Wer hat die Nase vorn? „Parsifal“ in Düsseldorf und Hannover

Szene aus dem dritten Aufzug des „Parsifal“ in Düsseldorf mit Daniel Frank (Parsifal) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Sandra Then)

In Düsseldorf steht er mit leeren Händen im gleißenden Licht, der neue Gralskönig Parsifal. In Hannover bleibt von den Wirrnissen der Ritter- und der Klingsor-Welt ein Kind übrig. Erlösung wird der Welt in beiden Inszenierungen nicht zuteil. Die Sicht auf Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“ ist pessimistisch, bei allen Unterschieden. Und die sind markant, in der szenischen wie in der musikalischen Gestaltung.

Die Premiere in Düsseldorf bringt den viel gelobten „Parsifal“ aus Genf an den Rhein, in einer minimalistischen Regie von Michael Thalheimer, der in der letzten Spielzeit einen faszinierenden Verdi-„Macbeth“ an der Deutschen Oper herausgebracht hat. Auf der Drehbühne (Henrik Ahr) ein Podest, abgeschlossen nach hinten durch eine mittig vertikal geteilte, schmutzigweiße Wand, horizontal gegliedert durch einen Querbalken. So ergibt sich ein Kreuz, einziger Hinweis auf die christlichen Konnotationen von Wagners Weltabschiedswerk.

Der künftige Erlöser schreitet strahlend weiß aus diesem Spalt auf eine Fläche, auf der Gurnemanz, ein stattlicher, gebrochener Mann, allzu hörbar schlurfend seine Runden dreht. Bis zu den Hüften muss er einmal im Blut gestanden haben – so wirkt jedenfalls sein schwerer Mantel. Das Blut holt alle ein: Die Gewänder von Michaela Barth, in denen die Gralsritter geistern, sind rot verschmiert; Kundry malt im dritten Aufzug unentwegt den Kernsatz des Werks wie eine Beschwörungsformel an die Wand: „Durch Mitleid wissend der reine Tor. Parsifal“. Die Sphäre Klingsors ist schwarz und vertikal gebrochen – die Rückseite der Welt der Gralsgesellschaft.

Woher das Blut, woher die Schuld? Thalheimer verweigert die Antwort, so wie er seinen „Parsifal“ überhaupt strikt von Deutung frei hält und damit bisweilen Bedeutung gefährdet. Mit den Mitteln minutiöser Personenführung und der peniblen Planung von Gesten und Gängen schafft Thalheimer ein zugespitztes Kammerspiel, das die Gefahr öder Langeweile bannt, weil die Figuren auch durch die szenische Konzentration der Darsteller selbst in langen Passagen gesungener Texte spannend und lebendig bleiben. Dieser „Parsifal“ hat viel mit der Magie des Spielens zu tun und ist deshalb auch ein Stück faszinierendes Schauspieler-Theater.

Vollgepackte Bühne in Hannover

Der Kontrast zu Hannover könnte nicht größer sein: Dort inszeniert einer der neuen Mode-Regisseure, der Isländer Thorleifur Örn Arnarsson, designiert für „Tristan und Isolde“ in Bayreuth 2024. Er schafft es, auf der vollgepackten Bühne von Wolfgang Menardi trotz ausgiebigen Einsatzes von Licht, Nebel und Personal langatmige Ödnis zu verbreiten. Auch bei Arnarsson gibt es verlangsamte Bewegung, wankende Choraufmärsche wie weiland bei Wolfgang Wagner, aber auch Schreiten und Stolpern, Holpern und Rennen, dazu einen nervigen Umbau bei offener Bühne, ein auf- und abfahrendes Gerüstpaneel mit Neonröhren über einem rätselhaften Becken, und verkohlte Baumstämme, die uns die wie auch immer geartete Katastrophe signalisieren und am Ende des ersten Aufzugs erwartungsgemäß nach oben entschweben.

Irgendwie Katastrophe: Die Bühne von Wolfgang Menardi für den „Parsifal“ in Hannover, hier mit Marco Jentzsch (Parsifal) und Shavleg Armasi (Gurnemanz). (Foto: Sandra Then)

Im Klingsor-Akt umschließt ein weißer Kasten eine steril-museale Landschaft, bevölkert von lethargischen Frauen mit aufgemalten primären Geschlechtsmerkmalen auf halbtransparenten Verschleierungen (Kostüme: Karen Briem). Das Gespräch zwischen Parsifal und der unruhig auf und ab tigernden Kundry wird zum finalen Durchhänger eines mit geschäftigen Leerläufen gesegneten Abends. Der im Interview im Programm zitierte C.G. Jung mag erklären, warum Arnarsson Amfortas und Klingsor vom selben Sänger – dem energisch, rotzig und gewalttätig, aber auch erbarmenswert schmerzvoll singenden Michael Kupfer-Radecky – verkörpern lässt. Aber die zentrale Idee der Regie wirkt trotz Psychologie als bloße Bedeutungs-Behauptung: Parsifal erscheint als Kind, junger Erwachsener und reifer Mann, um seine Entwicklung erfahrbar zu machen. Doch die Doppelungen und Mehrfachauftritte von Sänger Marco Jentzsch mit den Kindern Maximilian Blossfeld und Leandro Klyszcz vermitteln keine konzentrierte Erzähllinie.

