Im Geniekult vergessen: Vor 200 Jahren starb der Komponist Antonio Salieri

Antonio Salieri auf einer um 1815 entstandenen Lithografie.

Er gehört zu den bedeutendsten musikalischen Figuren im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Aber die Nachwelt hat aus Antonio Salieri einen zweitrangigen Kleinmeister und Rivalen Mozarts gemacht. Noch in seinem Theaterstück „Amadeus“ – weltbekannt geworden durch Miloš Formans gleichnamigen Film von 1984 – benutzt Peter Shaffer die längst widerlegte Legende, Salieri habe Mozart mit Gift beseitigt.

Der Film erzählt, wie der Italiener das kindlich-amoralische Genie „Amadeus“ durch seelischen Druck langsam ums Leben bringt. Er will damit Gott seine Macht zeigen: Jenem Gott, der sich in Mozarts perfekter Musik offenbart. Ihn, Salieri, dagegen hat er dazu verdammt, als einziger zu erkennen, wie mittelmäßig seine eigenen Kompositionen in Wirklichkeit sind. Und das, obwohl sich Salieri Gott mit all seiner kreativen Kraft und einem moralisch einwandfreien Leben als Instrument der Offenbarung zur Verfügung gestellt hat.

Die Wirklichkeit ist weniger melodramatisch: Mozart und Salieri waren im Wien Josephs II. keine Konkurrenten und schon gar keine Gegner, im Gegenteil. Alle Äußerungen in den Quellen, die etwa von „Cabalen“ gegen die „Hochzeit des Figaro“ raunen, halten einer Überprüfung nicht stand. Mozart selbst berichtet in seinem letzten Brief an seine Frau Constanze, Salieri habe „Die Zauberflöte“ mit aller Aufmerksamkeit gesehen: „ … von der Sinfonie bis zum letzten Chor, war kein Stück, welches ihm nicht ein bravo oder bello entlockte.“ Salieri sorgte nach dem Tod Mozarts weiterhin für Aufführungen seiner Werke und Constanze gab ihren jüngsten Sohn Franz Xaver bei ihm in den Kompositionsunterricht. Feindschaft sieht anders aus.

Warum also die haltlosen Gerüchte, woher die Abwertung Antonio Salieris und die Schmähung seiner Musik als bedeutungslos? Da spielt der gerade in Deutschland gepflegte Geniekult des 19. Jahrhunderts eine gewichtige Rolle: Gegen den strahlenden Stern Mozarts hatten italienische „Kleinmeister“ keine Chance zu bestehen. Der antiitalienische Affekt des ersten Mozart-Biographen Franz Niemetschek tat ein Übriges: Das Genie wurde dem intriganten Haufen „verdienstloser Menschen“ und ihrem „welschen Geklingel“ gefährlich und entfachte den „Neid mit der ganzen Schärfe des italienischen Giftes“, unterstellt er.

So verschwanden Salieris rund 40 Opern von den Spielplänen. Bei seinem Tod am 7. Mai 1825 in Wien war er als Autorität hoch geachtet, als Komponist jedoch schon so gut wie vergessen. Seine Schüler Ludwig van Beethoven und Franz Schubert hatten ihn verdrängt, das Rossini-Fieber die Wiener Opernbühne geradezu ins Delirium versetzt. Aber seine pädagogische und organisatorische Arbeit wirkte nach: Der Pianist Karl Czerny gehört zu seinen Schülern, der Komponist Joseph Leopold von Eybler, ebenso Johann Nepomuk Hummel und der Franzose Ferdinand Hérold. Er nahm Franz Schubert unter seine Fittiche. Salieri unterrichtete Größen wie Giacomo Meyerbeer, der zu den einflussreichsten Opernschöpfern des 19. Jahrhunderts gehört, Simon Sechter, den Lehrer Anton Bruckners, und in seinen letzten Lebensjahren den jungen Franz Liszt. Er war 1823 an der Gründung des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien beteiligt. und bildete zahlreiche exzellente Sänger aus, so auch Mozarts „geläufige Gurgel“ Catarina Cavalieri.

Erst in den letzten Jahrzehnten sind die Werke Salieris wieder entdeckt worden, seit 1975 sein „Falstaff“ in Verona wieder aufgeführt wurde. Seine erfolgreichen Pariser Opern in der Nachfolge Christoph Willibald Glucks („Tarare“, „Les Danaïdes“) ließen die Eigenart seiner Kompositionsweise einem staunenden Publikum vor Augen treten: Salieri bleibt stets nahe am Text, deutet lebhaft, farbig und dramatisch dicht die Aussagen des Librettos aus. Nicht umsonst haben Kapazitäten wie Cecilia Bartoli  Salieris Musik für sich entdeckt. 2004 sang Diana Damrau eine der extrem anspruchsvollen Sopranpartien von Saliers „L’Europa riconosciuta“ anlässlich der Wiedereröffnung des renovierten Mailänder Teatro alle Scala. Das innovative, bei der Uraufführung enthusiastisch gefeierte Werk erklang 1778 zur Eröffnung der Scala zum ersten Mal.

Salieris Freude an der Textdeutung kommt seinen satirischen Werken zugute – eine Facette, die Mozart kaum gepflegt hat: Die aus politischen Gründen unaufgeführt gebliebene Oper „Cublai, großer Khan der Tartaren“ („Cublai, Gran kan de‘ Tartari“) erwies sich bei ihrer Entdeckung 1998 am Theater Würzburg als beißender Spott auf beschränkt-gefährliche Machthaber, manipulative Priester und Erzieher, intrigante Hofschranzen und eitle Liebhaber. In dieser Produktion sang Diana Darmau die Rolle der persischen Prinzessin Alzima. Eine ähnliche politische Satire, „Catilina“, konnte erst 1994 in Darmstadt uraufgeführt werden.

Derzeit in Salzburg zu erleben ist eine Rarität aus der Feder Antonio Salieris: „Il mondo alla rovescia“ („Die verdrehte Welt“). Hier ein Szenenfoto mit Luke Sinclair, Alexander Hüttner und dem Unterstimmenchor. (Foto: SLT/Tobias Witzgall)

Zum Salieri-Jubiläum 2025 – zu feiern ist am 18. August auch der 275. Geburtstag des italienischen Meisters – veranstaltet seine Heimatstadt Legnago eine Serie „Salieri 200“ mit Konzerten und einer Aufführung von „Falstaff“. In Legnago verlebte der Kaufmannssohn die ersten 16 Jahre seines Lebens, bis er 1766 vom Komponisten Florian Leopold Gasmann in Vendig entdeckt und nach Wien mitgenommen wurde, wo er ab 1774 als Kammerkompositeur und Kapellmeister der italienischen Oper wirkte .

In Wien steht Salieris Gedenkjahr im Schatten des Johann-Strauß-Jubiläums. Dennoch bietet eine Initiative „Salieri 2025“ zahlreiche Veranstaltungen wie Vorträge, Symposien, Konzerte mit seiner Musik und der seiner Schüler sowie ein Opernprojekt zur Satire „Prima la musica, poi le parole“ an. In Salzburg zeigt das Landestheater noch bis 27. Mai „Il Mondo alla Rovescia“ („Die verdrehte Welt“), ein absurdes Spiel um Geschlechterrollen und -identitäten.

https://www.salieri2025.at/
https://teatrosalieri.it/salieri200/
https://www.salzburger-landestheater.at/de/produktionen/die-verdrehte-welt-il-mondo-alla-rovescia.html?m=535




Mehr als Charme und Jugend: Lucas und Arthur Jussen zeigen in Essen unterschiedliche Zugänge zu Mozart

Arthur und Lucas Jussen. (Foto: Marco Borggreve)

Zwei Menschen, ein Herz und eine Seele, setzen sich an einen oder zwei Flügel und spielen, als seien sie eins. Wie durch eine geheimnisvolle Aura verbunden, gelingt ihnen vollkommene Synchronie. Alles klingt wie von einem einzigen Geist gelenkt.

In der Tat sind solche Klavier-Duos ein Phänomen, das schon zu Zeiten faszinierte, als Nannerl und Wolferl Mozart zusammen hohe und höchste Herrschaften entzückt haben.

Auch heute ist ein gewisser Sympathiebonus schon vorab gewährt, wenn zwei so smarte junge Pianisten wie Lucas und Arthur Jussen das Podium entern und sich voll sprühender Lebensfreude auf die weißen und schwarzen Tasten stürzen. Die Duo-Abende der beiden Niederländer sind Publikumsmagneten; schon als Teenies hatten sie einen prestigeträchtigen Plattenvertrag. Doch alles auf Jugend und Charme zurückzuführen, wäre höchst ungerecht: Die beiden Brüder sind ernsthafte Künstlerpersönlichkeiten, auch wenn sie in der Zugabe im Siebten Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker ihrem Temperament freien Lauf ließen und Mozart in eigener Bearbeitung irgendwo zwischen Gershwin und Prokofjew landen ließen.

Mozart hätte vermutlich seinen Spaß dabei gehabt und noch eins draufgesetzt. Aber er hätte wohl auch aufmerksam verfolgt, wie es seinen drei Klavierkonzerten zuvor ergangen wäre. Dass Lucas und Arthur Jussen im Konzert für zwei Klaviere und Orchester (KV 365) als ein Herz und eine Seele brillieren würden, war vorherzusehen. Die beiden geben sich bruchlos gegenseitig die Einsätze in die Hände, der eine nimmt sich für den anderen zurück, jeder hört auf den Ton des anderen: ein geistvolles, auch verspielt-übermütiges Hin und Her, geprägt von Eleganz und Noblesse.

