Die Wiederentdeckung der Langsamkeit – Johan Simons inszeniert einen grandiosen „Iwanow“ im Bochumer Schauspiel

Szene mit (von links) Jens Harzer als Iwanow, Veronika Nickl, Gina Haller und Romy Vreden. (Bild: Schauspielhaus Bochum / Monika Rittershaus)

Quälend langsam hebt sich der eiserne Vorhang. Kann man die Geschwindigkeit steuern? Kein warnendes Glöckchen läutet, doch ein, zwei Male grummelt das Blech bedrohlich. Langsam, ganz langsam öffnet sich der Blick auf einen Mann, der auf einem Stuhl sitzt und von dem man nicht sicher sagen kann, ob er das Buch in seinen Händen liest oder nur den Boden anstarrt.

Iwanows Leben steht still, und der Stillstand verheißt ganz früh schon Untergang. Im Folgenden nimmt sich Regisseur Johan Simons viel Zeit, um uns diesem tragischen Menschen näher zu bringen – in Bochum, in seiner fulminanten Inszenierung von Tschechows Bühnen-Erstling.

Der große Glücksgriff dieses Abends hat einen Namen: Jens Harzer verkörpert die Hauptfigur mit atemberaubender Intensität. Ein tragischer Mensch ist er, ganz ohne Frage; doch auch ein Schelm, ein Verführer und Komödiant. Ob Ernst oder Ironie seine Sätze formt, weiß er oft selbst wohl nicht genau. Verschlagen und höhnisch schaut er manchmal in die Welt, doch auch verletzliche Kinderblicke kann er. Und wenn er und die junge Sascha in Liebe entflammen, sich antanzen und übereinander herfallen, ist vom depressiven Mann auf dem Stuhl nichts mehr übrig. All das bei fast ununterbrochener Bühnenpräsenz. Beeindruckend.

Keine Deutungen

Das Stück über den grandiosen, narzißtischen, depressiven Halbintellektuellen und Pleitier, der Iwanow ist, könnte man in heutiger Begrifflichkeit mit kleinen Einschränkungen ein Psychogramm nennen. Wir erfahren etliches darüber, wie dieser Mann in seine allseitige Handlungsunfähigkeit abrutschte, wie er sich überschuldete und wie er auch jetzt noch unfähig ist, die Hilfe anzunehmen, die ihm angeboten wird.

Doch vermeidet die Inszenierung durchgängig Deutungen und Pointierungen, sondern beschreibt statt dessen sorgfältig und liebevoll die Umgebung Iwanows als ein Milieu, in dem (in den besseren Kreisen) Langeweile, üble Nachrede, Kungelei und Suff das Leben prägen. Vor einem Jahr noch hatte Iwanow hier kräftig mitgemischt, Ideen für sein Gut entwickelt und mit brennendem Interesse die ganze Nacht hindurch philosophische Bücher gelesen, wie er sich, ungläubig fast, erinnert. Und eigentlich gehört er ja immer noch dazu. Er und seine „Buddies“ wissen fast alles voneinander, drücken und herzen sich, sorgen fallweise für vorteilhafte Eheschließungen, planen gerne krumme Geschäfte, die um so krummer werden, je reichlicher der Wodka fließt.

Jens Harzer als Iwanow. Im Hintergrund Thomas Dannemann. (Bild: Schauspielhaus Bochum / Monika Rittershaus)

Mit Jens Harzer (Iwanow), Martin Horn (Schabelskij), Bernd Rademacher (Lebedew) und Thomas Dannemann (Borkin) steht dem Regisseur eine Kerntruppe zur Verfügung, die das alles unnachahmlich launig und stimmig vorführt. Sie macht nachvollziehbar, daß Tschechow das Stück zunächst als Komödie plante, was aber leider nicht funktionierte.Man spielt auf nackter Bühne, ein großes, bewegliches Gestell aus Holzbalken, das später von Bühnentechnikern zerlegt wird, signalisiert häusliche Beklemmung, Verortung, Milieu.

