Schaubude des Unglücks – Nicky Silvers „Zwillingsbrut“ als deutsche Erstaufführung in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Was kommt heraus, wenn man bitterernste psychologische Fälle in die Form einer Seifenoper gießt? Nun, zum Beispiel so etwas wie Nicky Silvers US-Stück „Zwillingsbrut“, das jetzt als deutsche Erstaufführung (Regie: Harald Demmer) im Dortmunder Schauspielstudio gegeben wird. Das populäre Genre wird boshaft-lustvoll bedient und zugleich entlarvt.

Bernadette ist eine hysterische Schreckschraube, quasselsüchtig zum Steinerweichen, als nahezu niedliche Neurotikerin gespielt von Wiebke Mauss. Ihr Zwillingsbruder Sebastian (wie von Woody Allen erdacht: Michael Fuchs) betritt als erfolgloser und hochverschuldeter Ostküsten-Intellektueller die bonbonbunte Bühne der Beschädigten.

Bei Mutters Begräbnis, der ein von der Brause katapultierter Duschkopf den Garaus gemacht hat, begegnen sich die Geschwister. Im nervösen Pingpong der Fix-und-Fertig-Dialoge à la TV-Comedy zeigt sich hartnäckiger Hang zum Unglück. Bloß kein beschauliches Leben führen, es wäre ja wohl nicht zum Aushalten, oder?

Ausbruch zwecklos: Bernadettes Mann Kip (Thomas Gumpert), der nicht mehr Zahnarzt, sondern Maler sein und nackend-naturnah in Afrika leben will, ist eine hüftsteife Lachnummer. Für Sebastian hat der ganze Wahn beim Kindergeburtstag mit dem tristen Frohsinnsterror seines Miet-Clowns begonnen; damals, als sich Bernadette die Haare anzündete, weil sie den sengenden Geruch mochte. Jetzt, seit dem elf Jahre zurückliegenden Aids-Tod seines Freundes Simon, hat der schwule Sebastian keinen Menschen mehr richtig berührt. Nur der Briefwechsel mit einem Mörder im Knast (Christoph Schlemmer) hält sein Interesse am Leben halbwegs wach. Lockung des Abgrunds.

Verstorbene Mutter erscheint in Engelsgestalt

Sodann blitzen die Messer: Sebastians erbärmlich einsame Psychologin (Ines Burkhardt) sticht sich in einem Anfall von Gottsuchertum die Augen aus und vegetiert als zerlumpte Büßerin dahin. Ein geldgieriger Stricher schneidet Sebastian beim Oralsex beinahe das Kostbarste ab. Prompt erscheint die verstorbene Mutter in Engelsgestalt dem verwundeten Sohn und enthüllt: Sebastian ist bei einer Vergewaltigung gezeugt worden. Grelle Effekte in dichter Staffelung.

Ein Panoptikum von Schuld, Sühne und Selbstverstümmelung. Schaubude monströsen Unglücks, Verzweiflungs-Comic. Ganz recht also, wenn man das rasierklingenscharfe Stück in Dortmund auch mit den Mitteln der Schmiere ins Schrille schraubt. Beachtliche Schauspieler, die dies vollbringen, ohne daß es peinlich wird.

Und dann gibt es noch jene Traumspiel-Einschübe, in denen die Phantome eines besseren Daseins herumgeistern. Wenn sich Bernadette am Ende von ihrem Mann lossagt, um mit ihrem Baby und Sebastian eine Dreifaltigkeit zu bilden, kann man sich dies freilich nur als minimalen Glücks-Rest vorstellen: als endgültige Flucht in die Regression, in den seelischen Embryonalzustand. Solches Weh erfaßt keine handelsübliche Seifenoper.

Termine: 30. Nov., 1., 5. und 6. Dez., Karten: 0231/16 30 41.




Holzfäller im Zauberwald – Sewan Latchinian inszeniert Shakespeares „Sommernachtstraum“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Beim Griechen um die Ecke wird Ouzo gesoffen und dann Sirtaki auf dem Tisch getanzt, weil Clan-Chef Theseus es so haben will. Was’n das wieder für’n Stück? Na, Shakespeare natürlich, sein „Sommernachtstraum“. Der spielt ja in und um Athen – und da denken wir gleich an Gyros, Tsatsiki & Co. Hier knüpft das Dortmunder Theater an.

