Abenteuer eines Wundermusikers: Jaromír Weinbergers Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ in Gelsenkirchen

Die Untertanen der Eiskönigin sind von Schwandas Spiel entzückt (Foto: Monika Forster)

Diese Oper ist ein Kuriosum. Ihr Titelheld, Schwanda, ist ein spielfreudiger Dudelsackpfeifer aus einem südböhmischen Dorf. Aber aus seinem Instrument klingt bis zum Schluss nicht ein einziger Ton. Vielmehr zieht das Orchester alle Register, wenn der sagenumwobene tschechische Wundermusiker auf der Bühne die Backen aufbläst. Statt brummender Borduntöne und durchdringender Pfeifen dringt Symphonisches ans Ohr: folkloristische Melodien und feurige Tanzrhythmen, dicht verwoben in die üppige, teilweise expressiv aufgeraute Sprache der Spätromantik.

Der Räuber Babinsky (Uwe Stickert, Mitte) drängt sich zwischen Schwanda (Piotr Prochera, l.) und dessen junge Frau Dorota (Ilia Papandreou. Foto: Monika Forster)

Mit „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ gelang dem jüdisch-tschechischen Komponisten Jaromír Weinberger 1927 ein Welterfolg. In 17 Sprachen wurde das Werk des Schülers von Max Reger übersetzt. Mehr als 2000 Aufführungen im In- und Ausland erlebte der Zweiakter bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Weinbergers Karriere beendete. Versuche, diese märchenhafte Volksoper wiederzubeleben, gab es in Augsburg (2007), Dresden (2012) und Gießen (2018).

Im Gelsenkirchener Musiktheater erhielt die einst höchst populäre Oper jetzt heftigen Premierenbeifall. Dieser wurde freilich auch durch ein Finale forciert, das den im Ruhrgebiet gerne kultivierten Lokalpatriotismus knüppeldick auftrug – ob mit ironischer Absicht oder nicht, blieb ärgerlich unentschieden.

Babinsky (Uwe Stickert, r.) überredet Schwanda, seine Frau Dorota (Ilia Papandreou) zu verlassen und als Künstler Karriere zu machen. (Foto: Monika Forster)

Doch bis es so weit kommt, findet der niederländische Regisseur und Bühnenbildner Michiel Dijkema spektakuläre optische Entsprechungen für Weinbergers farbige und lebenspralle Musik. In diese Partitur hat der 31-Jährige Komponist solche Mengen verschiedener musikalischer Stile gegossen, dass sie schier aus allen Nähten platzt. Dijkema setzt sie in Bilder um, die dem Publikum manch erstauntes Raunen, ja sogar spontanen Szenenapplaus entlocken. Der Räuber Babinsky überredet Schwanda zu einer abenteuerlichen Reise, die ihn vom bäuerlichen Zuhause ins Reich der Eiskönigin und schließlich in die Hölle führt. In Gelsenkirchen entwickelt sie sich zu einem Farb- und Kostümrausch sondergleichen.

Mit seiner an phantastischen Stoffen geübten Hand entwirft der Niederländer märchenhafte, großartige Tableaus. Er lässt den Chor, als Untertanen der Eiskönigin in leuchtend blaue Kostüme gekleidet, so lange in erstarrter Pose verharren, bis Schwandas Dudelsackspiel das Menschenmeer in Bewegung bringt. Zur zauberischen Atmosphäre trägt auch die Beleuchtung von Thomas Ratzinger bei, der die aufwendig und mit größter Liebe zum Detail gestalteten Röcke, Mäntel, Häubchen und Zylinder auf schneebedecktem Grund zum Strahlen bringt (Kostüme: Jula Reindell).