Die Anordnung der Personen erfolgt so, wie man es bei Johan Simons schon oft gesehen hat, auf Sitzgelegenheiten, vorne an der Rampe. Hier spielen sie jedoch wirklich miteinander, die Schauspielerinnen und Schauspieler, und das Textverständnis ist ganz vorzüglich. Kein Videoeinsatz, keine überlauten Klangeffekte, keine Deklamationen in das Publikum hinein. Lediglich ahnen wir oft mehr als daß wir es tatsächlich hören: ein bedrohliches Grummeln, ein diffuses Störgeräusch, das ein Herzschlag sein könnte und das die Intensität der Inszenierung steigert (Musik: Benjamin van Dijk).

Szene mit (von links) Martin Horn,  Marina Frenk und Thomas Dannemann. (Bild: Schauspielhaus Bochum / Monika Rittershaus)

Fast wie bei Peter Stein

Gesellschaftliche Bestandsaufnahmen finden – gleichsam im Vorübergehen – überwiegend im ersten Teil dieses fast vierstündigen Theaterabends (mit Pause) statt. Und die Produktion nimmt sich souverän die Zeit, die sie eben braucht, bis alles gesagt, gespielt und vorgeführt ist, was in der Neuübersetzung von Angela Schanelec steht, in gepflegter, unauffälliger und zweckmäßiger Umgangssprache. Der Regiestil läßt an manche Produktionen Peter Steins denken, der in seinen sorgfältigen, nichts von den Vorlagen auslassenden Inszenierungen ebenfalls keine Eile hatte.

Zeitlos aktuell

„Iwanow“ spielt in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts; die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft hatte das rückständige Land nicht wirklich weitergebracht, in den Eliten herrschte Orientierungslosigkeit. Angesichts der Bochumer Produktion mag man sich fragen, ob Tschechow mit dem Gesellschaftsbild seines Stücks vor allem dieses desolate vorrevolutionäre Rußland meinte oder eher die immer gültigen Verhältnisse. Es wird wohl beides sein; als Theaterbesucher ist man heutzutage irritiert, wenn man einmal nicht mit der Nase auf die täglichen Schrecklichkeiten der Welt gestoßen wird. Dank dem Regisseur an dieser Stelle deshalb auch dafür, einem zeitlos aktuellen Stoff Raum gegeben zu haben.

Szene mit (von links) Gina Haller (im Hintergrund), Martin Horn, Jens Harzer und Bernd Rademacher (Bild: Schauspielhaus Bochum / Monika Rittershaus)

Alles unmöglich

Nach der Pause – seine erste Frau Anna Petrowna (Jele Brückner) stirbt an Tuberkulose, Iwanow schickt sich an, die blutjunge Sascha (Gina Haller) zu heiraten – eskalieren die Dinge ein wenig, da wird es auch manchmal etwas lauter. Doch bleibt die Inszenierung ihrem deskriptiven Ansatz treu; der Unterschied zu vorher ist, daß Iwanow kräftiger und immer öfter beteuern muß, daß ihm eigentlich alles, hier vor allem jedoch die Heirat mit Sascha, unmöglich sei. Auch sein Onkel, der mit der Heirat der sehr viel jüngeren Marfa Jegorowna Babakina (zierlich, aber kämpferisch: Marina Frenk) finanziellen Engpässen begegnen zu können hoffte, schwächelt, und der junge Arzt Lwow (Marius Huth) fordert ein weiteres Mal Moral ein. Es ist alles etwas viel für den psychisch kranken Titelhelden, weshalb zum Schluß ein Schuß ertönt.

Theater ohne finale Wahrheiten

Eine Suche nach Ursachen für das, was den Narzißten Iwanow so tödlich lähmte, was man in seiner Zeit noch mit dem Begriff Melancholie faßte und heutzutage am ehesten wohl als Depression beschreibt, unterbleibt. Dabei könnte man vermuten, daß der Autor Anton Tschechow seiner Figur gar nicht so unähnlich war, im Programmheft abgedruckte Briefwechsel lassen einen solchen Schluß zu. Er hätte sich also dramenwirksam fragen können, wie er es selbst aus diesem Teufelskreis aus Scheitern und Antriebslosigkeit herausgeschafft hat – aber dieser Gedanke ist natürlich sehr spekulativ. Johan Simons entläßt sein begeistertes Publikum mit der Frage in die Nacht, ob ein Schicksal wie das Iwanows eher persönlich oder gesellschaftlich ist. Ein Theater ohne finale Wahrheiten.

