schauspielerin (Nicola Gründel) treibt sie herrisch an. Die Szenerie ist im polnischen Provinzstädtchen Drohobycz angesiedelt, 1938. Der Gymnasiallehrer und heimliche Schriftsteller Bruno Schulz pflegt eine masochistische Beziehung zu Kollegin Helena und ärgert sich ansonsten mit seiner Familie herum, die aus einer leicht verrückten Schwester und deren missratenen Kindern besteht. Außerdem ist Bruno Schulz ein glühender Verehrer des Schriftstellers Thomas Mann im fernen Deutschland, von wo ansonsten unheilvolle Nachrichten über Brutalität und Antisemitismus dringen.

Plötzlich taucht in dem beschaulichen Provinzstädtchen ein Betrüger auf, der sich als ebendieser Thomas Mann ausgibt. Doch er benimmt sich schlimmer als jeder Herrenmensch: Er prügelt die ihn bewundernden Dorfbewohner und spannt sie als Lasttiere vor seine Kutsche. Nun will Bruno Schulz handeln. Er muss den echten Thomas Mann aufklären über den Missbrauch seiner Person im fernen Polen und schreibt ihm einen Brief, dem er gleich noch sein neuestes Manuskript beilegt…

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Die theatralische Umsetzung dieser Geschichte gerät eher assoziativ: Sean McDonagh, eben noch im Turnleibchen, spielt den falschen Thomas Mann in schrillen Glitzerklamotten und wirkt dabei wie ein schmieriger Casting-Show-Moderator. Robert Dölle als Bruno Schulz zwängt seinen schweren Körper unbeholfen in verschiedene Sado-Maso-Utensilien und Tunten-Gewänder und genießt es, von Nicola Gründel als Helena immer wieder gequält zu werden, die als ein aus dem Manga-Comic entsprungenes Zwitterwesen ausstaffiert ist und gelenkig über den Schwebebalken turnt.

Der drohende Holocaust kündigt sich durch Duschköpfe an der Decke an, durch die langsam und schleichend der Rauch quillt. Überhaupt hat Bruno Schulz die schwärzesten Visionen von der Zukunft, die von der Realität noch umso grauenhafter übertroffen wurden. Das verleiht dem Abend eine ebenso fiebrige wie diabolische Stimmung, die durch den ganzen billigen Sex- und Glitzerkram umso grotesker wirkt. Böse und bohrend zugleich stellt das Stück auch die Figur Thomas Manns in Frage und die blinde Bewunderung, die die jüdische Gesellschaft von D. dazu bringt, sich von diesem „Zauberer“ quälen, beschwindeln und verhexen zu lassen.

So hinterlässt „Im Kopf von Bruno Schulz“ den Eindruck eines seltsamen Spukes, wenn auch der alptraumhaften Art.

Termine und Karten:
http://www.schauspielkoeln.de/spielplan/monatsuebersicht/im-kopf-von-bruno-schulz/803/