Moers ist ganz woanders – eine Nachlese zum Festival

Mit Sorge sahen langjährige Besucher der Zukunft ihres Festivals entgegen. Im vorigen Jahr waren der Künstlerische Leiter und der Geschäftsführer des Moers Festivals nach Querelen mit den Stadtobersten vorzeitig aus ihren Verträgen ausgestiegen. Es ging um Geld, um einen Anteil der Stadt an dem von vielen Seiten geförderten Festival, aber auch, wie schon öfter in der wechselvollen 45-jährigen Geschichte, um die Vermittlung zwischen den hohen künstlerischen Ansprüchen der Festivalmacher und den Interessen der Stadtbewohner.

Festival-Plakat (© Moers Festival)

Diese begegneten mitunter nie gesehenen Gestalten, von denen manche den Namen ihrer Stadt „Mars“ aussprachen und ihrerseits von einem fremden Planeten, auf dem man ein seltsames Verständnis von Musik hatte, zu stammen schienen. Während der Parkplatz vor der Haustür, eine der verständlichen Hauptsorgen der Anwohner, eher von Fahrzeugen aus Münster, Bonn oder den benachbarten Niederlanden zugestellt war.

From Mars to Moers

„Jemand, der sich schon lange aus dem Jazz verabschiedet hat (…) und der ganz woanders ist“, diese Worte wählte Tim Isfort, der neue Künstlerische Leiter, als er am Samstagabend den Ausnahmekomponisten Anthony Braxton ankündigte. Ganz woanders sein, zumindest für die Dauer von vier Tagen, das möchten auch viele der Moers-Pilger – nicht in einer mittelgroßen Stadt am Niederrhein, sondern auf einem den Kosmos musikalischer Möglichkeiten erkundenden Raumschiff. So treffen seit Anbeginn diejenigen, die Moers als Metapher der Grenzenlosigkeit verstehen, auf Menschen, die ganz konkret hier leben.

Vom neuen Festivalleiter erwarten die Stadtväter nicht mehr und nicht weniger, als die verschiedenen Welten einander näherzubringen. Seinem ersten Programmheft stellt Tim Isfort ein 1978 entstandenes Foto voran, das ihn, auf seinem Bonanzarad stehend, mit seiner Familie am Bretterzaun des Festivals zeigt: Er ist ein Kind der Stadt; hier, ganz nah am jährlichen Festival, ist er aufgewachsen.

Auch Anthony Braxton ist in Moers ein alter Bekannter – in den Jahren von 1974 bis 1978 trat er hier regelmäßig auf – und zugleich ein noch zu entdeckender großer Unbekannter. Braxton schreibt täglich Musik, hat mehr als zweihundert Alben aufgenommen, ist mit Jazz und Neuer Musik gleichermaßen vertraut, kombiniert Notation und Improvisation und ist vor allem ein Freigeist.

Braxton-Projekt so komplex wie Stockhausens „Licht“-Zyklus

Braxtons Opernprojekt mit 36 Teilstücken ließe sich in Dauer und Komplexität mit Stockhausens Zyklus „Licht“ vergleichen. Seine Kompositionen Nr. 169 aus dem Jahr 1992 und Nr. 199 von 1997 aus dem Konvolut „Ghost Trance Music“ wurden am 20. Mai dieses Jahres im Großen Sendesaal des WDR vom Ensemble Musikfabrik in Braxtons Abwesenheit, aber mit seinem langjährigen Mitarbeiter, dem Trompeter Taylor Ho Bynum, als Gastmusiker, der die schwierigen Passagen auch dirigierte, aufgeführt.

Anthony Braxton begeisterte am Samstagabend. (© Moers Festival)

Eingerahmt waren seine Stücke von Werken ähnlich anspruchsvoller Komponisten, Harrison Birtwistle und Richard Barrett. Keine leicht zugängliche Musik, aber wohl wenige Erdenbewohner fassen die Welt so durch und durch musikalisch auf wie der Verfasser des 1.700-seitigen Manifests mit dem Titel Tri-Axium Writings. Entsprechend groß waren die Erwartungen an sein einziges Konzert in Europa in diesem Jahr, und sie wurden nicht enttäuscht.

Anthony Braxton reiste mit dem ZIM Sextet aus den USA an; ein Gastauftritt der Saxophonistin Ingrid Laubrock erweiterte die Formation an diesem Abend zum Septett. Zur Aufführung kam ein hochkomplexes Werk für zwei Harfen, Cello, Tuba, verschiedene Saxophonformen einschließlich des riesigen Kontrabasssaxophons und Klarinetten sowie mehrere Blechblasinstrumente (Trompeten, Posaune, Flügelhorn, Kornett), die Taylor Ho Bynum spielte. Eine Komposition mit Noten und Freiräumen zur Improvisation, zusammengehalten durch ein gestisches System der Verständigung. Ein Konzert der Meisterklasse.

Empfehlung: Swans leise hören

Als Anthony Braxton nach einer kurzen Zugabe seinen Auftritt beendete, bereit, mit einigen Freunden in seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag hineinzufeiern, waren die Swans auf ihrer Abschiedstour soeben aus Barcelona eingetroffen. Trotz längerer Umbaupause und Soundcheck konnte der Auftritt zur angekündigten Uhrzeit 23:11 beginnen (fast alle Anfangszeiten im Programmheft wirkten wie gewürfelt).

Zuvor hatten die Zuhörer ausreichend Gelegenheit, sich mit Ohrstöpseln zu versorgen. Der Schaumstoff in den Ohren ließ das Gewitter aus drei Gitarren, zwei Keyboards und einem unentwegt wirbelnden Schlagzeuger zwar dumpfer, jedoch nicht spürbar leiser klingen. Im Publikum vor der Bühne sah ich eine einzelne Frau ausgelassen tanzen. Vielleicht reagierte sie angemessener auf die in der Lautstärke angelegte physische Destruktion als wir Vorsichtigen in den hinteren Stuhlreihen, die wir uns von den vibrierenden Lehnen den Rücken massieren ließen. Auch der Sänger der Swans arbeitete wie Braxton mit Gesten, aber die seinen dienten weniger der Kommunikation mit den Mitmusikern; er schien vielmehr seine Fans beschwören oder verhexen zu wollen.

Ich verließ die Festivalhölle nach etwa einer halben Stunde und schaffte es, zu Hause im Livestream nicht nur das Ende des Auftritts, sondern auch die während der Autofahrt verpassten Teile nachzuhören – und stellte bei selbstbestimmter Lautstärke fest, es steckten sehr wohl Feinheiten in dem massiv wirkenden Sound, die mir zuvor mit Ohrstöpseln und zusätzlich zugehaltenen Ohren entgangen waren. Swans-Fans werden mich für den wohlmeinenden Rat, ihre Musik in Zimmerlautstärke zu hören, steinigen wollen, denn, wie der Frontman der Gruppe, Michael Gira, im Programmheft zitiert wird, wirke die Musik durch ihre Energie, „seelisch beflügelnd und körperlich zerstörend“.

Kommerzielles Kalkül und künstlerisches Konzept

Diese beiden gegensätzliche Auftritte am Samstagabend – die schnell gespielten kleinen, feinen Töne Anthony Braxtons und die betäubende Lautstärke der Swans – mögen stellvertretend stehen für eine nur allzu auffällige Eigenart des diesjährigen Festivals, die mindestens ebenso sehr kommerzielles Kalkül sein dürfte wie künstlerisches Konzept. Um es in der Sprache von Online-Shops zu sagen: Wer Anthony Braxton mag, dem wird vermutlich auch Miller’s Tale gefallen, das Trio mit der großartigen Pianistin Sylvie Courvoisier aus der Schweiz, dem britischen Saxophonisten Evan Parker, der zuletzt 2012 mit Rocket Science in Moers auftrat, und der Japanerin Ikue Mori an der Elektronik (sie war hier 2013 mit John Zorns „Electric Masada“ zu erleben).

Und wer sich Karten für diese beiden Auftritte kaufen würde, ließe sich sicherlich auch für die beiden Kompositionen „Vogelfrei“ und „Contemporary Chaos Practices“ von Ingrid Laubrock begeistern, die am Pfingstmontag mit dem EOS Kammerorchester Köln aufgeführt wurden, das erste Stück zusätzlich mit zwei Chören, das zweite als Kompositionsauftrag der Kunststiftung NRW eine Welturaufführung.

