Nach der tierischen Orgie kommt Katzenjammer – Jelineks „Raststätte oder sie machens alle“ und Christoph Heins „Randow“ bei den Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Welch ein Wechselbad beim 20. Mülheimer Dramatikerwettbewerb: Nach einer wüsten Bühnenorgie mit Elfriede Jelineks „Raststätte oder sie machens alle“ war – wie zur Herabstimmung der Gemüter – Christoph Heins „Randow“ in einer kreuzbraven Inszenierung zu sehen.

Zwischen hochfliegenden Freiheits-Träumen und den Niederungen der Freizeit-Gesellschaft ist der Mensch längst vor die Hunde gegangen, zumal als sexuelles Wesen. Das jedenfalls will uns Elfriede Jelinek mit dem „Raststätten“-Stück eintrichtern.

In Mülheim gastierte ein Regie-Attentat aus den Reihen der deutschen Theater-„Spaßguerilla“: Frank Castorfs Inszenierung vom Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Castorf stampft den feministisch grundierten und rhetorisch streckenweise unangenehm pompösen Text in Grund und Boden. Am Schluß muß sogar eine an intimen Stellen aufgeregt blinkende und wienerisch schwadronierende Kunst-Figur herhalten, die der Jelinek nachgebildet ist: die Autorin als Sexpuppe. Gemeiner geht’s nimmer.

Castorf hat Frau Jelinek mal als eine Art „Krampfhenne“ bezeichnet (und sich dabei bedeutend drastischer ausgedrückt, als wir’s hier wiedergeben mögen). Er mag auch ihren „Raststätte“-Text nicht. Doch indem er alles zuschanden reitet, wird er dem Ingrimm der Vorlage auf Umwegen überraschend gerecht.

Die Jelinek setzt zwei Ehepaare und groteske Randfiguren an einer Autobahn-Raststätte aus. Die Frauen, die sonst bei ihren Gatten spuren, wollen einmal die Sau rauslassen. Dazu haben sie sich per Kontakt-Inserat mit einem Elch und einem Bär verabredet.

Extremsport für das sexuelle Punktekonto

Nach vollzogenem Extremsport mit zwei bluttriefenden Burschen heißt es lapidar: „Mit einem Tier auf dem Klo – das ist doch schon was.“ Füllt sozusagen das Porno-Punktekonto. Doch im Grunde herrscht Depression nach dem Exzeß, zumal in den Kostümen sich ausgerechnet die Ehemänner verborgen haben.

Grundmuster des Textes, der hierin geradezu „katholisch“ anmutet: Tierhafte Triebabfuhr zieht stets tiefste Trauer nach sich. Erst legen sie hündisch los, dann gibt es Katzenjammer.

Reichlich rinnen alle Körpersäfte. Zudem wird kübelweise (künstlicher, aber täuschend echt wirkender) Kot auf Leiber und Bühne geschmiert. Einige Zuschauer ließen sich tatsächlich provozieren und riefen „Pfui !“ Den meisten kam derlei endlos angehäufte Zumutung in der Summe freilich fade vor. Man sollte diesem verquast-bemühten Stück keinen Preis angedeihen lassen. Allerdings verdient es just eine solche Inszenierung.

Balsamisch ging’s hingegen bei Christoph Heins „Randow“ zu. Der erzählt eine ostdeutsche Leidensgeschichte mit einem Realismus auf Sparflamme. Der Text glimmt nur vor sich hin. Eine Frau, die sich in der DDR-Bürgerbewegung engagiert hat, will nun ihre Ruhe genießen und zieht sich zum Malen in ein Natur-Idyll an der Grenze zu Polen zurück. Doch eine fatale Koalition aus ehemaligen Stasi-Leuten, Rechtsradikalen und gierigen „Wessis“ vertreibt sie aus dem vermeintlichen Paradies.

Hein, dem wahrlich schon prägnantere Stücke geglückt sind als diese wie mit Spinnweben durchwirkte Elegie, arrangiert seine übergroße Themenfülle betulich, wird darin allerdings noch übertroffen von der unbeholfenen Einrichtung des Dresdner Staatstheaters.




Das Abendland endet auf dem Herrenklo – Dramen von Marlene Streeruwitz und Volker Braun bei „Stücke ’93“

Von Bernd Berke

Mülheim. Es war fast wie im Fußballstadion, wenn die eigene Elf gar nichts zustande bringt. „Aufhören-Aufhören!“-Rufe dröhnten durch die Mülheimer Stadthalle, etwa ein Viertel des Publikums suchte während der Darbietung das Weite. Marlene Streeruwitz‘ Drama „New York. New York.“ lag beim Wettbewerb „Stücke ’93“ am Rande des Theaterskandals.

Schauplatz ist eine Wiener Herrentoilette, in die auch zahlreiche Damen strömen. Das Personal besteht vornehmlich aus Nutten, Strichern und anderen Gestrandeten. Wir werden Zeugen ungebrochener Gewalt. Da schlägt etwa der Zuhälter eine Dirne blutig. Anschließend vergreifen sich andere Toilettenbesucher an ihr und schleifen die Schwerverletzte halbnackt über die Bühne. Dann taucht eine japanische Reisegruppe auf. Eigentlich wollen sie ja das historische Klo besichtigen, auf dem schon Kaiser Franz Joseph huldvoll seine Notdurft verrichtet haben soll. Doch dann nutzen sie wieselnd die Gelegenheit und fotografieren die Mißhandlung der Frau.

In diesem Stile geht es zwei pausenlose Stunden lang weiter. Jens-Daniel Herzogs Inszenierung (Münchner Kammerspiele) führt nur bizarre Zustände am Rande der Gesellschaft vor Augen, verweigert jederlei Sinngebung. Wie im abgedroschensten naturalistischen Drama wird alles in quälender Echtzeit durchlitten. Auch wenn die alte Toilettenfrau Horvath (Heide von Strombeck), die bei all dem Geschehen strickend dasitzt wie eine Höllenwächterin, einmal die Emailschüsseln reinigt, sehen wir das ungekürzt.

Welche Kultur-Mafia steckt wohl dahinter?

Irgendwann denkt man: Welche Kultur-Mafia hat nur dieses Werk in die Auswahl zum besten Stück des Jahres bugsiert? Natürlich sollte man sich an diesem Punkt sogleich selbstkritisch fragen, woher das Unbehagen kommt. Liegt’s daran, daß man so hilflos im Sessel sitzt, jeglicher Gewalt optisch ausgeliefert? Und warum erträgt man Abbilder der Realität in den Fernsehnachrichten so viel kühler?

Doch derlei Gedanken machen das jammervolle Abort-Stück, das aus unerfindlichen Gründen mit Mythen aus Antike und Hollywood-Kino durchsetzt ist, kaum besser. Diese Mythen werden mit in den apokalyptischen Orkus gezogen: Spülung betätigen und weg mit dem ganzen Abendland. Wenn denn Marlene Streeruwitz als große Hoffnung des deutschsprachigen Theaters gilt, so lasset uns verzagen!

Theater auf dein Rückzug – das gilt auch für Volker Brauns „Iphigenie in Freiheit“. Der Ex-DDR-Autor trauert dem zweiten deutschen Staat oder einer verbesserten Neuauflage desselben nach. Er verdeutlicht seine Resignation in einem Kalauer: „Wir sind das Volk“ habe es einst geheißen, jetzt nur noch: „Ich bin Volker.“ Rette sich, wer kann – vor der Wiedervereinigung. Doch da ist keine Rettung, nur Vereinzelung; so auch bei jener Iphigenie, die gleichsam an den Westen verhökert wird und darüber bittere Klage erhebt.

Das Staatstheater Cottbus (Regie: Karlheinz Liefers) müht sich, den wie eine Ursuppe wirkenden Text zu gliedern. Die Chorpassagen erinnern in ihrem Stakkato an Agitprop. Doch das Ensemble steht auch für individuelle Sprechkultur. Trotzdem: Viel mehr, als diesen an der Bühne vorbei geschriebenen Text zu Gehör zu bringen, vermag man nicht.

Nun folgen beim Mülheimer Wettbewerb noch Stücke von Peter Handke, Dea Loher und Rainald Götz. Hoffen wir also darauf.

 




…doch Heidegger stieg durchs Gebirge – Elfriede Jelineks „Totenauberg“ bei den Mülheimer Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Vor dem Juhnke-Rummel * hatten die Mülheimer Stücketage mit Elfriede Jelineks „Totenauberg“ begonnen, einem Drama über den Philosophen Martin Heidegger (1889-1976). Der war ein Brocken aus Granit.

In seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ genügte ihm der Begriff „Sein“ keineswegs. Er erfand z. B. auch noch „das Seiend“ und „die Seiendheit“ hinzu. Hut ab vor Elfriede Jelinek, weil sie – in Nachvollzug und Parodie – solchem Kauderwelsch eine poetische Sprache abgewann. „Totenauberg“, hier in der Fassung des Wiener Burgtheaters (Akademietheater) zu sehen, bezieht sich im Titel auf Heideggers Denkerklause im schwäbischen Todtnauberg. Derlei Wortspiele prägen den Text. Er stellt Heideggers Sprechblasen auf seine Weise so wirksam unter Verdacht wie 1964 Theodor W.Adornos Abrechnung („Jargon der Eigentlichkeit“).

Mehr noch. Das Stück konfrontiert den greisen Philosophen, der sich als Freiburger Uni-Rektor emsig mit den Nazis einließ (der Geistesriese als Moralzwerg), mit der jüdischen Denkerin Hannah Arendt. Die war als junges Mädchen in Heidegger verliebt – und wurde 1933 ins Exil getrieben, just als Heidegger seine großdeutsche Erweckung erlebte.

Trotzdem ist das Stück keine Heidegger-Schelte, sondern eine graue Litanei. Ein Alptraum aus Worten. Frau Jelinek versetzt die langen Monologe mit Passagen über furchtbar-fruchtbare Mutterschaft, Tötung „ungesunden“ Lebens, Tourismus, Naturzerstörung, Heimat, Fremde und Exil. Da tun sich Wunden auf, die auch in der Gegenwart nicht verheilt sind.

Österreichs Alpen bilden die Kulisse. Die Schauspieler müssen auch wirklich Text-Berge bewältigen, die Regisseur Manfred Karge freilich (bis an den Rand des Zulässigen) abgetragen hat. Hätte er nicht ein so großartiges Ensemble (u. a. Martin Schwab, Therese Affolter, Lore Brunner), wäre jeder Gag eine Qual. Das Ganze ist nicht für die Spielpraxis geschrieben, es ist eine harsche Herausforderung an die Bühne. Aber Jelineks kunstvolle Sprache will nicht nur gelesen, sondern gesprochen und gehört sein. Also doch eine Theatersache, wenn auch eine sperrige.

_____________________

* Juhnke-Rummel: Peter Turrinis Stück „Alpenglühen“ konnte in Mülheim nur als Lesung aufgeführt werden, weil Hauptdarsteller Harald Juhnke kurzfristig ausfiel… (darüber berichtete der WR-Kollege Rolf Pfeiffer).




Jetzt werden auch Schriftsteller im Revier gesponsert – Initiativkreis Ruhrgebiet finanziert neue Lesereihe

Von Bernd Berke

Im Westen. Neues vom hochkarätigen Sponsorenzirkel der Revier-Wirtschaft: Der „Initiativkreis Ruhrgebiet“ steigt jetzt auch in die Literaturförderung ein. Vom 3. bis zum 27. November gibt es erstmals die Lesereihe „Poesie und Prosa – Junge Literatur im Ruhrgebiet“, die in neun Städten (darunter Dortmund und Unna) Station macht. Falls sie jetzt Erfolg hat, soll die Veranstaltung künftig alle zwei Jahre über die Bühne gehen.

„Ein Beweis dafür, daß der Initiativkreis nicht nur Glanz- und Glamour-Veranstaltungen wie Operngalas finanziert.“ So wertete Dr. Konrad Schilling das Engagement. Schilling, vormals Kulturdezernent von Duisburg, ist jetzt Kulturbeauftragter des Vereins „pro Ruhrgebiet“, der den Initiativkreis unterstützt.

16 Autoren aus dem Revier werden mit „Poesie und Prosa“ aller Genres (von der Jugendliteratur bis zum Krimi) vorgestellt. Bibliotheken und Literaturbüros der Region machten Vorschläge für die Namensliste. Hobby- und Arbeiterliteratur hat man ebenso „aussortiert“ wie Prominenz: Max von der Grün und Josef Reding sind beispielsweise nicht dabei.

Die 16, die nun in den einzelnen Städten (meist paarweise und nach Geschlechterparität) an den Lesestart gehen, haben allesamt schon Bücher herausgebracht, sind aber nur halbwegs arriviert. Kaum einer kann von seiner Literatur leben. Mitorganisator Gerd Herholz vom Literaturbüro Gladbeck: „Ein einzelner Autor hat es hier schon schwer, in der Nachbarstadt bekannt zu werden.“ Die Bündelung der Kräfte durch „Poesie und Prosa“ könne da Abhilfe schaffen.

