Eingeschnürt ins Korsett der verlogenen Etikette – Frank-Patrick Steckel inszeniert in Wuppertal Molières „Menschenfeind“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Da lächelt man und redet freundlich. Doch kaum macht einer die Tür hinter sich zu, so wird gemein getratscht.Wohlbekannte Muster. Über derlei heuchlerische Verhältnisse regt sich Jean-Baptiste Molières Figur Alceste so fundamentalistisch auf, daß er „Der Menschenfeind“ wird.

Frank-Patrick Steckel hat die wohl allzeit gültige Komödie in Wuppertal inszeniert. Eine Welt, in der unverbindliche Schmeichelei gedeiht: überwiegend bonbonfarbig das Bühnenbild (Sabine Böing), rundum mit Schleifchen wie mit falschen Komplimenten verziert. Doch am Rande der Szenerie hockt als dumpfe Skulptur eine Art Neandertaler. Der von simplen Instinkten geleitete Frühmensch steckt zutiefst auch in den höfischen Kostümen.

Unter lächerlichen Schranzen und gezierten Dämchen leidet jener rabenschwarz gekleidete Alceste, der rigoros Ehrlichkeit und tyrannisch Tugend einfordert. Fünf gerade sein lassen und mit menschlichen Schwächen gelassene Toleranz üben, wie es ihm Philinte (Tim Grobe) dringend rät? Niemals! Alsbald ist ihm keiner mehr gewogen. Das wiederum nährt den Menschenhaß, bis Alceste am Ende auch die flatterhafte, von ihm so ingrimmig geliebte se Célimène von sich stößt. Dem Manne kann auf Erden nicht geholfen werden. Ob er schließlich in die völlige Einsamkeit oder gar in den Freitod wankt, bleibt hier offen wie eine Wunde.

Gesellschaftswesen, manchmal bestürzend allein

Gemessenen Schrittes, in höfisch geprägte Verhaltensweisen geradezu eingeschnürt, kommen und gehen die Personen. Schon am Gang, besonders am Abgang von der Bühne erkennt man diese Leute. Das vielfältige Spektrum reicht von grotesker Zurschaustellung bis in die Nuancen zwischen schalem Triumph, Brüchigkeit und Verzweiflung. In gewissen Momenten staksen und stolzieren diese Gesellschaftswesen sehr für sich allein daher. Da bekommt man noch Mitleid mit dem ärgsten Blödian.

Ebenso feingliedrig die stilisierte Sprachbehandlung. Das in Alexandriner-Versen gedrechselte Stück, im Deutschen zuweilen nach Büttenreden klingend, wird bis zur Neige und bis zur ganz bewußt servierten Schmiere ausgekostet. Das Zeilengeklapper könnte rasch durch Monotonie ermüden, doch hier wird es mit famosem Formgespür und staunenswerter Sprechkultur zum Klingen gebracht. Aus dem Korsett der Worte quillt die Lust am Reim.

Herrlich, wie genau dieses Ensemble die Rollen erfüllt und buchstäblich bis in die Finger- und Zehenspitzen darin aufgeht: Alceste (Martin Bringmann) in seinem finsteren Feuereifer; Célimène (Tina Eberhardt) in meist spieluhrenhaft abgezirkelten Gebärden; ihre Cousine Eliante (Cornelia Schindler) in kreischiger Altjüngferiichkeit; Oronte (Thomas Schrimm), Acaste (Dirk Müller) und Clitandre (Eric van der Zwaag) in gezielt schrillen Typisierungen. Ein Hauptspaß mit Hintersinn.

Großer Premierenjubel für Regieteam und Darsteller. Sie haben ihn allesamt verdient.

Nächste Termine: 2. und 3. März.




