Zerbrechliche „Realität“: In Mönchengladbach und Frankfurt spielen zeitgenössische Opern mit Wahn oder Wirklichkeit

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, wird in Rheydt von Andrew Nolan dargestellt. Seine Frau Mrs. P. ist Debra Hays. Foto: Matthias Stutte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, wird in Rheydt von Andrew Nolan dargestellt. Seine Frau Mrs. P. ist Debra Hays. Foto: Matthias Stutte

Die Oper und der Film sind von allen Künsten vielleicht am besten geeignet, unterschiedliche Wahrnehmungs- und Bewusstseins-Ebenen sinnlich darzustellen. Die Musik ermöglicht es, Tatsachen und Vorstellungen, Gegenstand und Begriff, Außen und Innen, die äußere empirische und die innere seelische Welt quasi gleichzeitig zum Vorschein zu bringen. Die psychische Störung, der „Wahnsinn“, ist dafür ein Ausdrucksmittel, das in der Oper eine lange und erfolgreiche Karriere hinter sich hat.

Dass dieser geistige Extrem- oder Ausnahmezustand auch in der zeitgenössischen Oper nicht vergessen ist, zeigen in diesem Tagen zwei bemerkenswerte Neuinszenierungen: In Rheydt hat Robert Nemack – als Wiederaufnahme aus der letzten Saison aus Krefeld – Michael Nymans Kammeroper „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ auf die Bühne gebracht; Frankfurt zeigt im Bockenheimer Depot „Enrico“ des in Düsseldorf lebenden Komponisten Manfred Trojahn.

In beiden Opern wird auf je eigene Weise „Realität“ in Frage gestellt: Nyman geht auf der Basis einer Erzählung von Oliver Sacks von einem medizinischen Befund aus, einer visuellen Agnosie. Trojahn adaptiert ein Drama von Luigi Pirandello, in dem es um Maskerade, Täuschung und das Verschwimmen von Wirklichkeit geht.

Ein rotes Etwas mit grünem Anhängsel

Im Theater von Mönchengladbachs Stadtteil Rheydt sitzen die Zuschauer auf der Bühne um eine Scheibe, auf der die Lebenssphäre des Doktor P. aufgebaut ist: Der begabte Musiker und berühmte Sänger war in zunehmendem Maße außerstande, Gesichter zu erkennen und konnte seine Studenten nur noch an der Stimme identifizieren. Mehr noch: Er sah auch Gesichter, wo keine waren, und konnte Gegenstände nicht mehr zutreffend mit einem Begriff belegen. Eine Rose etwas beschreibt er als rotes, gefaltetes Etwas mit grünem Anhängsel. Da Dr. P. aber ein ausgezeichneter Musiker ist, organisiert er seine Welt mit musikalischen Begriffen und findet sich so im Alltag zurecht.

Oliver Sacks, der selbst Neurologe, Musiktheoretiker und erfolgreicher Autor allgemeinverständlicher Sachbücher war, erinnert in dieser Geschichte daran, wie fragil unsere Fähigkeit ist, zu erkennen und zu verstehen: Unsere Koordinatensysteme sind alles andere als „objektiv“; unser Gehirn spielt uns seltsame oder erschreckende Streiche.

Szene aus Michael Nymans Kammeroper mit Andrew Nolan (Dr. P., links), dem Arzt Dr. S. (Markus Heinrich, Mitte) und Mrs. P. (Debra Hays). Foto: Matthias Stutte

Szene aus Michael Nymans Kammeroper mit Andrew Nolan (Dr. P., links), dem Arzt Dr. S. (Markus Heinrich, Mitte) und Mrs. P. (Debra Hays). Foto: Matthias Stutte

Nymans Kammeroper nimmt die Zuschauer in fünfzehn Szenen, einem Prolog und einer abschließenden Prognose mit hinein in die erstaunliche, manchmal befremdliche, manchmal skurril-komische Welt des Dr. P. Ein Arzt, Dr. S., tritt an ein Rednerpult, als halte er einen Vortrag auf einem medizinischen Kongress, kommentiert die Szenen, als seien sie Versuchsanordnungen oder Fallbeispiele und gibt am Ende eine wissenschaftliche Einschätzung. Markus Heinrich gestaltet den seriösen, aber auch mitfühlenden Mediziner mit der nötigen, distanzierenden Seriosität.

Wir können mit der erschütterten Beziehung zur Realität – wie der Patient Dr. P. – mit rührend-wissender Heiterkeit umgehen: Andrew Nolan verkörpert den kultivierten älteren Herrn, der sich mit Hilfe seiner umsorgenden Frau (sensibel in der Darstellung, aber leider nicht immer textverständlich: Debra Hays) auch in der Unbill der ihm entfremdeten visuellen Welt zurechtfindet. Ein Mensch, der seine Würde gerade in seiner Begrenztheit findet.

