Zum Schunkeln und Mitsingen: „Carmen“ als Comic in Berlin

Szene aus „Carmen“ am Berliner Maxim Gorki Theater – mit (v. li.): Catherine Stoyan, Till Wonka, Lindy Larsson, Via Jikeli, Marc Benner. (© Foto: Ute Langkafel / MAIFOTO)

In einem pinkfarbenen, mit Rüschen verzierten und lässig über den Boden schleifenden Flamenco-Kleid bringt Carmen stolzen Schrittes und flammenden Blickes die zur Wachablösung versammelten Soldaten um den Verstand und die militärisch ohnehin ziemlich schlappe Parade völlig aus dem Tritt.

Die in zitronengelben Uniformen und mit kalkweißen Gesichtern wie computergesteuerte Wesen der Künstlichen Intelligenz fremdgesteuert herum zappelnden Soldaten haben nur noch Augen für die hünenhafte Drag-Queen, die da gerade im feinsten Fummel zur Mittagspause aus der Zigarettenfabrik schlendert und es auf José, den kleinen Kerl, abgesehen hat, der sich sichtlich unwohl fühlt in seinem knallgelben Outfit und mit ängstlichen Glupsch-Augen zu Carmen hinüber linst. Dass ausgerechnet diese von allen Machos umschwärmte Diva dem mickrigen Männlein erotische Avancen macht, ihm kokett eine Blume vor die Füße wirft und mit kräftigem Gesang davon trällert, dass die „Liebe bunte Flügel“ hat, erregt José, macht ihn fassungslos und zieht ihn in einen von Eifersucht und verletzter Männlichkeit beherrschten Liebesrausch, der, wir wissen es alle, tödlich enden wird.

Christian Weise bringt seine ganz eigene Sicht auf George Bizets „Carmen“ auf die Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters. Der Regisseur, der seit einigen Jahren auch am Nationaltheater Mannheim spielerisch und bildgewaltig, komödiantisch und musikalisch die Klassiker des Musik- und Sprech-Theaters zerfleddert, macht auch mit der 1875 in Paris uraufgeführten Oper das, was er immer macht: Er liest sie gegen den Strich, streut Fremdtexte ein, reibt sich an Klischees, zerstört tradierte Rollen und entwirft neue Identitäten.

Raus aus der alten männlichen Ordnung

Der Schwede Lindy Larsson, hoch gewachsener Schauspieler-Sänger und Abkömmling umherziehender Roma, schlüpft in die aufreizenden Kostüme der geheimnisvollen Carmen, die man einstmals diskriminierend als „feurige Zigeunerin“ bezeichnete und zur Projektionsfläche gefährlicher erotischer Versuchungen aufbaute: Wenn José sie in rasender Eifersucht tötete, war das zwar bedauerlich, stellte aber die alte männliche Ordnung wieder her.

Davon mag die von Christian Weise auserkorene Carmen nichts wissen. Lindy Larsson unterbricht immer wieder die sich erstaunlich nahe an Bizets Vorlage entlang schlingernde Handlung und setzt dann zu englischsprachigen Monologen an, erzählt von seinem Alltag als Roma und erklärt, sie sei es müde, seit 150 Jahren immer wieder alle Männer durch einen Märchenwald aus Liebe und Hass lotsen zu müssen und schließlich nur, weil sie ein freies, emanzipiertes Leben führen wolle, mit dem Messer abgestochen zu werden. Deshalb nimmt sie ihr Schicksal jetzt selbst in die Hand und erscheint zum blutigen Finale ganz in Schwarz. Sie wirkt wie eine Witwe, die ihren eigenen Tod schon betrauert, bevor sie ihn erleiden muss, fordert José auf, endlich sein Messer zu zücken und die ganze leidige Carmen-Show ein für alle Mal zu beenden.