Die Spuren sämtlicher Fehltritte – „Der Hofmeister“ von Jakob Michael Reinhold Lenz in Bochum

Von Bernd Berke

Bochums Schauspiel ist derzeit mehr im Gerede als im Gespräch. Streit gab’s zwischen Bühnenchef FrankPatrick Steckel und Regisseur Benjamin Korn. Es ging um die Molière-Inszenierung „Der Menschenfeind“, die Stecket an sich zog und die am 30. Januar herauskommen soll. Im Fachblatt „Theater heute“ posaunte Korn alles aus und warf Steckel geistigen Diebstahl vor. Kurz zuvor hatte die Frankfurter Allgemeine („Bochum am Boden“) den gesunkenen Standard der Revierbühne beklagt.

Doch neben Querelen gibt es in Bochum zuweilen auch Premieren. Am Samstag hob sich der Vorhang für Jakob Michael Reinhold Lenz‘ „Der Hofmeister – oder Vorteile der Privaterziehung“.

Das 1778 uraufgeführte Stück des „Sturm und Drang“ entstand, als der Adel bereits geistig mit dem Bürgertum konkurrieren mußte, die Standesschranken aber noch nicht gefallen waren. Dieser Widerspruch gerinnt zur Tragikomödie.

Titelfigur ist der junge Hofmeister (sprich: bürgerlicher Privatlehrer für Adelskinder) namens Läuffer, der die Tochter eines Majors schwängert, worauf die Welt der Väter in Wallung gerät. Doch die Altvorderen sind schon reichlich zahnlos. Alles schnurrt in ein erkünsteltes Happy-End hinein, wo jedem die Seine beschieden ist.

Nichts vom rastlosen Schauplatzwechsel der Vorlage: Der von Andrea Schmidt-Futterer gestaltete Spielort in Bochum ist ganz einheitlich. Gefängnis, in dem man rasend wird; hermetisches Geviert, begrenzt von starrer Säulen-Architektur. Man mag da an faschistische Imponierbauten denken. Blutrot ist der Boden, darauf Unmengen von Papierschnitzeln. Jeder Schritt hinterläßt hier Spuren, im Laufe des Abends entsteht so eine Art Bild unter den Füßen der Figuren. Doch was heißt „Schritt“? Der aufrechte Gang ist niemandem gegeben. Da wird geschlurft, gewankt, gehinkt. Lauter Fehl-Tritte.

Haltlos unterwegs sind diese Menschen. Manchmal betreten sie mit gepackten Koffern die Bühne. Der Hofmeister (Michael Weber) wirkt in schäbiger Kleidung wie jener Heimkehrer (nun gar: ,Asyl-Bewerber“?) Beckmann aus Borcherts Nachkriegsdrama „Draußen vor der Tür“. Auch den vermeintlich glückhaften Schluß können diese Gestalten nicht goutieren. Sie finden sich halt damit ab.

Im Mittelpunkt der Bochumer Fassung stehen die Väter, Geheimrat von Berg (Georg- Martin Bode) und sein Bruder, der Major (Oliver Nägele). Angesichts des Skandals („Es gibt keine Familie mehr“) wahrt der Geheimrat krampfhaft die Statur, während der Major verwahrlost und dem lachenden Wahnsinn anheimfällt.

Schauspielerisch ebenso hervorzuheben: Michael Weber macht das Optimum aus dem kurzen Auftritt des alten Predigers Läuffer, Christian Ebert verleiht dem Schulmeister Wenzeslaus bizarres Profil.

Über dreieinhalb Stunden Spieldauer trägt das zaghafte Konzept der Regie jedoch nicht. Dringend erwünscht wäre ein Durchbruch, ein Riß, meinetwegen ein gewaltsamer Zugriff. Nur die monströse Selbstkastration Läuffers sorgt blutreich für einen ganz kurzen Schock. Ein Verfremdungs-Versuch à la Brecht – die Darsteller treten aus ihren Rollen heraus und sagen die Szenen selbst an – steht isoliert für sich.

Die Frage, warum man dieses Stück jetzt spielen muß, konnte die etwas blasse und museale Veranstaltung nicht beantworten. Regisseur Urs Troller hörte einige Buhrufe.

Die nächste Vorstellung folgt erst am 31. Januar.