Steril und ohne Blumenzauber: Klingsors Welt in Hannover. Im Zentrum Michael Kupfer-Radecky. (Foto: Sandra Then)

Was am Ende des Assoziationstrubels bleibt, als die blendende Weißlichtfläche, die wohl den „Gral“ symbolisieren soll, endgültig zur Hölle gefahren ist und die Gralsritter ihre Hörnerhüte – eine Assoziation an Hägar-der-Schreckliche-Helme und Frickas Widder – abgelegt haben, bleibt unklar. Die Sinnlosigkeit jeder Entwicklung? Das Kind – der Anfang der immergleichen Geschichte? Das Panorama vergeblicher menschlicher Versuche, der Akzeptanz des immerwährenden Leids der Welt zu entkommen? Das Gefühl der Erlösung jedenfalls wird nur in der erleichterten Erkenntnis spürbar, dass der Abend endlich zu Ende geht.

Spannungsreiches Klangbild

Musikalisch allerdings hätte er noch länger dauern dürfen, denn der Hannoveraner GMD Stephan Zilias spornt das vorzüglich auf Wagner eingestellte Niedersächsische Staatsorchester zu einem lebendigen und spannungsreichen Klangbild an. Man mag über das eine oder andere langsame Tempo an der Grenze zum Zähen streiten, man mag manche Steigerung für zu überbordend halten – am fabelhaften Eindruck des Abends ändert das nichts.

Zilias zeigt, dass „Parsifal“ sich nicht im Rausch der Linien erschöpft, dass die psychedelische Verführungsabsicht Wagners keineswegs das bestimmende Element der Musik sein muss, wie offenbar ein hartnäckiger, Protest im Publikum hervorrufender Buh-Rufer annimmt. Deutlich wird vielmehr, dass die Musik aus Konturen lebt, dass der Klang ausdifferenziert werden will, dass Einsätze, Farb- und Haltungswechsel nicht nur unmerklich ineinander übergehen, sondern akzentuierenden Zugriff brauchen. Auch der Chor von Lorenzo da Rio verliert sich nicht im Säuseln, lässt im marcato auch die aggressive Note dieser Gesellschaft erkennen. In den Fernchören gibt es schmerzhafte Wackler, das ist aber auch in Düsseldorf nicht anders, wo Gerhard Michalski seine Herren auf satte Sonorität und entschieden drängenden Gleichklang getrimmt hat.

Axel Kober in Düsseldorf, mit der Erfahrung des Bayreuther „Abgrunds“ im Sinn, liest die „Parsifal“-Partitur mischklangverliebter, aber auch mit Lust an langsamem, im ersten Aufzug zerfließend lahmendem Zeitmaß. Die Düsseldorfer Symphoniker zeigen in den Violinen wenig Kontur, bleiben im Finale zu sehr im Hintergrund und ohne Magie. Für die sensualistischen Provokationen der Klingsor-Welt produziert das Orchester nur gedeckte Farben und schalen erotischen Kitzel.

Sänger-Triumphe an beiden Häusern

Düsseldorf: Hans-Peter König (Gurnemanz) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Andreas Etter)

Gesungen wird an beiden Häusern sehr achtbar, teilweise auf einem Niveau, das man sich für Bayreuth wünschen würde. Der Trumpf in Düsseldorf heißt Hans-Peter König: ein beispielhafter Wagner-Sänger, klangvoll im Timbre, ausgeglichen in der Tonproduktion, wortverständlich und mit musikalischen Nuancen gestaltend. Ein großartig erzählender Gurnemanz. Aber auch Luke Stoker als präsenter Titurel überzeugt auf ganzer Linie. Michael Nagy erscheint im Zentrum der sich kreuzenden Linien der Bühne als blutige Christus-Assoziation und singt entspannt und expressiv – ein markanter Kontrast zum Klingsor von Joachim Goltz, der mit bewusst gehärteten, schneidenden Tönen und konzentriert fokussierend aus dem verstoßenen einstigen Gralsritter die grimmige Enttäuschung und den Willen zur Vergeltung herausstößt.

Daniel Frank, der Düsseldorfer Parsifal, wirkt zunächst recht dünnstimmig und grell, fängt sich im zweiten Aufzug und kann im dritten beweisen, dass er mit Kern und gesichertem Klang aussingen kann. Sarah Ferede wird in die Partie der Kundry noch hineinwachsen: Ihr Auftritt im Reiche Klingsors beginnt imposant, ihren Schmeicheltönen fehlt es nicht an Schmelz. Die letzte Rundung, die Souveränität über die Momente des Extremen, das Vermeiden von Schärfe in der Kraft fordernden Höhe sind noch nicht ausgereift. Auch Irene Roberts, die Kundry in Hannover, ist noch nicht so weit: Lautstärke ist keine Garantie für die Intensität des Ausdrucks, eine Stimme am Limit wirkt eher gefährdet als gefährlich und das Vibrato darf kontrollierter sein.