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Der Essener GMD Tomas Netopil. (Foto: Hamza Saad)

Das Besondere dieses Abends mit dem mozartverständigen GMD Tomáš Netopil am Pult der Essener Philharmoniker war, dass sich Lucas und Arthur als Solisten in je einem Mozart-Konzert vorstellen konnten. Bei den Duos wird ja gerne vergessen, dass sie nicht unbedingt eine Symbiose voraussetzen, sondern sich eigenständige Personen zusammenfinden, die ihr Format auch als Individuen behaupten.

Ein Duo aus zwei Individuen

Und so zeigt sich, dass jeder der beiden Pianisten einen durchaus eigenen Zugang zu Mozart findet: Lucas Jussen hatte sich mit dem d-Moll-Konzert KV 466 das bekanntere und ein für seine verschatteten Stimmungen und seine romantische Expressivität berühmtes Konzert vorgenommen; Arthur, der jüngere von beiden, wählte das A-Dur-Konzert KV 414, das gerne als „heiter“ wahrgenommen wird, mit dem sich Mozart aber den Weg ins „Klavierland“ Wien und unter die Kenner der Musikmetropole bahnen wollte.

Weder Tomáš Netopil noch Lucas Jussen wollen wahrnehmen, was das 19. Jahrhundert am d-Moll-Konzert fasziniert hat: Die Nähe zur „Prager“ Sinfonie KV 504 und zum „Don Giovanni“, das Einlassen auf den „Schwermut“-Charakter der Tonart rücken sie beiseite. Netopil lässt in der Orchestereinleitung zwar die Kontraste hervortreten, wählt aber weiche Phrasierungen und einen mild versonnenen Ton, der mit dem düsteren Dräuen aus der Oper kaum etwas zu tun hat.

Lucas Jussen tastet sich in einer lichten Neutralität durch das thematische Material, das er sich erst allmählich aneignen darf, um dann in gelassener Nonchalance durch die Figurationen zu treiben, bis er sich in der Kadenz konzentriert und gestaltungsmächtig erweist. Auch der zweite Satz, die „Romance“ wird von Netopil eher leicht und lyrisch gelesen, während der Pianist die Färbungen zurückhält, um ja keinen Anflug eines „romantischen“ Tons zuzulassen. Das Orchester mit einer dominanten Flöte plustert sich gegen das Klavier zu vordringend auf: Die Balance will sich nicht recht einstellen. Allerdings gibt Netopil den Bläsern Raum, sich in ihrer Rolle zu präsentieren und das Miteinander mit Jussens brillanter „Execution“ des finalen Allegro assai auszukosten. Was bleibt, ist der Eindruck einer funkelnden, aber emotional distanzierten Ausleuchtung des Konzerts. Es klingt mehr nach kühlem französischem Rokoko als nach den jenseitigen Ahnungen E.T.A. Hoffmanns.

Beredte Gesten, vollendete Poesie

Anders Arthur Jussen im A-Dur Konzert: Er findet im ersten Satz durchaus die unbeschwerte Finesse, das „Mittelding zwischen zu schwer und zu leicht“. Er lässt das figurative Spiel – wie Mozart sagt – „angenehm in die ohren“ klingen. Aber er kennt auch die beredte Geste, den rhetorischen Charakter von Mozarts Musik, die man mit der Oper im Hinterkopf zu identifizieren weiß. Im Andante phrasiert er selbstvergessen fließend, lässt die Melodik poetisch schwingen, findet zu einer introvertierten Innenspannung, die den berückenden Schimmer der Melodik betont.

Mit dem raffiniert simplen Rondeau-Thema reißt Mozart diesen zaubrischen Schleier auseinander – und Arthur Jussen bringt die Spieluhr zum Klingeln und lässt sich leicht und hell auf die gar nicht einfache Bearbeitung der thematischen Vorgabe ein. Die Essener Philharmoniker können sich nach der Pause in zwei Sätzen aus der Ballettmusik zu „Idomeneo“ zeigen: Der harte Schlag der Pauke und die temperamentvollen Streicher sorgen für einen energischen Zugriff, den Netopil später dämpft. Aber er verdeckt in seiner eher eleganten als expressiven Lesart nicht, mit welch unendlicher Erfindungsgabe Mozart selbst dieses Genre adelt.

Die nächsten Auftritte von Lucas und Arthur Jussen in der näheren Umgebung sind am Freitag, 22. April, in Arnhem (NL) und am Sonntag, 3. Juli, beim Klavier-Festival Ruhr im Anneliese Brost Musikforum Bochum.




Beklemmendes Nachdenken: Concerto Köln und Joachim Król zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren

Flotte Märsche klingen durch das Foyer der Philharmonie Essen. Das Concerto Köln intoniert Joseph Haydns „March for the Prince of Wales“, danach zwei Märsche für das Derbyshire Cavalry Regiment und einen „Ungarischen Nationalmarsch“. Fröhliches Dur, die Zuhörer wippen im Takt mit. Man hat viel getan, um den Menschen im 18. Jahrhundert den Krieg schmackhaft zu machen, damals, als in manchen deutschen Territorien junge Männer verkauft wurden, um für andere Potentaten ins Scharmützel zu ziehen.

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Übermütig ging’s auch anno 1914 zu, als die Männer Europas in den Krieg zogen. Sie hielten den Krieg für ein Abenteuer. Den Gesichtern auf den über das Podium projizierten seltenen Farbfotos aus der Sammlung Reinhard Schultz ist es abzulesen. Die schneidigen Burschen in buntem, blinkendem Waffenrock lockten die jungen Frauen. Jaja, der „Zauber der Montur“.

Nichts von all der Kriegsfolklore war wahr. Schon vor 500 Jahren nicht. Auf der Bühne des Großen Saales las Joachim Król, was Erasmus von Rotterdam zum Krieg geschrieben hatte. „Wer ihn erfahren hat, schaudert allein bei der Vorstellung über die Maßen“. Dazu wird das Luftbild Essens in herbstlicher Sonne überblendet vom Blick auf die Ruinenlandschaft 1945. „Über Wunden“ hieß dieses Gedenkkonzert zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Hier waren zunächst nur die Wunden im Stadbild zu erkennen. Dachlose Häuser, hohl wie verfaulte Zähne, klaffende Löcher in Straßenzügen.

Die 90 Minuten Programm – eine Mischung aus Lesung und Konzert – hatten Ilka Seifert und Folkert Uhde zusammengestellt. Die Betroffenheit sollte ein Gesicht bekommen: Verarbeitet wurden nicht nur literarische Texte wie aus dem bekannten Anti-Kriegs-Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, sondern vor allem Erinnerungen, die in den Familien der Musikerinnen und Musiker des Concerto Köln weitergegeben wurden. Aus aller Herren Ländern kommen sie, und kaum jemand war nicht vom Schlachten und Morden der beiden Weltkriege betroffen. Manches haben wir Europäer gar nicht im Blick: Etwa die Gräuel im japanisch-chinesischen Krieg, die Vorfahren einer japanischen Musikerin erlitten.

Bombenwetter, Schusslinie und Marschrichtung

Dass es den lustigen Operettenkrieg der Propaganda nie gegeben hat, brachte Król seinen betroffen stillen Zuhörern mit diesen Texten aus Familien-Erinnerungen nahe. Es schnürt die Kehle zu, wenn die Großmutter einer Geigerin einen Brief mit wundervoll liebenden Worten an ihren Mann im Felde richtet. Er hat ihn nie gelesen, denn er war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Das Schreiben kam zurück – ohne Vorwarnung. Mit dem zynisch beschönigenden Vermerk „gefallen für Großdeutschland“.

Bis heute sind die Spuren des „Jahrhunderts der Grausamkeiten“ präsent, zum Beispiel in der Sprache: Wer weiß schon, was er sagt, wenn er von einem „Bombenwetter“ spricht? Nehmen wir einen Politiker „aus der Schusslinie“ oder geben wir die „Marschrichtung“ vor? Wir sind groß geworden mit solchen Begriffen, deren wahre Bedeutung nicht mehr bewusst ist.

Der Abend am Volkstrauertag war eher eine Zeit beklemmenden Nachdenkens als ein Konzert. Die Musik mit dem wie stets untadelig aufspielenden Concerto Köln war ernst und gesammelt: Eine Fantasie Henry Purcells über John Taverners damals beliebtes „In nomine“-Thema, ein kaum bekannter düsterer Triumphmarsch Beethovens zum noch unbekannteren Schauspiel „Tarpeja“, dazu die Stimme Kaiser Wilhelms II. mit der verlogenen Ankündigung des Waffengangs 1914.

Ein tragischer Zug klingt in der Ouvertüre zu Mozarts „La Clemenza di Tito“, und die wundervolle Perfektion der „Jupiter“-Sinfonie KV 551 klingt zu einem solchen Anlass geradezu schmerzend schön. Ob das alles reicht, immer wieder vor dem Verderben des Krieges zu warnen? Man muss es hoffen, auch wenn die lebenden Generationen das Inferno nur aus Games, Hollywood-Filmen und Schwarzweiß-Dokus kennen. Ob wir kapieren, welch unverschämtes Glück wir mit 73 Jahren Frieden haben?




Mensch-Maschine: Mozarts „Zauberflöte“ an der Rheinoper in Duisburg und Düsseldorf

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Nosferatu kann kaum die wilden Höllenhunde zurückhalten und nicht nur Papagenos Katze sträuben sich dabei die Nackenhaare: Als Hommage an den Stummfilm zeigt die Rheinoper in Düsseldorf und Duisburg Mozarts „Zauberflöte“.

