Mit Leib und Seele der Oper verschrieben: Früherer Aalto-Intendant Stefan Soltesz gestorben

Stefan Soltesz in seiner Essener Zeit. (Foto: Matthias Jung)

Gestern spät abends drangen die ersten Kurzmeldungen durch die sozialen Netzwerke: Stefan Soltesz ist tot. Der frühere Essener Intendant und Generalmusikdirektor brach während seines Dirigats von Richard Strauss‘ „Die schweigsame Frau“ an der Bayerischen Staatsoper München zusammen und verstarb kurze Zeit später im Krankenhaus. Er wurde 73 Jahre alt.

Ein Augenzeuge berichtet: Gegen Ende des ersten Akts, gerade als die turbulente Probe der Operntruppe im Hause von Sir Morosus in vollem Gange ist und der alte Kapitän mit dem Speerschaft Wotans auf den Boden geklopft hat, ist ein dumpfer Knall zu hören. Einen Augenblick später „entsteht großer Trubel: einige Leute stehen auf, gestikulieren, schreien wild. Wir schauen vergnügt weiter, denn es ist ja eine lustige Oper und wir dachten, das gehöre dazu.“ Doch dann erklingen Rufe nach einem Arzt, der Vorhang fällt und der Abenddienst tritt vor den Vorhang und bittet das Publikum, vorzeitig in die Pause zu gehen.

Nach einer ungewöhnlich langen Zeit werden die Zuschauer wieder in den Saal gerufen und erfahren, dass die Vorstellung beendet werden muss. Zunächst denkt man im Publikum an einen Hitzschlag, doch dann verbreitet sich rasch die schreckliche Nachricht. Die Bayerische Staatsoper gibt auf ihrer Webseite „mit Entsetzen und großer Trauer“ den Tod von Stefan Soltesz bekannt. „Wir verlieren einen begnadeten Dirigenten. Ich verliere einen guten Freund“, twittert Staatsopernintendant Serge Dorny.

Stefan Soltesz prägte das Essener Musikleben als Generalmusikdirektor der Philharmoniker und Intendant des Aalto-Musiktheaters ab 1997. Seinen nicht ungetrübten Abschied aus Essen nahm er im Juli 2013 mit „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss, eines seiner Lieblingskomponisten, für dessen Werke er als Spezialist galt. Geplante spätere Gastdirigate hat Soltesz abgesagt, nachdem die Stadt Essen es nicht geschafft hatte, den langjährigen erfolgreichen Motivator des Essener Musikkultur angemessen zu verabschieden. „Ich habe es geliebt, hier zu arbeiten“, sagte der scheidende Chef damals, und die WAZ zitierte seine Worte bei der Abschiedsfeier im Aalto-Theater: „Ich habe die 16 Jahre in Essen mit großer Begeisterung erlebt. Es war der wichtigste und schönste Lebensabschnitt. Behalten Sie mich in guter Erinnerung.“

Soltesz war ein Prinzipal alter Schule und als Dirigent den großen Namen verpflichtet: Mozart, Strauss, Wagner. Kompromisse, vor allem in künstlerischer Hinsicht, waren seine Sache nicht. So liebenswürdig er mit seinem Wiener Charme spielen konnte: Wenn es um die Musik ging, war er unerbittlich. Orchestermitglieder können davon erzählen, von seinen Sottisen, von seiner fordernden Detailarbeit, von dem Gefühl dauernder Hochspannung und des Spielens „auf der Stuhlkante“: Aber auch von seiner unbedingten Solidarität, seinem unbändigen Einsatzwillen – und vor allem seinem Charisma, seiner magischen Hand, mit der er die Musik in wundersamer Vollendung hervorlocken konnte.