Die Bühne von Clement und Sanôu, ein sorgfältig ausgestattetes Wohnzimmer, spielt mit dem Realismus-Begriff, wenn sich eine Stehlampe nach oben verabschiedet oder der Flügel sich spaltet, sobald die Scheibe beginnt, sich zu drehen. Michael Preiser und seine sieben Musiker lassen die sanft harmonisch angelegte Musik Nymans weich und samtig die Stimmen umspielen; ihr Minimalismus ist anders als bei Philip Glass oder John Adams vor allem auf verschmelzenden Wohlklang angelegt. Die Zuschauer bleiben berührt und – im besten Fall – auch ein wenig irritiert zurück.

Eine böse Maskerade als konstruierte Wirklichkeit

Holger Falk als Enrico in Manfred Trojahns gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Holger Falk als Enrico in Manfred Trojahns gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

So versöhnlich und kuschelig geht es in Manfred Trojahns „Enrico“ nicht zu: Die „dramatische Komödie“ geht nicht von der einfühlenden Sympathie mit einem Patienten aus, sondern stellt die „Krankheit“ von vornherein in Frage: Vor zwanzig Jahren fiel ein Mann namens Enrico bei einer Maskerade vom Pferd, bei der er König Heinrich IV. dargestellt hat. Aus seinem Koma erwacht, wird er Opfer seiner Freunde, die ihm vorspielen, er sei tatsächlich der mittelalterliche deutsche Herrscher.

Nach zwanzig Jahren soll das Spiel mit Hilfe eines Arztes aufgelöst werden. Aber die Realität der Maskerade hat längst alle Beteiligten eingeholt und in ihre Wahnwelt gezwungen. Fragt sich nur, wo der vermeintliche König steht: Glaubt er an seine Rolle? Hat er jemals daran geglaubt, Heinrich IV. zu sein? Ist er derjenige, der mit seiner Umwelt spielt statt jene mit ihm? Und sind die Akteure der zynischen Komödie nicht selbst längst in ihrer Spielwelt aufgegangen?

Tobias Heyder macht aus dieser faszinierend vielschichtigen Geschichte ein spannend verdichtetes Kammerspiel, für das Britta Tönne (Bühne) und Verena Polkowksi (Kostüme) den Schein fragmentarisch oder hyperrealistisch, die Handlungsebene schattenhaft, theatralisch, bisweilen mit einem grotesken Zug ausstaffieren: Die Bücherwand, die am Ende ausgeräumt wird und den Blick auf ein Foto des nächtlich erleuchteten Frankfurt freigibt, steht für die virtuelle Realität der Romane – aber die Fotografie ist auch nur vermeintlich wirklichkeitstreu.

Holger Falk hält die Figur des Enrico – fabelhaft charakterisierend gesungen – in der Schwebe. Der Wahn wirkt nicht gespielt, der Fall in die Selbsterkenntnis hat einen Rest des Unaufgelösten: Einbildung, Hirngespinste, Weltflucht oder Wachtraum? Heyder hütet sich, Eindeutiges zu behaupten; das böse Spiel will sich nicht auflösen, der Mord am Ende ist nur furchtbar konsequent.

Meisterwerk der Andeutung und Verdichtung

Manfred Trojahn. Foto: Werner Häußner

Manfred Trojahn. Foto: Werner Häußner

Trojahns Musik ist ein Meisterwerk der Andeutung, der doppelbödigen Verdichtung bei gleichzeitiger Distanz vor jeder „romantischen“ Verschleierung – doch gerade das ermöglicht der Musik, romantische Vielschichtigkeit einzuholen. Roland Böer entlockt dem kleinen Ensemble vielfarbige Klangfacetten, gläsern unbestimmt, grell aufblitzend, mit kühlem Schmelz oder grantiger Härte kammermusikalisch fein oder wuchtig zupackend.

Auf der Bühne stehen Frankfurter Sängerinnen und Sänger, die ein weiteres Mal beweisen, wie richtig Intendant Bernd Loebe mit seiner langfristig angelegten Ensemblebildung liegt: Juanita Lascarro als präzise artikulierende Marchesa Matilda, Sebastian Geyer als differenziert Wort und Klänge wägender Belcredi, Angela Vallone als aparte Frida, Dietrich Volle als posaunengestützte medizinische Pseudo-Autorität, Theo Lebow, Peter Marsh, Samuel Levine, Björn Bürger, Frederic Jost und Doğuş Güney in spritzigen, komödiantisch zugespitzten Ensembleszenen, die an Rossini, aber auch an skurrile Momente bei Igor Strawinsky oder Bohuslav Martinů erinnern.

Die Oper wurde 1991 in Schwetzingen uraufgeführt; die Inszenierung in Frankfurt zeigt, dass es sich lohnt, immer wieder auf zeitgenössische Werke aufmerksam zu machen, ohne stets auf den Hype der Uraufführung zu kalkulieren. „Enrico“ ist eine Empfehlung fürs Repertoire.