Was auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammenzupassen scheint, geht tatsächlich eine kongeniale Verbindung ein. Die filmischen Animationen ersetzen das Bühnenbild und führen mitten ins Herz von Mozarts fantastischem Märchen rund um Liebe, Weisheit und böse Mächte. Die Arien sind nach wie vor an ihrem Platz, nur der Sprechtext wird nach Art des Stummfilms in kurze Sätze gepackt und flimmert über die Leinwand. Regisseur des Ganzen ist Barrie Kosky, der Intendant der Komischen Oper Berlin, gemeinsam mit Suzanne Andrade und Paul Barritt von der Theatergruppe „1927“, die in ihren Shows mit filmischen Animationen arbeiten und so ein ganz eigenes ästhetisches Erlebnis schaffen.

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Deswegen tritt Sarastros (Thorsten Grümbel) Oberaufseher Monostatos (Florian Simson) im Kostüm des Nosferatu auf, Papageno (Richard Sveda) erinnert an Stummfilmstar Buster Keaton und Pamina (Heidi Elisabeth Meier) trägt pechschwarzen Pagenkopf wie Filmstar Louise Brooks in der 20er Jahren. Die Königin der Nacht (stimmlich sehr überzeugend: Cornelia Götz) ist als übergroße Spinne konzipiert, deren stachelige Beine den Zuschauern Gänsehaut über den Rücken jagen: Hier driftet die Inszenierung ein wenig in Richtung Horror-Comic.

Und doch ist diese Lesart psychologisch überzeugend, denn die Königin der Nacht, in vielen Opernabenden als sternenumglänzte Kitsch-Queen angelegt, verkörpert bei Mozart ebenfalls das Reich des Bösen. Im Gegensatz zu Sarastro, der sich vom unerbittlichen Herrscher zum Hüter von Weisheit, Wahrheit und Gerechtigkeit entwickelt. Mit langen Bärten und hohen Zylindern herrschen er und seine Priester über ein Reich, das dem Film „Metropolis“ entsprungen scheint. Die Animationen, projiziert auf den Bühnenhintergrund, zeigen die ersten Maschinen-Menschen; Zahnräder und Dampfkolben treiben die Spezies der Roboter an. Rund hundert Jahre später durchdringen Computer unsere Welt erst recht – aber nicht mehr schwarz-weiß und mechanisch.

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Und wie funktioniert das mit Mozarts Musik? Im Rhythmus der Klänge aus dem Orchestergraben (große Spielfreude beweisen hier die Duisburger Philharmoniker) tanzen Phantasmen, Tiere und technische Apparaturen über die Leinwand; die Sänger fügen sich ästhetisch stimmig ins Gesamtgeschehen ein. Da es immer etwas zu schauen und zu bestaunen gibt, gerät der Abend äußerst kurzweilig, ohne dass das Primat der Musik aufgegeben wird. Im Gegenteil: Es entsteht ein witziges, anrührendes und auch ein wenig respektloses Gesamtkunstwerk, das einfach Spaß macht.

Wiederaufnahme im Theater Duisburg am 17.12.
Weitere Termine und Karten: www.operamrhein.de




Mozarts Leichtigkeit, Bruckners Wucht – die New Yorker Philharmoniker im Ruhrgebiet

Pianist Emanuel Ax, Dirigent Alan Gilbert und das New York Philharmonic. Foto: Chris Lee

Pianist Emanuel Ax, Dirigent Alan Gilbert und das New York Philharmonic. Foto: Chris Lee

Respektvoll werden sie „The Big Five“ genannt, jene fünf amerikanischen Spitzenorchester, denen ein ganz spezieller Sound nachgesagt wird, im Gegensatz zu den europäischen Klangkörpern von Weltruhm. Wenn eines dieser „Fünf“ in unseren Breiten die musikalische Visitenkarte abgibt, ist der Ansturm auf die Plätze groß. Wie jetzt in der Philharmonie Essen und dem Konzerthaus Dortmund: volle Säle an zwei Abenden mit dem New York Philharmonic.

Mit dem Klang ist das so eine Sache. Die amerikanischen Orchester seien heller timbriert als etwa die Wiener Philharmoniker, zudem werde jenseits des Atlantiks das großsymphonische Repertoire oft blankpoliert, musikalische Ecken und Kanten würden unziemlich geglättet, heißt es. Nun, wer die New Yorker in Essen mit Bruckners 3. Symphonie hört, kann zwar einerseits wundersame Präzision bestaunen, erlebt zum anderen aber eine spannende, kernige, bisweilen schroffe Wiedergabe. Alan Gilbert am Pult sorgt dafür, dass die erratischen Blöcke der Komposition nicht im luftleeren Raum hängenbleiben, vielmehr wird die Musik ständig im Fluss gehalten.

Ein weiteres kommt hinzu: Dieses Spitzenorchester kann sich höchst professionell auf die akustischen Verhältnisse des Saales einstellen. Deshalb klingen Holzbläserlinien silbrig klar und nie überzeichnet. Die Artikulationskunst der Hörner ist von ganz eigener Faszination. Trompeten und Posaunen wiederum scheuen die heftigen Ausbrüche nicht, vermeiden indes bloße dynamische Kraft, formen vielmehr einen ergreifenden klanglichen Überbau. Andererseits pflegt der fast 70 Köpfe starke Streicherkorpus schimmernde, unheimliche Tremoli wie auch eine samtig-satte Lyrik. Einzig die augenzwinkernd derben Ländler-Anlehnungen lassen bei den New Yorkern Esprit vermissen. Da sind die „Wiener“ wohl die authentischeren Interpreten.

Bruckners Wucht und Religiosität, seine Wagner-Anklänge oder die Reduktion der Instrumentalstimmen zum Ätherischen formen sich zu einem großen, hymnischen, spannenden Ganzen. Ohne Verzögerungen, bar jeder Hetzerei. Dirigent Alan Gilbert lässt die Musik atmen, die Farbenpracht der Holzbläser sucht dabei ihresgleichen. Monumental wirkt diese Symphonie und doch fehlt alles Protzen.

Stets stellt sich die Frage, was ein Abendprogramm noch verträgt an der Seite dieser erzromantischen Symphonik. Zumeist wird die Genialität der Tonsprache Mozarts aufgeboten, wegen ihrer Macht über die Seele des Publikums. In der Philharmonie ist es das C-Dur-Klavierkonzert des Meisters (Nr. 25), der Solist heißt Emanuel Ax. Fast ein bisschen hemdsärmelig tritt der Amerikaner polnisch-jüdischer Abstammung an, findet aber schnell zu einem ausdrucksstarken Tonfall. Die Leichtigkeit und Innigkeit seiner Deutung spricht dafür, dass er mit dieser Musik gewissermaßen auf Du und Du steht. Statt virtuoser Akrobatik liefert Ax ein ruhiges, brillantes Figurenspiel. Selbst die Kadenzen (in der Fassung von Alfred Brendel) haben nichts von Tastenlöwentum oder Säuselei.

Manchmal indes gerät die dynamische Balance aus dem Gleichgewicht. Historisch informierte Aufführungspraxis – in dünner Besetzung, mit Originalinstrumenten – pflegt das New York Philharmonic nicht. Etwa 40 Köpfe zählt das Mozartensemble, sein Klang schimmert und glänzt, ein wenig auf Kosten markiger Akzente. Dennoch berührt uns die Musik, besonders die sublimen Dialoge zwischen Klavier und Bläsern im 2. Satz. Da ist Ax ganz in seinem poetischen Element.– Allüberall Applaus.

 

Der Pianist Emanuel Ax ist bereits am 16. Mai (20 Uhr) erneut in NRW zu Gast. Beim Klavier-Festival Ruhr spielt er in der Wuppertaler Stadthalle mit dem Geiger Frank Peter Zimmermann Werke von Johannes Brahms.

www.klavierfestival.de

 

 




Lebensweise Poesie: Maria João Pires beim Klavier-Festival Ruhr in Essen

Das passiert nun schon zum zweiten Mal beim erst ein paar Tage alten Klavier-Festival Ruhe 2013: Man hört ein Konzert für Klavier und Orchester, das nicht so ganz zu einem Entwurf zusammenwachsen will, und dann gibt der Solist eine Zugabe – und die Töne leuchten am Firmament der Musik wie die schönsten Sterne!

Igor Levit zeigte im Eröffnungskonzert sein ganzes Können – mehr noch, seine tiefste Musikalität – in seiner Zugabe, der „Hommage à Rameau“ von Claude Debussy. Und Maria João Pires, eine der „grandes dames“ der Klavierwelt, durchmaß in einem sanften Nocturne Chopins – jener Nummer Drei aus Opus Neun – alle Seelenräume des Polen, dessen f-Moll-Klavierkonzert sie sich vorher mit einem eher neben- als mit-musizierenden Kammerorchester Basel gewidmet hatte.

Seit 1995 war Maria João Pires nicht mehr beim Klavier-Festival zu Gast gewesen, hatte sich auf den Podien der Welt rar gemacht. Sie ist keine Karriere-Frau, bekannte in einem Interview, dass ihr der Sprung in die Welt-Elite der Klaviermusik eher zugefallen sei. Sie hatte kein Glück mit ihrem Projekt einer Schule für unbemittelte Kinder in Portugal. Und 2006 musste sie sich einer schwierigen Herzoperation unterziehen. Kein Leben, das sich zwischen dem Dolce einer umsorgten Künstler-Existenz oder dem Furioso einer Virtuosen-Laufbahn bewegt. Eher ein Leben, das einem beibringt, Grenzen anzuerkennen. Ein Leben, das weise macht.