Natürlich trat er in Essen 1997 mit „Arabella“ von Richard Strauss an – jener umstrittenen, oft gering geschätzten Oper von 1933, die jetzt wieder auf dem Spielplan des Aalto-Theaters steht und von Tomáš Netopil überzeugend, aber anders dirigiert wird. Strauss sollte den Essener Spielplan in den kommenden Jahren prägen: 1998 folgte „Die Frau ohne Schatten“, die in der Inszenierung von Fred Berndt bis 2013 im Repertoire bliebt. Es folgte die Rarität „Daphne“ (1999), dann „Elektra“ (2000), „Ariadne auf Naxos“ (2002) und „Die ägyptische Helena“ (2003). „Salome“ schloss 2004 diesen Strauss-Zyklus vorläufig ab. An die frühen Werke oder an ein kleines Juwel wie „Intermezzo“ wollte der Pragmatiker nicht denken, obwohl er schon in den neunziger Jahren Strauss‘ „Friedenstag“ in einer Inszenierung von Peter Konwitschny an der Semperoper Dresden dirigiert hat.

Stefan Soltesz war mit Leib und Seele ein Mann der Oper. Schon der Anfang seiner Karriere, 1971 am Theater an der Wien und im folgenden Jahrzehnt an der Wiener Staatsoper und der Oper Graz, war vom Musiktheater geprägt. In Salzburg assistierte er Größen wie Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan. Auch an seine nächsten Stationen in Hamburg und Berlin, in Braunschweig als GMD und in Antwerpen/Gent als Chefdirigent dominierte die Oper. Was nicht heißt, dass Soltesz nicht auch faszinierende, berührende, hochgespannte Konzertabende  dirigierte. Nicht umsonst wurden die Essener Philharmoniker unter seiner Ägide 2003 und 2008 zum „Orchester des Jahres“ gekürt.

Aber man spürte: Das Herz des gebürtigen Ungarn, der im Alter von sieben Jahren 1956 zu den Wiener Sängerknaben gekommen war, schlug im Musiktheater. Kennengelernt habe ich ihn 1991, als er in Berlin in John Dews durchdachter Inszenierung von Giacomo Meyerbeers „Les Huguenots“ den Taktstock schwang und demonstrierte, wie subtil Meyerbeer die dramatischen Situationen erfasst. Mit Meyerbeer erlebte ich Stefan Soltesz auch eines der letzten Male, 2019 an der Semperoper, wo er wiederum trotz fragwürdiger Kürzungen auf Wunsch von Regisseur Peter Konwitschny die „Hugenotten“ mit kundigem Blick durchdrang: „Soltesz dirigiert mit Gefühl für Farben und dramatische Entwicklungen“, schrieb ich damals.

Aber auch an seinem Stammhaus Essen ist an unvergessliche Aufführungen zu erinnern. Jeder wird da seine eigene Rangfolge entwickeln. Gelegenheit, den Dirigenten Stefan Soltesz zu erleben, gab es mannigfach. Er war ja omnipräsent, übernahm viele Premieren selbst, ersetzte seine eigenen Kapellmeister oder ausgefallene Gastdirigenten. „Soltesz ist ein Chef, der auch für sich selbst einspringt“, meinte ein Kollege einmal scherzhaft. Diese Präsenz ist heute leider unüblich geworden, sichert aber Vertrauen, Verlässlichkeit und gibt einem Haus und einem Orchester eine unverwechselbare Prägung.

Für mich eines der prägendsten Erlebnisse mit Soltesz war – neben seinen immer wieder mitreißenden Strauss-Abenden – seine Arbeit an Vincenzo Bellinis „I Puritani“. Die Sorgfalt, mit der er diese zunächst so „einfach“ erscheinende Partitur einstudierte, der Blick für den großen Bogen, die atmende Phrasierung, die Gliederung der Melodie, die Liebe zum instrumentalen Detail, brachten die Qualitäten Bellinis ans Licht des Tages und ließen den angeblich so simplen Belcanto in einem neuen Licht erscheinen. Eine Meisterleistung der Dirigierkunst.

