Yasmina Reza, Piccoli, Binoche, Ute Lemper – Frankreich ist Thema der Ruhrfestspiele

Gainsbourg__c__Gilles_Vidal

Michel Piccoli, Jane Birkin und Hervé Pierre (von links) tragen Texte von Serge Gainsbourg vor. (Foto: Ruhrfestspiele/Gilles Vidal)

In diesem Jahr soll es unser westlicher Nachbar sein. „Tête-à-tête – ein dramatisches Rendezvous mit Frankreich“ ist das Programm der Ruhrfestspiele 2015 überschrieben, und natürlich erfolgte die thematische Schwerpunktlegung lange, bevor das Land (und seine Kultur) es zu trauriger Aktualität brachten.

Fast wundert man sich, daß Festival-Chef Frank Hoffmann Frankreichs Kultur erst jetzt so entschlossen ins Rampenlicht des Recklinghäuser Festspielhauses rückt, ist er doch als Luxemburger – mit ganz leichter Andeutung eines französischen Akzents, ähnlich seinem Landsmann Jean-Claude Juncker – der französischen (Bühnen-)Kultur schon traditionell recht nahe.

Nein, man muß man nicht befürchten, daß nun ein Gründeln nach französischer Seele oder Ähnlichem einsetzte, wie überhaupt das in dieser unbedingten Art Grundsätzliche eher wohl eine Spezialität von Frankreichs östlichem Nachbarn, vulgo: uns ist.

Hoffmann greift lieber zum Füllhorn und schüttet französisch Gedichtetes, Gefühltes, Inspiriertes und Gesprochenes über seinem Publikum aus, auf daß Nähe sich auf vielfältige Weise herstelle. Das Konzept ist erprobt und funktionssicher, und ein Theater der radikalen Positionen war Hoffmanns Sache sowieso nie. Allerdings erstaunt bei der Sichtung des wieder einmal höchst umfangreichen Programms ein wenig doch die Beliebigkeit der Auswahl. Aber der Reihe nach.

Ute Lemper for Bauer Verlag/Germany 2013

Ute Lemper hat aus Paulo Coelhos Roman „Die Schriften von Accra“ einen Theaterabend gemacht. (Foto: Ruhrfestspiele/Karen Koehler)

Eugène Labiches Komödie „Moi“ (deutsch: Ich) ist der fulminante Auftakt des Festivals, der Titel wurde, was möglicherweise dem prominenten ersten Platz auf dem Spielplan geschuldet ist, aufgehottet auf „Ich Ich Ich“. Die Inszenierung ist eine Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Münchener Residenztheater, Regie führt der im Revier bekannte und geschätzte Martin Kusej. Auch unter dem Titel „Die Egoisten“ war das 1864 uraufgeführte Stück schon in den Theaterprogrammen zu finden: Erzählt wird die Geschichte des – eben – habgierigen, egoistischen Monsieur Dutrecy, der hemmungslos trickst und intrigiert und am Ende der Geschichte doch als Verlierer dasteht. Er ist eine, wie das Programmheft nahelegt, typische Figur des Second Empire, der postnapoleonischen Restaurationszeit. Möglicherweise, aber das ist eine spekulative Äußerung, ebnet dieses Stück ein ganz klein bißchen den Weg zu einem besseren Mentalitätsverständnis unserer Nachbarn. Vor allem aber wohl ist es was zum Lachen, was ja auch recht wertvoll ist in zutiefst humorlosen Zeiten wie den unseren.

bella_figura

Yasmina Reza hat ein neues Stück geschrieben. „Bella Figura“ wird seine Uraufführung bei den Ruhrfestspielen erleben. (Foto: Ruhrfestspiele/Pascal Victor/ArtComArt)

Die zweite große Theaterproduktion des Festivals dürfte Yasmina Rezas neues Stück „Bella Figura“ sein. Reza ist die weltweit wohl erfolgreichste Komödienschreiberin unserer Tage, „Kunst“ und „Gott des Gemetzels“ kennt (behaupte ich einfach mal) jeder Theatergänger.

Auch der Plot des jüngsten Reza-Werks ist auf grandiose Weise wieder angesiedelt auf dem Minenfeld des Alltäglichen: Boris führt seine Geliebte Andrea aus und erwähnt eher aus Gedankenlosigkeit, daß seine Ehefrau das Restaurant für dieses Rendezvous ausgewählt habe; in der Hitze der folgenden Diskussion fährt Boris beim Einparken eine ältere Dame um, und sowieso sind die Grenzen zum final Katastrophalen bald schon überschritten. Wir werden unseren Spaß haben, wenn Yasmina Reza uns den nur geringfügigst deformierenden Zerrspiegel vorhält. Thomas Ostermeier führt Regie in einer Koproduktion mit der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, Star des Abends ist fraglos Nina Hoss in der Titelrolle.