Trevor Pinnock und Maria João Pires. Foto: Mark Wohlrab

Trevor Pinnock und Maria João Pires. Foto: Mark Wohlrab

Mag sein, dass es nur eine Projektion von Gedachtem auf Gehörtes ist: In Maria João Pires‘ Klavierspiel meint man, etwas von diesem Lebens-Wissen zu spüren. Hätte sie doch ein Solo-Recital gegeben! Aber die Auftritte allein mit dem Flügel, die mag sie nicht. An Chopin schätzt sie nicht den Virtuosen, sondern den Poeten: Die entschiedenen Eröffnungs-Akzente schon gibt sie nicht mit der Geste des narzisstischen Auftritts, sondern fast zu zurückhaltend, als wolle sie dem Orchester generös den Vortritt lassen. Im Bass setzt sie freilich deutliche Ausrufezeichen: Die parfümierte Verschleierung ist ihre Sache nicht; so will sie „Poesie“ nicht verstanden wissen.

Warum ihr dann aber die quasi improvisierten silbrigen Verzierungsketten nicht blühend, nicht atmend gelingen, sondern eher wie eingeschoben wirken, bleibt rätselhaft. War das Orchester unter Trevor Pinnock zu wenig bereit, auf ein feines Rubato einzugehen? Der aus der historisch informierten Aufführungspraxis bekannte Dirigent, der faszinierende Mozart- und Händel-Aufnahmen vorgelegt hat, liebt Konturen und deutlich zugespitzte Akzente. Doch zu einem glückenden Einvernehmen mit der Pianistin kam es hörbar nicht: Das Orchester verdeckte ihr feinsinniges Passagenspiel, die schwermütigen Farben etwa der Dialoge mit dem Fagott verbanden sich zu keinem Bild. Hinreißend zeichnete Maria João Pires im Larghetto mit einem delikat differenzierter Anschlagspalette die sanften, zarten Linien der Landschaft, die der Poet Chopin für sich entworfen hat.

Am Beginn des Konzerts in der Philharmonie Essen stand eine Hommage an Wagner, den das Klavier-Festival noch auf seine Weise würdigen wird: Das „Siegfried-Idyll“, in den Violinen anfangs etwas brockig, glättete sich zu einem sehr sanften, sehr milden Sonnenaufgang über Tribschen. Die Phrasierung hatte in ihren weiten, ruhigen Linien einen Hang zum Schläfrigen.

Mozarts letzte, seine C-Dur-Sinfonie, schloss das Konzert ab. Der Eindruck mangelnder Durcharbeitung drängte sich schon in den Eröffnungstakten auf: Die Akkordschläge sitzen so pointiert, wie wir es von Pinnock kennen. Doch der gebundene Piano-Nachsatz wirkt wie ein Nachklappern statt wie ein lebendig gesetzter Kontrast. Den vielfältig angelegten Gegenstimmen, rhythmischen Schärfungen und auf Holzbläser und Streicher verteilten thematischen Varianten stellt sich das Basler Kammerorchester nicht mit brillanter Formulierung, sondern in einem matten Nebeneinander, gewinnt auch den Modulationen keine Spannung ab.

Im „Andante cantabile“ betont Pinnock die metrischen Überraschungen und Forzato-Akzente, achtet aber zu wenig auf die – als Kontrast gedachte – sanglich atmende Phrasierung. Der dritte Satz gelingt am schönsten, weil das Orchester locker und frei artikuliert; im vierten geht in der komplexen Struktur so einiges daneben, so, als hätten sich Dirigent und Musiker nicht ausreichend verständigt.




Festspiel-Passagen II: Geistlicher Auftakt in Salzburg

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Heute ungewöhnlich, wie klar sich Alexander Pereira bekennt: Er glaubt an Gott. „Ich bin ein alter Jesuitenschüler“, sagt er in einem Interview, in dem er seine Entscheidung begründet, den Salzburger Festspielen künftig eine „Ouverture spirituelle“ voranzustellen. Der neue Intendant möchte die geistliche Musik ins Blickfeld rücken. Christlich geprägte Werke sollen künftig auf solche aus anderen Weltreligionen treffen, jedes Jahr eine andere: 2013 ist der Buddhismus dran, 2014 der Islam.

Zum Auftakt seiner ersten Salzburger Festspielzeit setzte Pereira einen jüdischen Schwerpunkt, mit Musik, die nicht jeden Tag zu hören ist: Das Israel Philharmonic Orchestra spielte unter Zubin Mehta Ernest Blochs „Avodath Hakodesh“ (Gottesdienst). Mit Noam Sheriffs „Mechaye Hametim“ (Auferweckung der Toten), einer 1985 entstandenen großen Symphonie mit Chor, Orchester und Solisten, kam ein zeitgenössischer israelischer Komponist zum Zuge. Und von einem Klassiker der Moderne, Arnold Schönberg, stammt „Kol Nidre“, für das er melodische Elemente aus Musik zum jüdischen Jom Kippur verarbeitet hat.

In diese Reihe darf man Igor Strawinskys „Psalmensymphonie“ getrost einordnen. Bilden doch drei alttestamentliche Psalmtexte die Grundlage, die zum jüdischen wie zum christlichen Gebets- und Traditionsschatz gehören. Als Person schlägt Strawinsky eine Brücke zur orthodoxen Christenheit, als Musiker verleugnet er die Spuren russischer Kirchenmusik auch in diesem Werk nicht. Um das Jahr 1930, in dem die Symphonie entstanden ist, praktizierte er seinen Glauben explizit und setzte sich mit religiösen Fragen auseinander. Mit den Wiener Philharmonikern und der vorzüglichen Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor verständigte sich Valery Gergiev auf einen ruhigen, unspektakulären Zugang mit breit gefächerten dynamischen Nuancen zwischen Pianissimo und Mezzoforte.

Strawinsky hat sich bei der Musik zu Psalm 38, 39 und 150 von religiöser Emphase fern gehalten. Er schreibt Musik wie eine mittelalterliche Miniatur: farbenprächtig, aber objektivierend. Und Gergiev folgt dieser „darstellenden“ Linie. Die Flexibilität des Chores, die ruhig-schwingenden Tempi des Dirigenten, die strukturerhellende Transparenz des Orchesters passen bestens. Wenn in „Alleluja. Laudate Dominum“ das „in sanctis Eius“ verhalten-scheu erklingt, ist man an die große östliche Tradition der Heiligenverehrung erinnert. Kein Triumph, keine Verherrlichung, sondern ein ehrfürchtiges Sich Nähern mag diese musikalische Wiedergabe widerspiegeln.

Die Eröffnungskonzerte der „Ouverture spirituelle“ zeigen eine dramaturgisch bewusste Konzeption: Am Beginn stand – wie künftig in jedem Jahr geplant – Joseph Haydns „Schöpfung“, eine hochgelobte Aufführung unter John Eliot Gardiner; im nächsten Jahr soll sie Nikolaus Harnoncourt dirigieren. Es folgte der „Messias“ unter Daniel Harding, ein Schlüsselwerk in der Geschichte des Oratoriums. Mit der c-Moll-Messe KV 427, die Mozart selbst bei seinem letzten Salzburg-Besuch 1783 dirigierte, wurde dem musikalischen Genius loci gehuldigt.

Im Laufe der Saison, die bis 2. September ausgedehnt wurde, folgen mit der „Messe solennelle“ von Hector Berlioz am 15. August und der „Messa da Reqiuem“ Giuseppe Verdis als Abschlusskonzert am 1. September weitere bedeutende Schöpfungen aus der geistlichen Sphäre. Während die Festspiele auf diese Weise eher eine Reihe der beliebtesten „Highlights“ präsentieren – was sich künftig der Profilierung halber nicht fortsetzen sollte –, brachte etwa die Salzburger Dommusik im Sonntagshochamt eine der zwanzig Messen von Luigi Gatti, dem Hofkapellmeister Fürsterzbischof Colloredos und damit Vorgesetzten von Leopold Mozart.

Der Anfang mit der „Schöpfung“ lässt sich durchaus programmatisch für die philosophische Ausrichtung der „Ouverture sprituelle“ verstehen. Haydn schrieb kein Oratorium für die Kirche, sondern für eine gebildete Gesellschaft, für die freilich christlicher Glaube und die Ausrichtung an christlichen Prinzipien Teil ihres geistigen Lebens war. Der Schöpfungslaube, den Gottfried van Swietens Libretto voraussetzt, verbindet nicht nur Juden, Christen und Muslime. Dass am Beginn allen Existierenden eine wie auch immer geartete göttliche Setzung steht, ist Gemeingut aller Religionen. So spiegelt die „Schöpfung“ Rückbezug auf Gott, Freude an der Natur, aufklärerisches Denken, aber eben auch ein Bewusstsein für das – wenn auch sehr allgemein zu verstehende – Gemeinsame aller Religionen, formuliert auf der Basis eines christlich-jüdischen Schöpfungsbegriffs.

Ein Projekt wie die „Ouverture spirituelle“ ist in Gefahr, zu einem Wohlfühlprogramm mit beliebten Werken und beliebigen Inhalten zu degenerieren. Um ein postmodernes kulturelles Konsumprogramm mit spiritueller Prägung zu vermeiden, bieten die Festspiele gemeinsam mit den Herbert-Batliner-Europainistitut ein Begleitprogramm an. Wie beim „Jedermann“ mit seinem aus dem geistlichen Spiel stammenden Parabel-Charakter bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er sich innerlich berühren lässt, ein Häppchen moralische Genugtuung aufnimmt oder sich Hoffmannsthals Appell lediglich als beeindruckendes Produkt einer Kulturepoche zu Gemüte führt. Wer die aus Antike, Christentum und Aufklärung ererbte Idee, Bildung könne den Menschen zum vollkommeneren Menschsein führen, nicht ganz aufgeben will, wird den spirituellen Schwerpunkt zu Beginn der Festspiele – der dessen ureigensten Intentionen entspricht – nur begrüßen können.