Allseitig begrenzte Spielstätte; Szene mit (von links) Martin Horn, Thomas Dannemann und Bernd Rademacher (Bild: Schauspielhaus Bochum / Monika Rittershaus)

Gutes Ensemble

Haben wir sie jetzt alle genannt, die elf Akteure, die so wunderbar zusammenspielen und auch (hinten) auf der Bühne verharren, wenn sie gerade einmal nicht an der Reihe sind? Ausnahmslos verdienen sie es. Veronika Nickl gibt sehr überzeugend die geizige Tante, die ihre Gäste mit Stachelbeerkompott traktiert, aber auch sehr schön Klavier spielen kann; Gina Haller verleiht der kindlichen Sascha artistisch Schnelligkeit und Beweglichkeit, Konstantin Bühler, rote Haare und rotes Gesicht, nervt gekonnt als glückloser Zocker. Und Romy Vreden singt (als Gawrila) den Blues, zwei Male nur und leise, aber zur richtigen Zeit. Jele Brückner schließlich, solide Stütze des Ensembles, brilliert in den gezählten Momenten, die ihr die Rolle der sterbenskranken Anna Petrowna läßt.

„Iwanow“ in Bochum: Ein beglückender, trotz seiner Länge niemals langweiliger Theaterabend, wie man ihn lange nicht mehr erlebt hat. Ein begeistertes Publikum bedankte sich mit stehendem Applaus im ausverkauften Haus.




Unbewusstes aus der Dunkelkammer – Bilder des deutschen Surrealisten Edgar Ende in Haus Opherdicke

„De Profundis" (1951) ist das Titelbild der Ausstellung (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

„De Profundis“ (1951) ist das Titelbild der Ausstellung (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

„Der gefesselte Sturm“ ist eins der letzten Bilder Edgar Endes. 1965 entstanden, zeigt es ein rotes, mit Seilen gespanntes Tuch, in dem sich ein Gesicht abdrückt. Und das Gesicht vergießt Tränen. Ist dies vielleicht die Ahnung des nahenden Todes, ist es die Trauer darüber, dass das kranke Herz (Ende starb an einem Herzinfarkt) nicht mehr stürmen kann? Eine Antwort hätte man von dem Künstler, dessen Werke jetzt in Haus Opherdicke zu sehen sind, vermutlich nicht erhalten. Alles sei in den Bildern, pflegte er den nach Deutung fragenden Betrachtern für gewöhnlich zu bescheiden.

Edgar Ende, übrigens der Vater des wesentlich populäreren Kinderbuchautors Michael Ende („Momo“, „Jim Knopf“), gehört zu den wenigen surrealistischen Malern Deutschlands. Schon frühe Arbeiten wie „Die aus der Erde Kommenden“ von 1931 weiten die Szene ins bedrohlich Unwirkliche. Gewiss ist in Vorkriegsarbeiten wie dieser noch expressionistisches Pathos zu entdecken, doch es dominiert nicht.

Schon der junge Ende arbeitete mit tiefstehendem Licht und magisch überdehnter Räumlichkeit, weshalb man frühe Arbeiten bei flüchtigem Hinsehen auch seinem berühmten italienischen Kollegen Giorgio di Chirico zuordnen könnte. Über persönliche Kontakte zur französischen surrealistischen Szene ist jedoch nichts bekannt, ebenso nichts über Kontakte zu dem fast einzigen bedeutenden, aus Deutschland stammenden Surrealisten Max Ernst, der jedoch schon in den 20er Jahren nach Frankreich übersiedelte.

Frühwerk: „Die aus der Erde Kommenden (Auferstehung)“ von 1931 (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

1945 ging es weiter

Nach frühen beruflichen Erfolgen und ersten Verkäufen geriet Ende ins Visier der Nazis. 1936 wurde er als „entartet“ abgestempelt, Malen und Materialeinkauf wurden ihm verboten, Bilder von ihm, die bereits im Münchner Lenbachhaus hingen, wurden abgehängt.

Ende hielt sich an das Malverbot, war fünf Jahre lang Soldat – und machte 1945 genau da weiter, wo er in der Nazizeit aufgehört hatte. Sein Oeuvre ist von einer geradezu frappierenden Bruchlosigkeit, allerdings sind die Farben nun etwas kräftiger.

