Flucht vor dem Drogenkartell – in die gar nicht so idyllische Provinz

Das seit Jahren vermisste Mädchen Gesa war für die meisten Bürger in dem beschaulichen Bad Iburg längst in Vergessenheit geraten, als Andreas Atlas plötzlich wieder in dem Städtchen mitten im Teutoburger Wald auftaucht. Er hatte sich einst kurz nach dem Verschwinden der damals 18-jährigen aus dem Staub gemacht. Als er nun in seine alte Heimat zurückkehrt, holt ihn die Vergangenheit wieder ein, aber nicht nur ihn, sondern auch Bekannte und Kollegen aus früheren Zeiten.

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Andreas Atlas ist die Hauptfigur in Martin Calsows neuem Krimi, der von sehr unterschiedlichen Handlungssträngen lebt und recht eigenartige Persönlichkeiten aufzubieten hat. Das fängt schon bei Atlas selbst an. Er ist ein Mann des Bundeskriminalamtes, war als verdeckter Ermittler auf das mexikanische Drogenkartell angesetzt. Ihm gelingt zwar dort der Aufstieg, aber als er auffliegt, muss der Deutsche fliehen.

Dabei möchte er sich eigentlich mit einem unterschlagenen Millionenvermögen in Südamerika ein schönes Leben machen. Doch aus Todesangst vor seinen Verfolgern sucht er lieber den Schutz der ländlichen Idylle. Dort kann indes von Wiedersehensfreude keine Rede sein, die eigene Familie fühlt sich von ihm verprellt, da er es nicht einmal für nötig befand, zur Beerdigung des Vaters zu erscheinen. Das hat auch auf seinen Ruf im Ort abgefärbt, zudem glauben die meisten Leute ohnehin, er habe sich nur rumgetrieben und sei ein Scharlatan.

Doch eine Freundin aus alten Zeiten hält zu ihm. Mit ihr gemeinsam rekonstruiert er die letzten Tage und Stunden vor Gesas Verschwinden. Dass da plötzlich noch intime Fotos auftauchen und Menschen in den Fokus geraten, die sich bis dahin als streng religiöse Gläubige ausgewiesen haben, trägt ganz erheblich zur Steigerung des Spannungsbogens bei. Calsow versteht es nicht nur, dem Krimi eine dramatische Wende zu verleihen, es gelingt ihm auch, die Charaktere mit ihren Widersprüchlichkeiten und prägenden Lebensschicksalen prägnant zu beschreiben.

So aufwühlend die Ereignisse von damals und heute auch immer sein mögen, Atlas verliert nie seine prekäre Lage aus den Augen. Was aus seinen ursprünglichen Zukunftsplänen wird, sei hier noch nicht verraten. Wohl aber soviel: Wie es mit ihm weitergeht, wird ganz wesentlich von einem autistischen Kind bestimmt.

Martin Calsow: „Atlas. Alles auf Anfang“. Grafit Verlag, 253 Seiten, 10,99 Euro.




Was uns ins ferne Länder lockt – Cees Nootebooms „Schiffstagebuch“

Das kennen alle Menschen, die jemals von Fernweh ergriffen worden sind: Schon die bloße Nennung von Ländern und Städten oder ihr bloßer Anblick auf Landkarten kann einen dazu verführen, sich auf den Weg zu machen.

Auch Cees Nooteboom, einer der großen Reisenden der Gegenwartsliteratur, lässt sich auf diese Weise durch die Welt treiben: „…immer waren es Namen, die mich irgendwohin gelockt haben.“ Wer derart ins Ungewisse aufbricht, der will immer und immer hinter die jeweils nächste Wegbiegung schauen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Irgendwann muss man aufhören, und sei’s mit der ganzen Lebensreise. Manches sehen heißt noch mehr versäumen. Und doch bleibt diese „Sehnsucht nach einer ewigen Bewegung ohne Ankunft und Aufbruch“.

Nootebooms „Schiffstagebuch“ ist längst nicht nur Wegbeschreibung und Ortserkundung, sondern eine reichhaltige Reflexion über Phänomene und Phantome des Reisens an sich. Der Schriftsteller gibt sich hier der langsameren Art der Fortbewegung, der allmählichen Näherung anheim, die zwangsläufig ein ruhigeres Schauen mit sich bringt. Die Fahrten führen beispielsweise rund ums Kap Hoorn bis Montevideo, zum Ganges, in den tropischen Nordwesten Australiens, nach Mexiko, von Mauritius bis Südafrika, von Spitzbergen nordwärts bis Hammerfest und schließlich nach Bali.