Nicht nur christlich, sondern ausgeprägt katholisch war das Programm eines Konzerts, mit dem Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus im Salzburger Dom zu Gast waren. Die „Missa Longa“ (KV 262) und die Litanei zum Allerheiligsten Altarsakrament (KV 243) sind beide in Salzburg uraufgeführt worden: die „Litaniae de venerabili altaris sacramento“ zum Palmsonntag 1776, die Messe – durch das Schreibpapier des Autographs auf 1775 zu datieren – vermutlich im gleichen Jahr im Dom oder in Sankt Peter. Beide geben ein glanzvolles Zeugnis für das Können des 19jährigen Konzertmeisters im Dienste Colloredos. Mit der Messe scheint Mozart alle kontrapunktischen Künste zum Lob Gottes – auch zum Ohrenschmeichel seines Dienstherrn und der Selbstbestätigung seiner Kunst – eingesetzt zu haben. Und die „Litaniae“ geben Zeugnis vom Einfallsreichtum des Komponisten, der jeder Wiederholung des „miserere nobis“ eine eigene Farbe, einen spezifischen Ausdruckswert geben konnte.

Harnoncourt dirigierte beide Salzburger Höhepunkte der Kirchenmusik – in Wien hatte Mozart ja leider keine Gelegenheit mehr, auf diesem Feld zu brillieren – mit ausgefeilter Sorgfalt im Detail. Die Reaktionsschnelligkeit seines Orchesters, der vokale Expressionswille des Arnold-Schönberg-Chores, verhallten leider in der unergründlichen Akustik des Domes. Ein Grund ist wohl: Musiziert wurde im Altarraum, nicht auf der Empore, wie es für eine Kirche eigentlich vorgesehen ist.

Auf Wunsch Harnoncourts wurden extra die Tapisserien aus dem Dommuseum aufgehängt, um die akustischen Verhältnisse der Mozartzeit anzunähern. Leider umsonst: Der Nachhall überflutete die sorgsam ausmodellierten dynamischen Kontraste; jedes Forte verurteilte ein nachfolgendes Piano zum Tod durch Ertrinken. Zudem neigt Harnoncourt in der Messe zu raschen, energischen Tempi und kleinteiliger Artikulation.

Auch die Solisten Sylvia Schwarz, Elisabeth von Magnus, Jeremy Ovenden und Florian Boesch versuchten meist vergeblich, ihre Stimmen zu profilieren. In den „Litaniae“ hatten die Musiker dank des langsameren Tempos und des musikalischen Pathos mehr Chancen auf fassbar gestalteten Klang. Harnoncourt beleuchtete theologische Schlüsselworte wie „supersubstantialis“ oder das – von Mozart in eine exotisch-dunkle Klangfarbe gekleidete – „Viaticum“, die Wegzehrung derer, die im Sterben zu Gott streben. Ansonsten musste man in Kauf nehmen, was als Gleichnis für unsere Zeit stehen könnte: Das Wort verhallte unverstanden.




Ein Hoch der Tastenkunst: Martha Argerich beim Klavier-Festival Ruhr

Der Jubel war programmiert: Martha Argerich, eine der bekanntesten Pianistinnen weltweit, gehört zu den geschätzten „Stammgästen“ des Klavier-Festivals Ruhr. Solo-Konzerte gibt die Dame mit den langen grauen Haaren seit langem nicht mehr gerne. Sie macht mit Musikern, die sie schätzt, Kammermusik. In diesem Jahr konzentrierte sich ihr Auftritt in der Philharmonie auf das Klavier. Zwei Flügel, vier Spieler, acht Hände: Der Tastenkunst wurde Tribut gezollt!

Argerich eröffnete den Abend mit ihrer langjährigen Klavierpartnerin Lilya Zilberstein. Mozarts D-Dur-Sonate zu vier Händen (KV 381) schnurrte in perfekter Gleichzeitigkeit dahin. Die Damen gönnten sich kein Innehalten, preschten durch den ersten Satz. Kein idealer Zugang zu Mozart: Farbwechsel wären durch die Noten beglaubigt und würden die Vorherrschaft des rein Motorischen brechen. Dass Mozart zum Beispiel die Staccato-Treppchen schon nach vier Takten durch Bindebögen, nach weiteren vier Takten durch Rhythmuswechsel ersetzt, hat für die beiden stürmischen Damen keine Konsequenz für ihre Rhetorik. Und der piano-Einsatz ab Takt 14 zählt nicht als Zäsur, nach der sie die Artikulation verändern. Der zweite, schön fließende Satz gestand Mozart jedoch die Tiefe der Empfindung zu; im dritten Satz waren die Pianistinnen brillant-gelöst im Allegro molto angekommen.

Lilya Zilberstein (links) und Martha Argerich bei ihrem Essener Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Lilya Zilberstein (links) und Martha Argerich bei ihrem Essener Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Aus zweien von Debussys „Trois Nocturnes“ hat Maurice Ravel ein effektvolles Stück für zwei Klaviere gemacht, in dem Zilberstein und Argerich in ihrem Element sind: Konzentration auf magische Klangmomente, meditatives Kreisen, ein raffiniertes Spiel mit der Spannung, aber auch rasantes Martellato. Wenn im zweiten Stück, „Fêtes“, die dunkle Bässe „ausrollen“, die Spannung der Musik verebbt, noch einmal ein paar Töne aufklingen, wie Schaumkrönchen sich an einem Felsbrocken am Strand bilden, bevor bestimmende Bass-Akkorde das Ende signalisieren, dann wird beim Zuhören klar, wie souverän die beiden zu gestalten wissen.

In Franz Liszts „Concerto pathétique“ steigern sie die Ausdrucksmittel noch: Musikalische Gesten werden – wie im Stummfilm – expressiv überzeichnet: schmerzliches Pathos, aufgewühlte Bewegung, verzehrende Intensität, bittersüße Melancholie. Doch in einer von Martha Argerich unvergleichlich innig erzählten Melodie klappt jemand – schnapp – die Handtasche zu. Kein Augenblick der Zeit ist vollkommen …

Der Abend wurde auch genutzt, den Söhnen von Lilya Zilberstein zu ihrem Klavier-Festival-Debüt zu verhelfen: Daniel und Anton Gerzenberg verstärkten das Damen-Duo in Bedrich Smetanas Sonate für zwei Klaviere zu acht Händen. Füllig und orchestral kommt diese Musik daher, aber Smetana war doch wohl eher Melodiker als ein Freund kontrapunktischer Herumfeilerei. Die harmonischen Subtilitäten sind bei den Vieren in schön ausbalancierten Händen. Daniel und Anton, zwei sympathische Jungs, können leider – auch in der Zugabe eines Smetana-Rondos – nur beflissenes Teamwork beisteuern. Da die beiden seit 2008 als Klavierduo auftreten, wird es wohl irgendwann die Gelegenheit geben, zu hören, was sie wirklich können.

Ans Ende – vor die drei heftig beklatschten Zugaben – setzen Argerich und Zilberstein acht Sätze aus Tschaikowskys „Nußknacker“: Tanzmusik vom Feinsten, mit Geschmack, blitzender Präzision und einem kleinen Schuss Sentiment veredelt. Noch ein Hinweis: Am 20. Juli erscheint Martha Argerichs neuestes Album. Mit Gidon Kremer (Violine), Yuri Bashmet (Viola) und Misha Maisky (Cello) spielt sie Brahms‘ Klavierquartett op. 25 und Schumanns Fantasiestücke op. 88.




Zur Liebe nicht mehr fähig: Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in Essen

Weiße Räume, einsame Menschen: Christina Clark (Blondchen) und Roman Astakhov (Osmin) in der Essener "Entführung aus dem Serail"

Weiße Räume, einsame Menschen: Christina Clark (Blondchen) und Roman Astakhov (Osmin) in der Essener "Entführung aus dem Serail"

Nur einer kämpft wirklich, tobt herum, heult hemmungslos, zeigt Emotionen pur: Osmin. Und er ist der Einzige, der möglicherweise die Liebe findet: Blondchen wendet sich ihm zu, dem cholerischen, aber authentischen Mann. Die anderen singen derweil von Freud‘ und Wonne in blassen, weißlichen, leeren Räumen. „Es lebe die Liebe“, heißt es im Quartett am Ende des zweiten Aufzugs in Mozarts „Entführung aus dem Serail“, aber in der Essener Inszenierung von Jetske Mijnssen gähnt stattdessen die Einsamkeit aus der tief gestaffelten Leere der Bühne.

Es ist einiges anders als sonst in der „Türkenoper“ Mozarts – und das lässt viele Zuschauer die Premiere ordentlich ausbuhen. Mijnssen, ihre Bühnenbildnerin Sanne Danz und ihre Kostümkünstlerin Arien de Vries haben Orient-Kolorit und Türken-Mode ausgetrieben. Hier geht es nicht um ein fesches Singspiel aus dem Wien von 1782, sondern um ein psychologisch verdichtetes Kammerspiel von 2012. So zumindest ist die durchaus schlüssige Idee der neuesten „Entführung“ am Essener Aalto-Theater.

Osmin ist also kein pluderhosiger Haremsaufseher und der Bassa Selim kein Turban tragender Märchen-Nahostler, erfüllt vom großmütigen Menschen-Ideal der Aufklärung. Er feiert gerade seinen 40. Geburtstag, mit Torte und Bierdosen. Wir erleben die behutsame Annäherung von zwei Menschen. Selim möchte mit Konstanze ausbrechen aus seinem Umfeld, sinnenfällig markiert vom Rahmen der Bühne. Eine „neue, bessere Welt“ will er erreichen, in der man „wenigstens dann und wann“ glücklich sein kann.