Schwerpunkt in Dortmund

Schreibkünste scheinen besonders in Dortmund zu gedeihen: Mit Thomas Kamphusmann, Thomas Kade, Ewa Gust, Bettina Rolfes und Jürgen Wiersch lebt fast ein Drittel der beteiligten Autoren in dieser Stadt. Hinzu kommt die Krimi-Autorin Sabine Deitmer, die einen Leseabend moderiert. Überhaupt bleiben die Autoren nicht auf sich allein gestellt. Jeder Abend wird nicht nur moderiert, sondern auch musikalisch umrahmt.

Bringt die Literaturszene des Reviers genügend guten Nachwuchs hervor, um auch 1994 und 1996 „Poesie und Prosa“ angemessen zu besetzen? Gerd Herholz ist skeptisch: „Warten wir’s ab.“ Konrad Schilling hingegen meint: „In zwei Jahren werden wir die Qual der Wahl haben.“

Für „Nachwuchs“ will man schon diesmal ganz konkret sorgen: Am 27. November beendet ein „Stimmengewirr“ in Mülheim an der Ruhr die Literaturtage. So heißt die öffentliche Abschlußlesung eines Lyrik-Workshops, der von Hannelies Taschau und Thomas Rosenlöcher betreut wird.

Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist kostenlos. Der Initiativkreis wendet für das Projekt rund 125 000 DM auf.

Auskünfte und Programmfaltblätter bei: Initiativkreis Ruhrgebiet 0201/266 96 18 oder Stadt- und Landesbibliothek Dortmund 0231/502-3225 oder: Unna, Lindenbrauerei 02303/27 10 97.




Ein Kraftkerl wühlt im Urschlamm des Kleinbürgertums – Texte von Werner Schwab und Michael Zochow bei „stücke ’92“ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Von Zeit zu Zeit liebt man im deutschen Theater die Kraftkerle. Selbst Goethe war am Anfang so einer; zuletzt bescherte uns Rainald Goetz seine Wort-Metzeleien. Und nun haben wir fürs Grobe den Werner Schwab aus Graz.

Gleichviel, ob man ihn nun als „Nestroy der Punk-Generation“ oder als außer Rand und Band geratenen Thomas Bernhard einordnen will – sein Drama „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ (Version der Münchner Kammerspiele) hat jedenfalls den Dramatikerwettbewerb „stücke ’92“ aufgemischt.

Worte gefressen und wieder ausgeschieden

Schwab schöpft aus dem alten Topf der Bühnen-Provokation: Sauferei, Hurerei, Gotteslästerung, Inzest, Meuchelmord. Seine Sprache aber läßt aufhorchen, nicht nur wegen der immens vielen Kraftworte. Schwab hat einen wirklich eigenen, unverwechselbaren Ton gefunden, eine aus dem österreichischen Dialekt hervorgetriebene Kunstsprache. Sie wirkt sinnenstark und streckenweise durchaus poesiefähig. Es ist, als seien Schwabs Worte direkt durch den Körper hindurchgegangen; gefressen und wieder ausgeschieden, mit Verlaub gesagt.

Doch sein Text über eine abgefeimte Haus-„Gemeinschaft“, der im Urschlamm des Kleinbürgertums wühlt und jeglichen Menschen als des Menschen Wolf vorführt, bewegt sich auch schon an der Grenzlinie zur Originalitäts-Sucht. Wehe, wenn dieser Mann zum „Kultautor“ hochgejubelt wird. Dann liefert er uns solche Dinge am Fließband.

Wenn die Sternlein aufgehen, kommt der Frieden

Zuvor war ein Stück des jüngst gestorbenen Michael Zochow gespielt worden. Wahrheit muß Wahrheit bleiben, und die lautet im Falle von Michael Zochow: Er ist kein großer Dramenautor gewesen. Auch seine „Drei Sterne über dem Baldachin“ leuchten nicht übermäßig.

Bei Zochow kommen Sinn und Zeit ins Wanken: Palästinensische Terroristen, das alte jüdisches Ehepaar Grünfeld, eine dummdeutsche „Gretchen“-Figur sowie eine Klofrau und Ex-Wagnersängerin — sie alle begegnen sich just bei den Bayreuther Festspielen (Obacht, Faschismus-Anspielung!). Das Dienstmädchen Bertha hat den Grünfelds zur NS-Zeit das Leben gerettet, ihrem jüdischen Bräutigam Fritz aber nicht. 50 Jahre hat sie Fritz treulich betrauert; jetzt glaubt sie ihn ausgerechnet in einem Bombenleger aus Palästina wiederzuerkennen, was am Ende in eine alle Widerspräche glattbügelnde Heirat mündet.

Über dem ganzen Stück, das aus Sternenfeme an Lessings „Ring-Parabel“ von der Versöhnung dreier Weltreligionen gemahnt, wabert ein naiver Kinderglaube: Wenn die Sternlein aufgehen, wird alles gut und die Menschen vertragen sich. Unterwegs bekommt man noch die Erkenntnis geliefert, daß es besser sei, einander die Hände zu reichen als darin Waffen zu halten. Wer würde das bezweifeln?

Gravitätisch vorgetragene Naivität ist noch keine Poesie, Holperschwellen sind noch keine produktiven Brüche. Zudem wurde (vom Wiener Schauspielhaus) ziemlich grauslich gespielt. Stück und Aufführung – hier konnte keines das andere retten, sie gingen miteinander unter.

Heute Abend folgt das siebte und letzte Stück im Wettbewerb, Gert Jonkes „Ohrenmaschinist“. Ansonsten kann man (jeweils mit Abstrichen) Werner Schwab und Klaus Pohl („Karate-Billi“) für den Preis ins Kalkül ziehen – und erneut George Tabori („Goldberg-Variationen“), der im Falle des Falles schon zum dritten Mal geehrt würde.

 




Verführung im Gewächshaus – Die ersten Abende bei „stücke ’92“

Von Bernd Berke

Mülheim. Wechselbad zum Auftakt des Mülheimer Dramatikerwettbewerbs „stücke ’92“. Zwei von sieben konkurrierenden Texten sind über die Bühne gegangen. Zuerst gab es mit Klaus Pohls „Karate-Billi kehrt zurück“ ein Zeitstück, dann mit Philipp Engelmanns „Oktoberföhn“ ein erstaunlich zeitenthobenes.

Daß „Oktoberföhn“, in Mülheim vom Landestheater Tübingen dargeboten, die Vorauswahl überstanden hat, muß einigermaßen verwundern. Das mehr esoterische als erotische Stück dreht sich – wie in einer Endlos-Spirale — um ein „spätes Mädchen“, das im Gewächshaus einen verklemmten jugendlichen Bucherwurm (Woody AIlen-Typ) verführen will. Zwischendurch taucht noch ein Blumen streuender Troll auf und fordert die beiden zur hemmungslosen Liebe auf. Heißa! Jedoch: Das ungleiche Paar bekommt immer wieder Föhn-Kopfschmerzen, und zwar so oft, daß auch im Zuschauerraum deutliches Stöhnen vernehmbar wird.

Engelmanns Stück ist nicht von heute, dringt aber auch in keine andere (Traum-)Zeit vor. Die Sprache bleibt seltsam flach, sie weist an keiner Stelle über den bloßen Wortlaut hinaus. Das ist halt beim Theater schon der halbe Miet-Rückstand. Nun gut. Nehmen wir’s leicht und betrachten wir die Sache als Pausenfüller der Stücketage.

Ganz anders Pohls „Karate-Billi“, derzeit von zahlreichen Bühnen nachgespielt. Das ist | ein tagesaktuelles, griffiges, derb zupackendes Werk. Britische Theaterschule, sozusagen. Klar, daß solch ein Express-Theater auch seine Schwächen hat. Die Geschichte des ehemaligen DDR-Zehnkämpfers „Billi“, nach harmlosen Eskapaden von der Stasi dreizehn Jahre lang in der Psychiatrie gequält, zerfällt leider in fast unvereinbare Bestandteile. Zudem läßt die allseitige Entlarvung von Stasi-Mittätern doch ein wenig den „Besserwessi“ durchschimmern.

Aber Pohl kann einprägsame Figuren und Situationen erfinden. Sein Titelheld, in Jürgen Bosses ansonsten braver Inszenierung vom herausragenden Mathias Kniesbeck zum Steinerweichen gespielt, lebt auch von der Fallhöhe: Selbst einen solchen Pfundskerl hat der SED-Staat also kleingekriegt. Insgesamt: gutes Gebrauchstheater, freilich nur „haltbar bis 1993″.

________________

(aus Notausgabe zur Zeit des Druckerstreiks)




Bilder vom Riß, der durch die Welt geht – Sechs Museen zeigen Werke von Wolf Vostell

Von Bernd Berke

Köln/Bonn. Wolf Vostell hat einen Traum: „Eine ganze Messehalle müßte man einmal mieten und dort mein gesamtes Werk zeigen. Das wäre mein Lebens-Film.“

Doch auch so kann der „alte Kämpe“ der Happening-, Objekt- und Fluxus-Kunst zufrieden sein. Nicht weniger als sechs Museen in fünf Städten haben ihre Kräfte vereint, um jetzt ein wahres Vostell-Festival auszurichten. Nicht Retrospektiven sollen es nach dem Willen des Künstlers und der Museumsleute sein, sondern Zwischenbilanzen, „Einblicke in einen laufenden Prozeß“. Derlei Vorläufigkeit entspricht in der Tat dem Wesen eines Mannes, der zwar im Oktober 60 Jahre alt wird, aber immer noch Kraft zur Provokation hat. Zuletzt sorgte 1987 sein Berliner „Beton-Cadillac“ für bundesweites Aufjaulen.

Die Ausstellungen in Köln, Bonn, Leverkusen (Geburtsort des Künstlers), Mülheim/Ruhr und Mannheim bringen – so Vostell – endlich einmal „Ordnung in mein Werk“. Er fühle sich direkt zu neuen Taten angespornt. Besagte Ordnung darf hier nicht mit Schubladen-Sortierung verwechselt werden. Vostell ist eben kein ein unbändiger Chaot, sondern er verfolgt Themen und Motive sehr hartnäckig und konsequent durch Jahrzehnte. Doch er ist natürlich auch kein Kunst-Buchhalter, dessen Werk sich fein säuberlich und genregerecht auf sechs Museen verteilen ließe. Zwar setzen die beteiligten Museen jeweils Schwerpunkte (Köln etwa zeigt die großen Environments, Bonn Arbeiten auf Papier und bisher fast unbekannte Erotik-Zeichnungen, Mülheim TV- und Videoinstallationen), aber es mischen sich oft genug Materialien und Stilmittel, so daß die Grenzen immer fließend bleiben.

Zerstörung als zentraler Aspekt

Desto mehr fallen nun einige durchgängige Themen und Prinzipien auf. Praktisch immer geht es darum, Kunst ins Leben und Leben in die Kunst zu bringen. Vostells gesamtes Werk ist eine Suche nach bildnerischen Strategien, um diese Ziele zu erreichen. Bevorzugt setzt er sich mit den populärsten zeitgenössischen Gegenständen auseinander: Autos und Bildschirme, häufig innig miteinander verquickt, durchziehen das Werk seit Ende der 50er Jahre. Ein zentraler Aspekt ist dabei vor allem die Destruktion: Zerstörung der Wirklichkeit durch elektronische Bilder, Zerstörung der Lebenswelt durch Automobile. Vielfach gilt diesen Objekten wiederum die Aggression des Künstlers: Elektrisch betriebene Hämmer dreschen auf Fahrzeuge ein, TV-Geräte werden einbetoniert oder beerdigt.

Dazu paßt auch das von Vostell so genannte Verfahren der „Dé-Collage“, die eben im Gegensatz zur Collage nicht verschiedenste Dinge zusammenfügt, sondern durch Zerstörung (z. B. Abriß von Plakat-Schichten) diese Verschiedenheit erst schreiend sichtbar macht. Die Dé-Collage ist sozusagen bildlicher Ausdruck der Risse, die durch die Welt gehen. Ganz grell sieht man dies in Vostells politischen Arbeiten aus der Zeit der Studentenbewegung und des Vietnamkrieges, deren Kontraste (Luxus-Lippenstift gegen schreiende Vietnam-Kinder; tierische Kreatur gegen seelenlose Technik) heute vordergründig wirken mögen, damals aber vielleicht einigen die Augen geöffnet haben.

Ein besonderes Problem dieser Ausstellungen liegt darin, daß viele Zeichnungen nur Vorstudien zu Aktionen, viele Objekte nur Relikte derselben sind, also gleichsam versteinerte Taten. Doch eine Spurensuche entlang des Rheins lohnt allemal.

Köln/Stadtmuseum und Haubrich-Kunsthalle (bis 22. März); Bonn/Rheinisches Landesmuseum (bis 29. März); Leverkusen/Schloß Morsbroich (bis 29. März);  Mannheim/Kunsthalle (bis 26. April) ; Mülheim/Städtisches Museum (bis 22. März). Gemeinsamer Katalog 48 DM.