Verschiedene Schnittmengen im Publikum

Das gleiche Zielpublikum wird auch bereits am Freitagabend dem Auftritt des Streichquartetts um Carolin Pook mit Genuss gelauscht haben, das mit seinem Programm „cosmic string time travel“ auf das New Yorker Powertrio Spacepilot traf. Vier großartige Konzerte für einen bestimmten Teil des Publikums, eventuell auch fünf, wenn man das medidativ-minimalistische Saxophonquartett Battle Trance aus New York hinzunimmt. Bezeichnenderweise fanden diese Konzerte an vier verschiedenen Tagen statt, sodass das Festivalticket die preisgünstigste Option war.

Unmittelbar vor oder nach solchen Höhepunkten standen Musiker auf der Bühne, die eine andere Schnittmenge im Publikum ansprachen. Ich kann mir vorstellen, dass Verehrer der Swans dem Auftritt der belgischen Crust Punks von Cocaine Piss mehr Lustvolles abgewannen als manche Hörer neuer Kammermusik, für die Aurélie Poppins‘ Kreischen geklungen haben könnte, als habe sich die Sängerin einen Finger in der Autotür eingeklemmt, vierzig Minuten lang. Doch freilich schickt der Künstlerische Leiter nicht einfach irgendeine Punkband auf die Bühne. Er brachte die vier Crusties aus Liège mit der dänischen Saxophonistin Mette Rasmussen zusammen, die ihr Instrument so punkgemäß malträtierte, dass beides gut zueinander passte.

Jedem sein eigenes Moers

„Ich bin sicher, dass nach den vier Festivaltagen jeder ‚sein eigenes Moers‘ erlebt haben wird“, schreibt Tim Isfort in der Einleitung des Programmhefts. Die Vielfalt an musikalischen Stilen war auf dem Festival selbstverständlich sehr viel reicher, als die bisher genannten Beispiele vermuten lassen. Da war das Dub Trio aus den USA, das genau die Musik spielte, die der Name der Band versprach. Es waren neue Kostproben aus der Singer-Songwriter-Szene zu hören, von der 21-jährigen Julien Baker in der Kirche St. Josef, oder von Brian Blade, der eigentlich Schlagzeuger ist, aber für sein Projekt Mama Rosa als Sänger mit Gitarre auf die Bühne der Festivalhalle kam, begleitet von fünf Musikern.

Stimmgewaltig und theatralisch präsentierte sich Dorian Wood am Piano, der seine ersten Auftritte in der Gay-Bar-Szene von Los Angeles hatte. Er sang, vielmehr: er performte seine Songs auf Spanisch, Englisch und Bulgarisch, unterstützt von dem sechsköpfigen Ensemble CRUSH, bestehend aus vier Streichinstrumenten, Akkordeon und E-Gitarre. Einen bewegenden Song widmete er den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.

Dorian Wood widmete einen Song den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.
(© Moers Festival)

Und es war auch weiterhin gediegener Altherren-Jazz auf dem Festival vertreten, etwa von der isländischen Formation ADHD oder von The Bad Plus aus den USA.

Dagegen hoben sich erfrischend einige jüngere deutsche, österreichische oder belgische Jazzer ab, das Quartett Philm des Berliner Saxophonisten Philipp Gropper etwa, das Trio De Beren Gieren und nicht zu vergessen: der diesjährige „Improviser in residence“ in Moers, John-Dennis Renken. Mit seiner Gruppe „Tribe“ spielte er unter anderem drei Stücke, die er für seine kleine Tochter geschrieben hat, die am Samstag ihr erstes Konzert besuchte. Eines der Stücke heißt „Quatschkopp“ und klingt ziemlich chaotisch, ein anderes, „Charlie‘s Lullaby“, langsamer und sehr emotional. Dennoch: Charlotte muss ein ganz besonderes Kind sein, wenn es ihr gelingt, zu der Musik ihres Papas einzuschlafen. Moers war, für diejenigen, die lange genug im Saal blieben, ein Wechselbad der Gefühle.

Likembe ekuba und die Bohrmaschine

Zu den temperamentvollsten Auftritten gehörte am späten Sonntagabend die kongolesische Gruppe Radio Kinshasa mit der kraftvollen Sängerin und Trommlerin Huguette Huguembo und dem ausdrucksstarken Sänger und Performer Strombo, der seine Instrumente selbst baut. Sie tragen Namen wie likembe ekuba, clavier mesa oder guitard miliki.

Die beiden und drei weitere afrikanische Perkussionisten/Drummer spielten zusammen mit FM Einheit, alias Frank-Martin Strauß, langjähriges Mitglied der Einstürzenden Neubauten, der seine Instrumente ebenfalls selbst herstellt, meterlange Metallspiralen, die er auf der Bühne mit dem Elektrobohrer bearbeitet, oder ein Blech mit Steinen. Dazu spielte der Tenorsaxophonist und Pianist Pavel Arakelian, der an seinem Wohnort Minsk nicht allein von der Musik leben kann und sich ein Zubrot als Bodybuilder verdient. Der Trompeter Markus Türk vervollständigte den energiegeladenen Auftritt von Radio Kinshasa, der im Programm an der Stelle stand, an der früher die African Dance Nights stattfanden. Die Musik lädt nicht nur ein, sie treibt das Publikum geradezu zum Tanzen.

Ausblick

Viele gute Ideen sind in der kurzen Vorbereitungszeit von nur fünf Monaten realisiert worden, und das bei spürbaren finanziellen Einschnitten, die Tim Isfort auf der Bühne ansprach. Aber auch die eingangs erwähnten Sorgen sind nicht unberechtigt. Freunde des Festivals hoffen, dass Moers keine ähnliche Entwicklung wie das benachbarte Traumzeit-Festival nehmen wird, dessen künstlerische Leitung nach der Trennung von Tim Isfort 2012 vom Festivalbüroleiter der Duisburger Marketing Gesellschaft zusätzlich zur kaufmännischen Leitung übernommen wurde und seitdem mit erheblichen Zugeständnissen an den Mainstream fortgeführt wird. Für dieses Jahr jedenfalls erwies sich die Befürchtung, das Moers Festival könnte zu viele Kompromisse eingehen, als unbegründet. Doch andererseits sollte der Wunsch nach Besonderheit nicht in einem Kuriositätenkabinett sämtlicher Musikstile münden.

Deutlicher noch als Vorgänger Reiner Michalke hat die neue Programmleitung das Festival an verschiedene Spielorte verlagert, in die Innenstadt, in den Park, wo Kunstinstallationen zu sehen waren, ins Festivaldorf; moersify nennt sich eine der Reihen. Auch innerhalb der Festivalhalle sucht Isfort neue Formen, wie die discussions, Sessions, die in einer Art Boxring im unteren Teil der Tribüne stattfanden.

Auf der Startseite des Moers Festivals ist im Newsletter zu lesen, das gesamte Team freue sich sehr darauf, „nächstes Jahr mehr Zeit zu haben für – – – Alles!“ Das lässt hoffen.

Das vollständige Programm kann auf der folgenden Website nachgelesen werden: www.moers-festival.de/programm/programmuebersicht/




Können Saxophon-Klänge politisch sein? Eindrücke vom Moers Festival

Saxophone in verschiedenen Stimmlagen waren diesmal die dominierenden Instrumente der Festivaltage in Moers.

Sowohl Hayden Chisholm, Improviser in Residence Moers 2015, als auch Colin Stetson, Artist in Residence für die vier Festivaltage, sind herausragende Saxophonisten. Zusätzlich hat Hayden Chisholm angeregt, mit Frank Gratkowski, der am Pfingstmontag in der Formation Z-Country Paradise auftrat, einen seiner wesentlichen Lehrer des Instruments einzuladen. Hayden Chisholm eröffnete das Festival mit einer meditativen Komposition, die es ermöglichte, vom Stress der zurückliegenden Arbeitswoche zu relaxen und ganz auf dem Festival anzukommen. Einfach schön – genauer gesagt: in angenehmer Weise höchst ausgetüftelt schön.