Der Star in Hannover heißt Michael Kupfer-Radecky – in Bayreuth war er Wotan in der „Walküre“ und Gunther in der „Götterdämmerung“. In der Doppelrolle Amfortas/Klingsor versteht er es, das Gemeinsame der ähnlichen existenziellen Verletzung, aber auch die Spannung zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren herauszuarbeiten. Sein Bariton ist kraftvoll, aber nicht übermächtig, der Klang konzentriert, ohne verfestigt zu wirken. Kupfer-Radecky legt die Seele der Worte frei, und allenfalls in der einen oder anderen Verzerrung eines Vokals macht sich bemerkbar, wie viel Einsatz und Mühe hinter einer solchen Gesangsleistung steckt.

Daniel Eggert rückt als Titurel nicht in den Vordergrund; er singt klangschön zurückhaltend, Shavleg Armasi ist ein beredter Gurnemanz, der dieser Figur eine sympathische menschliche Note mitgibt – kein Grund, Missfallen zu äußern, wie es am Ende vom Rang herabschallte. Marco Jentzsch entkleidet den Parsifal in Hannover jeder heldischen Attitüde, hat aber nicht die Reserven, um die plötzliche Einsicht nach dem Kuss Kundrys und die daraus folgende Entschlossenheit zu beglaubigen. Zumal der Tenor auch im Lyrischen dünn wirkt, Piani nicht gestützt sind und die ausgemergelte Schärfe des Tons in dramatischen Momenten nur lautes und explosives Stemmen erlaubt. Dennoch bleibt es dabei: Musikalisch hat Hannover wegen der Klasse des Orchesters und einem spannungsvolleren Dirigat die Nase vorn, szenisch muss sich Düsseldorf vor dem Aufwand auf der niedersächsischen Bühne in keinem Augenblick verstecken.

Vorstellungen in Düsseldorf: 1., 15., 21.10.2023; 29.03., 07.04.2024. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/kalender/parsifal/1285/?a=termine

Vorstellungen in Hannover: 3., 8., 15., 22., 31.10. Info: https://staatstheater-hannover.de/de_DE/programm-staatsoper/parsifal.1343152

 




Bei den Duisburger Akzenten inszeniert Michael Thalheimer Kleists „Penthesilea“ so puristisch wie blutig

Bisse und Küsse – Penthesilea (Constanze Becker) und Achill (Felix Rech) im Liebesspiel. (Foto: Birgit Hupfeld)

Langsam schiebt sich der Vorhang nach oben, langsam gibt er den Blick frei auf die große Schwärze, die sich matt erhellt und einen Bühnenboden offenbart, der schräg und steil in Dreiecksform nach oben ragt. Dort droben, in der Weite des Raumes, hockt ein Paar, verschlungen in blutiger Pietà-Pose. Es ist ein schaurig-schönes, schreckliches Bild, umfangen von Stille – weiter nichts. Es erzählt vom Ende des Achill in den Armen Penthesileas. Es demonstriert zudem die Wirkmacht des Purismus auf dem Theater. Dafür steht, wie wohl kaum ein anderer, der Regisseur Michael Thalheimer. Das karge Bühnenkonstrukt baute Olaf Altmann.

Sprachlicher Ausdruck, Gestik und Mimik beherrschen die Szene. Hier gilt’s der Konzentration auf das Wesentliche. Thalheimer hat „Penthesilea“, Heinrich von Kleists grausame Tragödie, 2015 im Schauspiel Frankfurt (Main) herausgebracht, unter Verwendung der originalen Blankverse. Der Text jedoch erfuhr Kürzungen, die Zahl der Personen ist auf drei geschrumpft. So dass sich alles Geschehen auf Penthesilea (und Achill) fokussieren kann. Was sonst noch fehlt, vermisst kein Mensch: Video, Ausstattungsplunder, aufgekratzte, wichtigtuerische Aktualisierung. Die Deutung war jetzt beim Theatertreffen der Duisburger „Akzente“ zu erleben – ein Glücksfall.

Das Eingangsbild der Inszenierung zeigt das Ende des Dramas, ist Symbol für den grausamen Tod Achills, zerfleischt von der Amazonenkönigin Penthesilea. Wir sehen zwei Kontrahenten, die sich bis aufs Blut bekämpften, denen auf dem Schlachtfeld um Troja nur ein winziges Zeitfenster der Liebe eröffnet wurde. Küsse fielen, aber auch Bisse – sie hatten einander zum Fressen gern. Tragisch nur, dass die Königin am Ende wahnhaft zur Kannibalin wird. Was Wunder, schrieb doch Kleist zu seinem Stück, darin liege „der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele“.

Constanze Becker (Penthesilea) und Josefin Platt (Frau) auf Distanz. Foto: Birgit Hupfeld

Constanze Becker (Penthesilea) und Josefin Platt (Frau) auf Distanz. (Foto: Birgit Hupfeld)

Aus diesem Zustand des Wahns leitet Michael Thalheimer rückblickend die Geschichte der Penthesilea ab, die sich, wie die Mutter es prophezeite, und gegen die Gesetze ihres Volkes, den Achill als Gegner und Opfer aussucht, als Erzeuger ihres Nachwuchses, um des Fortbestandes der Amazonen willen.