Platzmangel in der Hölle: Schwanda (Piotr Prochera, vorne rechts) wird für eine freche Lüge bestraft (Foto: Monika Forster)

Über die meterhohe Pyramide aus dicht gedrängten Teufeln und über die große Höllenfuge, bei der Satan persönlich versucht, dem Dudelsack ein paar brauchbare Töne zu entlocken, sei hier nicht allzu viel verraten. Für Auge und Ohr gibt es reichlich zu tun, bis Schwanda mit Hilfe des Räubers Babinsky den Weg zurück zu seiner geliebten Frau Dorota findet. Wo sich das Stück an Motive aus Faust, Orpheus und Robin Hood anlehnt, mag ein jeder für sich herausfinden.

In der nahezu hypertrophen, mehr als zehnminütigen Ouvertüre zeigt die Neue Philharmonie Westfalen zunächst einige Anlaufschwierigkeiten. Aus dem dichten Geflecht der Mittelstimmen klingt manches zunächst behäbig, ja unbeholfen. Aber unter der Leitung von Dirigent Giuliano Betta entwickeln die Musiker zunehmend Schwung und Kolorit. Mit immer größerem Nachdruck machen sie sich zu Anwälten der Partitur, die über alle Wagner-, Puccini- und Janacek-Anklänge hinaus Eigenständiges zu bieten hat und immer wieder mit Überraschungen aufwartet. Mit Beginn der Höllenszene ist dann eine Expressivität erreicht, die durchaus spüren lässt, dass diese Oper zwei Jahre nach der Uraufführung von Alban Bergs „Wozzeck“ entstand. Das akustische Pandämonium, das Weinberger hier auf das Publikum loslässt, wird zu einem teuflischen Hörvergnügen.

Der Teufel (Joachim G. Maaß) versucht, Schwandas Dudelsack ein paar brauchbare Töne zu entlocken (Foto. Monika Forster)

Die Partie des Räubers Babinsky, der mehr als nur ein wohlgefälliges Auge auf Schwandas junge Frau Dorota wirft, ist mit Uwe Stickert überragend gut besetzt. Es ist ein Genuss, wie lyrisch und doch kraftvoll sein Tenor über das Orchester hinweg strahlt – bei größter Natürlichkeit des Ausdrucks. Ebenfalls als Gast ist die Griechin Ilia Papandreou zu erleben, die Dorota einen wendigen, temperamentvollen Sopran verleiht. Diesen kann sie bei Ausbrüchen des Zorns wirkungsvoll erkalten lassen, in der Trauer um den vermeintlich verlorenen Gatten aber auch in Klänge von Schmerz und Sehnsucht tauchen.

Der polnische Bariton Piotr Prochera als Schwanda (Foto: Monika Forster)

Der Bariton Piotr Prochera erweist sich einmal mehr als tragende Säule des MiR-Ensembles. Er gibt einen Schwanda, der sich mit viel Selbstvertrauen in die Brust wirft, im weitgehend fröhlichen Forte aber auch ein wenig eindimensional bleibt. Ob der Titelheld nicht auch andere Facetten abwerfen könnte, bleibt am Premierenabend offen. Petra Schmidt setzt sich als auftrumpfende Eiskönigin wirkungsvoll in Szene, und als Teufel lässt Joachim G. Maaß seiner Lust am Komödiantischen vollen Lauf.

Der von Alexander Eberle glänzend vorbereitete Chor, der viel zum Erfolg des Abends beiträgt, demonstriert Geschlossenheit und Spielfreude. Überlaut klingt seine Stimmgewalt erst in der „Daheim-Apotheose“. Mit ihr pfropft der Regisseur eine Schluss-Szene auf, in welcher der Chor in Alltagskleidung an die Rampe stürmt, während bekannte Gelsenkirchener Stadtansichten auf einen Vorhang projiziert werden. Worauf das Publikum in vorhersehbarer Verzückung tobt. Ja ja, zu Hause ist es doch am schönsten.