Saxophonist der Sonderklasse: Colin Stetson. (Foto: © Frank Schemmann)

Saxophonist der Sonderklasse: Colin Stetson. (Foto: © Frank Schemmann)

Wie Frank Zappa einmal einen Musiker, der in seiner Band mitspielen wollte, gefragt hatte „What can you do that‘s fantastic?“, so scheint Reiner Michalke auch das Programm für das Moers Festival zusammenstellen. Jedes einzelne Konzert beantwortet die Frage auf die eine oder andere Weise. Da Moers auch in diesem Jahr die ganze Bandbreite des New Jazz vom Solisten bis zum Orchester mit 80-köpfigem gemischtem Chor, vom Tanzbaren bis zum kaum Hörbaren, aufzeigt und längst über die Grenzen des Genres weit hinausgeht, kann in diesem Beitrag nur ein Teil des durchweg sensationellen und berichtenswerten Programms besprochen werden.

Exzeptionell, so dass sich geradezu der Eindruck aufdrängte, bei der Entstehung einer der Legenden von morgen dabei zu sein, waren die vier Aufritte von Colin Stetson – solo, im Duo, in einer Drei-Mann-Formation und im kleinen Orchester aus zwölf Personen. Mit Sarah Neufeld im Duo war Colin Stetson bereits vor einem Jahr im Nachtprogramm des Moers Festivals zu erleben. Für den Auftritt im Hauptprogramm 2015 haben die beiden ihr Repertoire nochmals erweitert. Ein glückliches Zusammenspiel, aber auch mit eingefügten Solo-Stücken. Sarah Neufeld, Geigerin der Gruppe „Arcade Fire“ und Gründungsmitglied des sechsköpfigen „Bell Orchestre“, präsentierte bereits einen Titel ihres nächsten, noch unveröffentlichten Soloalbums. Stetson, der mit seiner perfektionierten Zirkularatmung minutenlang Arpeggio-Bögen spielt, dabei ins Saxophon singt und schreit, es wie ein Urtier rufen lässt und mit den Klappen seines Instruments zugleich die Percussion liefert, ist ein Phänomen.

Einen Kontrast bildete an dem Abend die deutsche Viermanngruppe „The Nest“. Christoph Clöser, auch er Saxophonist, der sich am Freitag aber auf die Klarinette beschränkte, spielt seit 1997 bei „Bohren & der Club of Gore“ und prägte entscheidend die Richtung des Doom Jazz. Mit dem Seitenprojekt „The Nest“ klingt er weniger düster, zeigt jedoch umso mehr, dass er, wie lange schon vermutet wurde, in der Oberliga der Jazzwelt mitspielen kann.

Ein weiterer Vorzug von Moers ist es, einen der Musiker, die mit Bohren stets unsichtbar auf finsterer Bühne agieren, überhaupt einmal zu Gesicht zu bekommen. Das Schlagzeug wurde um einen mit leeren Glasflaschen gefüllten Getränkekasten erweitert. Thomas Mahmoud stampft mit dem Kasten auf oder tritt clownesk-trotzig gegen ihn; das kommt beim Publikum gut an. Wenngleich er während des Konzerts seinen Platz am Schlagzeug nicht verlassen hat, lautet die Instrumentenangabe im Programm zutreffend nicht „drums“, sondern „vocals, effects“. Mit seinem „Amore, amore, amore“ verbreitete er den Ohrwurm des Festivals.

Bleiben wir noch kurz bei den Männerbands. Das norwegische Duo „sPacemoNkey“ mit Morten Qvenild – bekannt durch Jaga Jazzist – an den Keyboards und Gard Nilssen, hochenergetisch am Schlagzeug, brachten abwechslungsreichen improvisierten Jazz.

Ein noch überzeugenderes Beispiel für ständig unter Strom stehende Männer boten anschließend „Pulverize the Sound“ – mit dem ruhelosen Trompeter Peter Evans und den ebenso hart und laut arbeitenden Tim Dahl am Bass und Max Jaffe an den Drums.

Dass aber die sicht- und hörbare körperliche Anstrengung eines Männer-Trios nicht auch für die Zuhörenden anstrengend sein muss, machte wieder einmal der Artist in Residence, Colin Stetson, deutlich, der mit Trevor Dunn am Bass und dem Schlagzeuger Greg Fox konzentrierte Glücksschübe an die Zuhörenden abgab.

Erstklassig war auch „Eivind Opsvik Overseas“, die Formation des norwegischen Bassisten, der nach New York gezogen ist. Der Oud-Spieler Ziad Rajab führte hingegen mit dem Neuseeländer James Wylie am Saxophon und dem Griechen Kostas Anastasiadis am Schlagwerk das Publikum in arabische Musikwelten.

Von Frauen geleitete Big Bands und Orchester

Im vorigen Jahr lud Festivalleiter Reiner Michalke mit Ava Mendoza, Julia Hülsmann und Johanna Borchert drei Frauen ein, die jeweils ein Quartett leiteten. In diesem Jahr leiten drei andere Frauen richtig große Formationen. Eve Risser aus Paris, Sara McDonald aus New York und Sofia Jernberg aus Stockholm.

Jeder der vier Festivaltage vom 22. Bis 25. Mai begann mit einem Orchester, bzw. einer Big Band. Eve Risser brachte am Samstag neben ihren Instrumentalisten einen 80-köpfigen gemischten Chor mit, für den sich die Bühne der Festivalhalle als zu klein erwies und der zeitweise aus einem der Gänge zwischen den Sitzreihen dirigiert wurde. Hymnische Klänge. Sara McDonald eröffnete mit den jungen Musikern der Big Band der Hochschule für Musik und Tanz Köln den Pfingstsonntag. Sofia Jernberg kam mit dem Trondheim Jazz Orchestra und dem Geiger Olav Mjelva. Jernberg folgt einer Tradition des Moers Festivals, für die es bereits in den vergangenen Jahren gute Beispiele gab, Stimmkunst über das hinaus, was üblicherweise als Gesang bezeichnet wird.

Darüber sollen aber die nicht von Frauen geleiteten Großformationen nicht unerwähnt bleiben, wie die von Michael Mantler, der „The Jazz Composer’s Orchestra Update“ mit der „Nouvelle Cuisine Big Band“ und dem „Radio String Quartet“ in Moers vorstellte. Oder Mikko Innanen aus Finnland, dessen aktuelle Big Band sich „10+“ nennt.

Wie Jazz auf aktuelle Fragen der Zeit reagiert

In seinem Vorwort auf der Festival-Website beschreibt der künstlerische Leiter, Reiner Michalke, in knappen Worten das Auseinanderdriften der Welt – Terror, Krieg und Vertreibung, und auf der anderen Seite die Rauschzustände der Finanzspekulanten. Er spricht von der dem Festival „angeborenen Selbstverpflichtung zur Aktualität“ und vom künstlerischen Mandat der eingeladenen Musikerinnen und Musiker, Antworten auf die drängenden Fragen zu finden. Ist das von der Musik zu viel erwartet? Nein. Das Festival hat in seinem Verlauf verschiedene Antworten nahegelegt.

Am offensichtlichsten sind wohl die internationalen Zusammensetzungen und Kooperationen, bei den Orchestern sowieso, aber auch unter den Trios oder Quintetten – bestes Beispiel vielleicht das „Ziad Rajab Trio“, dessen Musiker aus Aleppo (Syrien), Neuseeland und Griechenland stammen und die heute alle drei in Thessaloniki leben. Im Weltmaßstab hat Verständigung über Musik immer schon gut funktioniert (besser als zum Beispiel in häuslicher Nachbarschaft).

Aber auch in einem ganz anderen Sinne wird das Politische deutlich. Colin Stetson führt vielleicht mehr als jeder andere Künstler, der auf dem Festival aufgetreten ist, den Zuschauern die körperliche Kraftanstrengung vor Augen, die solche Musik erfordert. Vor jedem Stück muss er Luft holen wie ein Apnoe-Taucher vor dem Sinken in die blaue Tiefe (und blau ausgeleuchtet war auch die Bühne).

Erwartete das Publikum vom Künstler nicht immer schon, dass er alles gibt, und ist nicht die Haltung, seinen Mitmenschen etwas Unbezahlbares geben zu wollen, politisches Handeln? Niemand versinnbildlichte auf dem Festival so sehr wie Colin Stetson das Alles-Geben als Gegenmodell zu jener desaströsen Ökonomie-Auffassung, die nur dem Planeten alles entnimmt.