Schöpfungsgeschichte der ewigen Eifersucht: Roma-Theater Pralipe spielt Shakespeares „Othello“

Von Bernd Berke

Mülheim. Über die ganze Bühne verstreut liegt Herbstlaub. Vergänglichkeit der Natur. Doch auf den Blättern kauert – wie zu Zeiten biblischer Schöpfung – ein nackter „Adam“. Später zieht er sich an und schminkt sein Gesicht weiß. Als Zivilisationsmensch mit der „richtigen“ Hautfarbe taugt er fortan zu schmutzigen Intrigen: Sein Name sei Jago. Unter dem Laub liegen anfangs die Opfer Othello und Desdemona. Sie wühlen sich daraus hervor, tollen wie die jungen Hunde miteinander. Doch ihr Glück ist von kurzer Dauer.

Das Roma-Theater „Pralipe“, das eine feste Heimstatt m Mülheim gefunden hat, spielt Shakespeares „Othello“ (Regie: Rahim Burhan) – in Roma-Sprache. Als Zuschauer sollte man also vorher das Stück (wieder) gelesen haben.

Besagter Jago (Sami Osman) also richtet sich hier den ungeschminkten Othello (Nedjo Osman) gleichsam als Spielfigur zu, die er nach Belieben lenken und in Eifersuchts-Wahn treiben kann. Und wenn „Othello“ in seinem Furor einmal nachzulassen droht, haucht Jago ihm sozusagen neuen Odem ein.

Überhaupt verquickt man das Drama mit der Schöpfungsgeschichte. Das verleiht der Sache etwas Naturwüchsiges, Unausweichliches. Verführer Jago reicht seinen Mitspielern knallrote Sünden-Äpfel. Wenn er das gleichfalls rote Tuch in die Hand bekommt, mit dem er den Schein-Beweis über Desdemonas angebliche Untreue führen kann, läßt er es schlangengleich wedeln. In ihm steckt offenbar ein teuflisches, seit Anbeginn der Welt herrschendes Prinzip.

Manches Bild wird durch Auf- und Abblenden nur kurz angerissen, wie eine flüchtige Erscheinung. Szenen, die auf Gesellschaft hindeuten, werden weitgehend ausgespart. Als Mitwelt der drei Hauptpersonen tauchen immerhin schon mal Figuren mit Hüten auf, die den Kriminalfilmen der „Schwarzen Serie“ entstiegen sein könnten. Ohne Kino-Vorbilder ist denn auch manches nicht denkbar, besonders der höchst gekonnte Umgang mit Licht und Schatten gemahnt an Filmästhetik.

Ansonsten konzentriert sich „Pralipe“ ganz auf die Zweipersonen-Auftritte. Diese Konflikte spielt man mit einem Nachdruck und einer Emphase, die uns fremd geworden ist. Vielfältig die Bewegungsformen: Mal wird das Fassen und Lassen zwischen Othello und Desdemona ballettös und in quälender „Zeitlupe“ dargestellt, mal grundieren kultische Handlungen und Ding-Magie das Geschehen. Zeichen aus einem anderen Kulturzusammenhang. Soll man sie nach unseren Maßstäben beurteilen?

Das Gesten-Repertoire ist hingegen ziemlich fest umrissen, ja standardisiert. Sehr schwer zu sagen, ob es sich da um Begrenztheit der Mittel oder um bewußte Stilisierung handelt. Doppelgesichtig auch das Bühnengeschehen insgesamt. Da gibt es ergreifende, oft weit in die Bühnentiefe gestaffelte Bilder. Doch solche Momente sind stets absturzgefährdet. Links lauert bodenloser Tiefsinn, rechts flacher Kitsch. Es ist eine Gratwanderung.

Zudem findet kaum Entwicklung statt. Statt einer Tragödie, die sich ja irgendwie entfalten müßte, sehen wir eher eine Art Wehklage von Anfang an. Schon sehr bald bebt Othello mächtig vor Zorn – früh verschenkte Kraft. Es folgt ein ständiges Auf und Ab zwischen Erregung und Beruhigung, das wellenförmig durch die ganze Aufführung hindurchgeht.

Freundlicher Beifall des (theaternahen) Publikums.




Die Geschichte läuft fürchterlich ins Leere – Texte von Dorst, Strauß und Seidel bei „stücke ’91“

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Geschichte von Nation und Welt dürfte gar nicht mal sonderlich katastrophal weitergehen. Sie wird halt fürchterlich ins Leere laufen. Solch eine Essenz könnte man zur Not aus den drei bisher aufgeführten Texten beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb „stücke 91″ ziehen.

Den Anfang machte Tankred Dorsts „Karlos“ (Schauspiel Bonn/Regie: Peter Palitzsch). Damit lag die Hürde furs Publikum gleich hoch. Hier haben wir einen labyrinthischen Text, der seine Ein- und Ausgänge mit Fleiß versperrt. Fast nichts außer dem Namen hat dieser Infant von Spanien mit Schillers „Don Carlos“ gemein. Um ihn von rebellischen Aktionen abzuhalten, umstellt ihn der Großinquisitor schlau mit lauter Doppelgängern. In diesem monströsen Spiegelkabinett der Nicht-Identitäten verirrt sich Karlos bis zum Wahnsinn; geschichtlicher Impuls verläuft ins Leere.

Auf der Bühne präsentiert sich das trotz einiger theaterwirksamer Szenen ziemlich hermetisch als fremde Welt des Bösen. Man hat bereits Parallelen gezogen zwischen der allseitigen Täuschung des Karlos und der unwirklichen Computer- bzw. Mediensimulation des Golfkriegs. Das scheint denn doch arg weit hergeholt. Man kann dem Text einiges attestieren: Experimentierlust, Ernsthaftigkeit, meinetwegen auch Tiefe. Aber gehört „Karlos“ wirklich zu den Stücken, die zur Zeit dringlich sind?

Ganz anders Botho Strauß. Sein „Schlußchor“ (Staatstheater Wiesbaden/Regie: Annegret Ritzel) ist formal geradezu genial einfach, ja fast populär komponiert, 1. Bild: Gruppe beim Fototermin. 2. Bild: Garderobenraum bei einer Party. 3. Bild: Szenen in einem Bistro. Alles ist richtig aus dem Leben gegriffen, dazu gibt’s jede Menge Strauß’scher Pointen. Um es unter Verwendung zweier früherer StraußTitel zu sagen: Wir erleben wieder einmal jene bekannten Gesichter und gemischten Gefühle, sehen Paare und Passanten bei ihren Beziehungs-Etüden, ihren Endspielen im Taschenformat. Da hinein platzt gegen Stückschluß – am Tage der Berliner Maueröffnung – ein DDR-Paar. Die ganze „Wende“ ist hier gleichsam nur ein Nebensatz, auch diese Sache läuft ins Leere. Lieber leckt man seine seelischen Wunden, als der Historie Genüge zu tun. Deutschland, deine Neurosen.

Strauß‘ alte Doppelneigung kommt im „Schlußchor“ erneut zum Vorschein: Einerseits scheinbarer Unernst à la Boulevard-Theater, dann entschwebender Sinn und mythologische Klimmzüge. Obwohl die Regie diesen Gegensatz etwas kleinmütig entschärft hat, mag sich das Ganze nicht recht zusammenfügen. Beiseite gesprochen: Immerhin ist die Inszenierung doch so einleuchtend, daß einem mal wieder schwant, was Dortmunds Theater an Annegret Ritzel verloren hat.

Dritter Abend, drittes Stück: „Villa Jugend“, letztes Werk des im Juni 1990 verstorbenen DDR-Dramatikers Georg Seidel (Berliner Ensemble/Regie: Fritz Marquardt). Die Mülheimer Vorauswahl-Gremien schätzen Seidel offenbar über die Maßen. Schon 1987 und 1990 war er im Wettbewerb – mit „Jochen Schanotta“ und „Carmen Kittel“. Auch „Villa Jugend“, dessen Schlußteil man in Seidels Schreibcomputer entdeckt hat, ist wieder eine strenge Übung. Der Autor hat das wortlastige Stück um einige Kern- und Merksätze herum aufgebaut, denen er selbst traumverloren nachhorcht; eigentlich eher ein lyrisches Verfahren.

Auch hier sinnentleerte Historie: Das größtenteils 1989 geschriebene Stück ist ein durchweg melancholischer Abgesang auf die vergehende DDR, die recht penetrant mit der zum Verkauf anstehenden Villa in Bezug gesetzt wird – bis hin zu Anspielungen auf morsche Fundamente. Auf- und Abtritte der Figuren („lebende Tote“ allesamt) erfolgen zudem nach monotonem Reihen-Schema. Dagegen würde selbst beste Regie wenig helfen, die Theater-Scharniere knarren hörbar, das Spiel bleibt starr. Stellenweise ist dies zwar ein Text, der Auskunft geben mag über gewisse ostdeutsche Befindlichkeiten, über unheilbare biographische Brüche. Doch er bleibt letztlich eindimensional, wirkt beklagenswert entkräftet und von bloßer Resignation durchdrungen. Wehe, wenn dieser Autor auf lange Sicht Recht behält!

Halbzeit also in Mülheim. aber ein „Stück des Jahres“ hat sich noch nicht aufgedrängt.




DDR-Dramatiker geben trockne Lehrstunden – Halbzeit beim Wettbewerb „stücke `90″ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Die DDR-Ereignisse der letzten Monate sind auch am Mülheimer Dramatiker-Wettbewerb „stücke ’90“ nicht spurlos vorübergegangen – im Gegenteil. Die Auswahlkommission sah sich bemüßigt, fast nur Dramen mit DDR-Thematik vorzuschlagen.

Nachdem mit vier Aufführungen die Halbzeit des Wettbewerbs erreicht ist, drängt sich der Verdacht auf, daß dabei politischer Nachholbedarf vor Theaterqualität rangiert hat. Ein „Stück des Jahres“ war jedenfalls noch nicht dabei.

Den Auftakt besorgte das Wiener Akademietheater mit George Taboris „Weisman und Rotgesicht“. Das bislang einzige Stück, das sich nicht um DDR-Themen rankt, wurde als „jüdischer Western“ etikettiert. Ein vermeintlicher Indianer (der sich hernach als Halbjude und Filmkomparse erweist), ein Jude, der die Aschenurne seiner verstorbenen Frau mit sich trägt, und dessen spastische Tochter begegnen einander in einer – mit lebendem Geier auf der Bühne markierten – Wüstengegend der USA. Unter anderem treten sie, beinahe wie Preisboxer, in einen makaber-absurden Leidens-Wettbewerb: Wer hat mehr erlitten. Juden oder Indianer?

Taboris Scherze mit dem Entsetzen

Es ist wieder jene gleichermaßen zauberkräftige wie halsbrecherische Mischung, die wir von Tabori kennen und die kein deutscher Dramatiker so anwenden dürfte: Schrecken wird Lachen, Verzweiflung gerinnt zum Kalauer, Wahn und Witz addieren sich zu Wahnwitz. Allerdings gewinnen m diesem Stück unbedarfte Scherze einiges Übergewicht – oder sind es nur geschickte Verführungen, an den falschen Stellen zu lachen, was ja zuerst die voreiligen Lacher entlarvt? Ein Ereignis wurde dieser Theaterabend durch die Darsteller: Michael Degen, Leslie Malton und Hans Christian Rudolph.

An den folgenden Abenden sehnte man sich dann doch nach Taboris Entsetzens-Scherzen zurück, denn mit Georg Seidels „Carmen Kittel“ hob deutsche Tiefgründelei an. Das bereits 1987 in Schwerin uraufgeführte, später umgearbeitete Werk mag zur Entstehungszeit ein Schrei in der Not gewesen sein. Nun wirkt es, trotz neuer „Montage“ durch Dimiter Gotscheffs Düsseldorfer Inszenierung, bereits reichlich gestrig. Sprachlich ist etwas Metallisch-Schepperndes, ist dumpfe Atemnot in diesem Stück.

Carmen Kittel kann sich nicht „emporwuchten“

Vor- und Nachname der Titelfigur stehen natürlich für den Widerspruch von Lebenslust (Carmen) und ödem Frauenalltag (Kittel). Carmen Kittel ist im Heim aufgewachsen, front nun in einer Kartoffelschäl-Brigade, erlebt einige Qualen des irreal existierenden Sozialismus und kann sich nicht „zu einem besseren Leben emporwuchten“. Das alles hört sich schwer nach Theater-Bastelarbeit an und ist es über weite Strecken auch. So muß etwa die Kartoffel gleich als Symbol deutscher Eßgewohnheiten und dito Revolutionsunfähigkeit herhalten. Einiges mag als Lyrik., nicht aber als dramatische Vorlage durchgehen. Immerhin lassen zwischendurch einige aphoristische Kernsätze aufhorchen, etwa jener, daß man in der DDR das Paradies auf Erden bauen wollte, dann aber doch nur Braunkohle abgebaut hat.

Gorbatschow als „neuer Christus“

Theater hart am Rande historischen Kasperlspiels erlebte man am nächsten Abend, als die Volksbühne Berlin (DDR) Jörg-Michael Koerbls „Gorbatschow/Fragment“ aufführte, das aus DDR-Sicht die sowjetische Geschichte von Lenin bis „Gorbi“ nachzeichnen will. Das Stück vermittelt keinerlei wirkliche Erkenntnis, es stellt historische Figuren nur als Pappkameraden auf die Bühne.