Natürlich tut José, wie ihm geheißen. Er ist Wachs in Carmens Händen und fühlt sich erbärmlich in seiner Rolle. Kein Wunder: Er ist eine Frau, heißt mit bürgerlichem Namen Via Jikeli und ist eine wunderbar-wandelbare Schauspiel-Sängerin. Sie agiert linkisch wie Charlie Chaplin und singt herrlich-schräg und zittrig-schön. Fast könnte man bei all der parodistischen Verballhornung vergessen, dass einst Opern-Größen wie Maria Callas und Agnes Baltsa einer Carmen ihre silbrig schillernden Stimmen liehen, Enrìco Caruso und Placido Domingo als José brillierten.

Schnelle Lachnummern und Gassenhauer

Aber von „großer Oper“ hält Weise nicht viel. Seine Slapstick-Komödie zielt auf schnelle Lachnummern und einen bunten Unterhaltungs-Reigen. Deshalb schleppt auch der abgehalfterte Stierkämpfer Escamillo (Till Wonka) einen dicken Bierbauch durch die Gegend und muss immer wieder sein kerniges Trinklied „Auf in den Kampf“ wie einen fröhlichen Gassenhauer intonieren. Da möchten manche gern schunkeln und mitsingen. Oder mit Carmens Widersacherin Michaela (Riah Knight), die mit ihren bodenlangen Zöpfen aussieht wie Rapunzel und die Unschuld vom Land gibt, ein kesses Tänzchen wagen.

Musiker Jens Dohle (Schlagwerk, Vibraphon und Klavier) und seine beiden Mitstreiter (Cello, Kontrabass und Akkordeon) verwandeln Bizets komplizierte Arien und erotisierenden Duette in poppige Schlager, schleimige Schnulzen und schlüpfrige Chansons. Dazu passend gestalten Julia Oschatz und Felix Reime die Bühne zum Comic-Heft, in dem man lustvoll blättern kann. Auf die weißen Wände werden schwarze Wörter, Sätze, Skizzen und Regieanweisungen projiziert. Alles sehr komisch. Wie die ganze kurzweilige Bizet-Persiflage. Intellektuellen Mehrwert aber hat das ganze muntere Treiben eigentlich nicht.

Weitere Aufführungen am 17. und 18. Juni sowie am 11. Juli (jeweils 19.30 Uhr). Maxim Gorki Theater, Am Festungsgraben 2, 10117 Berlin. Kartentelefon: 030/20221115. www.gorki.de

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Zur Person

Christian Weise wurde 1973 in Eisleben geboren. Er studierte 1992-1996 Puppenspiel an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, arbeitete danach als Puppenspieler und Schauspieler. Seit 2002 ist er freier Regisseur, inszenierte in Stuttgart und Köln, Halle und Dessau, Düsseldorf und Darmstadt, Weimar und Berlin. Als Hausregisseur brachte er am Nationaltheater Mannheim u. a. „Die Räuber“ (2018) und „Die Möwe“ (2019) auf die Bühne, außerdem inszenierte er „Das Floß der Medusa (2021), „Was ihr wollt“ (2023), „Die Dreigroschenoper“ (2024) und für die 22. Internationalen Schillertage „Wilhelm Tell“ (2023).

 

 

 

 




Fassbinders „Angst essen Seele auf“ – neu gedeutet am Maxim Gorki Theater in Berlin

Taner Sahintürk, Foto: Esra Rotthoff/Maxim Gorki Theater

Taner Sahintürk, Foto: Esra Rotthoff/Maxim Gorki Theater

Bei Intendantenwechseln suchen Schauspieler gerne oder gezwungenermaßen woanders ihr Glück: Zwei bekannte Gesichter aus NRW entdeckte ich so auf der Bühne des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin wieder. Taner Sahintürk aus Düsseldorf ist nun ins dortige Ensemble gewechselt, ebenso Anastasia Gubareva, die ich zuletzt auf der Bühne des Schauspiel Bonn gesehen habe.