Nicht zuletzt wurde auch in Moers eine altbekannte Wirkungsweise von Musik wieder intensiv spürbar – ihre Emotionalität und Pathosfähigkeit, die es nicht nur schafft, Gefühle zu verarbeiten, sondern die auch Gefühle auszulösen vermag. Das wurde während des Festivals vielleicht an keiner Stelle so deutlich wie in Colin Stetsons Referenz an den Komponisten Henryk Górecki und seine Symphonie No. 3, opus 36, deren drei Sätze jeweils ein Klagelied beinhalten. Ergreifend. Die klassische Komposition von 1976 erweist sich als eine der aktuellsten. Pathos als Gegengewicht zum kalten Kalkül. Das ist vielleicht das Politischste an Musik, ihre Fähigkeit zu jenem Mitleiden, das den Finanzspekulanten ebenso zu fehlen scheint wie den Waffenproduzenten und Kriegstreibern.




Schreie und heilige Stimmen beim Jazz-Festival in Moers

Was war in diesem Jahr in Moers das Wunderbare? Zunächst die Entdeckung, was mit der menschlichen (wenn auch mitunter nicht-menschlich klingenden) Stimme alles möglich ist. Zweitens, staunend festzustellen, dass sich aus der E-Gitarre noch immer nie gehörte Klänge herausholen lassen. Und drittens, die Beherrschung von Schlagwerk über die Grenzen der bekannten Virtuosität hinaus zu erleben.

Das Festival begann am Freitagabend mit einem Schrei, der auch den letzten erwartungsvoll vor sich hinträumenden Zuhörer sofort aufweckte und in die Gegenwart Mike Pattons holte. Falls das in verschiedenen Metal-Genres längst übliche Screaming von der Jazzwelt noch nicht als Kunstform anerkannt sein sollte – Mike Patton arbeitet verdienstvoll an der Etablierung des stimmtechnisch sauber ausgeführten Schreis. Mit welcher Freude, mit welchem Humor auch er sein Können vorführt, dürfte aus digitalen und analogen Tonträgern nur schwer herauszuhören sein; bei Live-Auftritten aber wie in Moers kann die Sympathie für den gutaussehenden Schreier auch auf Nicht-Metal-Fans überspringen. Im 3. Set des „John-Zorn-Tags“ sollte Patton dann mit der Formation Moonchild / Templars Gelegenheit bekommen, die ganze Vielfalt seiner stimmlichen Performance darzubieten.

John Zorn feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag

John Zorn feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag

Freitag war Zorntag

Nach dem kurzen, energisch losrockenden Opening setzte sich das „Song Project“ John Zorns mit einem Kontrastprogramm fort. Marc Ribot, der kurz zuvor noch die älteren Zuhörer an den Ten-Years-After-Gitarristen Alvin Lee erinnert haben mochte, spielte spanische Konzertgitarre, und Sofia Rei sang dazu, manchmal mit flackernden Augenlidern, Melodien, die gut in David Lynchs „Mulholland Drive“ gepasst hätten. Mit Jesse Harris betrat der dritte Sänger, zugleich Songwriter und Dichter, die Bühne. Das „Song Project“ aber baute nicht nur auf Kontraste, es zeigte auch, dass der von der Gruppe Faith No More bekannte Mike Patton und Sofia Rei wunderschön zusammen singen können. Ein sehr bestimmter John Zorn dirigierte seine Gruppe, die größtenteils aus den Musikern bestand, die auch später am Abend im Set von Dreamers und Electric Masada vertreten waren.

Der „Zorntag“ zum 60. Geburtstag des Komponisten, Bandleaders und Saxophonisten versuchte ein Fazit, wenn nicht seines Lebenswerks, so doch immerhin des vergangenen Schaffensjahrzehnts darzustellen. Dazu gehört die von Arthur Rimbaud inspirierte Komposition Neuer Musik, „Illuminations“, mit einem virtuosen Steve Gosling am Piano, einem nicht minder großartigen Kenny Wollesen an den Drums und dem Bassisten Trevor Dunn, der in fast allen Formationen an diesem Abend dabei ist.

Zu dem folgenden „Holy Visions“, einem von fünf Sängerinnen dargebotenen A-cappella-Stück, das immer wieder neu anhebt und Gregorianischen Gesang ebenso einbezieht wie stark rhythmisierte Teile bis hin zu Jazz-Anklängen und Minimal Music, hat John Zorn die lateinischen Texte in Anlehnung an das Leben der Mystikerin Hildegard von Bingen verfasst. Mystisch-esoterisch blieb es auch bei „The Alchemist“, gespielt von dem auf Neue Musik spezialisierten Arditti String Quartet. John Zorns Komposition wählt als Thema den Hofgelehrten von Königin Elisabeth I., John Dee (1527–1608).

Nur die Anzahl der Musiker verbindet das Streichquartett mit den nun folgenden Moonchild / Templars. Mike Pattons Stimme klingt jetzt vielleicht nicht satanisch, aber jedenfalls nach dem, worauf sich Film- und Musikindustrie geeinigt haben, wie eine satanische Stimme zu klingen hat. John Medeskis Korg-CX-3-Keyboard erinnert klanglich an The Nice und die frühen Deep Purple.

Mit Dreamers und Electric Masada spielte John Zorn seine Evergreens, die in den vergangenen Jahren auf mehreren großen Festivals live aufgenommen worden sind (z. B. „Jazz in Marciac“), wobei sich die Dreamers schnell in Electric Masada verwandeln, indem Kenny Wollesen vom Vibraphon ans zweite Schlagzeug wechselt, die Elektronikerin Ikue Mori hinzukommt und John Zorn beim Dirigieren Saxophon spielt. Ein einziger Zorntag ist zu wenig, um auch nur annähernd die Vielseitigkeit des Mannes kennenzulernen, der für sich die Bezeichnung „Jazzmusiker“ ablehnt. Doch die fünf Stunden von 19.00 bis 24.00 Uhr am Freitagabend waren reich an musikalischer Abwechslung.

Die reinen Männergruppen überzeugten nicht

Von „Blixt“ mit Bill Laswell am Bass, Raoul Björkenheim an der Gitarre und Morgan Agren am Schlagzeug versprachen sich viele der anwesenden Insider den ersten Höhepunkt des Samstags. Das Trio aber enttäuschte mit Männerjazz; die Musiker ein bisschen aneinander vorbeiredend, sich nicht zuhörend – drei improvisierte Monologe gleichzeitig, dafür straight und rockig. Wenigstens spielten sie weniger laut als das andere Männertrio um Caspar Brötzmann am Sonntag, vor dessen Auftritt das Orga-Team kostenlos Ohrstöpsel im Festivalzelt verteilte und die Ansagerin bat, besonders die Ohren der anwesenden Kinder durch die vor dem Zelt ausleihbaren Kopfhörer zu schützen. Große Teile des weiblichen Publikums nutzten den Auftritt von „Nohome“, um sich am einzigen sonnigen Tag des diesjährigen Pfingstfestes vor das Zelt auf den Rasen zu setzen, doch auch im letzten Winkel des abgezäunten Bereichs noch musste das Trio als lärmend empfunden werden.

Die vier Männer von „Caravaggio“ verstehen sich eher als Art Rocker denn als Hard Rocker. Ihre gestückelten Kompositionen erinnerten teilweise an die alten King Crimson, teils an instrumentalen Breakcore, und das Beth Gibbons gewidmete Stück klang mehr nach einer Fortführung von Tangerine Dream als nach Portishead.

Wieder nichts Richtiges für Frauen. Diese rückten dafür beim Auftritt des brasilianischen Superstars Lenine näher an die Bühne und wiegten sich in den Hüften. Das Zusammenspiel des aus Recife stammenden Songwriters der Música Popular Brasileira, der gern auch mit Elektronik experimentiert, mit Martin Fondse (Piano) und seinem niederländisch-deutschen Orchester „The Bridge“ darf als einer der harmonischsten Acts des Festivals bezeichnet werden. Rhythmen, denen man ohne weiteres zutraut, die Fruchtbarkeit der Tanzenden zu begünstigen.