Koerbl setzt Spezial-Wissen voraus (etwa über die Beziehungen zwischen Lenin, Trotzki und Stalin), vermittelt aber seinerseits kein neues. Daß er Gorbatschow als „neuen Christus“ darstellt, ist nur peinlich. Sprachlich ergeht sich der Autor in Satzperioden, die eventuelles Interesse schnell erlahmen lassen. Zudem hat er sein Stück „kongenial“, nämlich mit recht dürftigen Mitteln in Szene gesetzt.

Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“, in Mülheim gezeigt vom Schauspiel Halle, versöhnte wieder etwas mit der DDR-Dramatik. Hein ist nicht der Versuchung erlegen, die ritterliche Artus-Runde als schmale Parodie aufs gewesene Politbüro vorzuführen; sein Stück hat jene Art von Aktualität, die über Tag und Stunde hinausreicht. Freilich kreist es ohne große theatralische Höhe- oder Tiefpunkte um nur wenige Denkfiguren (Die Gralssuche als Suche nach Utopie usw.). Eigentlich ist schon nach der Hälfte alles gesagt und wird dann nur noch variiert.




„Kabale und Liebe“ als Bühnen-Schachspiel – Hansgünther Heyme inszeniert Schiller in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Immer wieder werden Stühle über die Bühne getragen. Bevor und während sie reden, nehmen die Figuren so neue Positionen ein, im ständigen Wechsel, fast wie beim „Königlichen Spiel“: Bühnen-Schach, Gefühls-Schach. Es geht um Sieg und Niederlage, um Macht – und weniger um Liebe als um die gute Partie.

Als zermürbenden Stellungskampf der Figuren führt uns Hansgünther Heyme Schillers „Kabale und Liebe“ vor. Heyme, zeit seines Theaterlebens Schiller zugetan, läßt diesmal niemanden mit dem Motorrad auf die Szene rasen (wie einst im „Tell“), und auch schrille Brechungen à la Goethes „Faust“, wo Heyme Gretchen mit der Rockgitarre antreten ließ, unterbleiben. Statt dessen: Posen und Posituren, überdeutlich herausgestellte Gefühle bis hin zur (bewußten) „Schmiere“, große Gesten für kleine (und schnell wandelbare) Regungen. So werden auch bereits jene Momente vergiftet, in denen einmal wahres Fühlen durchbrechen will.

Bekanntlich geht’s um die bürgerliche Musikus-Tochter Luise Miller, die es zum adligen Ferdinand hinzieht – eine anno 1784 (Uraufführung) „unmögliche“ Liason. Die Verbindüng wird denn auch von der Vätergeneration, insbesondere durch blaublütige Intrigen (also „Kabale“) aufs Teuflischste hintertrieben. Effekt: Vor den Vätern sterben die Kinder, von Limonade aus eigener Mischung vergiftet.

Der zeitgebundene Anteil des Themas, der Konflikt zwisehen Adel und Bürgertum, ist für uns weit, weit weg. Dem trägt auch Heyme Rechnung: Einzige Möblierung ist ein überlanger Tisch, dessen Enden nur durch Beleuchtungswechsel als kaum wesentlich verschiedene Adels- und Bürger-Sphäre markiert werden. Man bewegt sich letzten Endes im selben Element der Uneigentlichkeit und der Unfahigkeit zu Gefühlen.

Darauf legt Heyme den Akzent, er „verbrechtet“ nicht und läßt auch nicht seine sonst so häufig eingesetzten „braunen Horden“ aufmarschieren, obgleich er (im Programmheft) das Stück stocknüchtern als „deutsches Material“ bezeichnet und sogleich Nietzsches fatalen „Übermensehen“ sowie Paul Celans „Todesfuge“ („Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“) herbeizitlert.

Auf Länge gesehen, wirkt besagte Künstlichkeit allerdings doch etwas uninspiriert, auch hemmt mitunter eine Art von Langsamkeit das Spiel, die dem Geschehen keinesfalls mehr Binnenspannung verleiht. Heftigere Emotionen treten eigentlich nur in zwei Situationen hervor: beim Adel, wenn’s so richtig ans Intrigieren geht, beim Bürgervater Miller, wenn er einen Geldhaufen fast anbetet. Nur Macht und Mammon machen hier sinnlich, Liebe ist nur Traum oder Mittel zum Zweck.

Wolf Münzners Bühnenbild läßt sehr viel Spielraum, der vornehmlich zur Distanzierung der Figuren voreinander genutzt wird. Die Kostüme (gleichfalls von Münzner) haben fast durchweg einen leichten Stich ins Exaltierte, was die Künstlichkeit des Geschehens noch steigert. Das Ensemble spielt insgesamt passabel, aber nie mitreißend. Das meiste Interesse für die Geschichte seiner Figur weckt noch Wolfgang Robert als Miller.

Recht knapper Beifall und vereinzelte Buhs für Hansgünther Heyme, der bei den Proben unglücklich in den Orchestergraben gestürzt war. Als Schauspielchef ist er nicht gestürzt, im Gegenteil: Er bleïbt bis 1995 in Essen, und zwar „gerne“, wie er versichert.

Bis Herbst 1990 ohne taugÏiche Spielstätte in Essen, ist Heyme mit dieser Premiere nach Mülheim ausgewichen. Die Produktion firmiert schlau unter dem Etikett „Kooperation Essen/Mülheim“, denn dafür gibt es Extra-Zuschüsse vom Land.




Langes Ringen um Stückepreis: Knapper Mülheimer Jury-Entscheid für Tankred Dorst mit Pfuirufen quittiert

Von Bernd Berke

Mülheim. Abgekämpft betraten die acht Herren der Jury gegen 0.15 Uhr die Mülheimer Stadthallen-Gaststätte und ließen ihr Urteil hören: Nach sechsstündiger, kontroverser Diskussion hatten sie Tankred Dorst für sein Stück „Korbes“ den Mülheimer Dramatikerpreis 1989 verliehen.

Die unter Zeitdruck unglücklich formulierte Begründung (Dorst behaupte in seinen „holzschnittartigen“ Szenen „das Böse als unveränderbare Macht“) ging beinahe in Pfiffen und „Pfui“-Rufen unter. Fünf zu vier lautete das denkbar knappe Abstimmungsergebnis; die neunte Stimme kam vom Publikum und ging (einmal mehr) an Botho Strauß, für dessen Stück „Besucher“.

Es war eine wirklich schwere Entscheidung. Keines der sechs vorgeführten Stücke drängte sich ohne weiteres auf, wie auch Jury-Mitglied Guido Huonder (Dortmunds Schauspielchef) betonte. Doch mit dem Votum für Dorst kann man, wie ich finde, einverstanden sein. Wie an dieser Stelle bereits beschrieben, ist „Korbes“ ein Passionsstück von irritierender Kraft.

Ästhetizisten mögen Gisela von Wysockis Theater-Analyse „Schauspieler, Tänzer, Sängerin“ vorziehen, doch hier klaffen essayistischer Text und sinnliche Aufführung dermaßen auseinander, daß man den Stückepreis geradezu neu hätte definieren müssen. Dann aber könnte er künftig z. B. auch für Choreographien von Pina Bausch vergeben werden. Gänzlich indiskutabel erschien mir Rainald Goetz‘ spätpubertäres Gezeter namens „Kolik“, ein Pfusch nach Art mancher „Neuer Wilder“ in der Malerei. „Besucher“ von Botho Strauß, den manche ja gern als „unseren besten Boulevard-Autor“ bezeichnen, ist gewiß das unterhaltsamste Stück, verliert sich aber passagenweise allzu sehr in raunender Bedeutsamkeit.

Der kleinste gemeinsame Nenner für Jury und Publikum wäre vielleicht Peter Turrinis Stahlkocher-Stück „Die Minderleister“ gewesen. Dieser Text geht am entschiedensten auf die uns umgebende Wirklichkeit – die nicht unbedingt Wahrheit bedeuten muß – ein. Freilich steigert Turrini die Realität bis ins Kabarettistische oder überblendet sie mit Schockbildern aus dem Trivialbereich. Alfred Kirchners Burgtheater-Inszenierung und den Darstellern ist es zu danken, daß Turrinis Einläßlichkeit auf Sichtweisen von Horror- und Porno-Videos nicht in bloße Pein abgleitet. Überdies hat der Text einige Längen und – mit dem Werksbibliothekar „Shakespeare“ – eine im Grunde verzichtbare Figur, die das Ganze offenbar doch noch künstlich in literarische Höhen hieven sollte.

Mit einer Entscheidung für Thomas Braschs „Frauen — Krieg — Lustspiel“, das bis zuletzt in der Jury-Diskussion war, hätte man auch leben können. Der pazifistische, aber keineswegs flach-propagandistische Text, in Mülheim am Schlußtag von „stücke ’89“ in George Taboris Wiener Inszenierung (wunderbar in den Hauptrollen: Angelica Domröse, Ursula Höpfner) gezeigt, ist schon von der Struktur her friedlich. Er steuert weder linear auf sein Thema zu noch ist er von einem beherrschenden Sinnzentrum aus organisiert, sondern sammelt Bruchstücke über die Opferrolle von Frauen im Krieg, über die Dialektik von Liebe im Krieg und Krieg in der Liebe, gleichsam spielerisch „am Wegesrand“ ein. Brasch ist vielleicht unterwegs zu einer zukunftsweisenden Dramaturgie, löst dieses Versprechen aber noch nicht ein. Ein Endlos-Monolog im zweiten Teil grenzt an Schauspieler-Quälerei.

Insgesamt fiel bei „stücke ’89“ ein Übergewicht an stationenartig gereihten Passionen und an Texten auf, die auf das Theater selbst bezogen sind. Und: Keines der Stücke wirkt so robust und widerständig, daß es auch nur mittelmäßige Inszenierungen ertrüge.




Das Theater zertrümmert sich selbst – Drei Stücke beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb

Von Bernd Berke

Mülheim. Da kann man nicht hadern: Die bisherigen vier Inszenierungen beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb waren durchweg hochklassig. Doch die Texte , um die es hier ja geht, sind von recht unterschiedlicher Qualität. Nach dem Auftakt mit Botho Strauß‘ „Besucher“ (die WR berichtete) waren jetzt Stücke von Tankred Dorst, Rainald Goetz und Gisela von Wysocki zu sehen.

Passionsspiel zwischen Bibel, Kroetz und Beckett: Tankred Dorsts „Korbes“ ragt wie ein einsamer Findling in die Stücke-Landschaft. Der Text überspringt kühn die Zeiten: Ein zylindrisches Halbrund, mit kargem Stubenmobiliar schief in ein steinzeithaftes (und apokalyptisches) Bühnen-Universum gestellt, ist passender Spielort der Aufführung des Münchner Residenztheaters (Regie: Jaroslav Chundela).

„Korbes“ (großartig: Wolfgang Hinze) ist ein gottloser Hiob in einer gottverlassenen Welt. Das Stationenstück seiner Leiden wird – Kontrast wie von einem anderen Stern – immer wieder unterbrochen durch Passagen aus Händels „Brockes-Passion“. Doch der „Kreuzweg“ ist alles andere als fromm. Seine soeben gestorbene Frau liegt noch schauerlich verrenkt auf dem Bett, da bespringt Korbes schon die Nachbarin. Erschütternd dann die Szene, in der er merkt, daß er über Nacht erblindet ist. Fortan wird er verlacht und bestohlen, und am Ende kehrt seine als Kind von ihm gequälte Tochter zurück, um eine innige Symbiose aus Pflegedienst und Rache mit ihm einzugehen. Leiden zufügen und selbst leiden werden eins, ballen sich höllisch zusammen. Händels Passion. Trostversuch der Kunst und der Religion zugleich, verhallt da ungehört.

Irritierend, wie das Böse in diesem Stück „einfach da“ ist, ohne jede Erklärung – ganz wie im titelgebenden, rätselhaften Grimm-Märchen über den Herrn Korbes, der von Gegenständen und Tieren zu Tode gepiesackt wird. Dorsts Stück entfaltet in theaterwirksamen Szenen beinahe alttestamentarische Kraft.

Kraftvoll gebärdet sich auch Rainald Goetz mit seinem Einpersonenstück „Kolik“. Doch hier ist es eher kraftgenialisehe Attitüde, die sich in einen Wortschwall sondergleichen ergießt. Die gleichwohl achtbare Bonner Inszenierung (Regie: Peter Eschberg) beginnt mit einem Countdown, dann zischt die Sprachrakete ab. Geleitet von einer Art Wahn- und Zwangssysstem, das er mit siebzehn auf die Tafei geschriebenen Worten markiert, legt der „Mann“ (Giovanni Früh) los, vom Geburtsschrei bis zum Todesröcheln: Er doziert vom Katheder herunter, salbadert, sondert allgemeinsten, zuweilen pubertären Weltschmerz ab und (einzige Regieanweisung) „trinkt“ wie ein Loch. Seine Sätze schwellen an und krampfen sich zusammen: Kolik der Sprache und des Hirns. Ein sehr „deutsches“ Stück, unerbittlich-expressives Trümmerfeld aus Worten. Goetz schlägt wahllos um sich – und trifft doch selten. Wie vermißt man da den Strudel von Thomas Bernhards langsam, aber stetig anbrandenden Haß-Tiraden.