Hier ist kein landläufiger Tourist unterwegs, sondern ein geschulter Beobachter, der sich einige Zeit nehmen kann, der sich einlässt auf Menschen, Landschaften und Verhältnisse, vielfach auf rätselhafte, irritierende Momente und befremdliche Begegnungen.

Mehrmals hält in diesem Buch das Erzählen gleichsam den Atem an. An völlig entlegenen Orten gibt es jene Augenblicke oder besser Zeitflächen einer großen, überdeutlichen Stille, in die der Reisende dann und wann entrückt wird. Dort erfasst ihn das schiere Gegenteil seiner Existenzform: „Die Verlockung, zu bleiben, zu sehen, wie die Zeit verrinnt und wie man selbst verrinnt…“

Nooteboom, der wahrlich viel von der Welt gesehen hat, weiß, dass er ohnehin keine objektiven Befunde mitteilen kann, sondern mehr oder weniger flüchtige Eindrücke und Muster des Daseins. Fern liegt ihm der Gestus, eine Gegend zu „erobern“, doch auf seinen Nebenpfaden findet er ungleich mehr Sagenswertes als Draufgänger, die alle vermeintlichen Sehenswürdigkeiten mitnehmen.

Reisen, so zitiert Nooteboom den ungarischen Essayisten Béla Hamvas, sei „die rätselhafte Ausdehnung der Möglichkeiten nicht nur in die Richtung, in die man reist, sondern in alle Richtungen…“ Eine ungeheuerliche Herausforderung mithin, zuweilen auch Verunsicherung sondergleichen. Selbst wenn man – wie heute üblich – diverse Stätten aus Filmen kennt, so können sie einen doch mit aller Plötzlichkeit überwältigen, wenn man es denn zulässt. So steht denn Nooteboom fassungslos vor dem strömenden, brandenden Tumult des Lebens in Indien: „…nichts hat mich auf den Schock des Echten vorbereitet, auf meine Sprachlosigkeit.“

So sehr sich der Reisende auch bereitwillig einfühlen mag, so bleibt er doch ein bloßer Gast in jeder Fremde, nirgendwo heimisch. Immer wieder macht sich Nooteboom diese Kluft bewusst, die den Reisenden letztlich nie an ein Ziel kommen lässt. Die Anziehungskräfte der Namen und Karten erweisen sich als „Verlockung des Unmöglichen“.

Auch in der Übersetzung bleibt Nootebooms stupende Fähigkeit spürbar, seinen Texten etwas von den Konturen der Landschaften zu verleihen, die er bereist hat. Ganz so, als wären es Relief-Abdrücke wirklicher Formationen. So kann man die unendliche Leere Feuerlands ahnen, die tosende indische Überfülle, die einzigartige historische Patina der früheren Welt-Perlen-Hauptstadt Broome (Australien), die Zielpunkt eines japanischen Überfalls im Zweiten Weltkrieg gewesen ist und heute nur noch erloschen dahindämmert. Aber es gibt auch Landstriche, deren Lüfte gleichsam über und über angefüllt sind mit Dichtung. Über den Weg durch Chile und Argentinien nach Uruguay heißt es: „Ich bin von Neruda zu Onetti gefahren und von Onetti zu Borges und Gombrowicz, zu Ocampo und Bioy Casares und allen Dichtern dazwischen.“

Immer wieder kommen die Menschen zur Sprache, denen die Ländereien einst geraubt worden sind: Indianer im äußersten Südzipfel Amerikas, Maya in Mexiko, Aborigines in Australien. Überall finden sich Spuren gelebter und erlittener Geschichte, wie erstarrt auch immer. Historische Wunden, zerstörte Balancen, geschundene Natur. Wahrhaftiges Reisen bedeutet auf Dauer auch, lauter schmerzliche Verluste zu verbuchen.

Cees Nooteboom: „Schiffstagebuch“. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Mit Schwarzweiß-Fotos von Simone Sassen. Suhrkamp Verlag, 283 Seiten, 19,90 Euro.