(Informationen und Termine: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2018-19/schwanda-der-dudelsackpfeifer/)




In den Abgründen romantischer Existenz: Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ gelingt in Gelsenkirchen großartig

Gelb und Blau, die Farben Werthers, in den Kostümen Jula Reindells für „Hoffmanns Erzählungen“ in Gelsenkirchen. Über verschmähte Liebe und Existenzangst hinaus lassen sich wohl noch andere Berührungspunkte in der Psyche der literarischen Figuren finden. Joachim Bäckström (Hoffmann) im leuchtenden Gelb des Außenseiters inmitten des Chores. Foto: Pedro Malinkowski

Gelb und Blau, die Farben Werthers, in den Kostümen Jula Reindells für „Hoffmanns Erzählungen“ in Gelsenkirchen. Über verschmähte Liebe und Existenzangst hinaus lassen sich wohl noch andere Berührungspunkte in der Psyche der literarischen Figuren finden. Joachim Bäckström (Hoffmann) im leuchtenden Gelb des Außenseiters inmitten des Chores. Foto: Pedro Malinkowski

Das Lied von Kleinzack ist eines jener spöttisch-frivolen Studentenlieder, wie sie heute noch in Verbindungen gesungen werden: einfacher strophischer Aufbau, ein Chor, der den Vorsänger wiederholt. Aber in der dritten Strophe entgleitet dem Sänger die Form. Ein Stichwort genügt und er verliert sich in einer schwärmerischen lyrischen Vision, aus der er nur mit Mühe in die Realität von Lutters Wein- und Bierschänke zurückfindet.

Mit dieser relativ einfachen, aber höchst wirkungsvollen Operation exponiert Jacques Offenbach im ersten Akt von „Les Contes d’Hoffmann“ musikalisch, mit welchem Begriff von Romantik er in seiner ehrgeizigen Oper zu arbeiten gedenkt.

Offenbach erweist sich, je weiter die Forschung zu den Fragmenten des unvollendeten Werks fortschreitet, desto mehr als feinsinniger Kenner romantischer Ideen: Welt- und Selbstverlust des Individuums, gleichzeitig Eindringen in verborgene Schichten der menschlichen Existenz, die Ambivalenz romantischer „Geisterreiche“ im Sinne E.T.A. Hoffmanns zwischen Entsetzen und Erleuchtung, das Bewusstsein von rational nicht steuerbaren Kräften zwischen dem Wunderbaren und dem Dämonischen, die Grenzbereiche von Psychologie und religiösem Glauben, aber auch die Abscheu vor der geistlosen Ordnung eines bürgerlichen Daseins mit seinem materialistischen Pragmatismus und seinem perspektivlosen Aktionismus.

„Hoffmann“-Inszenierungen sind wegen des komplexen gedanklich-geistesgeschichtlichen Überbaus, wegen der stets offenen Frage einer aktuellen Deutung des „Romantischen“, aber auch wegen der unabgeschlossenen Werkgestalt stets heikel und vom Scheitern bedroht. In Wuppertal etwa betonte zu Beginn der Spielzeit ein Experiment den disparaten Charakter des Werks: Die Inszenierung war drei Regisseur(inn)en anvertraut, die ihren Blick unabhängig voneinander auf je einen Akt richteten. Das unterstrich, wie zerrissen diese romantische Welt ist, machte es aber schwer, einen Zusammenhang zu konstruieren. In Essen zeigte – in dieser Spielzeit als Wiederaufnahme – die Inszenierung von Dietrich Hilsdorf, wie man sich „Hoffmanns Erzählungen“ als Drama eines Künstlers, der mit gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen nicht kompatibel ist, vorstellen muss.

E.T.A. Hoffmanns Romantik nahegekommen

Nun hat Michiel Dijkema in Gelsenkirchen als Regisseur und Ausstatter eine Lösung gefunden, die dem Romantik-Begriff Hoffmanns am nächsten kommt. Die Bühne ist zunächst weiß verschlossen, dann zeigt sich der Vorhang als Projektionsfläche. In Schwarz und Weiß erscheinen Szenen, die man wähnt, auf der Bühne gesehen zu haben, oder die geheimnisvoll vorausweisen auf das Kommende. Nüchtern exponiert Dijkema den Schauplatz, der für alle Bilder die Basis ist: Schlichte Tische und Stühle auf einer runden Scheibe, eingeschlossen von einer nach hinten spitz zulaufenden Wand.