Monströse Wesen

Monströse Wesen wie die „Löwenengel“ bevölkern Endes Bilder, Tauben, deren Flügel menschliche Hände sind, überflattern eine Taucherglocke, ein Mann in roter Jacke schießt mit dem Gewehr auf Apothekerwaagen, die vor düsterer Sturmhimmelskulisse dahinfliegen: Wie entwickelte dieser Surrealist seine Phantasien in einer Zeit, in der zumal im Westen Deutschlands abstrakte Kunst als das Nonplusultra galt und Figuratives schnell als gestrig abgetan wurde? Nun, er ging, ganz bescheiden, in die Dunkelkammer.

Noch ein Frühwerk: „Fragmente“ von 1936 (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Zettelkasten

Hier, in einer dunklen Kammer, in Abwesenheit jeglichen visuellen Reizes, wartete der Künstler auf Ideen. Sie strömten offenbar in reicher Zahl, und unter dem sparsamen Licht einer Taschenlampe skizzierte Ende Ideen, Eingebungen, „Gedankenblitze“ auf bereitliegenden Zetteln.

Ein besonderer Schatz in der Ausstellung, die Kurator Arne Reimann in Haus Opherdicke mit viel Feingefühl für diese singuläre Künstlerpersönlichkeit zusammengestellt hat, ist deshalb Edgar Endes Zettelkasten mit etlichen hundert Dunkelkammerskizzen. Wieder im Hellen zog mal er selbst, mal seine sehr viel jüngere Frau Lotte Schlegel ein Zettelchen, und dann entstand nach der skizzierten Idee vielleicht ein Bild. Ende glaubte, mit seiner Methode im dunklen, gleichsam lichtentleerten Raum Bildideen aus dem „kollektiven Unbewussten“ zu erreichen, die er seinem schöpferischen Tun unterlegte.

Flüchtig notiert 

Etliche Zettel sind in Opherdicke – unter Glas und bei gedämpftem Licht – nun ausgestellt, und es ist nicht eben so, dass sich Mal um Mal sofort das Meisterwerk zeigte. Einen Großteil der Dunkelkammer-Inspiration wird Edgar Ende also wohl im Kopf gespeichert haben, da ist das Papier dann nur ein Trigger. Doch entscheidend ist ja, was hinten rauskommt.

„Johnnys ganze Liebe“ von 1964 (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Bald vergessen

Edgar Ende war zu Lebzeiten recht erfolgreich, unter anderem 1948 und 1954 Teilnehmer der Kunstbiennale Venedig und in seinen letzten Jahren Präsident des Münchner Hauses der Kunst. Doch das Vergessen setzte bald nach seinem Tod schon ein, und auch der Versuch seines Sohnes, mit einer großen Ausstellung in den frühen 80er Jahren den Vater dem Vergessen zu entreißen, war nur von mäßigem Erfolg gekrönt.

Erst in jüngerer Zeit ist wieder ein wachsendes Interesse an Künstlern jener „verlorenen Generation“ wahrnehmbar, die ihre „besten Jahre“ durch die Nazi-Herrschaft verloren und zu denen auch Ende zählt. Vor allem Kunst des gut 20 Jahre älteren Karl Hofer erzielte in den letzten Jahren große Verkaufserfolge. Er war zwar kein Surrealist, aber er verwendete die gleichen Farben wie Ende, weiß der Kunstsammler Frank Brabant, der schon etliche Opherdicker Ausstellungen bestückte und von dem hier jetzt drei Exponate stammen. Immerhin sind diese aus den 30er Jahren, und da gibt es nur ganz wenig, weil Edgar Endes Münchner Atelier mit all der vielen Kunst darin 1944 einem britischen Bombenangriff zum Opfer fiel.

Das ist nicht Emma. „Die Angst der Berge“ (1958) (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Katalog enthält das Werkverzeichnis

Der Katalog zur Ausstellung schließlich, eine Besonderheit, umfasst auch das alphabetische Werkverzeichnis der Gemälde, Gouachen, Grafiken und Zeichnungen. Ende-Experte Axel Hinrich Murken hat es in drei Jahrzehnten erarbeitet.

  • „Edgar Ende – Melancholie und Verheißung“
  • Haus Opherdicke, Dorfstr. 29, Holzwickede
  • Bis 24.2.2019
  • Geöffnet Di – So 10:30 – 17:30 Uhr
  • Eintritt 4 €
  • Katalog 25 € im Museum, 28 € im Buchhandel
  • www.kreis-unna.de