Eine weitere Produktion wird groß angekündigt, doch ist sie an zwei Tagen nur dreimal im Programm. Die Bühnenkünstlerin Ute Lemper hat sich das Buch „Die Schriften von Accra“ des Brasilianers Paulo Coelho vorgenommen. Sie habe es, erzählt sie beim Pressetermin, in neun Abteilungen – „9 Geheimnisse“ – aufgeteilt, deren Essenz in Poesie und Musik gefaßt. Schönheit und Harmonie erwarteten nun das Publikum, eine „cinematische Einrichtung“ des Ganzen besorgte Filmregisseur Volker Schlöndorff. Was das Publikum nun genau erwartet, wurde noch nicht recht klar. Zwar fällt es schwer, sich Coelhos komplexe Dichtung in Wohlfühlhäppchen zerlegt vorzustellen, doch wer es genau wissen will, muß eben in die Vorstellung gehen.

Nash__rner__c__Bohumil_Kosthoryz

Wolfram Koch in Eugène Ionescos Stück „Die Nashörner“, das Ruhrfestspiele-Hausherr Frank Hoffmann inszeniert. (Foto: Ruhrfestspiele/Bohumil Kosthoryz)

Hausherr Hoffmann inszeniert im Großen Haus Ionescos „Nashörner“, Michael Thalheimer, in Kooperation mit dem Deutschen Theater in Berlin und den Salzburger Festspielen, Schillers „Jungfrau von Orleans“, die bekanntlich in Frankreich wirkte und dort auf einem Scheiterhaufen ihr Leben ließ. Hannelore Elsner liest aus Patrick Süskinds Roman „Das Parfüm“, Isabella Rosselini ist zweimal mit ihrer vergnüglichen, wenn auch nicht mehr ganz neuen Fortpflanzungsshow „Green Porno“ zu Gast. Liebhaber der Texte von Serge Gainsbourg markieren schon jetzt den 31. Mai, wenn Michel Piccoli (85 Jahre ist er mittlerweile alt!), Jane Birkin und Hervé Pierre Texte von ihm lesen. Musik, Tanz, einige Lesungen und, warum auch immer, etliche Termine mit Peter Handkes 1992 in Wien uraufgeführtem, weitgehend textfreiem Stück „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“ runden das Programmgeschehen auf der Hauptbühne ab.

Etliche kleinere Produktionen sowie Uraufführungen sind wieder im Kleinen Haus, im Theater Marl und in der Halle König Ludwig zu finden – so in deutscher Erstaufführung und in Regie von Oliver Reese Joel Pommerats Beziehungsdrama „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“. Corinna Kirchhoff und Peter Schröder spielen die Hauptrollen – und mit Korea hat das Stück eigentlich nichts zu tun.

Hier ein bißchen Jules Verne, da eine in Kooperation mit der Woche des Sports produzierte „Slapstick Sonata“, dort einige Produktionen des Hamburger St. Pauli-Theaters mit seinem umtriebigen Chef Ulrich Waller – einmal mehr ist das 2015er Programm der Ruhrfestspiele der sattsam bekannte Theater-Bauchladen, der für jeden Geschmack etliches bietet, aber auch die Aura des Beliebigen verströmt. Hier verwundert es daher auch nicht, daß Claus Peymann und sein getreuer Dramaturg Hermann Beil mit der Jahrzehnte alten Burgtheater-Produktion Thomas Bernhards „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ zu Gast sind.

Allerdings scheint der Anteil fremdsprachiger Produktionen 2015 höher zu sein, wenngleich es sie in den Vorjahren auch immer gab. Hier boten sich wohl besonders interessante Koproduktionen, etwa mit dem Festival in Avignon, an. In einer mit Barbican London und Les théâtres de la ville, Luxembourg, koproduzierten „Antigone“ ist Juliette Binoche Englisch sprechend zu erleben, Molières „Eingebildeten Kranken“ gibt es, wenngleich mit deutschen Untertiteln, nur auf französisch. Die Boulevardkomödie „Wind in den Pappeln“ von Gérald Sibleyras gar spielt das Vakhtangov-Staatstheater aus Moskau in Russisch. Nun gut, man erinnert sich, daß die Ruhrfestspiele ja ein internationales Festival sein möchten.