Liebe ist hier eigentlich nicht vorgesehen, sondern nur Nutzen: Nach der Zeugung muss der Mann das fremde Land wieder verlassen. Hier jedoch kommt alles anders. Im Kampf bleibt Achill der Sieger, doch Penthesileas Blick hemmt ihn, sie zu töten. Sie erliegt bloß einer Ohnmacht, später wird ihr suggeriert, sie sei die eigentliche Gewinnerin des Duells gewesen. Als der Schwindel aufliegt, schwört sie Rache. Zur finalen Schlacht indes kommt Achill, aus Liebe, nur mit leichter Waffe. Das hat die erwähnten blutigen Folgen. Wie sagt Penthesilea, bevor sie sich den Tod gibt? „So war es ein Versehen. Küsse, Bisse … wer recht von Herzen liebt, kann schon das Eine für das Andre greifen“.

Kleist selbst sah sein Stück, 1808 vollendet, als schwer aufführbar. Er nutzte die Elemente der Mauerschau und des Botenberichts, um von Schlachten zu erzählen, die auf der Bühne nicht zu zeigen waren. In Thalheimers Frankfurter Regie ist dafür vor allem die großartige Josefin Platt zuständig, deren Rolle als „Frau“ bezeichnet wird, die uns den Fortgang der Handlung erläutert, die zugleich Vertraute der Königin und Ratgeberin des Achill ist. Im weißen Gewand wirkt sie würdevoll und beherrscht, nur manchmal scheint sie die Last des Krieges und seiner Umstände niederzudrücken.

Das Anfangs- und Schlussbild, eine blutige Pietà. (Foto: Birgit Hupfeld)

Constanze Becker wiederum changiert als Penthesilea gekonnt zwischen Heldinnenpathos, wahnhafter Verwirrung und somnambuler Zurückhaltung. Ihr gegenüber demonstriert Felix Rech (Achill) kriegerische Kraft, bisweilen aber auch scheue Unterwürfigkeit. Der hohe Ton der Sprache, den das Paar in klarer Diktion zelebriert, hält beide von Lautstärke-Exzessen ab. Selbst Penthesileas Schreie der Verzweiflung sind stilisiert und lenken unser Augenmerk auf die innere Befindlichkeit. So oft auch im Text von Raserei die Rede ist, so oft gibt hier gespenstische Stille den Ton an. Und Thalheimer erweist sich einmal mehr als Meister der Psychologisierung.

Was dem Stück durchaus angemessen ist. Kleists Umgang mit Liebe, Schmerz und Tod, seine Darstellung von im Unterbewusstsein lodernden Leidenschaften, die sich den Weg auf die Ebene des Handelns bahnen, sowie Kleists Zeichnung zweier Liebender, die jegliche Staatsräson außer Acht lassen, war im preußischen Biedermeier des angehenden 19. Jahrhunderts ungeheuer modern.

Die Uraufführung der „Penthesilea“, die also bereits auf die Themen der Psychoanalyse verweist, fand denn auch erst 1876 statt. Aber sie hat bis heute ihre Kraft nicht verloren. Michael Thalheimers grandiose Regie diente dabei der Profilschärfung.




Schwarze Seelen: Michael Thalheimer inszeniert Verdis „Otello“ an der Rheinoper

Otello. Foto: Hans-Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein

Otello. Foto: Hans-Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein

Die Bühne ist so schwarz wie Jagos Seele: In einem klaustrophobisch anmutenden dunklen Raum begegnen sich schwarzgekleidete Gestalten und das Unheil nimmt seinen Lauf. Einer von ihnen hat sogar ein schwarzes Gesicht, die anderen malen sich ihres in düsterer Farbe an, um es ihm gleichzutun.

Michael Thalheimer hat Verdis „Otello“ für die Deutsche Oper am Rhein bis zur Schmerzgrenze optisch reduziert, sich dadurch aber auf die düsteren Leidenschaften konzentriert, die in uns allen wirken: Eifersucht, Neid, enttäuschte Liebe, Hass.

Schmerzhaft schön tritt dabei Verdis Musik (Musikalische Leitung: Axel Kober) in den Vordergrund: Sie spiegelt, illustriert und vertieft die Leidenschaften der handelnden Figuren, zeigt auch ihre verborgenen, versteckten Regungen und Motive auf. Jago, der sich als böser Nihilist geriert, kommt in die Nähe von Mephisto, nur ohne dessen geschliffene Ironie. Überhaupt erinnert Thalheimers Inszenierung, eine Koproduktion der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg mit der Opera Vlaanderen, an seinen „Faust“ am Deutschen Theater in Berlin, der seinerzeit ebenfalls in einem dunklen kargen Raum angesiedelt war.

Doch dies verkopfte, dieses Eingesponnensein in das Gefängnis seiner eigenen Neurosen charakterisiert Otello gut: Wieso sollte sonst der große Feldherr den pumpen Intrigen eines Jago so schnell auf den Leim gehen, wenn nicht seine Seele bereits von Selbstzweifeln, Wahnvorstellungen und Minderwertigkeitskomplexen des Außenseiters zerfressen wäre? Warum sollte er sonst wegen eines lächerlichen Taschentuches seine große Liebe Desdemona töten? Taschentuch und Brautkleid Desdemonas sind übrigens die einzigen weißen Gegenstände dieses rabenschwarzen Abends und daher mit der Symbolik der verlorenen Unschuld aufgeladen: Das Taschentuch gilt als Beweis für ihre Untreue, im Brautkleid wird sie erwürgt. Die Schwärze schluckt alles.

