In der Wahrheit liegt die Größe – Michael Gruner inszeniert Ibsens „Nora“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Die Garderobe der Schauspieler ist diesmal auf der Bühne sichtbar: Vor den Schminkspiegeln rauchen die Mimen noch, vollführen tänzelnd und plaudernd ihre Dehn- und Streck-Übungen. Gleich werden sie unter gleißenden Scheinwerfern ihren Auftritt haben im Theater des Lebens. Sie werden sich also verstellen und an ihren Lügen festhalten, so lange es nur irgend geht.

In den so ungeheuer folgerichtig gebauten Stücken des Henrik Ibsen verfolgen die Figuren dieses (selbst)zerstörerische Spiel bis zur Unerträglichkeit. Auch Dortmunds Schauspielchef Michael Gruner muss dies so empfunden haben, denn er treibt den dringlichen Ausruf „Schluss mit dem Theater!“ als Zentralsatz aus Ibsens Ehedrama „Nora“ hervor. Die Bühnenkunst auf der verzweifelten Suche nach der wahren und wirklichen Existenz. Einmal mehr. Paradoxe Fügung: Man müsste spielen, dass man nicht mehr spielt…

Ein durchaus korrumpierbarer Herr

Nora (Birgit Unterweger) ist das „Vögelchen“ im Ehe-Käfig; kindisch, naschhaft, geldgeil und verschwendungssüchtig flattert sie einher. Advokat Helmer (Bernhard Bauer), neuerdings Bankdirektor, hält sie sich zur niedlichen Zierde seines erfolgssatten Lebens. Doch zur Weihnacht kommt die bittere Wahrheit ans Licht: Einst hatNora eine Kredit-Unterschrift gefälscht, um eine lebensrettende Italienreise für ihren Mann zu bezahlen. Somit ist sie erpressbar.

Das kann Helmer in seiner angemaßten Strenge nicht dulden. Nicht etwa aus moralischen Erwägungen, sondern weil es seine Karriere ruinieren könnte. Erst verweigert er das „Wunder“ des Verzeihens, dann – als die Gefahr schwindet – will er weitermachen wie bisher. Ein durchaus korrumpierbarer Herr. Doch Nora ist schon entschlossen, Haus, Mann und die drei Kinder zu verlassen. Keine Lügen mehr.

Schminken auf der Bühne für das Theater des Lebens

Es gibt in diesem grandios haltbaren Stück etliche Szenen und Sätze, bei denen einem der Atem stocken sollte. Doch die Dortmunder Inszenierung scheint den Text über weite Strecken zu stutzen und eher als laue Pflichtübung zu absolvieren. Eine besondere Begeisterung für diesen Stoff will sich nicht so recht zeigen, Zugriff und Inspiration halten sich ebenso in Grenzen wie das Repertoire der Gesten. Meist schwebt nur ein etwas fahriger Geist über der Szenerie. Große Worte, in kleiner Münze ausgezahlt.

Vom Ende her gesehen, könnte dies allerdings pure Absicht sein. Etwa so: Solange sie einander etwas vorspielen, bleiben sie flache Aufsager. Sehen sie der Wahrheit ins Auge, so gewinnen sie menschliche Größe. Aber dieses Kalkül geht nur zum Teil auf: Wenn sie sich schließlich auf offener Bühne abschminkt, findet Nora auf einmal zur ernsthaften Statur, wie weggewischt ist all ihre Kinderei. Fast unvermittelt wächst nun auch die Darstellerin: Nun darf Birgit Unterweger endlich aufschließen zur abermals höchst präsenten Monika Bujinski, die als Noras Jugendfreundin zu einern ganz eigenen, hellwachen Ton findet, und zu Matthias Scheuring, der den todkranken Hausfreund Doktor Rank mit melancholischer Verhaltenheit konturiert.

Deutlich unter solchen Möglichkeiten bleibt freilich Bernhard Bauer, der den Helmer als abgeschmackten Yuppie gibt und sich hernach immer nur fassungslos an die Stirn greift. Auch Marcus Off als erpresserischer Krogstad kommt über die wohlfeilen Wonnen der Schmierigkeil nur in wenigen Momenten hinaus. Gleichwohl gab es wohlwollenden Beifall für alle Beteiligten.

Nächste Termine: 23., 30. Nov. Karten 0231/50 27 222




Am Abgrund des politischen Mordes – Dortmunds heikelste Inszenierung trifft den Ton: „Die Gerechten“ von Camus

Von Bernd Berke

Dortmund. Es dürfte die thematisch heikelste Dortmunder Schauspiel-Produktion dieser Saison sein: „Die Gerechten“ von Albert Camus (1913-1960) handelt von einer russischen Terroristen-Gruppe, die 1905 ein Bombenattentat auf einen zaristischen Großfürsten verübt. Der grenzgängerische Existenzialist erwog in seinem 1949 uraufgeführten Text auch die Frage, ob es politisch gerechtfertigte Morde geben könne.