Die wirklichen Überraschungen des diesjährigen Moers-Ereignisses aber, die Höhepunkte, die beim Publikum Schauder glücklichen Staunens hervorriefen, kamen in diesem Jahr nicht vom Piano, nicht von den Blechbläsern, Fagotten und Flöten, nicht von den Geigen, Celli und Kontrabässen; die wunderbarsten Momente lagen in den menschlichen Stimmen, in einigen Gitarren und im Schlagwerk. Darin war Moers in diesem Jahr ganz groß.

Stimmenvielfalt bis zur Entgrenzung

In der Spitzenklasse der vocal artists scheint es nicht darum zu gehen, wer am schönsten singt, sondern wer den Gesang revolutioniert. Die Entgrenzung der menschlichen Stimme verdeutlichten gleich mehrere Performer auf sehr unterschiedliche Art.

Noch auf relativ vertrautem Terrain, da ein bisschen an Björk erinnernd, trug Jenny Hval am Samstag ihre Songs vor.

Michael Schiefel, der diesjährige „Improviser in Residence“ in Moers, erzählt am Sonntagnachmittag singend und hüpfend Geschichten, die teils verständlich sind, sich aber auch in Silben und stimmliche Beats auflösen. Begleitet wird er dabei von Paolo Damiani am Cello und Miklos Lukacs am Cymbalom.

Hundertprozentig improvisiert – das sieht und hört man – ist am Samstagabend der Auftritt des stimmlich zwischen Rap, Grime, Soul, R&B changierenden Kokayi. Zu dem beständig wirbelnden Kubaner Dafnis Prieto am Schlagzeug und dem eher abwartenden Jason Lindner an den Keyboards verlagert er mit geschlossenen Augen sein nennenswertes Gewicht von einem Bein aufs andere, als müsse er sich erst ausdenken, was er als nächstes vortragen möchte. Neben dem Mikro sind Wasserflasche und Handtuch seine wichtigsten Werkzeuge.

Sidsel Endresen & Stian Westerhus

Sidsel Endresen & Stian Westerhus

Zuvor aber beeindruckten Sidsel Endresen und Stian Westerhus, ein Zwei-Personen-Trio aus Gesang, Gitarre und Traum. Etwas ungläubig nimmt der Zuhörer zur Kenntnis, dass nach Robert Fripp, nach David Torn, nach Eivind Aarset einer Gitarre noch immer neue Klänge entlockt werden können. Der Norweger Stian Westerhus schafft es, und sei es, indem er den Kopf des Gitarrenhalses einmal senkrecht auf den Verstärker stößt, um sich dann wieder seinen vielen Pedalen zuzuwenden. Ebenso unglaublich ist dazu der Gesang Sidsel Endresens, dadaistische Lautmalerei, vokalbetontes Beatboxing (wenn es so etwas gibt), tierisch anmutendes Gemecker und Gurgellaute fügen sich in den rauen Gesang ein, sodass sich zuweilen der Eindruck einstellt, ein Zungenreden, eine Glossolalie heiliger Stimmen ergieße sich über die Köpfe der Zuhörer. Selten wurde das Pfingstwunder in Moers so wörtlich genommen (wobei „wörtlich“ wiederum nicht wörtlich zu nehmen ist).

Fred FrithFoto: Frank Schemmann

Fred Frith
Foto: Frank Schemmann

Fred Frith am Sonntagabend hat seine Gitarre die meiste Zeit auf dem Schoß liegen und bearbeitet sie, als sei das Saiten- ebenfalls ein Schlaginstrument neben den vielen anderen, zwischen denen Evelyn Glennie über die Bühne wandert. Evelyn Glennie ist ein Schlaggenie. Überhaupt ragten die Schlagwerker in Moers wieder heraus, unbestrittene Meister wie Joey Baron, Kenny Wollesen und Cyro Baptista aus dem John-Zorn-Umfeld oder Dafnis Prieto mit seinem Trio. Die Frau aber schlägt anders. Nicht nur, weil Evelyn Glennie, wie die Ansage zuvor informierte, ungefähr 1.800 Schlaginstrumente besitzt. Diese Frau schlägt andere, unbekannte Rhythmen.

Evelyn GlennieFoto: Frank Schemmann

Evelyn Glennie
Foto: Frank Schemmann

Alles Weitere – und an den dreieinhalb Tagen gab es noch sehr viel mehr zu hören – war gut, teils erstklassig und auch Weltklasse, aber irgendwoher bereits bekannt. Und eine düstere Ahnung können wir Männer aus Moers mit nach Hause nehmen: Die Zukunft des Jazz scheint bei Frauen zu liegen, solchen wie Sidsel Endresen und Evelyn Glennie. Glücklich die Männer, deren Gitarren da mithalten können.




Treffsichere Musikalität: Joseph Moog debütiert beim Klavier-Festival Ruhr in Moers

Als ich Joseph Moog zum ersten Mal hörte – er spielte als 17jähriger Franz Liszts „Totentanz“ – fiel mir die treffsichere Musikalität auf, die sich mit ausgereifter Technik verband. Das war 2005 in Würzburg. Inzwischen ist Moog 25 Jahre alt, konzertiert auf wichtigen Podien, hat einige von der Presse gerühmte CDs aufgenommen – und jetzt sein fälliges Debüt beim Klavier-Festival Ruhr gegeben. Und zwar mit einem Programm, das dem Verdi-Wagner-Schwerpunkt dieses Jahres Genüge tut, aber auch von der Lust an Ausgrabungen und entlegenem Repertoire zeugt.

Das Martinstift in Moers - ein intimer Raum. Foto: Werner Häußner

Das Martinstift in Moers – ein intimer Raum. Foto: Werner Häußner

Wobei die Frage zu stellen ist, ob ausgerechnet der intime Saal des Martinstifts in Moers ein geeigneter Ort gewesen ist. Dort steht ein für den Raum sowieso zu groß dimensionierter Steinway D. Bei der gebotenen Klangdramaturgie in den virtuosen Konzertparaphrasen kommt die Akustik schnell an ihre Grenzen. Bei aller Liebe zu der von vielen Pianisten bevorzugten Flügelfabrik: Mir wäre an dieser Stelle für dieses Programm ein Broadwood oder Erard willkommener gewesen.

Joseph Moog tat sein Bestes, um etwa Carl Tausigs hochvirtuose Bearbeitung des Walkürenritts so zu zügeln, dass er im klassizistischen Ambiente vor geschätzt 300 Zuhörern noch erträglich blieb. Das war nur bedingt erfolgreich. Die „Tristan“-Paraphrase von Moritz Moszkowski fordert die fiebrigen Steigerungen des Originals, will die Erlösung des Akkords aus drängendem Vorhalt und harmonischem „Irrweg“ mit großer Geste feiern. Aber statt Wagners Rausch spricht der Raum, bildet den Hall zu direkt ab, lässt nicht zu, dass sich Moog in die Ekstase freispielt, ohne die dieses Stück ziemlich flach gehalten wirkt.

Bei Haydn und Chopin, mit Grenzen auch in Debussys „Images oubliées“ hört man, was in diesem Saal sinnigerweise zu spielen wäre. In Haydns D-Dur-Sonate Nr. 24 lassen sich die Farbwechsel, mit denen der Pianist gliedert, wunderbar verfolgen. Haydns stets geistvolles Spiel mit der musikalischen Idee geht dem Hörer klar ins Ohr. Der flotte, trocken-entschiedene Ton Moogs liegt richtig, meidet papiernes Stochern wie weichen romantischen Anflug. Nur im näher an ein Andante gerücktes Adagio erlaubt er sich, empfindungsvoll zu färben. Warum Moog allerdings Arabesken und Verzierungen beschleunigt, ist nicht nachvollziehbar.

Auch Mozarts d-Moll-Fantasie KV 397 passt in den Architekturrahmen. In den Beleuchtungswechseln, in den Temponuancen spürt man, dass Moog gedankenvoll und konzeptuell bewusst an das Werk herangeht, das so typisch nach „einfachem“ Mozart klingt, aber höchst subtile Anforderungen stellt.

Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Es offenbart jedoch ein Problem, das der junge Pianist auch in den Opern-Paraphrasen noch nicht ganz bewältigt hat: Moog „atmet“ nicht mit dem Metrum, gibt dem Puls der Musik zu wenig Richtung. Das führt in der „Rigoletto“-Bearbeitung von Franz Liszt zu einem seltsamen Hang zum Statischen: Moog schlägt die kantigen Bässe mit Bravour an, zeigt in gleißenden Passagen und in Silbervorhängen, gewebt aus schäumender Notengischt, wie brillant er solche Herausforderungen meistert. Aber er phrasiert nicht sanglich-gelassen genug: „Bella figlia dell‘ amore“, dieses unvergleichliche Quartett aus dem letzten Akt des „Rigoletto“, strebt nach dem vokalen Kulminationspunkt, den Moog in der raffinierten, genau auf den Effekt berechneten Liszt-Bearbeitung dynamisch nivelliert. War es der Raum oder die Tagesform? Die „Miserere“-Paraphrase nach dem „Trovatore“ und diejenige zu Verdis Frühwerk „Ernani“ gelingen überzeugender: die eine als Studie über die expressiven Möglichkeiten des Bassregisters, die andere als genialische pianistische Veredelung von Verdis direkter Emotionalität.

Noch einmal zeigen die Zugaben – Chopin, Brahms, Rachmaninow –, was dem Saale besser frommt; vor allem Chopins op. 15/2 nimmt Moog mit eleganter Gelöstheit. Man möchte den jungen Mann in größerem Rahmen wiederhören. Er hat auf CD spannende Entdeckungen vorgelegt – zum Beispiel Rubinsteins Viertes Klavierkonzert –, so dass man gewissen Rundfunk-Sinfonieorchestern gerne empfehlen würde, solche Anregungen mit diesem Pianisten umzusetzen statt Äther und Archiv mit der nächsten Version von Tschaikowskys Erstem vollzustopfen.

Mehr zu Joseph Moog: http://www.josephmoog.de/




Carla Bley auf dem Moers Festival

An der Uraufführung von Carla Bleys neuster Komposition „La Leçon Française“ gäbe es nichts zu kritisieren, hätten die Veranstalter nicht – in Absprache mit der Künstlerin oder ohne ihr Wissen? – in der Programm-Ankündigung die Frage gestellt, ob es sich bei dem neuen Stück um „eine Fortsetzung zu ihrem epochalen Werk ‚Escalator Over The Hill‘“ handeln könnte. Die überspannten Erwartungen taten der Aufführung nicht gut.

Vergleiche mit der vor vierzig Jahren als Dreifachalbum erschienenen Jazz-Oper verbieten sich schon wegen der ungleichen Voraussetzungen. Nicht nur, weil eine solche Aufführung heute ohne Don Preston auskommen muss, den inzwischen bald achtzigjährigen Pionier am damals noch neuen Moog-Synthesizer, und ohne die Gitarrenlegende Jack Bruce, ohne den gerade frisch bekehrten „Mahavishnu“ John McLaughlin, ohne einen Charlie Haden am Bass, ohne den Schlagzeuger Paul Motian, ohne Don Cherry, ohne die aus Andy-Warhol-Filmen bekannte „Viva“ und so viele andere. Das war ja bei der Bühnenfassung von „Escalator over the Hill“ von 1997 in Köln oder 2006 in der Philharmonie Essen nicht anders.

Von der Länge her und im Programmablauf des Moers Festivals eingebettet zwischen einem bezaubernden Solo-Auftritt des Cellisten Erik Friedlander und den experimentierfreudigen und wirklich neue Musik schaffenden „Rocket Science“ mit dem Trompeter Peter Evans, dem Saxofonisten/Klarinettisten Evan Parker, dem radikalen Craig Taborn am Piano und Sam Pluta an der Elektronik aber war die als Höhepunkt des Festivals angekündigte 45-minütige Weltpremiere von „La Leçon Française“ nur ein guter Act zwischen anderen.

Dass die ausgezeichneten Musiker der schwedischen Bohuslän Big Band noch nicht genügend Gelegenheit hatten, sich dem Ruhm der Alt-Stars, die 1971 an den Aufnahmen zum „Escalator“ beteiligt waren, anzunähern, kann man ihnen nicht vorwerfen. Die Soli wie das Ensemble der Bläsergruppe waren exzellent.

Eine besonders gute Idee war es, für die Aufführung der simulierten Französischstunde echte Schüler zu wählen, die auf das Zeichen des Dirigenten – stellvertretend für den Lehrer – zu ihren Einsätze aufstehen und sich anschließend wieder hinsetzen mussten. Wer wie der gequälte Zehnjährige mit den mittellangen blonden Haaren das Pech hatte, auf der Stufe des schmalen Podests direkt hinter dem Dreifuß des Mikrofonständers zu sitzen, dürfte mehr Sorge gehabt haben, gegen das wacklige Gestell zu stoßen, als dass er die Ehre hätte genießen können, gemeinsam mit der berühmten Carla Bley an der Uraufführung eines möglicherweise epochalen Werks beteiligt zu sein.

Von meinem Sitzplatz aus hatte ich den Knabenchor der Chorakademie Dortmund (im Programmheft als „Dortmund Choral Academy Boys Choir“) direkt vor Augen, während Carla Bley die meiste Zeit von ihrem Konzertflügel verdeckt war. Vielleicht lagen die Dortmunder Schulknaben – soweit ich die Gelassenheit auf ihren Gesichtern nicht fehlinterpretiere – in ihrer Einschätzung der Bedeutung des Werks ganz richtig, wenn sie, anders als die Musiker der Bohuslän Big Band, aus dem zwischendurch immer wieder aufbrausenden Applaus des Publikums keinerlei Bestätigung zu erfahren schienen. Sie sangen sauber und gut und erfüllten ordentlich ihre Aufgabe, inklusive des schulmäßigen Auftretens und Abgehens und der eingeübten Verbeugung beim Schlussapplaus. „La Leçon Française“ – nicht epochal, aber nett.

Einer der langjährigen Mitstreiter Carla Bleys war übrigens doch an der Aufführung beteiligt: Ihr Lebenspartner am gütigen E-Bass, Steve Swallow, mit dem die Komponistin bereits am Freitagabend neben dem ebenfalls routinierten Andy Sheppard (Saxofon) als Trio aufgetreten war. Beide Konzerte Carly Bleys auf dem Moers Festival bewiesen einmal mehr ihre Weltklasse. Die Musik neu zu erfinden aber haben andere Kreative übernommen.

Carly Bley: „La Leçon Française“
Carla Bley cond + p, Steve Swallow, b (us)
Bohuslän Big Band (se) & Dortmund Choral Academy Boys Choir (de)
Moers Festival

Carla Bley in Moers, 27. Mai 2012, Foto: W. Cz.

Knabenchor der Chorakademie Dortmund auf dem Moers Festival 2012 neben Musikern der Bohuslän Big Band aus Schweden; Foto: W.Cz.




Traumzeit in Duisburg und Moers

Die Kraftzentrale und das Zirkuszelt liegen Luftlinie 11,7 km auseinander. Pfingsten und Traumzeit trennten in diesem Jahr nur drei schnell vergangene Wochen. Im westlichen Ruhrgebiet verwöhnt der Frühsommer Liebhaber grenzüberschreitender Musikarten mit zwei Großereignissen.

Beide, das Moers Festival und das Duisburger Traumzeit-Festival, pflegen Musikrichtungen, für die es kaum einen oder sehr viele Namen gibt: Improvisierte Musik, freie Musik zwischen Jazz, (Post-)Rock, Indie, Neuer Musik, Elektronik, „Weltmusik“, Neo-Folk oder Klassik. Wer in der Vorstellung lebt, weit und breit der einzige zu sein, dem eine bestimmte Musikgruppe abseits des Mainstreams bekannt ist, stellt fest, es sind Tausende, die sich im Moerser Festzelt oder in einem der Meidericher Industriegebäude für anspruchsvolle musikalische Experimente begeistern können, Zigtausende sogar, die sich über den Schlosspark (Moers) oder die verschiedenen Aufführungsorte des Landschaftsparks (Duisburg) verteilen.