Wind_in_den_Pappeln_c_Vakhtangov_Staatstheater_Moskau

So sieht es aus, wenn Russen französische Komödie spielen:
Vladimir Simonov, Maxim Sukhanov und Vladadimir Vdovichenkov in Gérald Sibleyras‘ „Wind in den Pappeln“. (Foto: Ruhrfestspiele/Vakthangov-Staatstheater Moskau)

Zahlreich sind die literarischen Lesungen im Programm, das freche Fringe-Festival lockt (nicht nur) Kinder und Jugendliche mit internationalem, kurzweiligem und manchmal atemberaubendem Straßentheater. Dominique Horwitz singt Jacques Brel, Burghart Klaußner Charles Trenet („La mer“). Und am Schluß singt Roger Cicero. Auf der so genannten Comedy-Schiene wird alles aufgeboten, was in Deutschland Rang und Namen hat, Hennes Bender und Max Goldt in trauter Nachbarschaft, und Jochen Malmsheimer ist natürlich auch dabei.

Und wer alles noch genauer wissen will, muß ins Internet gehen: www.ruhrfestspiele.de

 

 




Lebendes Monument des europäischen Kinos – Der französische Schauspieler Michel Piccoli wird heute 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

In manchen Filmen hat er nur für Minuten die Bildfläche betreten, nur ein paar Sätze gesprochen. Kam einem der Titel in den Sinn, so wusste man freilich gleich: Oh, das war doch diese Geschichte, in der Michel Piccoli mitgespielt hat!

Der Schauspieler, der als Typus eher zurückhaltend wirkt, sich aber mit seinen Rollen immer wieder unvergesslich einprägt, wird heute 75 Jahre alt. In weit über 100 Filmen hat er nahezu mit allen anderen Größen des europäischen Kinos gespielt. Man denke nur an diese Frauen: Jeanne Moreau, Brigitte Bardot, Catherine Deneuve, Stéphane Audran, Romy Schneider, Hanna Schygulla, Liv Ullmann, Juliette Binoche, Sandrine Bonnaire, Emmanuelle Béart…

Meist wurden dem in Paris geborenen Charmeur, der aus einer italienischen Musikerfamilie stammt, Affären mit diesen Schönen angedichtet. Er selbst hat beteuert, niemals eine Frau wegen einer anderen verlassen zu haben. Gleichwohl ist der treue Gefährte in dritter Ehe liiert – mit einer Großgrundbesitzerin, was seinem Bekenntnis zum Sozialismus keinen Abbruch tut. Die bekannteste Verbindung, Nummer zwei (mit der Sängerin Juliette Gréco), währte von 1966 bis 1977.

Kurz ist das Leben, lang die Kunst: Schon seit 1945 war Piccoli, anfangs in kleineren Parts, auf Theaterbühnen und im Kino zu sehen. Der Durchbruch kam 1963 mit Jean-Luc Godards „Die Verachtung“: Hier stürzte sich Piccoli in einen ungeheuer intensiven Geschlechterkampf mit Brigitte Bardot. Auch Luis Buñuel wurde auf ihn aufmerksam und setzte ihn gleich in Serie ein: in „Die Milchstraße“, „Tagebuch einer Kammerzofe“, „Belle de jour“ (Die Schöne des Tages), „Das Gespenst der Freiheit“ und „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“.

Dieser Filmtitel wurde auch Piccoli selbst als Etikett angeheftet, wirkte der elegante Verführer und Salonlöwe doch nie wie ein Draufgänger à la Delon oder Belmondo, sondern bürgerlich selbstbeherrscht und gefasst. Auch Regisseure wie Alfred Hitchcock („Topaz“) und Claude Chabrol besetzten ihn in diesem Sinne.

Beherzter Kämpfer gegen die Vormacht von Hollywood

Doch das war nur die Vorderansicht. Man konnte ahnen, wie es in vielen dieser Gestalten brodelte, wenn man Piccoli auf hundert hintersinnige Arten rauchen sah; wenn man bemerkte, wie er unter halb geschlossenen Augenlidern Blicke blitzen ließ oder wie er Requisiten behandelte, als wolle er sie mitsamt der ganzen Menschheit erdrosseln: Hier lauerte ein gefährlicher Hang zum Zynismus, zum Abgründigen, zu Delirium, Perversion und Wahnsinn.

Dieses Doppelwesen und alle Schattierungen dazwischen, die er auffächerte wie kein anderer, machten Piccoli als Darsteller einzigartig. Die entgrenzte, explosive und düstere Seite hat er manchmal bis zum Exzess ausleben können, so in Claude Faraldos qualvoller Sozial-Phantasie „Themroc“ (1973). Da spielte er jenen Anstreicher, der urplötzlich alle Regeln der Zivilisation abstreift und als brüllender Tiermensch die Mitwelt attackiert.