In Gisela von Wysockis „Schauspieler, Tänzer, Sängerin“ (gezeigt vom Schauspiel Frankfurt) zerschmettert das Theater seine Mittel nicht, sondern seziert Techniken und Obsessionen der genannten Bühnenberufe gleichsam bei lebendigem Leibe; ein höchst artifizieller und intellektueller Vorgang. Die Textvorlage enthält essayistische Einsprengsel und einen Fußnoten-Apparat. Regisseur Axel Manthey setzt sich darüber hinweg und macht faszinierend sinnliches, subtile Kraftlinien nachzeichnendes Bilder- und Körpertheater. Frappant die Körperbeherrschung des Tänzers (Stephen Galloway), von genialer „Naivität“ Ulrich Wildgruber als tapsiger Schauspieler. Dieser König der Nuschler, der die Theatermittel eben nicht wie aus dem Bilderbuch beherrscht, kann sie desto befremdlicher ausstellen. Ein interessantes Experiment, doch wohl kein „Stück des Jahres“.




Theaterprobe als Modell eines flüchtigen Lebens – „Besucher“ von Botho Strauß eröffnet Mülheimer Stücketage

Von Bernd Berke

Mülheim. Frenetisch bejubelter Auftakt der Mülheimer Theatertage „Stücke 89″: Der Dramatiker-Wettbewerb begann mit „Besucher“ von Botho Strauß. Dieser Text wandelt kreuz und quer durch alle Ebenen von (Un-)Wirklichkeit und verwendet kunstvoll die Probensituation des Theaters als Modell des vorläufigen, flüchtigen und austauschbaren Lebens.

Leben spiegelt das Theater, Theater das Leben. Schauspieler stehen plötzlich sogar als Theaterbesucher auf der Bühne, und wir geraten immer tiefer in das verschachtelte Spiegelkabinett eines Stücks im Stück im Stück…

Die Proben für einen Gentechnik-Schocker werden beherrscht von „Karl Joseph“, einem berühmten Mimen alten Schlages. Es wird nie ganz gewiß, ob er ein spieltechnischer Virtuose ist oder doch nur ein Deklamations-Scharlatan, der sich vor den Zumutungen des Lebens großmäulig in alte Bühnen-Anekdoten rettet. Heinz Bennent spielt seine ganze Bühnenerfahrung mit, er hält – wahres Wunder an Präsenz – diese herrliche Rolle (unbestreitbare Stärke auch des Textes) bis zum Schluß offen.

Seine Mit- und Gegenspieler: Cornelia Froboess als nymphomane Tierschützerin, die man nach langen Jahren wieder zum Theater geholt hat, und Axel Milberg als junger Bühnenanfänger; er stammt aus der DDR, scheint aber aus der gesamten Wirklichkeit „ausgebürgert“. Auf den Stationen seines Einsamkeits-Weges kommen traumartige Passagen ins Spiel. Sie verleihen dem Stück leider einen Zug ins Ungefähre, ins bloß noch Geraunte. In Dieter Doms Inszenierung (Kammerspiele München) ergibt das einen scharfen Kontrast zu Szenen, die auch handfesten Klamauk nicht scheuen: „Joseph“ (Bennent) hat Dauerprobleme mit seinem Gebiß und vollführt auch schon mal einen Handstand.

*

Zur Eröffnung der „stücke ’89“ hat NRW-Kultusminister Schwier eine Rückbesinnung des Theaters auf seine wesentlichen Elemente gefordert. Theater werde nicht allein für Rezensenten veranstaltet, um den „Marktwerkt des jeweiligen Intendanten zu steigern“. Abwerbeverhandlungen sollten der Fußball-Bundesliga vorbehalten bleiben. Sie dienten der Qualitätssteigerui des Theaters nicht.




Am Ende aller Mythen – Roberto Ciulli inszeniert „Die Bakchen“ des Euripides in Mülheim

Von Bernd Berke

Jesus stirbt am Kreuz und preßt seine letzten Worte hervor: Unser ailer Seelen seien verhärtet. Wir verschlössen Augen und Ohren vor dem Leid.

Der Messias ist nicht allein. Ton ab, Kamera läuft; wie beim Gladbecker Geiseldrama? Doch dann zeigt sich, daß hier das Leben Jesu verfilmt wird. Die Kameras werden schließlich abgebaut, der Gottessohn steigt über eine Leiter vom Kreuz. Auch er ist nur ein Schauspieler. Kult und Mythen sind vergangen, sie existieren allenfalls noch auf Zelluloid.

So beginnt in der Mülheimer Stadthalle Roberto Ciullis Inszenierung des Euripides-Dramas „Die Bakchen“. Das Stück entstand etwa 406 v. Chr. Der Jesus-Auftritt zeigt mithin, wie überaus frei Ciulli abermals mit seiner Vorlage umgegangen ist. „Nach Euripides“ heißt es im Programmheft. Roberto Ciulli und Helmut Schäfer haben das Griechenstück mit Texten von Baudelaire, Pavese, Nietzsche und Hölderlin „angereichert“.

Ciulli hat erneut ausufernd-bildkräftige szenische Phantasie walten lassen. Der Fotorealist Howard Kanovitz hat mit antikisierenden Versatzstücken einen Traumraum aus Grüften und Grabsteinen entworfen – ein Bühnenbild beinahe im Geiste von Giorgio de Chirico, dessen Arbeiten das Programmheft füllen. In diesem unwirklichen Raum verlagert sich alles Geschehen ins Innerseelische, wird zum (Alp)-Traumspiel.

Der Rausch-Gott Dionysos will, von Asien kommend, Theben erobern. Einige Frauen sind – wie man hört, aber nicht sieht – seinem Lockruf schon gefolgt, haben die Webstühle verlassen und geben sich orgiastischen Riten hin. Es sind die „Bakchen“ (Bacchantinnen). Thebens Machthaber Pentheus (knittrig auf verlorenem Vernunft-Posten: Volker Roos) ist die Gegenfigur. Der Rationalist sieht die Felle der Ordnung davonschwimmen. Er nimmt Dionysos, der Menschengestalt angenommen hat, gefangen. Doch der Gott stellt Pentheus eine furchtbare Falle, die rasenden „Bakchen“, darunter Pentheus‘ Mutter, reißen ihn in Stücke. Auch davon erfährt man nur durch einen „Botenbericht“. Bis heute ein Rätsel: Wollte Euripides der Vernunft oder dem Rausch das Wort reden? Geht es gar darum, daß das Rauschhafte nicht verdrängt werden darf, wenn es nicht zerstörerisch wiederkehren soll?

Ciulli jedenfalls macht über weite Strecken kein großes Drama daraus: Sein „Dionysos“ (Hannes Hellmann) ist nicht magisch-göttlich, sondern ein etwas überdrüssiger „Typ“ mit wallendem Langhaar. Seine Wein-Seligkeit wirkt nicht sehr lustvoll. Er schleppt die Flasche eher wie ein „Penner“ mit sich herum. Auf dem Todestrip ist er auch noch. Sein erster Monolog („Der frohe Tote“), in dem er sich den Raben und Würmern zum Fraß anbietet, stammt von Baudelaire. Die Götter müssen verrückt sein.

Nach dem Ende aller Tragödien folgt die Farce: In einer langen Szene geht es zu wie auf dem Jahrmarkt. Schwebende Jungfrau, Kasperltheater, King-Kong-Affe, Orient- und Feuerzauber. Da wirkt Dionysos‘ Befreiung aus Pentheus‘ Ketten wie der Auftritt eines Kirmes-Entfesselungskünstlers, sein Ringkampf mit Pentheus hat etwas von Boxbuden-Atmosphäre.

Nach der Pause: Pentheus‘ Mutter Agaue (Veronika Bayer) will ihren Wahn aufrecht erhalten, sie habe einen Löwen und nicht ihren eigenen Sohn zerfleischt. Ihr Vater Kadmos schlägt sie, will ihr die Wahrheit einbleuen. Die Szene wiederholt sich, es könnte endlos so weitergehen. Ein ewiger Kreislauf aus Schuld und Lüge. Dionysos schläft darüber ein, Wein rinnt aus seiner Flasche. Die Mythen sind vergangen.

 




Handkes „Kaspar“ ertrinkt in einer Flut von Bildern – Roberto Ciullis Inszenierung in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Peter Handkes „Kaspar“ auf die Bühne zu bringen, zeugt heute von erlesener Kühnheit. Sehr zeitgebunden erscheinen Bau und Rhythmen des 1967 geschriebenen Textes. Längst zum Klischee verfestigt hat sich die Einschätzung, die Maschinerie dieses Sprechstücks werde von skandierten Demo-Sprüchen und dem „Beat“ jener Jahre mit angetrieben.

Umso spannender die Frage: Wie geht das Theater heute mit dieser – eigentlich untheatralischen – Vorlage um? Roberto Ciullis Inszenierung, die jetzt in der Mülheimer Stadthalle Premiere hatte, gibt, wie kaum anders zu erwarten, eine höchst eigenwillige Antwort. Handke ging es noch um die pure Materialität der Sprache und darum, wie mit Wort- und Satzmaterial Kaspars Identität erschaffen und sodann stromlinienförmig normiert, also zerstört, wird.

Die „Einsager“, die „Kaspar“ durch „Sprechfolter“ zurichten, sollten dabei nur (technisch verfremdete) Stimmen bleiben und keine Rollen für Darsteller abgeben. Ganz anders bei Ciulli. Am Anfang war Handkes Wort, Ciulli aber sprach: „Es werde Bild!“ Figuren des Surrealisten Magritte vergleichbar, werden hier die „Einsager“-Stimmen lebendig, betreten als Trio die Bühne und spielen „Kaspars“ Wortwerdung bildreich durch.

Zu Beginn stöbern sie Kaspar in einer rostigen Tonne auf (kein Diogenes-Faß, eher schon die Urne bzw. Mülltonne aus Becketts „Spiel“ und „Endspiel“) und behandeln ihn wie ein Objekt: erkennungsdienstlich. „Kaspar“ – hier von einer Frau, Maria Neumanft, gespielt – wird mit Kopfhörer-Musik ruhig gehalten, in aufgenötigten Verrenkungen fotografiert, muß medizinische Tests über sich ergehen lassen.

Der/die letzte Unangepaßte, der/die Zuflucht bei einem letzten, elenden Baum gesucht hat, ist „erwischt“ worden. Eine grell den Baum überstrahlende Bahnhofsuhr zeigt, was die Stunde geschlagen hat. Die Einsager nehmen den grünen Waldboden wie einen Teppich weg. Die Natur ist erledigt, das letzte Spiel kann beginnen.

Es ist eine Mischung aus Folter und Kinderspiel: Die Einsager montieren eine Kinderpuppe, stecken „Kaspar“ in einen großen Spielwürfel, setzen Worte mit einem bunten Puzzlespiel zusammen. „Kaspar“ wird nackt auf einen Tisch gelegt, desinfiziert und sieht hernach so aus wie die Puppe: ein niedliches kleines Frauenzimmerchen, das seine Sprechlektionen lernt.

Dazu eine wahre Bilderflut, in der der Text zu ertrinken droht. Ciulli hat die Gabe, bannende Bilder zu finden, gewiß. Doch im zweiten Teil verselbständigen sich die optischen Reize. Da bleibt Handkes Text fast ganz auf der Strecke, nur noch einige kurze Passagen werden zum Schluß gesprochen.

Zuvor wird man Zeuge einer ins schmerzhaft-endlose gedehnten Zeitlupen-Szene. Auf schwarzer, leergefegter Bühne (Apokalypse!) wallfahrtet eine groteske Biedermeier-Gesellschaft zu Kaspar, dem letzten Sprachkundigen, der auf seiner Tonne wie eine Heiligenstatue postiert ist. Die Damen und Herren aus dem 19. Jahrhundert, auf der Basis von uberdeutlich ritualisierten Herr-Knecht-Verhältnissen vegetierend, spielen (gleichsam Erbsünde) die Erschlagung des historischen Findlings Kaspar Hauser.

Bewundernswert die Leistungen, auch die Duldsamkeit der Darsteller: allen voran Maria Neumann, die eine tote Leere um die Worte herum „mitspricht“, als sei das Ende allen Sprechens greifbar nah.




Überraschung in Mülheim: Dramatikerpreis an Volker Ludwig für „Linie 1″ – Jury und Publikum votierten für Revue des Grips-Theaters

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Überraschung ist perfekt, doch sie konnte bei Licht besehen gar nicht ausbleiben. So paradox könnte man den Beigeschmack der Jury-Entscheidung bei den Mülheimer Theatertagen „stücke ’87“ umschreiben. Der mit 20.000 DM dotierte Dramatikerpreis geht an Volker Ludwig. Mit diesem Votum für „Linie 1″ (Rock-Revue des Grips-Theaters), wolle man, so die Jury-Begründung, „eine auf deutschsprachigen Bühnen seltene Form des kritischen Unterhaltungstheaters“ fördern.

Das U-Bahn-Stationenstück, so die Jury weiter, verbinde Elemente der musikalischen Revue und des  Sprechtheaters, um „Probleme großstädtischer Lebenswirklichkeit und der Jugendkultur“ zu thematisieren. Gewürdigt werde mit dieser Entscheidung auch „die Kontinuität der Theaterarbeit des Autors Volker Ludwig und des Grips-Theaters“.