Müßig aufzuzählen, wo der unermüdliche Dirigent als Gast anzutreffen war. Ob Hamburg oder Wien, München oder Berlin, Budapest oder Frankfurt, Rom, Paris, Zürich oder Buenos Aires. Sein Name tauchte immer wieder auf – auch an der Komischen Oper Berlin, wo er zuletzt in Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ sein Faible für die Spätromantik des 20. Jahrhunderts ausspielen konnte und mit Paul Abrahams „Viktoria und ihr Husar“ einen hinreißenden Operettenabend bescherte.

Stefan Soltesz wird fehlen, aber die Erinnerung an ihn lebt in der Seele all jener weiter, die er mit Musik beglückt hat, und sie werden ihm im Herzen die Kränze flechten, die die flüchtige Zeit nicht nur dem Mimen, sondern auch den Musikern gern vorenthält.




Goethe-Institut: Corona-Probleme und Abkehr vom bloßen Kulturexport

Warum nicht dabei sein, wenn die Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts schon per Livestream gesendet wird? Sonst hat man sich gegen Jahresende stets in Berlin versammelt, die Anreise aus dem Revier war gar zu aufwendig. Aber so, wenn das Ganze frei Haus aus der Münchner Goethe-Zentrale kommt? Na, klar. Doch hat es sich auch gelohnt?

Neue Präsidentin des Goethe-Instituts: Carola Lentz. (Foto: Goethe-Institut/Loredana La Rocca)

Wie man’s nimmt. Es war eine jener Pressekonferenzen, die oft und gern mit der Formel „…zog positive Bilanz“ überschrieben werden. Doch eigentlich stimmt das diesmal nur sehr bedingt, denn selbstverständlich hat auch hier Corona die Agenda diktiert. Und da hat man denn doch zwangsläufig Verluste eingefahren, insbesondere bei den Deutsch-Sprachkursen in aller Welt, die meist keine Präsenzveranstaltungen mehr waren.

Boom der Online-Sprachkurse

Wie Goethe-Generalsekretär Johannes Ebert sagte, wurde im Gegenzug eine exorbitante Steigerung bei den Online-Sprachkursen erzielt. Die Zahl der Teilnehmenden schnellte um rund 500 Prozent  auf etwa 62.000 hoch. Das war wohl nur möglich, weil das Goethe-Institut sehr zeitig eine digitale Strategie verfolgt hatte. Damit wurden die Defizite zwar nicht vollends kompensiert, doch immerhin gemildert: Vom eigens aufgespannten „Rettungsschirm“ über 70 Millionen Euro, den der Bund „wegen Corona“ fürs Goethe-Institut bereitstellte, musste bislang nur ein geringer Teil in Anspruch genommen werden. Dazu muss man wissen, dass das Institut mit seinen 157 Niederlassungen in 98 Ländern etwa ein Drittel seines Jahresbudgets selbst erwirtschaftet, nämlich rund 145 Millionen Euro. Geschäftsführer Rainer Pollack hatte dazu noch viel mehr Zahlenmaterial parat, das wir hier nicht im Detail ausbreiten können.

Weltweite Netzwerke knüpfen

Generalsekretär des Goethe-Instituts: Johannes Ebert. (Foto: Martin Ebert)

Sprachkurse sind nur eine, wenn auch zentrale Aktivität des Goethe-Instituts. Hinzu kommt der allgemeine Kulturaustausch im globalen Maßstab, inbegriffen auch die Bildung von nachhaltigen Netzwerken, die in und nach Pandemie-Zeiten Bestand haben sollen.

Die neue Goethe-Präsidentin Prof. Carola Lentz, die derzeit an einem Buch zur Geschichte des Instituts arbeitet, skizzierte als Leitlinie, dass man zusehends über den bloßen Kulturexport hinausdenke – just in Richtung weltweiter Netzwerke, die auch zivilgesellschaftliche und im weitesten Sinne politische Fragen aufgreifen sollen. Generalsekretär Ebert ergänzte weithin übliche Stichworte wie Diversität und Teilhabe sowie Generalthemen wie Klimawandel, Rassismus und Migration – Signale, wie sie wahrscheinlich in etlichen, doch nicht in allen Partnerländern bereitwillig aufgegriffen werden.