In diesem Jahr spielten Igmar Thomas & The Cypher an beiden Orten, in Moers und in Duisburg; über die Jahre verteilt, ist die Schnittmenge beider Festivals beachtlich. Die Künstlerischen Leiter, Reiner Michalke in Moers und Tim Isfort in Duisburg, öffnen ihre Festivals einem neuen Publikum, und seit neuestem bietet auch Duisburg – wie in Moers bereits seit Anbeginn üblich – gleich neben dem Festival eine Camping-Möglichkeit.

Wo aber liegen die Unterschiede? Moers überraschte in diesem Jahr gleich doppelt mit hartem Metal. Bei Orthrelm (USA) trifft Thrash Metal auf Minimal Music. Repetitive Klangmuster mit minimalen Variationen und kaum merklichen Entwicklungen tönen hier nicht wie bei Steve Reich mit klarem Vibraphon und festlichem Glockenspiel, sondern werden mit den trashigsten aller übersteuerten Gitarrensounds in rasantem Tempo hingeschmettert, mit einem wirbelnden Schlagzeuger, der ein 45-minütiges Solo hinlegt, nur nicht solo, sondern vervollständigt von einem ruhelos schrammelnden Gitarristen, dessen den Pedalen zugewandtes Gesicht von einem Vorhang langer glatter Haare verdeckt ist. Am nächsten Tag am gleichen Ort präsentieren Monolithic eine norwegische Variante: Ebenfalls im Duo Gitarre – Schlagzeug, mit angenehm unverständlichem Gesang. Auf Audio-Masochisten verschiedenster Couleur hat das Fest in Moers, das seit 1972 die meiste Zeit als „New Jazz Festival“ firmierte, immer schon eine besondere Attraktion ausgeübt. Mit Orthrelm und Monolithic zog in diesem Jahr die bislang härteste Spielart ein.

Neben den Festivalneulingen bleiben sowohl Moers als auch Duisburg Treffpunkte für die alten Hasen der Szene. In der Meidericher Kraftzentrale trieben der bekannte Fusion-Jazzer Mike Stern (Gitarre) und Didier Lockwood (Teufelsgeige) mit dem grandiosen Dave Weckl am Schlagzeug und Tom Kennedy am Bass die Perfektionierung des Sich-überlebt-Habenden auf die Spitze. Branford Marsalis (Saxophon, Klarinette), längst schon aus dem Schatten seines berühmten Bruders Wynton getreten, überzeugte gemeinsam mit dem Pianisten Joey Calderazzo durch Stil, Brillanz, Tempo, Größe.

Branford Marsalis

Branford Marsalis / Foto: Wolfgang Cziesla

 

Drei Wochen zuvor hatte sich in Moers der 71-jährige Ronald Shannon Jackson zwischen Vernon Reid an der Gitarre und Melvin Gibbs am Bass als ein scheinbar von aller Last des Alltags befreites Individuum präsentiert, bei dem ein langes Schlagzeugerleben nicht die geringste Verspannung hinterlassen hat. Warum auch – hatte doch bereits der 76-jährige Abdullah Ibrahim am Piano mindestens ebenso jugendlich gewirkt!

Die absolute Überraschung in Moers aber – nicht im gedruckten Programm aufgeführt und von der Ansagerin als Geburtstagsgeschenk des 40-jährigen Festivals an sein Publikum angekündigt – war Ornette Coleman (81 Jahre alt). Einer Legende gegenüber zu stehen mag beeindrucken; ein solches Highlight völlig unerwartet zu erleben, steigert die Wirkung um ein Vielfaches. Coleman, der 1960 den Free Jazz aus der Taufe gehoben hatte, und sein Quartett boten den Zuhörern allererste Qualität.

Aber mit dem Bemühen, möglichst große Stars in den Westen des Ruhrgebiets zu holen, sind wir wieder bei den Gemeinsamkeiten beider Festivals gelandet. Zurück zu den Unterschieden. Das Traumzeit-Festival verstand sich seit seiner Gründung 1997 immer auch als Bühne der sogenannten Weltmusik (eine fragwürdige Bezeichnung für fraglos spannende Musikrichtungen). Die Duisburger setzten in diesem Jahr den Länderschwerpunkt Myanmar, brachten Musiker aus dem südostasiatischen Land mit Kollegen aus Frankreich, Italien, Deutschland auf eine Bühne und vermittelten dem Publikum einen Klangeindruck von der hierzulande selten gehörten Bogenharfe saung gauk, dem Trommelkreis oder der burmesischen Kegeloboe hne.

Seltene Instrumente – um gleich wieder auf die Gemeinsamkeiten zu sprechen zu kommen – gab es auch in Moers. Mit einer 17- und einer 21-saitigen Koto kam Michiyo Yagi in das Festivalzelt, wo die Japanerin bereits 1992 aufgetreten ist. Diesmal spielte sie im Double Trio: Symmetrischer Bühnenaufbau: rechts und links außen jeweils ein Schlagzeug, halbrechts und halblinks je ein Kontrabass, der in einzelnen Stücken auch durch ein Cello ersetzt werden konnte. Und im Zentrum das Koto und das Bass-Koto von Michiyo Yagi. Perfektes Zusammenspiel, traumhaft.

Das Verwöhntwerden durch zwei herausragende Festivals in so kurzem Zeitraum bringt mit sich, dass ein Bericht über beide Großveranstaltungen selbst erstklassige Acts nur in der Aufzählung würdigen kann – wie Nils Petter Molvaer, Little Red Big Bang, Seun Kuti (alle in Moers); Cyro Baptista, Anne Paceo Triphase, das Portico Quartet, Hundreds, Mogwai oder Stefan Rusconi (in Duisburg).

Erstklassig sein genügt nicht. Was war das Phantastische der diesjährigen Traumzeit?

Caribou schuf fast unglaubliche Momente. Die vier Nerds aus Kanada im Medizinerweiß oder in Parka mit auf den Rücken geschnallter Gitarre schlugen zur Live-Elektronik die Beats präzise auf zwei Schlagzeuge, vergleichbar der US-amerikanischen Band Tortoise, und versetzten am Freitagabend bei einem ihrer seltenen Deutschlandauftritte das Publikum auf den Tribünen wie die Tanzenden gleichermaßen in Ekstase.

Zwei Tage später, gleicher Programmplatz: Der 28-jährige Vielkönner Patrick Wolf und Alec Empire (39) – der ehemalige Noise-Punker von Atari Teenage Riot – bilden ein ungewöhnliches Duo. Zu Wolfs Bluesstimme lebt 80er-Jahre-Elektropop, gebrochen von Empires Noise-Einlassungen, neu auf, und beim Spiel mit dem Bühnenbild verbindet sich alles zu einem popmusikalischen Gesamtkunstwerk. Auch wer sich keine CD der beiden komplett anhören möchte, dürfte vor allem von Patrick Wolfs dandyhaften Entertainer-Qualitäten nicht unbeeindruckt geblieben sein.

Jeweils um 23 Uhr an den drei Tagen traten in der Gießhalle die großen Gruppen auf: Mogwai, Amiina, Hundreds. Gleichzeitig aber wurde die Kraftzentrale von Klangzauberern bespielt. Am Freitagabend erwies sich Ólafur Arnalds als ein solcher. Der isländische Pianist wurde von einem Streichquartett und Elektronik begleitet – raumgreifender Enthusiasmus, Musik, in der man sich verlieren kann. Ebenso wie beim Bestaunen der dazu laufenden Zeichentrick-Videos. Schattenrisse von Vögeln, die sich von Mobiles lösen und frei fliegen, sich wie Kulissen verschiebende Wolken, ein Leuchtturm und Wellen, in denen ein Boot versinkt und verwandelt auftaucht. Vergleichbare Klang-Bild-Poesie hat 2003 an diesem Ort auch das Tin Hat Trio geschaffen.