Fünf von acht Jury-Experten – drei stimmten für Elfriede Jelineks Vampir-Stück „Krankheit“ – haben damit dem Geschmack der Publikumsmehrheit entsprochen (was in den vergangenen Jahren längst nicht immer der Fall war). „Linie 1″ war der eindeutige Favorit bei den Zuschauern, sowohl, was die Besucherzahlen in Mülheim, als auch, was die Stimmzettel anging.

In der mitternächtlichen Diskussion nach Bekanntgabe des Jury-Entscheids erhoben sich einige Stimmen, die das Urteil für unseriös erklärten, von einem „Wende-Signal“ sprachen oder polemisierten, hier zeige sich eine Tendenz zur flachen Unterhaltung wie im Privatfernsehen.

Es ließen sich tatsächlich stichhaltige Einwände gegen „Linie 1″ erheben, etwa der, daß gesellschaftliche Randgruppen hier auch zum Objekt der Unterhaltung werden. Andererseits stecken in der kalkuliert kitschigen und witzigen Verpackung des Stücks auch kritische Inhalte.

Von einem „Signal“ der Jury kann man tatsächlich sprechen. Ausformuliert und an die Adresse der Theaterautoren gerichtet, könnte es in etwa lauten: „Entfernt euch nicht zu sehr vom Publikum!“ Ein Appell, der mit Blick auf die Gesamtheit der Mülheimer Wettbewerbsbeiträge einiges für sich hat, kam doch vielfach sprachlich überladene, stockdüstere Endzeit-Prosa auf die Bühne, die allenfalls unter dem Aspekt „publikumswirksam“ war, daß sie für Unklarheit in den Köpfen sorgte, was – wie sich in den Mülheimer Diskussionen nach den Aufführungen zeigte – von einigen Theatermachern bereits als das Nonplusultra ihrer Arbeit angesehen wird. Motto: „Was ich verstehe, damit bin ich fertig.“

Als letztes der sechs Stücke wurde am Donnerstag Abend Horst Wolf Müllers „Komarek“ in der Karlsruher Inszenierung von Hagen Mueller-Stahl gezeigt. Die Geschichte eines Arbeitslosen spielt 1932 und soll die Durchdringung des Privaten durch das Politische (Aufkommen des Nationalsozialismus) vorführen. Ob der Text dies leisten kann, ist nach dieser Inszenierung nur sehr schwer zu sagen. In der beinahe naturalistischen Darbietung, die in Mülheim zu sehen war, wird eher eine Vernebelung des Politischen durchs Private daraus. Die Frage bleibt, ob das sprachlich sehr zurückhaltende Stück mit feinem Instrumentarium unterschwellige Vorgänge erfaßt oder ob es einfach nur halbherzig und harmlos ist. Das Stück, dessen Autor übrigens als Angestellter im Bundespresseamt arbeitet, konnte in der gezeigten Darbietung noch nicht den Verdacht ausräumen, daß es eher eine entlastende und versöhnliche Tendenz à la Kempowski als die Schärfe eines Horváth hat.




Die Bühne als Forum für sperrige Prosatexte – „Totenfloß“ und „Die Seidels“ bei „stücke ’87“

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Jury der Mülheimer Theatertage „stücke ’87“ ist wahrlich nicht zu beneiden. Nach fünf von sechs Wettbewerbs-Beiträgen hat sich noch immer kein Text als „Stück des Jahres“ aufgedrängt.

Gewisse Aussichten auf den Dramatikerpreis hat Harald Mueller – allerdings eher wegen der hervorragenden Inszenierung seines Stücks „Totenfloß“ durch George Tabori, die einer wunderbaren Rettung des Textes gleichkommt. Das Mülheimer Publikum war in zwei Lager gespalten: Herzhafte „Buhs“ wurden mit lauten „Bravos“ vergolten.

Das Stück spielt im Jahr 2050, in einem chemisch und atomar verseuchten Endzeit-Deutschland. Mueller montierte eine auf brutale Kernbestände reduzierte „Zukunftssprache“: eine Mischung aus knappstem Techno-Idiom, Amerikanismen und Slang – etwas Orwell, etwas Anthony Burgess („Uhrwerk Orange“), etwas Arno Schmidt („Gelehrtenrepublik“).

Das entseelte „Neusprech“ und sein Kontrast zu lyrischen Sprachresten aus unverseuchter Zeit sind aber schon die deutlichsten Vorzüge – abgesehen davon, daß Mueller als wohl einziger Stückeschreiber das Thema so direkt aufgegriffen hat. Viele Bühnen spielten das Stück denn auch, vor allem „nach Tschernobyl“. Sie taten dies, so muß vermutet werden, mangels Alternativen (ein Armutszeugnis für die deutschsprachige Gegenwartsdramatik). Jedes Beckett’sche Endzeit-Szenario ist, obwohl dort nicht von Cadmium und Fallout die Rede ist, bedrückender als „Totenfloß“.

Inhaltlich ergibt sich nämlich bei Harald Mueller größtenteils eine simpel ausgemalte „Hochrechnung“ heutiger Katastrophen, wie sie nahezu täglich von den Medien vermeldet werden, also eine auf die Spitze getriebene Fortschreibung, die aus durchschnittlicher Science-fiction geläufig ist. Die gespenstische Flußfahrt der vier verstrahlten und vergifteten „Untoten“, die aufeinem Floß das angeblich „cleane“ (saubere) Xanten ansteuern wollen, mündet schließlich gar in einen unbedarften moralischen Appell.

Regisseur Tabori hat sich gar nich eerst auf die manchmal platten Beschreibungsversuche des Textes, der zu vieles ausspricht und zu viel Unvorstellbares vorstellen will, eingelassen, sondern das Stück in einen reinen Kunst- und Spielraum verlegt. Dabei zeigt sich dann doch, daß der Text, ohne daß man ihm Gewalt antun müßte, Ansätze zu theatergemäßer Umsetzung bietet, was längst nicht von allen Beiträgen bei „stücke ’87“ behauptet werden kann.

Hatte man zunächst gemeint, Georg Seidels „Jochen Schanotta“ sei das Anti-Stück des Wettbewerbs, so hatte man eben nur noch nicht Stefan Schütz‘ „Die Seidels (Groß & Gross)“ in der lnszenierung der Städtischen Bühnen Osnabrück durchlitten.Auch Schütz (aus der DDR kommend, in Hannover lebend) operiert mit einer künstlichen Sprache aus klassizistischen und expressionistischen Anklängen sowie Kraftworten. Geradezu berserkerhaft düster, wirft er den Zuschauern (viele gingen in Mülheim vorzeitig) einen allgemeinen Weltekel hin, den er nur notdürftig aus dem gesellschaftlichen Elend nach dem Scheitem der deutschen Revolution von 1918/19 herleitet. Der tiefschürfend-sperrige Text, oft „um drei Ecken herum“ formuliert, könnte als Prosa bestehen. Sein Erscheinen auf dem Theater ist alles andere als zwingend, es ist Zufall.




Banalität und Alptraum der Folter – Roberto Ciulli inszeniert Sartres „Tote ohne Begräbnis“

Von Bernd Berke

Mülheim. Es ist eine Zumutung und zum Davonlaufen, was uns Roberto Ciulli in Mülheim als Sartres „Tote ohne Begräbnis“ vorsetzen läßt. Doch können nicht Zumutungen auf dem Theater eine andere Qualität bekommen? Können sie nicht dazu zwingen, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, an die man andernfalls nicht im Traum geriete?

Ciulli läßt Sartres (kaum noch gespieltes) Stück über eine Gruppe von Résistance- Kämpfern, die sich in der blutrünstigen Gewalt französischer Nazi-Kollaborateure befinden, als schrecklichen „Folterabend“ vorführen. Der ohne Pause und also ohne Fluchtmöglichkeit gespielte Text ist rigoros gekürzt. Ciullis Fassung läßt wenig ahnen von Sartres Ansinnen, die existentielIe Entscheidungsfreiheit in einer Extremsituation zu zeigen – die Entscheidung zwischen Verlust der Würde durch Verrat und Verlust des Lebens durch Schweigen. Statt dessen starrt man sprachlos-entsetzt in ein Horrorkabinett.

Die vordere Bühnenhälfte (Spielstätte im Raffelbergpark) ist voll von brackigem Wasser. Ein Unterweltfluß, eine Art Acheron? Doch mythisch Anwandlungen steht das banale Inventar entgegegen: Der „Warteraum“ der Opfer, in dem sie der Folter entgegenzittern, erweist sich (zu erinnern ist an reale Stadien als Stätten der Gewalt) als Turnhalle mit Barren, Sprungbock und Sprossenwand, an der die Widerständskämpfer anfangs wie Gekreuzigte hängen. Überhaupt flimmert das Geschehen ständig zwischen alptraumhafter Bedeutsamkeit und abgründiger Banalität.

Hinten, abgegrenzt durch einen Vorhang, liegt das armselig-schäbige Abteil der Folterknechte: Rostiges Stahlbett, nackter Scheinwerfer, ein Radio; das ist alles.Umso absurder zelebrieren die Folterer ihre Bluttaten – mal geschminkt, mal schmierige Erotik signalisierend, mal kühl experimentierend, mal wie Turner sich zur Gewalt „ertüchtigend“. Und: Zu Folter und Mord ertönt immer Musik. Die Folter als bizarres Fest.

Doch auch ihre Opfer erscheinen keinesfalls als Helden. Sie sind mit ihren Peinigern im selben hermetischen Wahnsystem gefangen. Ihre Wunden tragen durchaus auch groteske Züge, was – falls eine Steigerung möglich wäre – alles noch schlimmer, noch sinnloser macht. Am Schluß bleibt nicht einmal (wie bei Sartre) „Erlösung“ durch den Tod, sondern Verewigung der Qual in einer endlos zerdehnten Zeit.

Die Aufführung entwirft starke, verstörende Bilder. Das Ensemble – voran Veronika Bayer – spielt, wenn der Begriff hier erlaubt ist, höchst „diszipliniert“. Dennoch bleibt die Frage, ob Ciulli nicht an dem Problem scheitert, scheitern muß, ein Phänomen wie die Folter auf der Bühne nur scheinhaft verdoppeln und verkünsteln zu können.




Die Kunst kommt jetzt auch via Bildschirmtext – Mülheim: Erster Überblick zur „Btx-Art“

Von Bernd Berke

Mülheim. Btx-Art“, also Kunst fur Bildschirmtext (,,Btx“), stellt jetzt in (zumindest) bundesdeutscher Premiere das Städtische Museum in Mülheim/Ruhr vor.

Wie kommt die Kunst ins Btx-Sytem, wie kommt der Btx-Kunde an die Kunst? Der Künstler wird (gegen Gebühr, die bald enorm steigen wird) Anbieter beim 1984 bundesweit eingeführten Btx-System. Mit entsprechendem technischen Gerat muß er nun jeden Bildschirmpunkt einzeln schwarzweiß oder farbig gestalten. Das ist aufwendig, denn die Farb-,,Palette“ ist dabei äußerst vielfältig, und ein Bild erfordert einige hundert Punkt-Bestimmungen. Nicht jede Kunst läßt sich so erzeugen, denn das Auflösungsvermögen von Btx ist zwar schon besser, aber keineswegs perfekt geworden; ein Punkt ist etwa einen Quadratmillimeter groß, was ein relativ grobkörniges Bild ergibt.

Waren anfangs praktisch nur großflächige oder konstruktivistische Bilder möglich, so sind nun auch schon etwas filigranere Zeichnungen darstellbar. Die Bilder lassen sich nicht nur flüchtig flimmernd betrachten, sondern auch ausdrucken oder aufzeichnen, und zwar mit einem Ton-Cassettenrekorder, dessen akustische Signale von einem Decoder wieder in Bilder ,,zurückubersetzt“ werden. Solche Möglichkeiten machen das Medium auch bedingt museumstauglich. In Mülheim sieht man die Ausdrucke sogar gerahmt – eine Reminiszenz an altgewohnte museale Betrachtungsweisen; natürlich gehen dabei Flimmer- und Bewegungseffekte verloren. Und noch einen Weg gibt es zur Btx-Kunst in Mülheim, nämlich den direkten Zugriff auf die aktuell gespeicherte Kunstproduktion.

Wie wählt man Kunst an? Nötig sind ein speziell ausgerüstetes TV-Gerüt und ein ,,Modem“ als Zusatzeinrichtung am Telefon. Über Telefonleitung lassen sich dann alle Btx-Kunst-Anbieter „anzapfen“ – via Zentral-Computer in Frankfurt, aber zum Ortstarif.

Volker Hildebrandt, Künstler aus Duisburg, von dem ein Großteil der ausgestellten Arbeiten stammt, nimmt für eine Anwahl seiner Bilder meist noch eine Betrachtergebühr von 0,10 DM. Im Schnitt wurden seineWerke rund 150 mal pro Monat abgerufen. Hildebrandt befaßt sich vor allem mit bildlichen Umsetzungen des Begriffs „Bildstörung“; verwirrend flimmernde Rasterfelder zeigen ein selbstzerstörerisches, wildgewordenes Medium. Hildebrandt hat außerdem eine riesige gemalte ,,Bildstörung“ in Mülheim aufgestellt, deren Raster den Betrachter in einer begehbaren Trommel („Rosa Schnecke“) ganz umschließt.