Wie gut, daß diese Zauberkomödie vom erotischen Begehren und seinen dunklen Urgründen so unverwüstlich ist. Da schadet es nicht viel, daß Regisseur Sewan Latchinian sie durchstöbert hat. Doch braucht man wirklich Alltagsklamotten, Funktelefon und Rave-Rhythmen, um dieses Stück auf „modern“ zu trimmen? Steckt nicht schon (und immer noch) im Text die ganze Klimakatastrophe der Beziehungen, wie sie heute kaum anders durchlitten wird?

Als sei man in der Bundesliga, sucht man in Dortmund vor allem den schnellen Erfolg. Die zuweilen arg gröbliche Übersetzung Frank Günthers (wo sich „Fo…“ auch schon mal auf „Kotze“ reimt) durchdringt das Geschehen nicht so sehr, sondern pflanzt Gags obenauf. Wie soll da eine Inszenierung wesentlich tiefer greifen? Da darf halt auch einmal gejodelt werden.

Das große „U“ gerät ins Wackeln

Was ja so fern von Shakespeare nicht liegen muß. In seinem magischen Traumreich ist vieles erlaubt – sogar ein Esel, der beim Akt mit Elfenkönigin Titania (Iris Atzwanger) aus gigantischem Glied ejakuliert, so daß das große „U“ (Dortmunder Brauerei-Wahrzeichen) ins Wackeln gerät.

Sehr sinnfällig wird gezeigt, wie geschlechtliche Lust und Verachtung, Glück und Ekel ineins fallen können. Solche Mixturen sind eine Stärke dieser Inszenierung. Lysander (Michael Fuchs) bekommt schließlich seine Hermia (Anja Kirchlechner), Helena (Sylvie Rohrer) ihren Demetrius (Jörg Ratjen). Das bedeutet hier freilich keine Erlösung: Haben sich – nach all den Liebes-Wechselfällen im diesmal baumlosen Zauberwald (eine Öko-Pflichtübung) – die „passenden“ Paare gefunden, so fügen sie sich alsbald wieder ganz körperlich in jene altgriechische Säulen-Ordnung ein, aus der anfangs Herrscher Theseus (Alexander Muheim) und seine Amazone Hippolyta (Doina Weber) hervorgestiegen waren.

Nachdem der spukhafte „Puck“ (Ines Burkhardt) im Superman-Kostüm auf Flugreise gegangen ist, erleben wir die Anverwandlung eines weiteren trivialen Mythos: Denn es ist der reinste Vampirismus, mit dem Elfenkönig Oberon (Helmut Rühl) unter den Menschenkindern gehaust hat. Blutleer erstarren sie und werden am Ende zu kaltem Marmor. Sobald die I.iebeswogen sich gelegt und zu festeren Verbindungen geführt haben, versteinern die Verhältnisse.

Zuvor haben wir ein Liedchen gehört über Treue, die keinen Spaß bereite. Einzig die fortgesetzte Untreue hält also schmerzhaft lebendig, könnte man meinen. Leicht angewidert sagt’s der ,Puck“: „Jeder Hengst kriegt seine Stute. Alles Gute!“

Lachstoff zum baldigen Verzehr

So recht bei sich angekommen ist die Inszenierung mit jenen sechs unbedarften Handwerkern (u.a.: Jürgen Uter, Claus Dieter Clausnitzer, Günther Hüttmann), die die traurige Komödie zur Farce auflösen. Da gibt es Lachstoff zum alsbaldigen Verzehr. Je blöder, desto besser – die Rechnung geht auf. Und sind die Liebenden auch dumm, so sind die Dummen eben liebenswert.

Ein gutes Ensemble kommt über schwache Momente hinweg. Dies ist hier der schöne Fall. Es mindert die Leistung der anderen nicht, wenn man hervorhebt: Ines Burkhardt als weiblicher „Puck“, eine Dreh- und Angelfigur, mit variantenreich modulierter Geisterstimme. Kennt den ganzen Weltenlauf schon tausendfach, tut um des lieben Zaubers Willen mit. Sodann Sylvie Rohrer mit einem Hauch von Hysterie als Helena; schon jetzt, in jungen Jahren, eine Schauspielerin von Rang.

Alles in allem verdienter, recht animierter Premierenbeifall. Die Sache verspricht Erfolg – auch beim Abo-Publikum.

Nächste Vorstellungen: 1, 4., 5., 11. und 12. März, jeweils 19.30 Uhr. Tel.:0231/163041.