In der Essener „Entführung“ sprechen Menschen, die innerlich ihren Ort verloren haben, die ihre erste Liebe schon lange hinter sich haben, die es verlernt haben, sich zu entscheiden, sich zu binden. Aber sie träumen sich zurück in unversehrte Räume des Fühlens. Belmonte zum Beispiel – er könnte die erste Liebe Konstanzes gewesen sein – vertieft sich in die Intensität seines Sehnens, seiner Erwartung. Wenn er vor dem Vorhang vor seinen eigenen Emotionen in die Knie geht: Ist er dann ganz bei sich? Oder nur in sich selbst gefangen?

Konstanzes Attribut ist die Reisetasche. Ein Mensch unterwegs. Wie beschwörend packt Belmonte das braune Ding, als ihm klar wird, dass ihm die Frau seiner Sehnsüchte – wieder? – entschwindet. Am Ende, musikalisch durch den wiederholten ersten Teil der Ouvertüre noch erweitert – macht sich Konstanze mit der Tasche auf den Weg. Alleine. Wohin, wird die Regisseurin in ihrer ersten Arbeit am Aalto-Theater Essen nicht verraten. „Zuletzt befreit mich doch der Tod“, singt Konstanze in ihrer zentralen Arie. In Mozarts „Entführung“, Libretto von Johann Gottlieb Stephanie, ist klar, von was: von der angedrohten Folter. In der „Entführung“, umgedichtet von Jetske Mijnssen, wird wohl erst der Tod Konstanzes innere Einsamkeit beenden.

Mijnssen packt in ihrem „Entführungs“-Experiment so mutig wie in ihrer letztjährigen Dortmunder „Rusalka“ zu. Die weißen Räume von Sanne Danz öffnen sich weit nach hinten, reproduzieren jedoch konsequent immer wieder nur die gleiche Leere. Mijnsen will etwas über Menschen erzählen, die ungefähr so alt sind wie sie selbst. Über den Bassa etwa, der das „Chaos“ in sich fühlt. Und am Ende desillusioniert keine Großmut, sondern Wurstigkeit zeigt: Sollen sie doch gehen, die Verliebten. Ist ihm so was von egal …

Einsame Menschen: Sanne Danz' Bühne zu Mozarts "Entführung aus dem Serail" Fotos: Aalto Theater Essen

Einsame Menschen: Sanne Danz' Bühne zu Mozarts "Entführung aus dem Serail" Fotos: Aalto Theater Essen

Gedanklich ist die Inszenierung ein Wurf, szenisch nur stellenweise. Denn dem Drama fehlt der Spannungsbogen. Umgearbeitete Dialoge biedern sich der heutigen Sprache an, wirken aber manchmal banaler als die Stephanie-Reimereien. Personen wie Blonde oder Belmonte bleiben unerklärt; der Bassa des Schauspielers Maik Solbach ist bloß ein blasser Typ mit dem neudeutschen Tonfall eines Fernsehmoderators. Sicher, hier treffen Monaden aufeinander, die einer Novelle von Martin Walser oder einem Roman Michel Houellebecqs entkriechen könnten. Die Regie versucht in zerdehnten Bewegungen ihre Seelenzustände einzufangen. Aber oft bleibt das Stück auf der Stelle stehen Und die Auftritte und Bewegungen der Figuren muten an, als habe die Regie ihr Handwerk einer Idee geopfert. Konstanzes Klagen über die „Martern aller Arten“ wirkt so vor allem hysterisch: Die Figur ist nicht konsequent genug durchgeformt, dass man ihr glauben würde, von ihrer Entscheidungsangst könnte sie „nur der Tod“ befreien.

Musikalisch sorgt Christoph Poppen – erstmals am Aalto-Theater zu Gast – für eine Mozart-Sternstunde: Zwar verhetzt er die Ouvertüre á la mode, opfert dem Tempo Artikulationsfinesse und feine Detailarbeit der Geigen. Doch das gibt sich zum Glück bald: Den Essener Philharmonikern gelingen das innere Beziehungsgeflecht der Musik spannend, Einzelheiten filigran modelliert, Klangfarben sinnig ausgespielt. Auf den Zusammenhalt von Bühne und Graben dürfte Poppen allerdings noch einen Blick werfen.

Simona Saturova zeigt Beweglichkeit und Substanz. Sie hat keine Probleme damit, die Grausamkeiten auf dem Atem zu tragen, die Mozart seiner Uraufführungs-Konstanze Catarina Cavalieri in die Kehle geschrieben hat. Sie weiß zu färben und dynamisch zu schattieren. Allerdings ist ihre Stimme wenig flexibel positioniert, steckt in einem beengt wirkenden Klangraum, der sich nicht weiten will. Bernhard Berchtold verzaubert als Belmonte mit lyrischen Wundern, bis an die Grenze des Atems gehaltenen Legati, sorgsam gebildeten Schwelltönen.

Roman Astakhov ist kein idealer Osmin: zu schlank-metallisch die Stimme, ohne klanglichen Kern und gesättigten Ton. Die bezaubernde Christina Clark (Blondchen) und der fabelhaft höhensicher und tonschön singende Albrecht Kludszuweit (Pedrillo) bestätigen erneut das hohe Niveau des Aalto-Ensembles. Mit dieser „Entführung“ hat Essen eine Neuinszenierung, die viel Klugheit investiert, um das Stück ins Heute hineinzutragen. Das haben andere auch schon getan, aber – trotz aller Einwände – kaum mutiger und näher am Puls unserer Zeit und ihren psychischen Befindlichkeiten.

Information und Termine: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-entfuehrung-aus-dem-serail.htm




„Così fan tutte“ in Dortmund: Eine Tragödie voller Heiterkeit

Zarte Blüten der Zuneigung entdeckt Fiordiligi (Eleonore Marguerre) für Ferrando (Lucian Krasznec. Foto: Thomas M. Jauk/Stage Picture)

Von einem bösen Menschenexperiment erzählt Mozarts Oper „Così fan tutte“, in der ein zynischer Philosoph zwei verliebte junge Männer in eine perfide Wette um die Treue ihrer Freundinnen treibt. Im Theater Dortmund schwebt das zweiaktige „Dramma giocoso“ jetzt licht und anmutig über mephistophelische Abgründe. Intendant Jens-Daniel Herzog hat seine vor acht Jahren am Nationaltheater Mannheim erarbeitete Fassung erfolgreich für Dortmund aufpoliert.

Auf dem Drahtseil zwischen Posse und Tragödie hält die Produktion sicher die Balance. Sie neigt zuweilen dem Klamauk zu, gleitet aber nie vollends in die Klamotte ab. Lieber hält sie sich an Mozarts heitere Liebenswürdigkeit, die alle Figuren gelten lässt und niemals Partei ergreift. Je schlimmer die Akteure sich in den Strippen des intriganten Don Alfonso verstricken, desto humaner erscheinen sie uns. Jens-Daniel Herzog zeichnet die zunehmende Verwirrung der Köpfe und Herzen glaubhaft und punktgenau nach. Bei aller galanten Grazie bleibt stets eine dramatische Fallhöhe spürbar: Hier werden Beziehungen so lange und so hart auf die Probe gestellt, dass die Risse am Ende nicht mehr zu kitten sind.

Bühne und Kostüme von Mathis Neidhardt schaffen einen nachgerade genialen Rahmen für das doppelbödige Spiel. Ein stuckverziertes Theaterfoyer, das wohl einst bessere Zeiten sah, lässt sich gegen eine kleine Wohnstube mit geblümter Tapete verschieben, in der Dorabella und Fiordiligi zum Warten verdammt sind. Ihre Liebsten Ferrando und Guglielmo wirken in ihrer unaufdringlich geschmacklosen 50er-Jahre-Garderobe wie verkappte Spießer. So beschwört Neidhardt eine enge Welt mit rigiden Vorstellungen von Anstand und Moral, die er in der Folge ungebremst auf Bilder aus dem Orient prallen lässt. Denn Ferrando und Guglielmo werben als geldschwere Scheichs um die Gunst der jeweils falschen Partnerin.

Ausgewogen und erfrischend spielfreudig präsentiert sich das Dortmunder Ensemble. Die Stimmen klingen durchweg warm, lebendig und gut geführt. Dass sie eher klein sind, führt zur vielleicht einzigen Schwachstelle innerhalb kurzweiliger dreieinhalb Stunden. Es dauert bis zur Pause, bis ein erstes überzeugendes Forte aufkommt, und beinahe bis zum Schluss, bis die Ensembles wahre Strahlkraft und Dichte entwickeln. Der schlanke und federnde Klang, den Dirigent Motonori Kobayashi und die Dortmunder Philharmoniker beisteuern, bleibt da notgedrungen über weite Strecken dünn. Ohne einer opulenten Orchesterbesetzung à la Karajan das Wort reden zu wollen: Ein wenig mehr Klangfülle hätte mehr Funken aus der Musik geschlagen.

Gleichwohl gilt es, Lob zu verteilen: für den beweglichen und anrührenden Sopran von Eleonore Marguerre (Fiordiligi), das reiche Timbre und das komödiantische Talent von Ileana Mateescu (Dorabella), den schlanken lyrischen Tenor von Lucian Krasznec (Ferrando), den bis zum Ingrimm intensiven Bariton von Gerardo Garciacano (Guglielmo), den eher gemütlich-bösen Bass von Christian Sist (Don Alfonso) und natürlich für Julia Amos, die als quirlige Dienstmagd Despina sogar in den Orchestergraben steigen und den Dirigenten entführen darf. Die von Granville Walker gut einstudierten Chöre haben als falsche Soldaten einen herrlich komischen Auftritt. Bravos und Klatschmärsche im ausverkauften Haus. Das Dortmunder Opernpublikum, in den letzten Jahren nur selten verwöhnt, hofft hörbar auf eine Wende zum Besseren.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.theaterdo.de)




Duisburger Musik statt Dortmunder Fußball

Hab ich schon geschrieben, weshalb ich gestern das Dortmund-Spiel nicht gesehen habe? Nein? – Ganz einfach. Meine Frau und ich haben gestern das 2. Konzert der Duisburger Philharmoniker – schon unseres Abos wegen, vor allem aber wegen des verheißungsvollen Programms (Mozart + Bruckner) – dem live im Fernsehen übertragenen Fußballspiel natürlich vorgezogen. Und außerdem: War es nicht besser, musikalisch Gutes zu hören, als Dortmunds klägliches Debakel mitanzusehen?