Desdemona auf dem Totenbett. Fotos: Hans-Jörg Michel/Rheinoper

Desdemona auf dem Totenbett. Fotos: Hans-Jörg Michel/Rheinoper

Allerdings nicht den Klang: Otello (Ian Storey) singt eine kraftvolle Partie, die Jähzorn, aufbrausendes Temperament sowie zarte Liebestöne hören lassen. Aus gesundheitlichen Gründen konnten sowohl Jacquelyn Wagner und Boris Statsenko an diesem Abend nicht auftreten: Doch die eingesprungenen Gäste meisterten ihre Partien bravourös und erhielten viel Applaus. Serena Farnocchia gab der Desdemona einen warmen Klang, Alexander Krasnov, eingeflogen aus Jekaterinenburg, nahm man den empathielosen Bösewicht Jago unbedingt ab.

Eine schöne Stimme hat auch Ovidiu Purcel als Cassio aus dem Ensemble der Deutschen Oper am Rhein. Besonders hervorzuheben ist unbedingt der Chor der Rheinoper, der kraftvoll und eindringlich aus dem düsteren Hintergrund heraus agierte und natürlich die Düsseldorfer Symphoniker im Graben, der an diesem Abend ungewöhnlich hell wirkte.

Nur noch wenige Vorstellungen im November, Opernhaus Düsseldorf: 1., 4., 10. und 13. Nov. Karten: www.operamrhein.de

 




Heilsbringer in der Waschmaschine – Michael Thalheimer inszeniert „Tartuffe“ an der Schaubühne

Endlich haben alle begriffen, dass der als Heilsbringer verehrte Herr Tartuffe nur ein Heuchler ist. Ein Scharlatan, der sich in religiöser Verzückung kurios verbiegen kann und sich in leidender Jesus-Pose gefällt.

All die auf die Haut tätowierten Bibelverse und das Gerede von Schuld und Erlösung können irgendwann nicht mehr vertuschen, dass Tartuffe nur ein geldgieriger Raffzahn und notgeiler Lüstling ist, der die Familie Orgon in den Ruin treiben und es mit der Frau des Hauses treiben möchte. Plötzlich beginnt die kleine Welt der Orgons ins Rutschen zu kommen. Und die Bühne, eben noch eine mit Blattgold verzierte Mönchszelle, rotiert wie eine enthemmte Waschmaschine.

Orgon (Ingo Hülsmann, li.) und Tartuffe (Lars Eidinger). (Bild: Katrin Ribbe/Schaubühne)

Orgon (Ingo Hülsmann, li.) und Tartuffe (Lars Eidinger). (Bild: Katrin Ribbe/Schaubühne)

Das Unterste wird nach oben gekehrt, die Menschen fliegen durcheinander. Nichts und niemand gibt ihnen mehr Halt. Schon gar nicht jener feist grinsende Herr Tartuffe, der – so will es Regisseur Michael Thalheimer – zum bitterbösen Ende hin nicht verhaftet wird, sondern die Familie Orgon einfach vor die Tür setzen lässt.

Michael Thalheimer, offenbar vom interneren Machtkampf mit Platzhirsch Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater entnervt, ist als Hausregisseur an die Berliner Schaubühne gewechselt. Dort inszeniert er jetzt Molières „Tartuffe“ als, ja, als was eigentlich? Eine ausgelassene Komödie jedenfalls ist es nicht geworden. Eher eine streng formalisierte Groteske. Ein moralinsaurer Abgesang auf die Blindheit der Menschen, die sehenden Auges in ihr Unglück rennen.

Thalheimer bleibt sich, auch am neuen Theater, treu und macht das, was er immer macht: Er entkernt den Text, bis nur noch ein ein dürres Handlungsgerippe übrig bleibt, reduziert die Menschen auf stilisiert wirkende Macken und Marotten, sperrt die Figuren – mit Hilfe seines Bühnenbildners Olaf Altmann – in ein enges Gefängnis. Ob der von allen guten Geistern und jeder Vernunft verlassene Orgon (Ingo Hülsmann), ob seine um Haus und Hof fürchtende, aber einem Seitensprung nicht abgeneigte Frau Emire (Regine Zimmermann) oder der sich mit ausgeleierten Phrasen und billiger Anmache einschleimende Tartuffe (Lars Eidinger): Sie alle müssen sich durch einen kleinen Spalt in den karg möblierten Bühnen-Schrein zwängen.

Lustig ist das nicht. Genauso wenig wie die seltsamen Grimassen, Verrenkungen und Schreiattacken, von denen Tochter Marian (Luise Wolfram), ihr Verlobter Valère (Tilman Strauß) und der Gerichtsvollzieher (Urs Jucker) heimgesucht werden. Einzig Judith Engel als gelangweiltes Hausmädchen Dorine verbreitet als Unheil verkündende Kassandra eine Komik des Schreckens.

Längst bevor die falsche Fassade einstürzt, liegen alle Lügen und alle Wahrheiten offen zutage. Atmosphärische Verdichtung erzeugt allein noch die enervierende Musik: eine schauderhaft-schöne Collage aus schwer dröhnenden sakralen Orgelklängen und metallisch klirrenden Gitarrenriffs. Das bleibt noch lange im Ohr. So wie die zur rotierenden Waschmaschine werdende Bühne sich ins Theater-Gedächtnis einschreiben wird. Aber sonst? Viel Lärm um nichts.