Der hoffmanneske Riesenzylinder - hier das Denkmal für den Dichter und Komponisten in Bamberg - kehr auch in den Kostümen von Jula Reindell wieder. Foto: Werner Häußner

Der hoffmanneske Riesenzylinder – hier das Denkmal für den Dichter und Komponisten in Bamberg – kehrt auch in den Kostümen von Jula Reindell wieder. Foto: Werner Häußner

Die Schänke wird nicht verlassen; die Schauplätze der drei Akte sind innere Bilder Hoffmanns. Darauf deuten auch die Studenten hin, die zuerst als schwarze Menge mit riesigen Zylindern à la E.T.A. Hoffmann in den Raum strömen und sich dann als einmal leblos stumme, ein andermal als lebhaft applaudierende oder kommentierende Zuschauer auf oder um die Scheibe gruppieren. Teils Puppen, teils Statisten, sind sie Teil einer uneindeutigen Welt, weder wirklich noch imaginiert, changierend zwischen scheinbar prallem Realismus und sich real gebärdender Phantastik.

Kennzeichen der drei Akte sind Bühnen-Chiffren, die in ihrer surrealen Machart an die Gelsenkirchener Steampunk-Oper „Klein Zaches, genannt Zinnober“ nach E.T.A. Hoffmann erinnern: Zwei riesige Augäpfel mit mechanisch schlagenden Wimpern für Olympia, ein abgebrochener Geigenhals für Antonia, eine (später brennende) schwebende Gondel für Giulietta. Dijkema bricht in diesen Bildern den Realismus immer wieder, ohne den Erzählstrang zu verlassen, bedient sich – wie in den wunderbaren Kostümen von Jula Reindell – einiger Bildsignale aus dem frühen 19. Jahrhundert, so in den Frisuren der Damen im Olympia-Akt.

Widersacher aus unheimlicher Sphäre

Wie Hoffmann literarisch, so führt Dijkema szenisch das Verstörende, das die Fugen der Alltagsrealität sprengt, immer wieder allmählich schleichend ein, manchmal aber auch mit theatralischem Getöse, etwa, wenn sich die Muse aus zischendem Bühnendampf schält – in grünem Tanzröckchen und roter Perücke wie eine Elfe. Lindorf und seine drei Verkörperungen tragen imposante Roben, die den unheimlichen Charakter betonen. Ob Mann, ob Weib, ist bei dem kahlköpfigen Dämon in gewaltigem glitzerndem Schwarz im Vorspiel, in klinischem Weiß im Antonia-Akt und in opulentem Purpur im Venedig-Bild, nicht definierbar. Ein Widersacher aus einer anderen Sphäre, die sich jenseits menschlicher Zuordnungen manifestiert.

Durch die Magie des Singens stirbt Antonia der geordneten bürgerlichen Welt ihres Vaters Crespel (Dong-Won Seo). Der Doktor Miracle (Urban Malmberg) fördert den exaltierten Ausbruch Antonias (Solen Mainguené) in die tödlichen Abgründe romantischer Existenz. Foto: Pedro Malinkowski

Durch die Magie des Singens stirbt Antonia der geordneten bürgerlichen Welt ihres Vaters Crespel (Dong-Won Seo). Der Doktor Miracle (Urban Malmberg) fördert den exaltierten Ausbruch Antonias (Solen Mainguené) in die tödlichen Abgründe romantischer Existenz. Foto: Pedro Malinkowski

Hoffmann selbst erinnert im langen Mantel und später in gelbem Frack – seit dem Mittelalter die Farbe der Außenseiter – an den Dichter. Antonia erduldet die Qualen des Singverbots und die Bedrängnis durch den zwielichtigen Doktor Mirakel als bleiches, hohläugiges Wesen in weißem Gewand wie eine Lucia di Lammermoor am Rande des Wahnsinns – die Ikone von Kunst und Krankheit des 19. Jahrhunderts schlechthin.