Und dennoch: Akustisch mag es zwar vielleicht an unserem Sitzplatz – unserem immerhin doch gewohnten und längst bewährten Sitzplatz! – gelegen haben, leider aber: das 23. Klavierkonzert Mozarts, das ich doch seit langem so gerne mag, hat mir, von der Art der Darbietung her, nicht vollends gefallen; zumindest nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte. Die Ecksätze waren mir insgesamt eine Nuance zu schnell gespielt, die Orchester- und die Klavierpassagen traten mir nicht markant und durchhörbar genug hervor. Fast monophon erschien mir der Klang. Nur der 2. Satz hielt weitestgehend und durchaus beseligend das, was ich mir von dem gesamten Werk versprochen hatte. Da atmete alles. Und so ähnlich war es dann wieder auch bei der sich an den dritten Satz anschließenden Liszt-Zugabe des Pianisten und gleichzeitigen Dirigenten des Abends, Stefan Vladar.

So beschloss ich, endgültig erst nach der 7. Bruckner-Symphonie über das Gesamtkonzert zu urteilen, die mir nämlich seit langem ebenfalls sehr viel bedeutet: War es doch einmal genau die Siebte, die mich per Radio der großen Musik Bruckners erstmals begegnen ließ und durch die mir früh schon und bleibend mein Sinn für sie geschärft wurde. Wie verwandelt erschienen mir die Interpreten der 1. Hälfte nach der Pause: Diese Musik und die Art ihrer Darbietung zündete sofort und ließ über das ganze gewaltige Werk hin keinerlei kritische Anmerkungen bei mir auch nur ansatzweise in den Sinn kommen. Sehr gut (auf dem gewohnten hohen Niveau der Duisburger Philharmoniker) wurde das gespielt. Dem Orchester und dem Dirigenten sei ausdrücklich dafür gedankt.




Zwischen Mozart und Moderne

Mojca Erdmann ist eine Sopranistin der besonderen Art. Wer im Bundeswettbewerb Gesang einen Preis für die Interpretation zeitgenössischer Musik gewinnt, wer in Salzburg mit Mozarts „Zaide“ debütiert (2006) und drei Jahre später in Schwetzingen die Uraufführung von Wolfgang Rihms „Proserpina“ stemmt, verfügt über ein ungewöhnlich kontrastreiches Repertoire. Nicht viele Stimmen halten diesem stilistischen Spagat zwischen Klassik und Moderne stand.

Zwischen Mozart und Rihm hat sie u.a. Strauss, Mahler und Puccini gesungen. Wir hörten sie als Suor Genovieffa, die Vertraute der Suor Angelica in Puccinis gleichnamiger Verismo-Oper. Mit leichter, dennoch ausdrucksstarker Stimme formte sie einen sanft heiteren Charakter. Und in Mahlers 4. Sinfonie, in deren letztem Satz Erdmann von den himmlischen Freuden ganz irden erzählte, ließ sie es geschickt offen, ob des Komponisten Erlösungsmusik nicht doch Zeichen von Resignation in sich birgt.

Nun aber hat Erdmann ihre erste CD vorgelegt und sich dabei vor allem auf Mozart-Arien kapriziert. Daneben erklingt die Musik einiger Klassik-Kleinmeister, denen sich die Sopranistin ebenso ambitioniert widmet. Ja, sie versenkt sich in ihre Rollen, klagt inbrünstig, zürnt herausfordernd, spöttelt sanft. Das also fällt zuerst auf: ihre Identifikationskraft, ihr Sinn für dynamische und gestalterische Nuancen.

Dabei ist die Stimme nur bedingt schön, weil nicht stets balsamisch gülden strömend, in blitzblanker Höhe jubilierend oder in der Mezzolage satt grundiert. Doch hier geht es nicht um zur Schau gestellte Perfektion, auch nicht um jungmädchenhafte Reinheit, sondern ums Modellieren unverwechselbarer Charaktere.

Der vor Zorn bebenden Zaide also möchten wir nicht im Dunklen begegnen. Der zutiefst einsamen Pamina wiederum (aus Mozarts Zauberflöte) gilt unser ganzes Mitleid. Oder Zerlinas milde Versöhnungsgeste gegenüber ihrem Liebsten Masetto (Don Giovanni) – schlicht und erhaben.

Mojca Erdmanns Stimme ist nicht von strahlendem, sondern metallenem Glanz, das mag der Hinwendung zum modernen Repertoire geschuldet sein. Sie ist bisweilen herb und ungenau fokussiert. Doch immer siegt ihre suggestive Kraft. Bestens unterstützt vom Ensemble „La Cetra“ unter Andrea Marcon, das in historisch informierter Aufführungspraxis pointiert musiziert – mit teils geschärften Akzenten, manchmal harsch, dann wieder in samtenem Wohllaut spielend.

 

Die CD wurde von der Deutschen Grammophon veröffentlicht.

 

(Der Text erschien in kürzerer Form in der WAZ).




Heikle Debatte um die Freiheit der Kunst: Absetzung der Mozart-Oper „Idomeneo“ in Berlin – aus Angst vor islamistischen Anfeindungen

Von Bernd Berke

Ach je, es ist wieder mal so weit: Wir haben eine neue Debatte um die Freiheit der Kunst! Abermals ragt die politische Sphäre bedrohlich in die kulturelle hinein. Die Deutsche Oper in Berlin hat (wie berichtet) die Mozart-Oper „Idomeneo“ aus Furcht vor etwaigen islamistischen Anfeindungen vom Spjelplan genommen. Jetzt hagelt es Kritik an der Entscheidung.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat den Entschluss der Opern-Intendantin Kirsten Harms (50) als „verrückt“ bezeichnet: Ein solcher Schritt sei lächerlich. Regisseur Hans Neuenfels, dessen „Idomeneo“-Deutung bereits 2003 ihre (von Tumulten begleitete) Premiere erlebte, hat die Absetzung als „Hysterie“ gescholten, sein Anwalt Peter Raue legt der Intendantin den Rücktritt nahe.

„So weit ist es gekommen…“

Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) spricht von übereilter „Selbstzensur“. Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) meint: „So weit ist es gekommen, dass die Freiheit der Kunst eingeschränkt wird.“ Ähnlich äußert sich Klaus Staeck, Präsident der Berliner Akademie der Künste. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Börnsen: „Das schadet der Freiheit der Kunst auf unserem Kontinent.“

Man wüsste gern mehr über die Entscheidungswege. Hat die Oper (z. B. angesichts des Streits um Papst-Zitate und Mohammed-Karikaturen) etwa befürchtet, dass speziell diese Mozart-Version Probleme mit sich bringt – und vorsichtshalber angefragt?

„Unkalkulierbare Risiken“

Wohl kaum. Gestern hieß es, Berlins Landeskriminalamt (LKA) habe bereits im Juli vor einer Wiederaufnahme der Oper gewarnt, es habe zuvor einen anonymen Hinweis gegeben. Der Kulturverwaltung des Berliner Senats sei sodann eine „Gefährdungsanalyse“ übermittelt worden. Nicht von konkreten Drohungen ist die Rede, aber von „unkalkulierbaren“ Risiken.

Ist es vorauseilender Gehorsam, ein „Kniefall“ gar? Intendantin Kirsten Harms hatte offenbar Hinweise auf Gefahren. Berlins Innensenator Ehrhart Körting habe ihr die Bedenken mitgeteilt, sagte Harms gestern. Körting wiederum legt Wert auf die Feststellung, er habe nicht die Absetzung der Oper gefordert.

Wowereit für offensive Linie

Da möchte man nicht mit der Opernchefin tauschen. Sie trägt Verantwortung für die Sicherheit der Darsteller und des Publikums. Berlins Kultursenator Thomas Flierl bescheinigt ihr denn auch verantwortungsvolles Handeln. Bürgermeister Klaus Wowereit kontert, Kunstfreiheit müsse „offensiv“ verteidigt werden. Leicht gesagt.

Harms betont, „vorerst“ seien nur die vier November-Aufführungen gestrichen worden. Heißt das: Rückzug vom Rückzug möglich? Jetzt, wo vielleicht „schlafende Löwen“ geweckt worden sind?

Deutungshoheit des Regisseurs

Die Freiheiten, die sich manche Regisseure gestatten, sind nicht selten verstörend, sie können mitunter Gefühle verletzen. Abgeschlagene Köpfe der großen Propheten und Religionsstifter in einer Mozart-Oper zu zeigen, das zeugt von extensiver Auslegung der Deutungshoheit eines Regisseurs. Hans Neuenfels macht geltend, er habe sich mit sämtlichen Weltreligionen auseinandersetzen und einen „Aufstand gegen die Götter“ schildern wollen.

Wohin soll das noch führen? Es wären allerlei Gruppierungen oder auch einzelne Eiferer denkbar, die Theaterspielpläne (oder z. B. Kino- und Verlagsprogramme) durchforsten. Wenn ihnen etwas missfällt, was dann? Die Deutsche Oper hat ihnen jetzt ein fatales Beispiel geliefert, dass bereits vage Bedrohungen wirksam sein können. Wo bliebe die Freiheit der Kunst, die doch wohl unverbrüchlich zum aufklärerischen Kulturerbe zählt?