Taner Sahintürk, gebürtig aus Castrop-Rauxel, wollte ursprünglich Fußballprofi werden und spielte als Nachwuchstalent bei Schalke 04. Später tauschte er Rasen gegen Bretter und diese Entscheidung scheint richtig gewesen zu sein. Anastasia Gubareva stammt ursprünglich aus Moskau, studierte an der Folkwang-Hochschule in Essen und kam nach ihrem Engagement am Theater Bonn in dieser Saison nach Berlin.

Beide spielen nun in der neuesten Inszenierung von Hakan Savaş Mican, der „Angst essen Seele auf“ von Rainer Werner Fassbinder für die Bühne eingerichtet hat. Die Sozial-Tragödie um den Türken Ali und seine Liebe zur Putzfrau Emmi (Ruth Reinecke), die an dem Rassismus ihres Umfeldes scheitert, wird hier zu einem Lehrstück des „postmigrantischen“ Theaters, für das die ebenfalls seit der Spielzeit 13/14 neue Gorki-Intendantin Shermin Langhoff steht – wenn man denn unbedingt Schubladen auf- und zuziehen will. Doch behandelt die Inszenierung zum einen explizit das Thema Rassismus und wie er sich seit Fassbinders Film von 1974 heutzutage in unserer Gesellschaft austobt; zum anderen setzt das Gorki auf ein Ensemble internationaler Herkunft. Dieses Konzept hat zwar Karin Beier in Köln auch schon verfolgt, doch einer guten Idee ist es ja eigentlich egal, wer sie hat.

In den siebziger Jahren hießen Migranten noch Gastarbeiter und der Krieg war auch erst halb so lange her. Folglich lässt Mican während der ganzen Aufführung leise Asche auf die Bühne regnen: Der Lebensmittelhändler an der Ecke verkauft Ali keine Butter, weil der seiner Meinung nicht richtig deutsch spricht und die Putzfrauen-Kolleginnen mobben Emmi, weil sie mit einem „Ausländer“ zusammen ist.

Das wirkt stellenweise tatsächlich ein wenig museal, denn heute interessiert es im Supermarkt niemanden, welche Sprache man spricht, Tante-Emma-Läden sind ohnehin passé. Und die Kollegen, nicht nur im Reinigungsgewerbe, kommen auch von überall her, so dass die Beschimpfung „Ausländer“ erst mal keinen Sinn ergibt. Das bedeutet leider nicht, dass Fremdenfeindlichkeit oder -hass ausgestorben sind, wie nicht zuletzt die NSU-Morde zeigten. Jedoch tragen sie inzwischen andere Masken.

Anastasia Gubareva, Foto: Esra Rotthoff/Maxim Gorki Theater

Anastasia Gubareva, Foto: Esra Rotthoff/Maxim Gorki Theater

So führt Mican eine Art Bänkelsänger (Daniel Kahn) ein, der Moritaten von der Liebe singt, und setzt somit stark auf die emotionale Seite der Angelegenheit. Was passiert mit einer Liebe zwischen ungleichen Partnern, die dauernd von außen, von den Vorstellungen der anderen bedroht wird? Muss sie scheitern?

Knapp ist es auf jeden Fall: Ali verliert dabei fast seinen Stolz und versucht, ihn mit einer Affäre mit einer jüngeren Frau wieder zu erlangen. Diese Zerrissenheit, das Ringen um den richtigen Weg, nimmt man Sahintürk ab, der Mann leidet wirklich. Auch Emmi muss kämpfen, besonders gegen die eigenen Kinder, wobei Anastasia Gubareva als Schwiegertochter es tatsächlich tausendmal schlimmer mit ihrem Macho-Mann getroffen hat als ihre Mutter mit dem vermeintlichen Chauvi aus dem Süden.

Zum Schluss steht – im Gegensatz zur Fassbinder-Vorlage – eine Utopie: Emmi verzeiht Ali den Seitensprung und sie beschließen, der Meute zu trotzen. Auf zu neuen Ufern.

Infos und Termine: www.gorki.de