Berlin, Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153. Nächste Aufführungen am 9. und 10. Januar 2014. Karten unter 030/890023 oder ticket@schaubuehne.de




Festspiel-Passagen IV: Salzburg – Fanatische Kämpferin, zerbrechliches Opfer

Anna Netrebko: umschwärmter Star in „Giovanna d’Arco“ in Salzburg. Foto: Silvia Lelli

Anna Netrebko: umschwärmter Star in „Giovanna d’Arco“ in Salzburg. Foto: Silvia Lelli

Die Jungfrau von Orléans, die heilige Johanna, die kriegerische Maid: Hexe und Heilige, Symbol der Nation, Identifikationsfigur in Zeiten der Unterdrückung, selbstbewusst-selbständige Frau, keusche Verkörperung eines Reinheitsideals, amazonenhafte Kriegerin, radikale Kämpferin, Bild des Edel-Erhabenen, verehrt und verspottet, unantastbar und unverstanden. Die Ikone der 1431 auf dem Scheiterhaufen hingerichteten und 1920 heiliggesprochenen Bauerntochter Johanna aus dem lothringischen Domrémy ist immer wieder neu gemalt und übermalt worden.

Voltaires Spottgedicht „La Pucelle d’Orleans“ zieht den Johanna-Mythos ins Ordinäre, diffamiert das Religiöse durch das Obszöne. Friedrich Schiller wehrt sich in seiner „Jungfrau von Orléans“ vehement gegen die abschätzige Dekonstruktion. Temistocle Solera erkennt als Librettist Giuseppe Verdis für die Oper „Giovanna d’Arco“ einen wichtigen Aspekt der historischen Rolle der Johanna, die im späten Mittelalter Euphorie und Rohheit der Masse gleichermaßen ausgelöst hat. Und in Walter Braunfels‘ „Jeanne d’Arc“ – 1939 bis 1943 in der inneren Emigration entstanden – spiegelt sich die existenzielle Unsicherheit der Zeit, der Verlust aller kultureller Gewissheit und eine entschiedene Zuwendung zum Transzendentalen, das alleine im alle Werte vernichtenden Feuerbrand Bestehen verheißt: Das Herz der Jungfrau bleibt von der Glut des Scheiterhaufens unversehrt.

Die Salzburger Festspiele haben sich mit den beiden Werken des Musiktheaters und mit Schillers „romantischer Tragödie“ einigen Aspekten des Johanna-Mythos genähert. Natürlich hätten noch andere dazu treten können: Arthur Honeggers mystisches Gleichnisspiel „Jeanne d’Arc au Bucher“ hätte dazu gepasst; Tschaikowskys heroische Tragödie „Die Jungfrau von Orléans“ auch. Aber bedauerlicher ist, dass beide Opern nur konzertant zu erleben waren: Die Chance, den Johanna-Mythos szenisch unterschiedlich auszudeuten, blieb so ungenutzt.

Das Landestheater Salzburg: Hier wird Michael Thalheimers Version von Schillers "Jungfrau von Orléans" gespielt. Foto: Häußner

Das Landestheater Salzburg: Hier wird Michael Thalheimers Version von Schillers „Jungfrau von Orléans“ gespielt. Foto: Häußner

Michael Thalheimer will uns die Schiller’sche Heldin in ihrer anachronistischen Mischung aus nationaler Entflammung, dualistischem Reinheitswahn und mystischer Entrückung nicht nahe rücken. In seiner Inszenierung, die ab September am Deutschen Theater in Berlin zu erleben ist, steht Johanna von Anfang an isoliert: Bühnenbildner Olaf Altmann richtet einen einzigen, grellweißen Lichtspot auf sie, einen Strahl aus dem Jenseits, der diese einsame Gestalt im weißen Hemd mit dem Schwert in der Hand erleuchtet. Kathleen Morgeneyer spricht die so zerbrechlich wie verhärtet wirkende Figur mit dröhnendem Überzeugungston, jenseits menschlicher Realität. Sie gehört zu den Reinen, die nicht fühlen, die nicht weinen. Alexander Khuon kotzt als sterbender Montgomery sein Leben blutig über die ungerührte Johanna aus. Liebe, Mitleid, Schuld – das sind Regungen, die im Dienst einer höheren Macht nicht zählen.

Kathleen Morgeneyer als Johanna: Die Jungfrau im Licht. Foto: Arno Declair

Kathleen Morgeneyer als Johanna: Die Jungfrau im Licht. Foto: Arno Declair

Schließlich weint sie doch, die Unberührbare, getroffen vom Blick Lionels – und damit ist ihre Mission gebrochen: Sobald die ungeheuerliche Gotteskriegerin ihre mörderische Isolation verliert, einen Kontakt mit Menschen aufbaut, der ihr Subjekt fordert, ist die Magie dahin, die Kraft gebrochen. Thalheimer lässt die Figur in ihrer Ambivalenz unberührt, erklärt nichts weg von ihrer Problematik: weder ihren glühenden Nationalismus noch ihre geradezu antichristliche Umdeutung Marias von der barmherzigen Mutter zu einer blutgierigen Göttin der Schlachten. Am Ende löst das fahl aufdämmernde Licht (Robert Grauel) die Bühne aus der Schwärze. Sichtbar wird eine gewaltige Wölbung, eine Kirche, ein Mausoleum, eine düstere Himmelskuppel. Von der Jungfrau von Orléans bleibt ein verletzliches Mädchen, das einen riesigen Schatten wirft.