In Marco Ferreris Ekel-Fest „Das große Fressen“ stopfte er sich (mit Philppe Noiret, Marcello Mastroianni und Ugo Tognazzi) den Wanst so lange voll, bis er unter majestätischen Blähungen verreckte.

Laugst ist Piccoli ein lebendes Monument des europäischen Kinos, für dessen Belange er immer wieder beherzt eingetreten ist – gegen Hollywoods kommerzielle Dominanz. Gewiss kein Zufall, dass Agnès Varda für ihre Hommage zum hundertjährigen Bestehen des Lichtspiels („Les cent et une nuit“ / Hundertundeine Nacht) gerade Piccoli als über allen cineastischen Epochen schwebenden „Mr. Cinéma“ vorsah.

Eine seiner wunderbarsten Rollen war 1991 der Maler Frenhofer in Jacques Rivettes„La belle noiseuse“ (Die schöne Querulantin). Emmanuelle Béart stand und lag ihm da stundenlang nackt Modell. Doch der Film hat gar nichts Anzügliches, sondern erweist sich als existenzielle Auseinandersetzung zweier starker Seelen und als exemplarisches Ringen um den künstlerischen Schöpfungsakt.




Ruhrfestspiele: Theaterzauber zum Jubiläum – Mit Piccoli, Robert Wilson, Peter Brook

Von Bernd Berke

Hamburg/Recklinghausen. Mit berühmten Namen lockt Hansgünther Heyme, künstlerischer Leiter der Ruhrfestspiele, zur Jubiläumssaison 1996. Wenn die Festspiele 50 Jahre alt werden, kommen u. a. Bühnen-Koryphäen wie die Regisseure Robert Wilson und Peter Brook sowie der Schauspieler Michel Piccoli nach Recklinghausen.

Heyme selbst sorgt für die große Eigeninszenierung (Shakespeares „Was ihr wollt“) und spielt dabei gar selbst den Haushofmeister „Malvolio“. Nach dieser Premiere (4. Mai) wird zur rauschenden Ballnacht gebeten.

Heyme stellte das Programm in Hamburg vor und brachte dem Chef des Deutschen Schauspielhauses, Frank Baumbauer, zwei mit Schleifchen versehene Briketts als Gastgeschenk mit. Denn im Austausch zwischen Ruhr und Alster hatte vor einem halben Jahrhundert alles mit dem schwarzen Gold begonnen.

Es begann in einem harten Winter

Der Gründungsmythos: Unter großem persönlichen Risiko (Verstoß gegen Vorschriften der britischen Militärregierung) lieferten Recklinghäuser Bergleute im Winter 1946/47 den frierenden Hamburger Schauspielern wärmende Kohle. Die Mimen revanchierten sich mit Vorstellungen im Revier, und daraus erwuchsen allmählich die Ruhrfestspiele. Ein umfangreiches Buch und eine Sonderbriefmarke sollen ebenso an die glorreiche Festspiel-Historie erinnern wie ein von Alfred Biolek moderierter Abend in Recklinghausen.

Von seinem Jubiläumsprogramm ist Heyme so überzeugt, daß er tollkühn „allen schwachsinnigen Musical-Produktionen“ zwischen Bochum und Duisburg den Kampf ansagt. Immerhin hat er mit dem Bertelsmann-Verlag einen neuen Sponsor gewinnen können. Als absolutes Highlight stellte Heyme „La malade de la mort“ (Die Krankheit Tod) heraus. Der US-Theaterzauberer Robert Wilson wird dieses Stück von Marguerite Duras in Szene setzen, Kino-Berühmtheit Michel Piccoli spielt jenen alternden Mann, der sich für einige Nächte ein Mädchen kauft.

Gar nicht heimliche Liebe zu Lausanne

Lausanne scheint Heymes gar nicht mehr so heimliche Lieblingsstadt in Sachen Theater zu sein. Nicht nur Wilsons Inszenierung ist eine Koproduktion mit dem Théâtre Vidy-Lausanne, sondern auch Peter Brooks Deutung der „Glücklichen Tage“ von Samuel Beckett sowie zwei weitere Heyme-Inszenierungen: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ (wird nahe der Recklinghäuser Zeche König Ludwig in einem Zeit gespielt, anschließend gibt’s Erbsensuppe beim Schein von Grubenlampen) und Sophokles‘ „Antigone“ als Wiederaufnahme.