Dass Dijkema in diesen Akt ein Spiel mit Cello und Kontrabass einführt – man hat in Gelsenkirchen sogar eine Cello spielende Sopranistin –, hat einen distanzierenden, aber auch symbolischen Sinn: Das Cello erinnert an den Frauenkörper, sein Klang liegt der menschlichen Stimme nahe. Und Giulietta verkörpert mit prallen, gleichwohl künstlichen Brüsten den Heilswahn sexueller Leidenschaft, für den Hoffmann sein Spiegelbild opfert: Schatten, Gesang, Augen – diese Seelensymbole spielen in Dijkemas Inszenierung eine entscheidende Rolle und erschaffen eine Bildwelt, in der folgerichtig wie selten die Ambivalenz der Romantik erschlossen und verdeutlicht wird.

Reaktionsschnell und hochmusikalisch

Die musikalische Seite der Aufführung bleibt hinter dem ambitionierten Rang des Szenischen nicht zurück – vor allem ein Verdienst des leider in Richtung Staatsoper Hannover scheidenden Kapellmeisters Valtteri Rauhalammi. Der Finne hat sich in seinen Dirigaten der letzten Zeit als sensibler Gestalter ohne Allüren erwiesen und findet zu Offenbachs musikalischer Sprache einen sinnigen Zugang. Das ist alles andere als selbstverständlich, denn Offenbach setzt sein Ausdrucksrepertoire beinahe schon polystilistisch ein. Die leichten Schraffuren und rhythmischen Petitessen seiner Buffo-Öperchen sind kombiniert mit der klanglich-melodischen Intensität Gounod’scher Lyrik, dunkel-untergründige Bläserakkorde korrespondieren mit der banalen Hymnik etwa des Choraufzugs des Olympia-Akts, melodisches Schwärmen und mechanische Rhythmik kontrastieren miteinander.

Rauhalammi arbeitet diese Gegensätze heraus, ohne sie zu hart gegeneinander zu setzen, hat Gespür für die weltvergessen sich fortspinnende Melodik des „Kleinzack“-Einschubs oder der glühenden Antonia-Kantilenen, kann die Puppe Olympia wie eine Spieluhr tanzen lassen und hält die Barcarole kitschfrei. Die reaktionsschnelle Neue Philharmonie Westfalen schaltet von einem Moment zum anderen um, strichelt hier leicht dahin und lässt dort ahnungsvolle Bläserakkorde weich und dunkel schimmern. Ein idiomatisch selten gut getroffener Offenbach, gerade weil er sich der Mode des durchgeschlagenen Maschinen-Rhythmus‘ und dem Missverständnis einer ausschließlich „leichten“ Tongebung entzieht.

Tenor-Entdeckung aus Skandinavien

Hoffmann (Joachim Bäckström) in den verführerischen Armen von Giulietta (Petra Schmidt). Foto: Pedro Malinkowski

Hoffmann (Joachim Bäckström) in den verführerischen Armen von Giulietta (Petra Schmidt). Foto: Pedro Malinkowski

Mit Joachim Bäckström hat sich Gelsenkirchen aus Schweden einen wunderbar hellstimmigen, höhensicheren Hoffmann geholt. Der Tenor hat bisher vor allem im skandinavischen Raum gesungen – Malmö, Göteborg, Kopenhagen. Sein Deutschland-Debüt macht mit einer solide fundierten, gut fokussierten, manchmal noch dynamisch etwas unflexiblen, aber leuchtkräftigen und schlank-beweglichen Stimme bekannt. Bäckström dürfte, so mal jemand in die „Provinz“ hineinhört, bald von größeren Bühnen umworben werden.