Das Glimmen am Rande der Welt – „Das Piano“ von Jane Campion

Von Bernd Berke

Die meisten Filme kann man sofort miteinander beschwatzen – und dann recht schnell vergessen. Doch es gibt einige wenige, deren Erlebnis man erst einmal wirken lassen muß. bevor man Worte verliert. Zu diesen gehört „Das Piano“ von Jane Campion.

Gleich der Anfang ist gewaltig: Wann hat man einen derart heillos ausgesetzten Menschen gesehen wie jene Ada! Übers Meer ist sie nachNeuseeland gekommen, ans äußerste Ende der Welt. Die Natur spricht dort anders. Diese tosende Brandung. Diese fremden Farben. In solch unwirklicher Ferne kann Magisches geschehen, es kann sich aber auch das Tor zur Hölle öffnen. Und die erste Nacht des Wartens wird kalt sein. Ada (überragend: Holly Hunter) verbringt sie in Umarmung mit ihrer Tochter Flora. Diese Flora ist wie ihr Spiegel, später auch Zerrbild. Spiegel (und anonyme Augen) sind Leitmotive.

Erst am nächsten Morgen entwindet sich dem küstennahen Dschungel eine Gruppe von Maori, seltsam tätowierte Ureinwohner: Wesen der archaischen Traumzeit – oder doch nur Helfer des Buschfarmers Stewart? Mit diesem Mann ist Ada von ihrem Vater brieflich von Schottland aus verheiratet worden, hier draußen sieht sie ihn zum ersten Mal. Stewart (Sam Neill) hat ihr Bildnis bei sich. Doch kurz bevor sie sich begegnen, reißt er die Fotografie aus dem Rähmchen, um in den Spiegel darunter zu blicken. Ein erster kleiner Gewaltakt. Er hat ihre Würde verletzt, noch bevor er sie kennt. Jede folgende Geste des Mannes erlebt Ada als Riß. Man liest glühende Abwehr in ihren Augen und Gesten. Sie ist seit ihrer Kindheit stumm.

Am schlimmsten: Stewart will Adas Piano einfach am Strand stehenlassen. Dieses Instrument, das ist sie. Ihre Verbindung zur Welt. Verzweifelt will sie ihm das klarmachen. Doch der Mann bleibt hart. Auf dieser Ehe lastet ein Fluch.

Die Bilder sind wie Atemzüge

Vollkommen ruhig erzählt Jane Campion solche aufwühlenden Szenen. Mit kunstvollem Bedacht zeichnet sie Bilder, die geradezu ein- und ausatmen – ähnlich wie die von Michael Nyman komponierte Klaviermusik, die die Handlung durchweht.

Doch zwischendurch gibt es auch jene Seelenzustands-Bilder, bei denen man sekundenlang nicht weiß, wo oben und unten ist. Unterschwellig wachsen und wuchern die Emotionen. Im viktorianischen 19. Jahrhundert gibt es das: Hier genügt ein gewisser Lichtschein auf dem Haarflaum in der Halslinie einer Frau – und schon glimmt Leidenschaft. Sie erfaßt Stewarts Dschungel-Nachbarn Baines (Harvey Keitel), als er Ada Klavier spielen sieht. Da das Piano (durch einen Handel mit Stewart) in Baines‘ Besitz gerät, kommt es zu einer Vereinbarung: Ada kann es sich – Taste für Taste – zurückerobern, wenn sie Baines zu Willen ist.

Es geht nicht um blanken Sex. Baines will Ada beim Spielen zuschauen, dann ihre bloßen Schultern sehen. Und dann. Und dann. Sie tasten sich vor. Eros wie am unschuldigen Anbeginn, als werde all das soeben erfunden.

Das allmähliche Wachsen der Gier

Doch gerade das Allmähliche, Hauchzarte der Näherung entfacht auch in Ada ganz langsam die Gier. Und nun blickt s i e in den Spiegel…

Die späteren Eifersuchtsszenen erreichen einen Gipfel, auf dem einem schwindlig wird. Doch die stille Sensation des Films sind jene Grenzverwischungen, Durchlässigkeiten und Symbiosen zwischen den Figuren. Eine Leidenschaft spiegelt die andere, entzündet sich an ihr, bis es brennt.

Irgendwann heißt es über Ada, sie könne sprachlos Gedanken in andere Menschen hineinlegen. Sie, die Verstummte, verfügt über eine mächtige Stimme. Und diese innere Stimme trägt Ada, dicht am Rand des Todes vorbei, wieder ins Leben zurück. Grandios ist das gefilmt, wie eine Auferstehung aus den Wassern.

Sowieso ist hier ein Filmzauber am Werk, über den man nichts Überflüssiges sagen mag. Sonst könnte das Gespinst zerreißen.