Schauspielchef Michael Gruner hatte das Stück lange vor dem 11. September geplant. Das mag von einem gewissen Instinkt zeugen. Nach den Anschlägen von New York und Washington verschob er freilich die Premiere, um alles noch einmal zu überdenken. Dies wiederum zeugt von Verantwortungsbewusstsein. Und tatsächlich zieht er die Inszenierung aus der Affäre, sie enthält keinerlei falschen Zungenschlag.

Ein mit grauen Vorhängen verhängtes Gestell dominiert die karge Bühne. Es ist ein aussichtsloser, konspirativer Ort, an dem die Terroristen von vornherein in die Enge getrieben sind. Selbst wenn sie einander hier umarmen oder in wehmütigen Singsang verfallen, scheint dies alles in eines trostloses Nichts hinein zu ragen. Gleich zu Beginn markieren dumpf-metallische Schläge das Verhängnis.

Keine oberflächliche „Aktualisierung“

Claus Peymann hat 1977 in Stuttgart, mit jener legendären Kamerafahrt vom Theater bis zum Stammheimer Hochsicherheits-Gefängnis, dieses Stück auf den deutschen RAF-Terrorherbst bezogen. Das mochte angemessen sein. Doch den islamistischen Furor träfe das Drama nur am Rande, denn der ist mit europäischen oder gar Freud’schen Kategorien (Kindheit, Angst, Schuld und Sühne) wohl kaum zu erschöpfen.

Ganz anders als kürzlich Karin Beier in Bochum mit Shakespeares „Richard III.“ verfuhr, hütet sich Gruner denn auch, Camus oberflächlich zu „aktualisieren“. Er rückt ihn zwar nicht in historische Ferne, doch er grapscht auch nicht gierig nach etwaigen heutigen Zeitbezügen, sondern wahrt eine respektvolle Mitteldistanz. Das ist richtig, denn so tritt der Text plastisch hervor. Wir sehen keine bloßen Thesenträger, sondern wirkliche Menschen auf der Studiobühne – mit Vorgeschichten, Stärken, Schwächen und Widersprüchen.

Gruppenanführer Borja (Urs Peter Halter) und Janek (Michael Kamp) wägen vor dem Anschlag noch Zweck und Mittel ab. Sie sind nicht bereit, den Tod von Kindern in Kauf zu nehmen, die zunächst mit in der Großfürsten-Kutsche sitzen. Über solche Bedenken kann auch gelegentlicher, fratzenhafter Gruppen-Taumel nicht hinweghelfen.

Wenn sogar der Hass erkaltet ist

Recht präzise zeigen die Darsteller die unterschiedlichen Triebkräfte der Handlungsweisen. Der Eine betrachtet die Dinge eher pragmatisch, den Anderen drängt Leidenschaft. Während Janek mit hitzigem Herzen dabei ist und Alexej (Pit-Jan Lößer) vor Angst kaum schläft, scheint der einst von Zaristen gefolterte Stepan (Manuel Harder) seelisch vollends erloschen zu sein, sogar sein Hass ist erkaltet. Für ihn zählt nur noch größtmögliche Vernichtung: „Alles muss weg“, sagt er einmal. Abgründig. Auch er ein Menschenwesen zwar, doch ein monströs gewordenes.

In ihrer Empfindungskraft den Männern weit voraus ist die Bomben-Bauerin Dora (Birgit Unterweger). Im Grunde ist sie beseelt von einer allergreifenden Liebe. Nur sie spürt, dass die vermeintliche Zuneigung der Revolutionäre zum Volk eine erdrückende ist. Doch ihre Opferbereitschaft („Alles opfern heißt lieben“) verquickt sich nach Janeks Hinrichtung fatal mit dem nächsten Anschlag. Sie will beim Attentat sterben, denn sie wähnt sich schon mit dem Liebsten im Jenseits vereint – wie einst Julia mit Romeo: „Gebt mir die Bombe!“ ruft sie daher, entrückt und verzückt. Und immer wieder: „Es wird leicht sein!“ Ein todgeweihter Liebeswahn, der eigene Untergang als Erlösungs-Phantasie…

Beifall für ein homogenes Ensemble, in das sich auch Jürgen Hartmann als zynischer Geheimpolizist, Monika Bujinski als verstört-exaltierte Großfürstin und Dominik Freiberger als Janeks Mit-Gefangener Foka bestens einfügen.

Nächster Termin: 23. November/Karten: 0231/50 27 222.