Dem Gegenspieler Lindorf und seinen Erscheinungsformen haucht Urban Malmberg mit faszinierender Präsenz Bühnenleben ein. Malmberg hatte im Vorfeld der Produktion mit Krankheit zu kämpfen, singt aber fast unbeeinträchtigt sogar seine – nicht von Offenbach geschriebene, aber Musik von ihm verwendende – „Diamanten-Arie“. Dennoch ist zu fragen, ob Malmberg eine vokal passende Besetzung ist: Statt des dramatisch-italienisch orientierten Heldenbaritons wäre eine agile, leichter timbrierte französische Stimme adäquater. Unter den zahlreichen kleineren Partien verdienen die Mitglieder des Jungen Ensembles hervorgehoben zu werden: Marvin Zobel singt als Nathanaël locker, sicher und mit freiem Timbre; auch Tobias Glagau zeigt in den paar Einwürfen des Wilhelm einen schön entwickelten Ton.

Faszination und Dämonie künstlicher Welten: Dongmin Lee als Automat Olympia. Foto: Pedro Malinkowski

Faszination und Dämonie künstlicher Welten: Dongmin Lee als Automat Olympia. Foto: Pedro Malinkowski

Unter den Damen hat es Dongmin Lee am leichtesten, als Olympia mit ihren Acuti und Koloraturen „abzuräumen“ – was ihr mit Charme und darstellerischem Geschick auch gelingt. Am schwersten tut sich Giulietta, aber Petra Schmidt schlägt sich mit der ähnlich wie Mozarts Donna Elvira alles fordernden Partie, ohne sich eine Blöße zu geben. Solen Mainguené geht die Antonia eher hart und grell als weich und schmiegsam an: Das Timbre passt zur Rollenauffassung einer gespenstisch enthobenen, in tödliche Regionen der Existenz abdriftenden Frau. Almuth Herbst ist eine wendig singende, verschmitzte Muse. Chor und Extrachor des Musiktheaters im Revier hat Alexander Eberle – auch im melancholischen a cappella Chor des fünften Akts – auf Präzision und Klangbalance eingeschworen.

„Les Contes d’Hoffmann“ in Gelsenkirchen ist bildmächtiges, beziehungsreiches, tiefsinniges Musiktheater, wie man es sich schlüssiger, schöner kaum wünschen kann. Damit positioniert sich das Musiktheater im Revier erneut mit einem starken Akzent in der Theaterlandschaft Nordrhein-Westfalens, der über die Landesgrenzen hinaus Beachtung verdient.

Vorstellungen am 18., 22., 24., 30. Juni, 9. Juli. Wiederaufnahme am 3. September. Karten: Tel. (0209) 4097 200, www.musiktheater-im-revier.de




Operetten-Passagen (3): Emmerich Kálmáns „Die Herzogin von Chicago“ am Theater Koblenz

Glamour im Halbdunkel: Szene aus der Koblenzer Inszenierung der "Herzogin von Chicago" im Bühnenbild von Michiel Dijkema und mit Kostümen von Alexandra Pitz. Foto: Matthias Baus

Glamour im Halbdunkel: Szene aus der Koblenzer Inszenierung der „Herzogin von Chicago“ im Bühnenbild von Michiel Dijkema und mit Kostümen von Alexandra Pitz. (Foto: Matthias Baus)

Vielleicht passen Operetten wie „Die Herzogin von Chicago“ besser in unsere Zeit als sentimentale Liebesgeschichten mit Friede, Freude, Happy End.

Operetten also, bei denen die Liebe ständig in der Gefahr schwebt, pragmatisch als Strategie für andere Zwecke eingespannt zu werden. Bei denen der Konflikt nicht glücklich verpufft und die romantische Beziehung bestätigt ist. Sondern Stücke, die entlarven, wie gefährdet, wie brüchig, ja wie unmöglich die große Liebe, die unbedingte Leidenschaft seit jeher sind. So wie eben Emmerich Kálmáns Operette von 1928, die auf dem Vulkan der entfesselten „goldenen“ Zeit tanzt und in der die Liebe von den aufsteigenden Dünsten einer ökonomisch grundierten Rationalität erstickt würde – wenn … ja, wenn es nicht die süße Illusion, die willkommene Unwahrscheinlichkeit, die Macht der Erwartung gäbe.