Thalheimers auf zweieinviertel Stunden und 14 Rollen konzentrierte Version der Tragödie funktioniert nur, weil er hervorragende Sprecher in seinem Ensemble hat: Den eindimensional auf den heiser bellenden Krieger festgelegten Andreas Döhler als Dunois. Die Agnes Sorel der Meike Droste, die in einer starken Persönlichkeit die Ideale der Johanna teilt, aber mit menschlichen Regungen verbindet. Den markant charakterisierenden Michael Gerber als Thibaud. Und Christoph Franken als König, der sich von praktischer Vernunft, politischer Resignation und einer halb wehleidigen, halb hedonistischen Vision privaten Lebens leiten lässt: ein Schlappschwanz, dessen winselnde Ohnmacht eine gewisse innere Größe nicht abzusprechen ist.

Expressive Theatersprache: Almut Zilcher als Isabeau. Foto: Arno Declair

Expressive Theatersprache: Almut Zilcher als Isabeau. Foto: Arno Declair

Das ausgefeilteste Rollenporträt spricht allerdings Almut Zilcher als Königinmutter Isabeau: Sie stochert als dürres Gespenst in High Heels über die Bühne, jedes Wort in eine andere Klangfarbe kleidend, jeden Satz nachkomponierend. So wünscht man sich Theatersprache.

Das Sprachliche, in diesem Fall in Verdis beredte Musik gekleidet, dominiert auch die konzertante Aufführung von „Giovanna d’Arco“ in der Felsenreitschule. Vor dem Eingang ein Defilee der Kartensuchenden: Anna Netrebko und Placido Domingo sind eine Besetzung, für die Melomanen wie Adabeis einiges springen lassen.

Die Oper von 1845 gehört nicht zu den bevorzugten Werken aus Verdis mittlerer Schaffensperiode. Zu Unrecht, wie sie herausstellt. Denn Verdi experimentiert mit musikalischen Mitteln, die er später perfektioniert: Die grellen Flöten, die fahlen Farben des tiefen Holzes und die exzessive Rhythmik für das Diabolische führen zu „Macbeth“, die ätherischen Momente zu „Don Carlo“ und „Aida“. Die Emphase der groß angelegten Chöre weisen von Rossinis Finali zu Meyerbeers Tableaux. Daneben gibt es das ausgesponnene Legato Bellinis und die lyrische Intensität der Bariton-Romanzen Donizettis. Doch Verdi setzt diese musikalischen Elemente seiner Gegenwart nicht, wie die ältere Kritik abwertend behauptete, aus kreativer Verlegenheit und Zeitmangel ein. Sondern er verwendet Ausdrucksmittel der Tradition bewusst, um Figuren musikalisch zu profilieren.

Die Reinheit der fragilen Heldin

Temistocle Soleras Libretto nähert sich eher dem Oratorium und der großen Oper an – ein italienischer Reflex auf die neuen Entwicklungen der Pariser Bühne. Giovanna ist bei ihm eher ein junges Mädchen, das demütig eine überirdische Botschaft empfängt und ausführt, als eine fanatisierte Kriegerin. Im ersten Auftritt träumt sie von einer politischen Rolle, von Rüstung und Schwert; später imaginiert sie sich aus dem Fest im Königspalast zurück in ihre ländliche Heimat. Ihre Schwäche ist die unmögliche Liebe, die in diesem Fall nicht ein Engländer, sondern der König selbst von ihr begehrt. Ihre Apotheose gleicht einer Entrückung: Der Himmel entzieht die Jungfrau dem irdischen Treiben und bestätigt ihre Unschuld.

Die Reinheit Johannas ist bei Solera nicht sexuell, sondern transzendental geprägt: Schon im Prolog wird der Widerstreit der bösen Geister und der Engel in den Chören ausführlich exponiert. „Giovanna d’Arco“ verbindet dieses Motiv mit dem Vater Johannas, Giacomo, der sich als treibende Kraft des Dramas entpuppt: Sein Anklage, Johanna habe sich den bösen Geistern – und der „niedrigen irdischen Liebe“ – verschrieben, formuliert er auf dem Höhepunkt des Geschehens, in dem Moment, in dem der König Johanna gegen ihren Willen zur Patronin des Landes und zur Heiligen hochstilisiert, ihr sogar eine Kirche weihen will.

Die Hybris wie die Verleumdung kommen von außerhalb: Johanna ist das Opfer dieser Mächte, die sie in ihrem Inneren nicht berühren. Sie gehört zu den fragilen Mädchen und Frauen der italienischen Oper, denen vom Druck ihrer Umgebung der vitale Lebensatem ausgepresst wird. Mag sein, dass Verdi – wie Roger Parker im Programmheft erklärt – durch die sanfte Lyrik der Stimme der Uraufführungssängerin Erminia Frezzolini zu dieser Lösung angestoßen wurde. Auf jeden Fall fügt sie den Deutungen des Jeanne d’Arc – Stoffes eine originelle Facette hinzu.

