„Egal wohin, Baby“ – 70 Mikroromane von Christoph Ransmayr
Der Autor ist zu einer Lesung in Ingolstadt eingeladen, aber der Zug hat Verspätung. Also hetzt er im Laufschritt Richtung Kulturzentrum, das in einer Lagerhalle untergebracht ist. Da sieht er an einer Wand der Halle einen mit weißer Farbe gesprayten Spruch, der ihn innehalten und die Kamera zücken lässt: „Egal wohin, Baby“.
Stammen die Worte von einem Alltagsphilosophen, einem Dichter, der seiner Geliebten an jeden Ort der Welt folgen will? Oder will er sagen: Egal wonach man sich sehnt und wohin man flieht, man findet ohnehin überall dasselbe? Nach der Lesung zieht es den Autor zurück zur Wand und zum seltsamen Spruch, doch als ihm dort der vermeintliche Dichter mit Spraydose über den Weg läuft, hält der ihn für einen Gesetzeshüter und nimmt Reißaus. Bloß weg! „Egal wohin, Baby.“
In aller Welt unterwegs
Christoph Ransmayr ist ständig unterwegs, verwandelt seine Reise-Eindrücke in Literatur. „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die letzte Welt“, „Der fliegende Berg“, die Liste ist lang. „Egal wohin, Baby“ versammelt siebzig als „Mikroromane“ bezeichnete Geschichten: literarische Schnappschüsse. Zu ihnen gesellen sich siebzig Schwarz-weiß-Fotos, die er ohne gestalterischen Aufwand gemacht hat, im Vorübergehen: optische Notizen. Sie dienen der bildhaften Erinnerung und kommentieren die literarischen Texte, die er unter dem Namen „Lorcan“ verfasst hat, um zum Erlebten auf Distanz zu gehen und sich von einem „erschöpften Touristen“ in einen „gelassenen Erzähler“ zu verwandeln.
Die Spuren monströser Verbrechen
An Bord eines russischen Eisbrechers reist er von Murmansk bis zum Nordpol. Auf den Osterinseln philosophiert er über das Rätsel der riesigen Steinskulpturen. In Indien nimmt er an einem Elefantenfest teil. Er staunt über die Sonnen-Pyramiden der Azteken, besucht eine abgelegene Pazifikinsel, die einst Meuterern der Bounty Unterschlupf gewährte und Daniel Defoe zu seinem Roman über Robinson Crusoe inspirierte.
Immer wieder entdeckt „Lorcan“ die Spuren von Verbrechen: In Kambodscha steht er vor Bergen mit Knochen und Schädeln der Opfer des Pol-Pot-Regimes. In Litauen stapft er auf den „Berg der Kreuze“, der an die von Besatzern angerichteten Schrecken erinnert. Bei Neapel geht er der Geschichte von SS-Schergen nach, die in Italien Massaker befohlen hatten und eine lebenslange Haft in der Festung Gaeta verbringen sollten, aber bald schon wieder frei kamen und in Neo-Nazi-Kreisen verehrt wurden.
Wie ein Homer unserer Tage
Auch reist er nach Griechenland, die Wiege aller Sagen und Legenden, spürt der „Ilias“ und der „Odyssee“ nach und wird zu einem Homer unsere Tage, der das Überlieferte und Ungesicherte ins Heute schmuggelt. Einmal ist Lorcan mit einer Reisegruppe in den Wäldern zwischen Uganda und dem Kongo unterwegs. Nach langer Wanderung in rauschendem Regen hockt plötzlich vor ihnen ein riesiger Gorilla, ein wohl zweihundert Kilo schwerer „Silberrücken“.
Was der Gorilla lehrt
Nachdem sie ihre Angst überwunden haben, versuchen sie das Räuspern und Grunzen nachzuahmen, das unter Gorillas als Zeichen von Vertrauen und freundlichem Interesse gilt. „Der Silberrücken“, schreibt Lorcan, „hörte diesem Grunzen fast nachsichtig zu und sah seinen Besuchern in die Augen, so lange und so tief hinab in ihre Seelen, daß sie mit einem Mal ganz die Seinen waren, und ließ seine Gäste jenen Laut hören, den sie vergeblich nachzuahmen versucht hatten. Er räusperte sich. Er grunzte sanft. Und das bedeutet: Es ist gut. Alles ist gut.“ Voller Demut stehen wir vor Größe und Schönheit der Schöpfung.
Christoph Ransmayr: „Egal wohin, Baby“. Mikroromane. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 256 Seiten, 28 Euro.