Neberi Hildebrandts Btx-Galerie sind auch Pionierarbeiten dieser jungen Kunstform in Mülheim zu sehen. Bei der ,,Neuen Presse- /Medien-Gesellschaft“ in Ulm befaßten sich ab 1981 auch prominentere Kunstler wie Otto Herbert Hajek, Ansgar Nierhoff und Heinrich Siepmann mit den Anfangsgründen des Mediums. Inzwischen hat die Offenbacher Hochschule fur Gestaltung sich mit Anwendungs-Experimenten an die Spitze gesetzt.

Die Mülheimer Ausstellung in der ,,Alten Post“ (Viktoriaplatz) ist – dem flüchtigen Medium entsprechend – nur wenige Tage zu sehen, und zwar ab heute bis zum 30. November (täglich 10-17 Uhr). Zu dieser ersten Bestandsaufnahme der Btx-Kunst erscheint zum Preis von 22 DM ein Loseblatt-Katalog mit sämtlichen von Kümstlerhand erzeugten Bildern, die seit 1981 in der Bundesrepublik entstanden sind. Es ist weltweit der erste Katalog für Btx-Kunst.




Wunderbare Rettung der verletzten Bilder – Neuere Arbeiten des Hagener Altmeisters Emil Schumacher in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Auf der Bildfläche herrscht, so scheint es, das schiere Chaos. Alle einzelnen Formen sind verletzt, zerstört. Da ist keine Linie, die einen „schönen“ oder auch nur regelmäßigen Verlauf nach herkömmlichem Verständnis niinmt. Sogar die Signatur des Künstlers wirkt oftmals, als sei sie vor lauter Verzweiflung zerflattert oder zerrissen. Trotzdem, und dies kommt einer unverhofften „Rettung“ der Bilder gleich, wird eine „höhere“, wenn auch sehr brüchige Ordnung sichtbar.

Die Rede ist von neuesten Arbeiten eines Altmeisters Emil Schumacher, Jahrgang 1912, in Hagen lebend, schöpferisch wie eh und je. Jetzt zeigt das Städtische Museum Mülheim („Alte Post“ am Viktoriaplatz, bis 12. Oktober, di-so 11-17 Uhr, Katalog 15 DM) eine Auswahl seiner Gouachen und Ölbilder. Ab 23. Januar 1987 wird diese Ausstellung in der Städtischen Galerie Lüdenscheid zu sehen sein.

Bilder beginne er, als ob er gegen eine imaginäre Mauer angehe, hat Schumacher einmal geäußert. Tatsächlich zeigen all seine Werke Spuren eines inneren Kampfes, man spürt Widerstände und deren Überwindung. Nie aber sind die Arbeiten bloßer Ausdruck eines seelischen Ereignisses, sie bleiben – aller Emotion zum Trotz – „komponierte“ Bilder. Die vorherrschenden Töne: erdhaftes Braun, blaue Schattierungen. Tendenzen zur Monochromie (Einfarbigkeit) stehen hier aber nicht für Experimente mit der Modulation dieser Farben, sondern für äußerste Konzentration. Die Farben werden gleichsam zur Materie, erscheinen mitunter als Erhebungen und Verwerfungen auf dem Bildgrund. Dagegen setzt Schumacher scheinbar ungefüge lineare Strukturen, die dem Ganzen dennoch auf wunderbare Weise „Halt“ geben. Und dies ist eben das Erstaunliche: daß diese Bilder „verhalten“ wirken, obgleich ihnen große Zerstörungskräfte innewohnen.

Vor Schumachers (oft titellosen) Bildern kann man, so man mag, den Assoziationen freien Lauf lassen. Man glaubt vielleicht, Menschenumrisse zu erkennen, Ruinen, Tiere oder Landschaften. Diese Kunst ist offen für vielerlei Vorstellungen. Für eine Deutung freilich eignen sich derlei Einfälle kaum. Diese Bilder wollen als Bilder angeschaut werden, nicht als Abbilder.

Gerade die Gouachen (Malerei mit deckenden Wasserfarben) zeigen den Entstehungsprozeß beinahe brutal unverhüllt. Bei dieser Technik läßt sich (im Gegensatz zu Ölbildern) kaum etwas zurücknehmen oder zurückhalten.

Schumacher, einer der wichtigsten Vertreter des sogenannten „Informel“, war nie in Mode, drängte sich niemandem auf, hing keiner Richtung sklavisch an. Dennoch gab es, unabhängig von den wechselnden Konjunkturen, seit denKrieg immer wieder wichtige Ausstellungen seiner Werke, so daß er auch nie in Vergessenheit geriet – ein Umstand, der auch für die Ausstellungsmacher spricht.




In der Post gibt es jetzt Kunst statt Briefmarken – Mülheim: Erster Schritt zum neuen Museumszentrum

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. Am Portal steht noch in dicken Lettern das Wort „Post“. Also geht mancher Mülheimer nach alter Gewohnheit und in dem Glauben hinein, hier sein Päckchen aufgeben oder telefonieren zu können. Dann das Erstaunen: Hier gibt es ja Kunst statt Briefmarken!

In Mülheim soll, wie die städtische Eigenwerbung beschwingt in Aussicht stellt, nunmehr die kulturelle „Post abgehen“. Am Sonntag – Spötter reden schon vom Gründungsdatum der „Post-Moderne“ in der Ruhrstadt – wird, von 11 Uhr morgens bis tief in die Nacht, mit einem rauschenden Fest der erste Teilabschnitt der „Begegnungsstätte in der alten Post“ (über einen flotteren Namen wird nachgedacht) offiziell eingeweiht. An den früheren Postschaltern werden dann Kunstkataloge und Theaterkarten feilgeboten, und in der Halle, in der sich ehedem Pakete stapelten, hängen (erste Präsentation in der Post) rund 270 Bilder von Heinrich Zille (die WR wird auf diese Ausstellung ausführlich zurückkommen).

Schon der jetzt verfügbare Trakt des (um die Jahrhundertwende hochgezogenen) mächtig ausgreifenden Gemäuers am Viktoriaplatz sorgt für spürbare Entlastung des allzeit beengten Städtischen Museums an der Leineweberstraße. Dort kann Museumsleiterin Karin Stempel jetzt nach und nach mehr Eigenbesitz vorzeigen, beispielsweise breitere Querschnitte durch die bedeutende Expressionismus-„Sammlung Ziegler“. Die „Post“, museumstauglich umgebaut für bislang 1,4 Millionen DM, steht ab sofort für Wechselausstellungen zur Verfügung. Schwerpunkte hier: künstlerische Aussagen mit neuen Medien (Video) und Graphik.

Auch das NRW-Filmbüro, bis dato in zwei Zimmer des „Schloß Broich“ gezwängt, hat im Obergeschoß der Post einen geräumigeren Unterschlupf samt Kleinkino bekommen und muß für größere Vorhaben nicht mehr ins Kölner „Exil‘ ausweichen. Ebenfalls nicht zu verachten: Die Magnetwirkung eines privat betriebenen Bistros und eines Biergartens soll über die notorische Angst vor Museums-„Schwellen“ hinweghelfen. Auch können im Bistro, ähnlich wie im weitläufigen Foyer, Kleinkunst- und Musik-Veranstaltungen oder Diskussionen stattfinden. Überhaupt soll es in der Post nicht auf einen rein musealen Betrieb der bildenden Kunst hinauslaufen.

Und in vier bis fünf Jahren soll es noch viel besser kommen. Dann wird nämlich der Neubau der Sparkasse fertig sein, die gegenwärtig noch einen Flügel der alten Post belegt. Dann kann das Museum die mäßig geliebten Räume an der Leineweberstraße endgültig aufgeben, mit Sack und Pack in die Post umziehen und die Exponate auf 3500 Quadratmetern reiner Nutzfläche – das Dreifache des Bisherigen – ausbreiten.

Bei all dem könnten einem direkt Gedanken an Dortmund kommen, wo schon in etwa zwei Jahren das jetzige Hauptpostgebäude in unmittelbarer Nachbarschaft des Museums für Kunst und Kulturgeschichte frei wird. Auch in der Westfalenmetropole ist eine Nutzung des imposanten, unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes seit Langem im Gespräch – und noch keineswegs „vom Tisch“.




Vom Kopierer kommt die „Kunst auf Knopfdruck“

Beherzt rückt Jürgen O. Olbrich dem Kopiergerät zuleibe. Auf der dünnen Glasplatte (normale Bruchlast: 6 Kilogramm) tanzt er einen verwegenen Rock’n Roll. Ergebnis bei eingestellter Dauerfunktion: verwirrende Geflechte aus Fußabdrücken – Schwarz auf Weiß verewigt. Ein andermal ließ Olbrich Speiseeis aufdem Kopierer schmelzen und hielt den Zerfließ-Vorgang auf Kopien fest.

Derlei Aktivitäten durfte kaum ein Bürochef oder Kopierladeninhaber dulden. Immerhin: Millionen Menschen gehen täglich mit Fotokopiergeräten um. Doch nur ganz wenige kommen auf die Idee, dies spielerisch zu tun oder gar Kunst daraus zu machen. Einer von den Wenigen ist Klaus Urbons (32), der seit 1977 „Copy Art“ betreibt und jetzt in Mülheim/Ruhr das bundesweit erste „Museum für Fotokopie“ eingerichtet hat. Er zeigt dort rare Geräte aus den letzten 25 Jahren der rasant fortschreitenden Modellgeschichte – und Kunstwerke, die mit den Apparaten fabriziert worden sind. Besagter Jürgen Olbrich aus Kassel – Vertreter einer impulsiven Richtung von Copy Art – ist in der Eröffnungsausstellung vertreten.

„Copy Art“ ist möglicherweise die demokratischste Kunst, die es gibt. Urbons: „Für ein paar Groschen kann jeder mitmachen“. „Copy Art“ kann höchst simpel sein, sozusagen „Kunst auf Knopfdruck“, aber auch erstaunlich vielfältig. Es muß nicht immer so brachial zugehen wie bei Jürgen Olbrich. Eine Variante für Einsteiger sind etwa sogenannte Kopien-„Generationen“, das heißt, von einer Kopie wird wieder eine Kopie gezogen, von dieser Zweitkopie die nächste, usw. Der verblüffende Effekt ist in Mülheim anhand einer 100-teiligen Arbeit von Timm Ulrichs zu bestaunen: Die Umrisse eines abkopierten Buchdeckels werden zusehends blasser; gleichzeitig scheint die vermeintlich „seelenlose“ Apparatur selbst zeichnerisch kreativ zu werden: Sie ersetzt den verschwindenden Gegenstand durch frappierende Muster. Ulrichs kopierte übrigens ein Buch mit beziehungsreiehern Titel: Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ – eine Art „Bibel“ jeglicher Vervielfältigungskunst.

180-Grad-Darstellung des eigenen Gesichts

Klaus Urbons hat auch schon sehenswerte Selbstporträts per Kolpierer angefertigt. Er drehte beispielsweise während des Belichtungsvorgangs den Kopf und bekam eine zerrspiegelhafte 180-Grad Rundum-Ansicht des eigenen Gesichts. Weiterer Tip aus seiner Werkstatt: Legt man ein geeignetes Stück Gardine dazwischen, bekommt man obendrein ein hauchfeines Bildraster.

Verkleinerungen, Vergrößerungen, Farbkopien, nachträgliche Kolorierung von Hand, Montage oder Collage verschiedener Kopien eröffnen dem Ideenreichtum ein weites Feld. Es entwickeln sich regelrechte „Stilrichtungen“ – wie in Malerei und Skulptur. Durch Umbauten des technischen Innenlebens der Kopierer kann die Ausdrucksvielfalt nochmals gesteigert werden.

Kopier-Kunst kann zum teuren Vergnügen, ja zu einer Art Sucht werden. Klaus Urbons erinnert sich an die Zeiten, als er noch keine eigenen Geräte besaß: „Ich stand manchmal stundenlang im Copy-Shop. Nachher war ich einen ganzen Sack voller Kleingeld los, manchmal weit über 100 Mark.“ Offenbar stellen sich, ist man erst einmal dermaßen bei der Sache, Dauerlust-Gefühle wie bei Computerspielen oder an Spielautomaten ein. Urbons, der auch alle erdenklichen Texte zum Thema sammelt: „Comic-Zeichner haben dieses Phänomen längst entdeckt. Da gibt es viele Figuren, die ihr ganzes Geld im Kopierladen ver jubeln.“

Beinahe nostalgisch schwärmt der gelernte Schriftsetzer und Grafiker Urbons von den älteren Kopiergeräten. Heutige Apparate seien durchweg normiert und böten weniger Entfaltungs- und Spielmöglichkeiten. In der Anfangszeit aber hätten Konstrukteure die abenteuerlichsten Verfahren erprobt. Die Mülheimer Museumsstücke dokumentieren die Entwicklung.

Begonnen hat es (um das Jahr 1938) mit Naßkopierern, die eigentlich nur eine Weiterentwicklung der Repro-Kamera darstellen. Mit Geschick braucht man für eine Kopie mit solchen Maschinen „nur“ fünf bis sechs Minuten. Urbons bekam seine ersten Altgeräte aus jdem Gerümpelkeller eines Fachhändlers.