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HINTERGRUND

Konflikt mit den Göttern

  • Mozarts Oper „Idomeneo“ erzählt die tragische Geschichte des gleichnamigen kretischen Königs.
  • Dieser Idomeneo sieht sich – nach dem Trojanischen Krieg – vom Meeresgott Poseidon dazu gedrängt, seinen eigenen Sohn zu opfern.
  • Daraus erwächst der Konflikt zwischen Pflicht gegenüber den antiken Göttern und Treue zu den Menschen.
  • Bei Mozart endet die Sache (dem Geschmack seiner Zeit entsprechend) allerdings glimpflich.
  • Die triumphale Uraufführung war im Januar 1781 im Münchner Hoftheater.

 




Die Suchmaschine bringt es an den Tag: Durch ein paar Mausklicks kulturelle Streitfragen klären

Von Bernd Berke

Ganz entspannt im Hier und Jetzt wollen wir mal ein paar uralte Kultur-Streitfragen klären. Internet-Suchmaschinen wie etwa Google machen’s möglich. Man gibt den Namen in die Suchmaske ein, und schon weiß man, wie oft er im Netz vorkommt.

Frage eins, von ergrauten Rockfans seit Jahrzehnten diskutiert: Wer ist bedeutender, die Beatles oder die Stones? Also, bitte sehr, kein Problem, das haben wir gleich: Die „Fab Four“ sind mit imponierenden 10,1 Millionen Internet-Fundstellen verzeichnet, die Rolling Stones gerade mal mit der Hälfte: 5,12 Millionen. Und das, obwohl die englische Wort-Kombination für „rollende Steine“ auch anderweitig vorkommen könnte, so vielleicht auf alpinistischen Seiten. Egal. Die Entscheidung ist gefallen.

Zusätzliche Labsal für Beatles-Anhänger: In der Einzelwertung liegt John Lennon (2,1 Mio.) auch noch deutlich vor Mick Jagger (535 000). Yeah, yeah, yeah!

Mozart liegt nur knapp vor Beethoven

Erheblich knapper wird es schon im Bereich der klassischen Musik. Mozart ist in den Weiten und Tiefen des Netzes 6,83 Millionen Mal zu finden, Beethoven kommt auf 5,68 Millionen. Pech. Da hat ihm – bei allem Respekt – auch sein „Ta-ta-ta-taaa“ nichts genützt.

Beim Klicken wachsen (je nach Neigung) das sportliche Vergnügen oder die Lust an der Lotterie (obwohl es hier keinen Jackpot gibt). Also schnell weiter mit zwei Malern: Rembrandt (2,05 Mio.) triumphiert über Michelangelo (1,88 Mio.). Ha! Picasso haben wir übrigens bewusst ausgelassen, denn da kriegen wir alle einschlägigen Parfümsorten oder Automodelle mit auf die Rechnung.

Und wie sieht es bei den großen Dichtern aus? Nun, hier heißt der Champion zweifellos Shakespeare: Schier unglaubliche 12,6 Millionen Nennungen entfallen auf seinen wahrlich berühmten Nachnamen. Dante (5,31 Millionen) und Goethe (3,81Mio.) wirken damit verglichen wie Newcomer.

Apropos neu, und hier wird’s erstaunlich: Bei den deutschen Schauspielern ist der Jungspund Daniel Brühl (236 000) dem Haudegen Götz George (246 000) bereits ganz dicht auf den Fernsen. Wie das wohl zustande kommt? Vielleicht hat die gar nicht so unfehlbare Suchmaschine ja den Stadtnamen Brühl (bei Köln) gelegentlich mitgezählt.mitgezählt, wenn denn auch irgend ein Herr namens Daniel auf der jeweiligen Homepage erscheint.

Wenn Thomas Mann gegen Brecht antritt

Auch kulturhistorische Konfrontationen lassen sich auf diese rabiate Weise nachbereiten. Bert Brecht und Thomas Mann mochten einander bekanntlich nie leiden. Den Ziffernsieg über den Edel-Proletarier trägt nun der großbürgerliche Mann davon: 4,82 Millionen (wobei vielleicht einige Zeitgenossen denselben, wohl nicht gar so seltenen Namen tragen).

Bertolt Brecht kommt unterdessen auf schlappe 640 000. Selbst wenn man die Lesart Bert Brecht (119 000) und die (oft verwendete, aber falsche!) Schreibweise Bertold Brecht (141 000) mitzählt, reicht es hinten und vorne nicht.

Muss man wirklich eigens betonen, dass dieses Verfahren völlig kulturfern, ja geradezu barbarisch ist? Und dass die genannten Zahlen schon heute nicht mehr genau stimmen, weil das Internet sich als höchst veränderlicher „Organismus“ erweist? Muss man nicht, oder? Schließlich entscheidet in kulturellen Fragen nicht allein die „Quote“.

Aber Spaß hat’s eben doch gemacht. Und nun schauen wir uns mal eben die 12,6 Millionen Shakespeare-Fundstellen genauer an. Tschüs denn, bis in ungefähr 500 Jahren…




Trost für die sündige Welt – Der Künstler Thomas Grochowiak und sein Bilderzyklus zu Mozarts „Requiem“

Von Bernd Berke

Recklinghausen. „Ich bin aufgeregt wie ein Primaner“‚, verrät Thomas Grochowiak. Was kann den mittlerweile 86-jährigen Altmeister der Ruhrgebietskunst noch dermaßen in Wallung versetzen?

Erstmals wird sein neuer, aus 14 großen Tafeln bestehender Bilderzyklus gezeigt, zu dem er sich von Mozarts „Requiem“ inspirieren ließ. Die „echte Uraufführung“ (Grochowiak) in der Kunsthalle Recklinghausen, ergänzt um einige Spanien-Bilder, die Grochowiak selbst nicht ganz so wichtig nimmt, geht mit Lampenfieber einher: Wie werden die Werke im Museum wirken, die bis dato im Atelier gestanden haben?

Schon der Dirigent „zeichnet“ die Musik

Unzählige Male hat Grochowiak Mozarts berühmte Totenmesse gehört; vor dem Malen, dabei und danach. Auch hat er eine Reihe von Orchesterproben besucht, um Feinheiten der Komposition für sich auszuloten. Dirigent war Michael Gielen und dessen Bewegungen, die gleichsam Töne in die Luft zeichneten, kamen Grochowiak bereits wie der Beginn einer grafischen Annäherung vor.

Himmelhohes Jauchzen und tiefste Trübsal hat der Künstler beim Hören verspürt, das Flehen um Vergebung aller Menschheitssünden und die Hoffnung auf göttliche Gnade hat er vernommen. Persönlicher Hintergrund: Der frühe Tod seiner Tochter brachte Grochowiak zur Beschäftigung mit dem religiösen Geist des Mozart-Werkes.

Nur: Wie soll man das zeitlich gestaffelte Auf und Ab der Musik in Bilder überführen, auf denen ja alles gleichzeitig zu sehen ist? Grochowiak: „Wenn man jeden Moment der Musik malerisch erfassen will, dann läuft sie einem davon.“ Seine Schlussfolgerung: „Ich kann nicht die Musik malen, sondern nur meine Empfindungen beim Hören der Musik“.

Im nicht hierarchisch geordneten, aber keineswegs chaotischen Bildaufbau bedrängen viele Sinneseindrücke den Betrachter zugleich. Man meint das Schwellen und Schwinden der Tonfolgen, das Wechselspiel der  Rhythmen nachgebildet zu sehen. Hell und dunkel getönte Flächen verweisen auf Stimmungen, welche die Musik auslöst – mal schwermütig, mal licht und leicht.

Aschfahl oder verdüstert liegt die sündige Welt darnieder, doch alsbald leuchtet – zunächst noch zaghaft – ein überirdisch schimmerndes Goldgelb als „Ewiges Licht“ der Verheißung hervor.

Höllenfeuer und christliches Kreuz

Überhaupt verblüfft an vielen Stellen die schwebende Transparenz der Farben, eine Durchsicht wie auf ein besseres Jenseits. Grochowiak hat mit Farbtusche auf Fabriano-Karton gearbeitet und zwischendurch Wasser aufgesprüht. Beim Aufsaugen der Nässe wellt sich dieser spezielle Malgrund, die Bilder gewinnen eine zusätzliche Raumtiefen-Dimension.

Manche Passagen der Musik verdichten sich zu Farbwolken, andere lagern sich als feine Verstäubungen oder bis zum Platzen gefüllte Farbblasen ab. Die klanglichen Grundlinien und das festere Bassfundament kehren im Bildgefüge als Liniengitter oder Horizonte wieder, die den farbigen Kosmos zusammenhalten, aber nie einschnüren. Zuweilen blitzen – mitten in der abstrakten Formenlandschaft – erkennbare Figurationen auf: der bedrohliche Schlund der Posaune beim Jüngsten Gericht, das lodernde Höllenfeuer, die Gestirne, das christliche Kreuz, das auf allem Sein ruhende „Auge Gottes“.

Eine Kunst, die gar viele Abgründe und Höhen durchmisst und sich von schlimmster Verzweiflung bis zur Ahnung eines umfassenden Trostes erhebt. Starke Akkorde in Grochowiaks Alterswerk.

Thomas Grochowiak: Bilderzyklus zu Mozarts „Requiem“ / Spanien-Bilder. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Bis 16. April. Katalog (zur Retrospektive in Rastatt) 25 DM, Postkartensatz mit Mozart-Bildern 15 DM.