Die Samstagnacht in der Kraftzentrale gehörte dem Amsterdamer Blockflöten-Trio aXolot. Zur atmosphärischen Vervollständigung sei kurz das Bühnenbild beschrieben: Eine halbe Schwingtür in komplettem Rahmen, ein extrem kleiner Kinderstuhl, ein normalgroßer Kunstleder-Schaukelstuhl, zwei Orientteppiche, ein Sofa und zwei dazu passende Ohrensessel, Kunstlederstühle mit Nieten – das Ganze in verdampfendes Nebelfluid getaucht. Das Programm der drei Flötistinnen bestand aus mittelalterlichen Klängen nicht mehr bekannten Ursprungs und Werken junger Komponistinnen und Komponisten: Dorothée Hahne, Aliona Yurtsevich, Stefan Thomas und des Amsterdamer Komponisten Paul Leenhouts, dessen bezauberndes Zultanas Raizins sie aufgeführten. Nicht-existente Töne schwingen hier mit – wie die Flötistin Kim-José Bode erklärt –, sogenannte Geisttöne, Töne, die als dritte entstehen, wenn man zwei spielt.

Die Samstagnacht ist ein gutes Beispiel, um den entscheidenden Unterschied zwischen den Festivals in Moers und Duisburg zu benennen: Moers konzentriert sich auf das große Zirkuszelt, in dem sich im Wesentlichen das gesamte Festival abspielt, ergänzt durch eine Reihe elektronischer Musik in einem Darkroom sowie durch Nachtprogramme und Matineen an verschiedenen Orten der Stadt. Das Traumzeit-Festival dagegen verteilt sich auf verschiedene Bühnen im nachts wunderbar beleuchteten Lapadu (Landschaftspark Duisburg-Nord): Kraftzentrale, Gießhalle, Open-Air-Bühne am Gasometer, Foyer Pumpenhalle, Gebläsehalle und Hüttenmagazin. Die guten Auftritte konkurrieren miteinander, und der Besucher kann von Luxusnöten gequält werden, wie ich am Samstag kurz vor 23.00 Uhr. In der Gebläsehalle spielten noch Bohren & der Club of Gore, deren Auftritt von 22.15 Uhr auf 22.30 Uhr verschoben wurde. Wer wäre düsterer als die vier Männer aus Mülheim? Während gealterte Virtuosen wie Mike Stern oder Joey Calderazzo in Duisburg losjammten, als hätten sie keine Zeit zu verlieren, verfügen Bohren & der Club of Gore über alle Ruhe der Welt, und nicht nur dieser Welt. Aus der Schwärze der Bühne mit unsichtbaren Gestalten heraus kam eine der spärlichen skurrilen Ansagen: „Es ist Mode geworden, auf junge gutaussehende Mütter, die ihre Kinder zum Fußball fahren, einzudreschen. Wir von Bohren unterstützen das und haben darüber ein Lied geschrieben, erstaunlicherweise schon 2003.“

Ich kann gerade noch die ersten der langgezogenen Doom-Töne auf mich wirken lassen, da flüstert mir eine innere Stimme zu, dass es an der Zeit ist für aXolot. Ein geschlossener Vorhang in der Kraftzentrale, und ein Wächter kündigt mir freundlicherweise an, der Soundcheck werde voraussichtlich noch eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Eine weitere innere Stimme sagt mir, dass aXolots gründliche Vorbereitung meine Chance ist, gegenüber in der Gießhalle ein paar Takte von Aniima wahrzunehmen, den jungen Isländerinnen, die an der Seite von Sigur Rós arbeiten, wenn sie nicht wie heute ihr eigenes Ding machen. Das ursprüngliche Streichquartett ist inzwischen durch eine Vielzahl an Instrumenten erweitert.

Zurück in der Kraftzentrale beginnt aXolot das Konzert mit der neuen Komposition von Dorothée Hahne, dessen Titel die innere Zerrissenheit eines Traumzeit-Besuchers auf den Punkt bringt: Interferences of Inner Voices.

Gut, dass ich kein Partygänger bin, sonst gäbe es zu später Stunde auch noch zwei verlockende Tanzveranstaltungen.




Macbeth auf der Suche nach dem Kick – Intendant Johannes Lepper inszeniert Shakespeare im Schlosstheater Moers

Von Bernd Berke

Moers. Überall wabert der Bühnennebel, und die Scheinwerfer leuchten so schockfarbig wie in einem Rock-Schuppen der frühen 70er Jahre. Es scheint, als hätte man Shakespeare mitsamt seinem „Macbeth“ unter Drogen gesetzt.

Fremder und ferner als Shakespeares elisabethanisches Zeitalter kommt einem dieser Einstieg im Schlosstheater Moers vor. Die Stimmen der Hexen, die Macbeth auf magisch-doppeldeutige Art den Aufstieg zum Königtum prophezeien, ertönen mit Verzerrer und Echo-Hall. Sodann verheißt der alte Beatles-Song „For the Benefit of Mr. Kite“ eine bizarre Show mit allseits garantiertem Vergnügen. Um im Genre zu bleiben: sozusagen „Best of Macbeth“ mit ein paar BonusTracks. Yeah!

Hausherr Johannes Lepper (auch Bühnenbild) hat das blutige Drama von der entgrenzten Machtgier tatsächlich inszeniert, als sei’s eine Show-Improvisation, eine mal lässige, mal überdrüssige, mal hysterisch aufwallende Probe aufs bereits tausendfach in Theatern gespielte Exempel.

Sie streiten wie im Kasperletheater

Seine nicht immer trefflichen Bilder sucht und findet dieser „postmoderne“ Zugriff zwischen Rock und Pop, Horror- und Gruftie-Ästhetik, Pornofilm und Variété, Comic und Hollywood-Kitsch. Sogar ein Bingo-Spielchen gehört zum Repertoire. Gewiss: Die winzige Bühne erlaubt keinen Panorama-Stil,. keine weitläufigen Aktionen, sie nötigt zum theatralischen „Tunnelblick“, zum (womöglich frechen) Konzentrat.

Offenbar haben alle Darsteller „Hier!“ gerufen, als es an die Besetzung der Hauptrollen ging. Lepper hat ihnen die Gunst erwiesen. Er lässt den Macbeth gleich von drei Schauspielern (Mike Hoffmann, Frank Wickermann, Jeffrey Zach) geben und verteilt die blutrünstige, ihren Gemahl zu etlichen Morden aufstachelnde Lady Macbeth auf zwei Damen (Stella-Maria Adorf, Sabine Wegmann).

Erst Athlet, dann Hänfling, dann Berserker

Aus dieser Mehrfach-Besetzung erwächst eher ein sich abnutzender Effekt als wahrer dramaturgischer Ertrag: Macbeth taucht zunächst als aggressiver Athlet auf, sodann als flatternd nervöser Hänfling, schließlich als wahnwitziger Berserker. Man könnte derlei Wandel auch spielen, doch hier herrscht Körper-Wechsel. Jede Identität ist eben dahin. Nun ja, so mag es denn zeitgemäß sein.

Mit seinen Armen imitiert Macbeth immer wieder angriffslustigen Flügelschlag, und er stoßt die Drohrufe eines Erpels aus. Ein Inbild der Gewalt-Anmaßung. Lady Macbeth, in ein blutrotes Kleidchen gehüllt und immerzu einen roten Ball in den Händen, tollt mit ihm zuweilen wie ein unartiges Kind umher. Dann wieder treiben sie’s gar ruppig. So sucht man den tierischen Kick, so geilt man sich auf zur nächsten Untat.

Und immer wieder hauen sie einander mit aus Zeitungen gekniffelten Papier-Pritschen, als würde Kasperle aufs böse Krokodil eindreschen. Da kann auch der edle König Duncan nur noch den lächerlichen Popanz im Schottenrock mimen.

Huldigungen nach Art eines Disney-Films

Und nicht etwa der gütige Malcolm wird am Ende neuer Regent, sondern Macduff nimmt, nachdem er Macbeth erstochen hat, die Huldigungen entgegen – bonbonbunt beleuchtet wie in einem Disney-Streifen. Merke: Mord ist Macht, und Macht ist Mord. Und die Show geht weiter.

Im Grunde aber sind all diese Gestalten nur bleiche Wiedergänger. Auf einem Bildschirm huschen zudem ihre flüchtigen Schatten einher. Vom Piano tröpfeln derweil melancholische Akkorde.

Etwas haltlos schien bisweilen die Inszenierung in ihrem Jux, aber auch in ihrem ernsten Drang. Doch selbst das Geschrei, in dem manche Textstelle markig hervortrat, manch andere jedoch unterging, scheint letztlich geisterhaft zu verwehen. Genau da horcht man plötzlich auf.