Für Anna Netrebko ist die Partie der Einstieg in das dramatischere italienische Fach, der sich bereits mit Donizettis „Anna Bolena“ angekündigt hatte. Die Leonora in Verdis „Trovatore“ und die Lady in „Macbeth“ werden in der kommenden Spielzeit folgen. Pünktlich zur Premiere der „Giovanna d’Arco“ wurde in Salzburg auch die neue Netrebko-CD vorgestellt, auf der das zu erobernde Terrain bereits vorweggenommen ist.

Die dunkler gewordene Stimme der Sängerin hat in der Tat klangliche Fülle gewonnen, ist im Zentrum dunkelgolden üppig, entfaltet sich in der Höhe mit Substanz und Glanz. Dabei ist die gleichmäßige Tonproduktion ebenso bewahrt wie die lyrische Finesse. Im Rezitativ ihrer Auftritts-Kavatina zieht Netrebko den schönen Ton der ausdrucksvollen Gestaltung vor; die träumerische Wehmut der Giovanna, ihre kindlich anmutende Sehnsucht nach einer Rolle im Freiheitskampf wirkt mehr vorgetragen als empfunden. Doch im Duett mit dem König im ersten Akt spielt sie die gestalterischen Trümpfe voll aus: Eine der seltenen Sternstunden technisch sicheren und dramatisch erfüllten Singens, zu dem der Tenor Francesco Meli einen gleichrangigen Part beiträgt.

Mit Meli steht – endlich – wieder einmal ein Sänger auf dem Podium, bei dem man nicht das eine oder andere Ohr zudrücken muss, um ihn in die Traditionslinie überzeugender Verdi-Stimmen einzuordnen. Er hat nicht ganz die Flexibilität und den strahlenden Schmelz eines Carlo Bergonzi, kommt ihm aber sehr, sehr nahe. Druckfrei gebildete Höhe und natürlich anmutendes Legato zeichnen sein Singen aus. Dass manches Piano mit viel Kopfstimme gebildet wird und ein Crescendo nicht bruchlos gelingen kann, ist noch ein Manko. Aber Meli kann sich als Carlo VII. erfreulich positionieren. Bisher hat er vor allem das Repertoire zwischen Nemorino („Der Liebestrank“) und Alfredo („La Traviata“) gesungen – die Partie in „Giovanna d’Arco“ bedeutet also auch für ihn, einen Schritt weiter.

Tendenz zum Spielen, auch auf dem Konzertpodium: Placido Domingo als Vater Giacomo in Verdis "Giovanna d'Arco". Foto: Silivia Lelli

Tendenz zum Spielen, auch auf dem Konzertpodium: Placido Domingo als Vater Giacomo in Verdis „Giovanna d’Arco“. Foto: Silivia Lelli

Mit Jubel wurde der erst im Juli von einer Lungenembolie genesene Placido Domingo begrüßt: Er hatte mit der Rolle des Giacomo eine Partie, die sich würdig in die Reihe der markanten Vätergestalten Verdis einreiht. Verdi baut die Rolle aus, gibt ihr Gewicht und tragische Konturen: dieser Giacomo wirft seiner Tochter vorurteilsbeladen den Pakt mit teuflischen Kräften vor, muss seinen tragischen Irrtum erkennen und tief bereuen.

Domingo hat von seiner gestalterischen Kraft nichts eingebüßt, die sich auch immer wieder in einem unmittelbaren Bedürfnis nach körperlicher Rollendarstellung Bahn bricht. Seine Stimme tendiert eher zum Silber des Tenors als zur warmen Bronze eines echten Baritons. Aber diesen Jahrhundertsänger so präsent, mit dem Hintergrund seiner Erfahrung zu erleben, ist ein Geschenk. Nicht zu vergessen ist Roberto Tagliavini als Talbot, der nur im ersten Akt einige rhythmisch scharf geschnittene Sätze zu singen hat – diese allerdings mit schlankem, gut fundiertem Bass.

Mit der ambivalenten musikalischen Leitung Paolo Carignanis sich anzufreunden fällt nicht leicht: Da herrscht ein schlanker, nerviger Klang im Münchner Rundfunkorchester, prägnante Kontraste in der Ouvertüre zwischen den robusten Tutti und den ätherischen Flöten-Fiorituren und Holzbläser-Kantilenen. Die Musiker des Orchesters treffen auch die unheimliche Sphäre beim Auftritt Giacomos, das geisterhafte Gelächter der Flöte, den spitzen, bewusst banalen Rhythmus für die Dämonensprüche des glanzvoll disponierten Philharmonia Chores Wien (Walter Zeh).

Carignani lässt auch den Donizetti-Rhyhmus „abspringen“, den Verdi der Arie Giacomos („Franco son io“) im ersten Akt unterlegt. Aber er hält den Takt immer wieder unflexibel und steif, gibt zu wenig Freiheit, kann so zum Beispiel den Kontrast der Dämonen- und der Engelschöre im Finale des Prologs nicht ausformen. Das Cantabile Verdis bleibt dann flach, eingespannt in eine missverstandene Präzision, die Verdis Musik genau das unterstellt, was tunlichst zu vermeiden ist: den Leierkasten-Rhythmus der dörflichen Banda. Mit der Frage nach einer idiomatisch zutreffenden Verdi-Interpretation jenseits von preußischer Akkuratesse und traditionalistischer Schlamperei wird man sich – auch nach diesem Verdi-Jahr – noch zu befassen haben.