Die alten Geräte waren phonstarke Monstren

Heute hat er fast 40 Stück beisammen, die phonstark loslegen „wie Düsenjäger“ (Urbons) und bis zu einer halben Tonne wiegen. Das schafft neben Transportschwierigkeiten auf Dauer auch arge Platzprobleme. Urbons hat, außer seinem kleinen Museum, mittlerweile schon zwei Garagen randvoll mit Kopiergeräten bestückt. Dennoch sucht er weitere Raritäten. Für den Tag der Ausmusterung sind ihm schon die frühesten je gebauten Kopierer der Firma Xerox versprochen, die noch heute an der Technischen Hochschule Aachen in Gebrauch sind.

Inzwischen ist Urbons so gewieft, daß er schon Umbauten an Kopierern vornimmt, die die Hersteller nicht für menschenmöglich gehalten hätten. Fernziel: Der Mülheimer möchte einen Kopierer anfertigen, der ganz speziell auf Künstler-Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Die neuesten Trends und Gags hat sich Urbons kürzlich auf der Hannover-Messe angesehen. Staunend stand er vor da Kopierern, die per Computer angesteuert werden können – das Verbindungsglied zwischen Computergrafik und „Copy-Art“: Weitere Neuheit, die ebenfalls für Künstler interessant ist: Relief-Kopierer, die – „Sprung in die dritte Dimension“ – fühlbar erhöhte bzw. vertiefte Oberflächenstrukturen vervielfältigen können. Ursprünglich war diese plastische Technik zur Wiedergabe von Blindenschrift erfunden worden. Schließlich träumt Urbons davon, via Telekopierer fixen Kontakt zu Zunftgenossen aufzunehmen.

Kopierkünstler ringen noch um ihre Anerkennung. Zwar läuft derzeit die erste einschlägige „Biennale“ in Barcelona, und seit 1980 ist eine Kopierausstellung auf US-Tournee, doch hat sich bislang noch kein renommiertes Museum dieser Richtung angenommen.

Die Preise freilich pegeln sich mittlerweile schon auf kunstmarktübliche Höhen ein. Ein Großformat in der Mülhimer Ausstellung fand für schlanke 1000 DM einen Käufer. Bescheidener gibt sich der gleichfalls ausgestellte Roland Henß-Dewald. Preisangabe unleT einer seiner Arbeiten: „1000 Blatt A-4-Papier“.

„Museum für Fotokopie“, 4330 MüIheim/Ruhr, Friedrichstraße 59. Ständige Geräte- und wechselnde Kunstausstellungen. Geöffnet donnerstags 18-21 Uhr. Besuchstermine auch nach telefonischer Vereinbarung (0208/34 461). Vorführung von Geräten und eigene Kopierversuche sind möglich. Die Eröffnungsausstellung dauert bis 30. Mai.

_________________

Erschienen in der Rundschau-Wochenendbeilage vom 18. Mai 1985

 

 




Hang zur Hysterie: Roberto Ciulli inszeniert Tschechows „Möwe“ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Saison für „Die Möwe“. Am nächsten Wochenende kommt eine Inszenierung von Anton Tschechows Künstlerdrama in München heraus, an diesem Wochenende hatte es Premieren in Augsburg und in Mülheim (Regie: Roberto Ciulli). Das Theater an der Ruhr liegt mit der Wahl des Stücks offenbar im Trend.

Zu Beginn völlige Dunkelheit. dann Scheinwerfer auf einen schweren roten Vorhang, der zwischen Metallgerüsten hängt. Davor, dem Zuschauerrum abgewandt, sieben Stühle. Nach und nach lassen sich die Protagonisten, zugleich Zuschauer eines „Stücks im Stück“, darauf nieder: Die aufgedrehte, sich gegen das Altem sträubende Bühnendiva Irina, die wie ein Kind (oder: ein Besitz, ein Ding) hereingetragen wird von ihrem Liebhaber, dem vielgelesenen Schriftsteller Trigorin; dann Irinas Sohn Konstantin Treplev, Trigorins Kunst verwerfend, mit eigenen Schreibversuchen aber Gelächter hervorrufend; ferner Irinas Bruder, ein Arzt, ein Lehrer, ein Gutsverwalter, die Alkoholikerin Mascha und schließlich die verwundbare „Möwe“ Nina (gute Besetzung: Veronika Bayer), die Opfer Trigorins werden wird.

Eine Wartezimmersituation also, sinnreiche Vergegenwärtigung des für Tschechow-Personal typischen, ziellosen Wartens. In einer späteren Szene liegen die Schauspieler, todweiß geschminkt, so unterm Vorhang, daß nur ihre kalkigen Gesichter unterm Saum hervorlugen. Unbeweglichkeit, Starre, verfehltes Leben. Ein Theaterbild von Becketts Gnaden. So weit, so eindrucksvoll. Aber: Weil gleich alle Personen auf der Bühne versammelt sind und ihre – im Text zu Einzelszenen parzellierten – Dialoge jeweils in Gegenwart der anderen absolvieren, wird das filigrane Beziehungsgeflecht zu entschieden, zu kraftvoll gebündelt. Der elegische Grundton der Vorlage wird übertönt.

Löst sich endlich jemand aus den langen, oft genug funktionsarmen Schweigepausen (Spieldauer: drei Stunden), so gerät das vor allem bei zwei Figuren gleich zur expressiven Selbstdarstellung, zur schrillen, unvermittelten Ausrufung: Gordana Kossanovic als Irina spielt um entscheidende Grade zu überdreht. Hysterisch geht sie mit eitlen Kapricen schwanger, doch da ist – Scheinschwangerschaft eben – viel heiße Luft.

Hannes Hellmann als ihr Sohn Konstantin steht dem kaum nach. Unzulänglicher Prophet eines Traumtheaters, der er laut Text zu sein hätte, krächzt er seine Sätze lautstark heraus, als wolle er sie nur loswerden und nichts damit ausdrücken. Beide zusammen begraben sie die prekäre Mutter-Sohn-Beziehung unter ihrem Schwall.

Zweifellos wohnt Tschechows Figuren eine Neigung zum Ausbruch, zur Hysterie inne. Diese latent vorhandende Prägung aber als Quintessenz hervortreten zu lassen, rührt nach meiner Meinung an die Substanz des Stücks.

Ciullis Experiment mit Tschechow fördert viele richtige Ansätze zutage. Die Aufführung krankt aber daran, daß allzu forsch abstrahiert und überbetont wird. Das gilt auch für die Langeweile des russischen (in Mülheim eher ortlosen) Landlebens: Statt daß sie mit Bedeutung aufgeladen wird, wird sie durch Zerdehnung verdoppelt.




Kunst-Aktion mit Feuer, Wasser, Luft und Erde: Holzbilder 5 Jahre lang den „Elementen“ ausgeliefert

Von Bernd Berke

Mülheim. Gegen 11.27 Uhr schwebte gestern ein Hubschrauber über die Ruhr auf die Mülheimer Schloßbrücke zu und warf ein verwittertes HoIz-Quadrat ab. Eine Viertelstunde später hing das Objekt im Städtischen Museum – spektakulärer Abschluß einer Kunst-Aktion, deren Anfänge fünf Jahre zurückreichen.

Seit 1978 hat der Mülheimer Willi Brands (38) vier quadratische Holzleistenkonstruktionen auf Stahlrahmen den klassisecen „Elementen“ ausgesetzt: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Aktionstitel: „Die vier Elemente“. Das „Erde“-Gestell wurde am 15. Juli 1978, im geschichtsträchtigen Boden von Xanten vergraben und sieht heute aus wie ein von Archäologen geborgenes Relikt aus der Vorgeschichte. Bücher, die man damals gleichfalls im Erdreich versenkte, wurden restlos weggefressen – für Dr. Dirk Soechting, Ex-Direktor des Regionalmuseums Xanten, ein „eindrucksvolles Zeichen für Vergänglichkeit“.

Ein weiteres Exemplar wurde dem „Feuer“ der Krupp Hüttenwerke in Duisburg-Rheinhausen überantwortet, genauer: es wurde dicht bei einem Hochofen plaziert. Es blieb nur der Stahlrahmen übrig, nicht etwa, weil die Hochofen-Glut dem Holz derart zusetzte, sondern weil ein unbekannter Wüterich einen Kunst-Brand stiftete. Das „Wasser“-Werk wurde im Duisburger Ruhrort-Hafen versenkt – ein Kiesbagger demolierte es so gründlich, daß nur zersplitterte Holzplankenreste und verbogene Stahlteile noch von seiner einstigen Existenz zeugen.

Schließlich die „Luft“: Was gestern per Helikopter zum Museum geflogen wurde (der von einer Kopiererfirma gesponsorte Schlußakt lockte zahlreiche Zaungäste an), lag seit 1978 auf dem Dach des Ruhrreeder-Hochhauses in Mülheim – der Revierluft schutzlos preisgegeben. Mehr als manche Abhandlung über „sauren Regen“ verdeutlicht der heutige Zustand des Bilds, was im Gange ist. Der sechsfache (!) Anstrich ist fast an allen Stellen abgeblättert, man blickt auf rohes, angegriffenes Holz.

Alle vier „Bilder“ sind jetzt im zweiten Stock des Mülheimer Museums (Leineweberstraße 1) zu sehen. Künstler Will Brands, anfangs noch erschrocken über die in einem halben Jahrzehnt entstandenen Veränderungen und Zerstörungen: „Da ich Prozesse zeigen möchte, die von der Umweit beeinflußt werden, bin ich mit dem Ergebnis zufrieden“. Die nunmehr zu Exponaten gewordenen Umwelt-Bilder zeigen, daß die Ur-„Elemente“ nicht mehr jene Stoffe sind, von denen die alten Griechen glaubten, sie hielten die Welt zusammen. Eher das Gegenteil scheint heute der Fall zu sein.

Will Brands: „Die vier Elemente“, Städtisches Museum Mülheim / Ruhr, Leineweberstraße 1, di-f r 10 bis 12.30 und 15 bis 18 Uhr, donn. auch 18 bis 21 Uhr, sa/so 11 bis 17 Uhr




Mülheimer Dramatikerpreis an George Tabori für „Jubiläum“ – Jury und Publikum einmütig

Von Bernd Berke

Mülheim. Der Gewinner des Mülheimer Dramatikerpreises 1983 heißt George Tabori. Sein Wettbewerbsbeitrag „Jubiläum“ wurde bei „stücke 83″ sowohl von der achtköpfigen Jury als auch vom Publikum als bestes der vier gezeigten Stücke bewertet.

Daß Experten und „Normalverbraucher“ diesmal übereinstimmten, darf als kleine Sensation gelten. Die Entscheidung für das Stück des 69-jährigen Tabori kann kaum überraschen: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus endlich einmal nicht mit rational vorgefertigten Rechthabe-Schablonen, sondern vor allem emotional zu führen – das fehlte bisher. „Jubiläum“ stellt eine wichtige, ja unverzichtbare Ergänzung zu Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ oder zu faktenverarbeitendem Theater wie Peter Weiss‘ Auschwitz-Stück „Die Ermittlung“ dar.

Tabori, dessen Familie in den Gaskammern von Auschwitz umkam, verfaßte eine „schwarze Totenmesse“: Auf einem Friedhof durchleben Opfer des Naziterrors das ihnen zugefügte tödliche „Schicksal“ als wiederkehrenden Alptraum. Ein Neonazi, eher von Disney, Donald Duck und Zack-Wumm-Motorik denn von Nietzsche angetrieben, erstürmt die traumatischen Szenen und verwirrt die Begriffe: Was ist heutig, was ist gestrig am Nazi-Unwesen – und hat nicht jeder einen „kleinen Hitler“ in sich? Das beklemmende Stück (Bochumer Version, Regie: Tabori), verlor durch die mißlichen Aufführungs-Verhältnisse in Mülheim nichts von seiner Kraft.

Vom erst 22jährigen Kunststudenten Thomas Strittmatter war ein erstaunliches Debüt-Stück zu sehen: „Viehjud Levi“ schildert, wie die Bewohner eines Schwarzwalddorfs unter dem Anpassungsdruck der Nazi-Ara immer distanzierter mit einem jüdischen Viehhändler umgehen, umspringen. Schwäche des von Jury und Publikum auf den „zweiten Platz“ gesetzten Kurzdramas: Das Dorf erscheint als ideologieanfälliger Nährboden, zuweilen aber auch als dialektsprechendes Idyll, das von hochdeutsch-tümelnden Zentralgewalten nur „vergiftet“ wird.

Daß Peter Handke mit „Über die Dörfer“ nicht in die engere Wahl kam, verwundert kaum. Gar zu abgehoben ist der Text seines vor/nach aller Geschichtlichkeit angesiedelten Mysterienspiels.

Volker Brauns Schiller-Aktualisierung „Dmitri“ fiel glatt durch. Das Stück bezieht seine Problematik hauptsächlich aus Vorgängen im „realen Sozialismus“, so daß es hier nur zum Teil verstanden wird. Braun verzettelt sich in einem quasi-wissenschaftlich angelegten Experiment zum Thema „Rechtfertigung und Entstehung von Macht“. Ein „Kopf-Stück“, fernab der neueren Stimmungen im Westen.