In der „Herzogin von Chicago“ repariert der Film – der Inbegriff der Fiktion in dieser Zeit –, was in der bitteren Realität wohl kaum zu retten wäre: Eigentlich ist die Romanze zwischen dem alteuropäischen Thronfolger in einem bankrotten Kleinstaats und der dollarschweren Erbin eines modernen Wirtschaftsimperiums aus der florierenden Neuen Welt an der Sollbruchstelle, dem Finale des zweiten Aktes, an ihrem schnöden Ende. Der Mann von Adel will herausgefunden haben, dass er lediglich das Objekt einer zynisch-infantilen Wette des verwöhnten Girls mit seinen Freundinnen ist: Gekauft werden sollte in Europa, was dort am schwersten für Geld zu haben ist.

Das königlich sylvarische Schloss ist bereits gekauft und amerikanisiert - der Prinz soll folgen. Marcel Hoffmann (Finanzminister Graf Bojatzowitsch), Emily Newton (Mary) und Christof Maria Kaiser (Charlie Fox junior). Foto: Matthias Baus

Das königlich sylvarische Schloss ist bereits gekauft und amerikanisiert – der Prinz soll folgen. Marcel Hoffmann (Finanzminister Graf Bojatzowitsch), Emily Newton (Mary) und Christof Maria Kaiser (Charlie Fox junior). (Foto: Matthias Baus)

In einer American Bar – damals wohl der Ort, an dem das unwirkliche Leben am heißesten pulsierte – geben sich die beiden einen kühlen Abschied. Das letzte Wort könnte gesprochen und ein tragisches Ende á la Franz Lehár besiegelt sein – da kommt der Film, der Traum auf Zelluloid, zum Zuge: Weil die „Herzogin von Chicago“ ein toller Stoff sei, brauche die „Geschichte nach dem Leben“ ein Happy End, um einen erfolgreichen Film abzugeben, verkündet Studio-Generaldirektor Charlie Fox junior: Das Leben gleitet in die Illusion, die Realität in die Fiktion, die Tatsachen in die Erwartung. Ob am Ende ein Film-Finale zu sehen ist oder eine Episode zweier Menschen, die sich verfehlt haben, zu Ende geht – wen interessiert’s? Hauptsache, der Film passt.

Walzerseligkeit vs. Charleston

Kálmán und seine geschickten Librettisten Julius Brammer und Alfred Grünwald haben mit diesem Kniff ein wenig an das Spiel mit Illusionen angeknüpft, das sie schon für ihre Erfolgsoperette „Die Bajadere“ ein paar Jahre vorher (1921) erfunden haben. In der „Herzogin von Chicago“ prallen zwei Welten aufeinander, repräsentiert durch Tanzmusik. Hier das walzerselige Wienerlied und der ungarische Csárdás, dort die neuen Modetänze, der Slowfox und der amerikanische Charleston. Die unterschiedlichen Kulturen manifestieren sich in Rhythmen und musikalischer Farbe. Orchester und „Jazz“-Band auf der Bühne, schwärmende Streicher und schmeichelnde Saxophone.

Kálmán versöhnt die musikalischen Sphären nicht. Aber er transzendiert sie: Wenn die kesse Amerikanerin ihre oberflächliche Vergnügungslaune hinter sich lässt, wenn der europäische Adlige seine verstockten Vorbehalte vergisst, versetzt die Musik die beiden in ein Fantasie-Land jenseits ihrer Lebenskulturen: „Komm in mein kleines Liebesboot, du Rose der Prärie“ singt Prinz Sandor Boris in exotisch-pentatonischem Touch sich und seine Geliebte hinein in ein fernes, untergegangenes indianisches Amerika. Dort, jenseits ihrer Kulturen, wo das „Ursprüngliche“ gegenwärtig ist, dort können sie ihre Liebe unbeschwert leben, sich „küssen bis zum Morgenrot“.