Und nochmals Lausanne als Quellgebiet: Maurice Béjart kommt mit seiner Truppe zur Welt-Uraufführung des Tanzstücks „Messe für die heutige Zeit“. Vorgesehene Gastspiele beim „Europäischen Festival“ (Motto diesmal: „Kunst ist der Motor jeder Kultur“): Schillers „Don Carlos“ (Regie: Anselm Weber, Deutsches Schauspielhaus), George Taboris Inszenierung seines Stücks „Die Massenmörderin und ihre Freunde“ aus Wien, ein Fassbinder-Projekt aus Strasbourg und „Fura dels Baus“ aus Barcelona mit dem Stück „Manes“ um Geburt, Sex und Tod.

Komplette Programme, Kartenbestellungen (ab sofort): Ruhrfestspiele. Otto-Burrmeister-Allee 1. 45657 Recklinghausen. (023 61) 91 84 40.




„Das weite Land“ der Menschenseele – Luc Bondy hat Schnitzlers Drama verfilmt

Von Bernd Berke

Köln. In der Menschenseele regiert das Chaos: „So vieles und so verschiedenes hat zugleich Raum in uns. Liebe und Trug, Treue und Treulosigkeit; Anbetung für die eine und dennoch wildes Verlangen nach der anderen. (…) Die Seele (…) ist weites Land.“

Dieses wildzerklüftete Laiidschaftsbild, das man für banal, aber auch für unterschwellig ironisch halten kann, entwarf der österreichische Dramatiker Arthur Schnitzler 1910 in seiner Tragikomödie „Das weite Land“. Luc Bondy, noch Mitdirektor der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, hat daraus einen Film gemacht, der heute in ausgewählten Kinos anläuft.

Bondy, der das Stück 1984 in Paris fürs Theater inszenierte, leuchtet nicht etwa gesellschaftliche Hintergründe (Stichwort: „Bürgerdämmerung“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs) aus. Er konzentriert sich ganz auf die „Chemie“ der Gefühlsregungen, aufs treulose Spiel der Emotionen, das jedoch unvermittelt in tödlichen Ernst umschlagen kann. Komische Akzente sind äußerst sparsam und zurückhaltend gesetzt, eine Stimmung der Vergeblichkeit herrscht vor.

Im Mittelpunkt steht der Glühlampenfabrikant Friedrich Hofreiter (Michel Piccoli), der sich auch bei glanzvollen Soireen nur mäßig vom Geschäftsleben erholt. Allgemeine Leere und Künstlichkeit (mehrfach formieren sich die Filmdarsteller zu kühlen Tableaus nach Art eines Wachsfigurenkabinetts) verlangen nach Aufstachelung, nach Kitzel. Hofreiter sucht solchen „thrill“ auf erotischem und sportlichem Felde. Das „weite Land“ seiner Seele führt Eroberungskriege. Piccoli zeigt eindrucksvoll, wie dieser Mann – unfähig zur Liebe – nur den Schauer vor der Erfüllung sucht. Nach solchen Aufwallungen stößt er die Frauen buchstäblich und brüsk zurück – eine eigentümlich hitzige Mischung aus gewaltsamer „Keuschheit“ und galoppierender Gier. In diesen Strudel reißt Hofreiter auch andere mit hinein: seine Frau, deren vermeintliche Liebhaber, seine eigenen Geliebten.

Bondy hat ersichtlich um bildkräftige Umsetzung gerungen. Vielen Bildern sieht man es an, wie überlegt sie durchkomponiert sind. Da gibt es Symmetrien oder ins Bild ragende Diagonalen, die genau so stimmen und nicht einen Deut anders sein dürften. Künstlichkeit allenthalben, wir sind im Museum der Gefühle, in dem, es zwar auch für den Kinozuschauer nicht ganz ohne Langeweile abgeht, aber es ist doch stets edle, gepflegte Langeweile.

Hinzu kommt eine ausgeklügelte Choreographie der Gänge und Verrichtungen, vorgeführt mit häufigem Tempowechsel. Mal hält die Kamera (Thomas Mauch, oft Kameramann bei Werner Herzog), erbarmungslos geduldig, auf unscheinbarste Gesichtsregungen, dann verfolgt sie ruhelos die Figuren, die mit ihren willkürlich aufgepeitschten Emotionen in stille Naturwinkel einfallen und sie mit Chaos anfüllen: der Mensch als Störenfried der Welt.

Neben Michel Piccoli bleibt vor allem Bulle Ogier als Hofreiters Frau Genia in Erinnerung, die vor Resignation ganz hell, fast wie eine Heilige, erstrahlt.