Die Figuren beim Wort genommen

Eine überraschende Lösung jenseits aller Operettenklischees – und Michiel Dijkema arbeitet in seiner Inszenierung am Theater Koblenz heraus, wie weltenthoben dieser Traum-Raum der Liebe ist: rotes Licht, Ethno-Anklänge, eine Sphäre fernab vom Glamour des mondänen „Grill americain“ und der marmornen Kühle des fürstlichen Adelssitzes.

Die Genauigkeit, mit der der niederländische Regisseur auf die szenischen Abläufe und die Entwicklung seiner Figuren schaut, bekommt der Operette ausgezeichnet. Dijkema – in NRW mit einer „Salome“ in Wuppertal und durch die Uraufführung von „Nahod Simon“ von Isiora Žebeljan (2015) in Gelsenkirchen aufgefallen – hält sich von der erzwungen lustigen antiquierten Operetten-Seligkeit ebenso fern wie vom bemühtem Überbau beflissener Operetten-Retter; er nimmt die Menschen im Stück einfach beim Wort und setzt ihre Intentionen und Gefühle – auch die unausgesprochenen – in treffende Körpersprache um.

Das macht die abnehmende Drehzahl, mit der die energische Milliardärstochter Mary durch ihr Leben wirbelt, ebenso glaubwürdig wie das aristokratisch resignierte Beharrungsvermögen des Erbprinzen aus dem Operettenstaat Sylvarien. Mit Emily Newton, derzeit auch in Dortmund in der „Blume von Hawaii“, und Mark Adler hat das Koblenzer Theater zwei prägnante Darsteller, die sich manchmal stimmlich allerdings zu sehr im Aplomb der Oper verirren.

Gelsenkirchens GMD am Pult

Bei Haruna Yamazaki und Peter Koppelmann als Buffopaar musste man diese Sorge nicht haben: Die Prinzessin Rosemarie aus einem ebenfalls finanzknappen Nachbarstaat und der amerikanische Tausendsassa im Dienste der verwöhnten US-Lady finden in schönster Buffo-Manier tanzend und trällernd zusammen. Das Ensemble engagiert sich in den zahlreichen kleineren Rollen mit Hingabe; auch der Koblenzer Chor, einstudiert von Ulrich Zippelius, und die Choreografien von Steffen Fuchs tragen ihren Teil zum Gelingen dieses erfreulich lockeren, dennoch präzis gestalteten Operettenabends bei.

In besten Händen ist Kálmáns opulente Musik bei Rasmus Baumann. Der Gelsenkirchener GMD begibt sich – wie in seinem Stammhaus mit der „Lustigen Witwe“ – vorurteilsfrei in die anspruchsvollen „Niederungen“ des Genres, schenkt den pfiffigen Rhythmen und den Ausdruckskontrasten zwischen der groß besetzten Jazz-Combo auf der Bühne und dem luxuriös besetzten Orchester im Graben volle Aufmerksamkeit.

Die Rheinische Staatsphilharmonie bringt die Schlager aus Kálmáns unerschöpflichem melodischem Erfindungsgeist manchmal etwas grob und lautstark zu Gehör, aber die rhythmische Flexibilität, die Balance der Farben, der drängende Schwung und der variable Klang hinterlassen einen rundum überzeugenden Eindruck.

Es zeigt sich immer wieder: Theater in der Größe von Koblenz tragen, wenn sie nicht die vermeintlich sichere Nummer des Gängigen ziehen oder von ökonomischen Zwängen erdrosselt werden, eine unverzichtbare Farbe zur deutschen Theaterlandschaft bei. Diese „Herzogin von Chicago“ wird das Publikum an Rhein, Mosel und Lahn prächtig unterhalten und darf für Operettenfreunde von außerhalb bedenkenlos als Reiseziel am Karnevals-Wochenende empfohlen werden.

Die nächsten Vorstellungen: 22., 24., 26. und 27. Februar.
Karten online oder telefonisch unter (0261) 129 28 40.

Info: www.theater-koblenz.de