Zuhören wird immer wichtiger

Allgemein gilt, dass man sich nicht nur in anderen Ländern bemerkbar machen will, sondern zunehmend beachten will, was Kulturschaffende und sonstige Bewegungen in all diesen Ländern zu sagen und zu zeigen haben. Zum Kulturexport soll sich also ein Kulturimport gesellen.

Ein beispielhaftes Projekt stellte die live zugeschaltete Anisha Soff vom Goethe-Institut in Nairobi (Kenia) vor. Dort arbeitet man mit einheimischen Künstlerkollektiven seit Jahren Lücken der kenianischen Museen auf, die vor allem entstanden sind, weil „wahnsinnig viele“ (Soff) Objekte aus Kenia in Museen der westlichen Welt gehortet, aber vielfach nie gezeigt werden. Oft sei deshalb nicht einmal klar, was sich überhaupt wo befinde. Erste Schneisen ins Dickicht der Unzugänglichkeit will man mit einer Objekt-Datenbank schlagen, die mittlerweile 32.000 Stücke umfasst. Es wird noch weiter gesammelt, allerdings dürfte sich im Laufe der Zeit immer dringlicher die Frage nach Restitution (Rückgabe an afrikanische Museen) stellen. Kein gänzlich konfliktfreies Thema.

Im nächsten Jahr das 70. Jubiläum

Im nächsten Jahr steht ein bedeutsames Jubiläum an: Am 8. August 2021 jährt sich die Gründung des Goethe-Instituts zum 70. Mal. Man darf wohl annehmen und hoffen, dass dies im angemessenen Rahmen begangen werden kann, wie denn überhaupt der Institutsbetrieb sich ganz allmählich normalisieren dürfte. Auch das Außenministerium, dem das Institut vertraglich verbunden ist, wird sich die Jahrestags-Gelegenheit zur kulturellen Repräsentation mutmaßlich nicht entgehen lassen.

 

 




Olympische Spielstraße, München, 1972 – Erinnerungen an ein fröhliches Projekt, dem der Terror ein jähes Ende setzte

Abschnitt der Spielstraße mit erkennbar entspannten Besuchern. Weiße Luftballons markierten Hotspots des Parcours. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Der Mann im Hamsterrad hatte eine beeindruckende Ausdauer. Jeden Tag lief er seinen Marathon, und er schonte sich nicht. Die Fußverletzungen, die er sich im Rad zuzog, mussten schließlich sportärztlich behandelt werden.

Gleichwohl war er nicht Sportler, sondern Künstler: Timm Ulrichs, der vor wenigen Monaten seinen 80. Geburtstag feierte, prangerte vor bald 50 Jahren in seinem Hamsterrad – auch die Bezeichnung Tretmühle wäre wohl zulässig – die scheinbare Sinnlosigkeit körperlicher Leistungserbringung zu Sportzwecken an. Und seine Aktion wurde lebhaft wahrgenommen, stand das überdimensionale Hamsterrad doch auf der „Spielstraße“ der Olympischen Spiele in München. 1972 war das, verdammt lang her.

Wohl eine Performance, über die wir nichts Näheres wissen. Doch die Ballons kennen wir. (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Von Werner Ruhnau geplant

Die Spielstraße hatte der Essener Architekt Werner Ruhnau konzipiert, den man im Ruhrgebiet vor allem wohl wegen des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier kennt, das 1959 eröffnet wurde. Verbindendes zwischen einem Spaßparcours für die breiten Massen und einem opulent verglasten Musentempel springt möglicherweise nicht sofort ins Auge, doch wohnt beiden das Bestreben inne, Abgrenzungen in der Gesellschaft abzubauen, kulturelle Aktivitäten als partizipative Projekte zu gestalten und allen zu öffnen. Ruhnau war also durchaus der Richtige für die Münchener Spielstraße.

Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 

Dann kam der schreckliche Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft, bei dem alle elf Geiseln starben. Zwar gingen die Spiele anschließend weiter, doch die Spielstraße wurde abgebaut, weggepackt und fast vergessen. Jetzt erinnert eine Ausstellung im Marler Kunstmuseum „Glaskasten“ an das Projekt.

Blick in die liebevoll zusammengestellte Ausstellung im Glaskasten Marl. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Wertvolle Eindrücke

Zusammen mit der Künstlerin Jana Kerima Stolzer und Britta Peters von Urbane Künste Ruhr hat Glaskastendirektor Georg Elben die Ausstellung konzipiert. Die Exponate stammen ausnahmslos aus dem Archiv Ruhnau, von irgendeiner Vollständigkeit kann natürlich nicht die Rede sein. Doch Timm Ulrichs’ Hamsterrad blieb als wohl größtes Exponat erhalten, außerdem einige skulpurale Arbeiten, Zeitungsartikel, Plakate, Siebdrucke und eine Widmung Andy Warhols, der sich die Sache damals auch einmal anguckte. Weiße Luftballons schweben über den Glasvitrinen gerade so, wie vor 48 Jahren solche Ballons die Stationen der Spielstraße markierten.

Viele Schmalfilme erzählen von der Spielstraße. Leider gibt es keinen Originalton dazu, nur kongenialen Sound. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Anita Ruhnau holte Künstler

Ruhnaus Frau Anita hatte etliche Künstlerinnen und Künstler zur Teilnahme bewegen können, was die Spielstraße, wenn man einmal so sagen darf, zu einem multifunktionalen Spektakel machte: Kunstpräsentation, Theater und Performances einerseits, Mitmachparcours andererseits.

Da liegt eine federnde Hüpfmatratze auf dem Weg und lädt sogar Anzugträger zum Selbstversuch ein, da gibt es Bühnenprogramme mit Publikumsbeteiligung, in der öffentlichen Siebdruckwerkstatt kann sich das Volk mit Rakel und Farbe versuchen. Super-8-Filme berichten von alledem. Glücklicherweise entstanden sie in reicher Zahl und wurden rechtzeitig digitalisiert, so dass sich Qualitätsverluste durch Alterung in Grenzen halten. In zwei relativ großen Räumen laufen diese Filme auf je drei Wänden, und wenn es in dieser ansonsten uneingeschränkt zu preisenden Ausstellung doch etwas zu kritisieren gibt, so ist es das weitgehende Fehlen von Sitzgelegenheiten in zentraler Position, von denen aus die alten Streifen mit möglicherweise noch mehr Genuss betrachtet werden könnten.

Ist es Sport oder ist es seine Verhöhnung? Mitunter spricht das alte Material keine klare Sprache (mehr). (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Langhaarige und Gamsbartträger

Erheiternd sind die Filme auch so, jedenfalls meistens. Langhaarige und Gamsbartträger dicht an dicht und trotzdem stressfrei, wie es scheint. Doch dann taucht in dem Gewusel eine merkwürdige Prozession auf, obskure Gestalten, ein rollendes Podest, ein Müllwagen… Das Straßentheaterstück „Olympiade 2000“, das auf der Spielstraße aufgeführt wurde und das Jana Kerima Stolzer für die Marler Ausstellung recherchierte und kunsthistorisch aufarbeitete, gefällt sich in der Dystopie eines pervertierenden, nurmehr wirtschaftlichen Interessen unterworfenen olympischen Sports. Das Stück schrieb seinerzeit der „Theatermacher“ Frank Burckner in Zusammenarbeit mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk, und trefflich mag man sich darüber streiten, ob die düsteren Erwartungen der Autoren sich erfüllten oder mittlerweile längst schon überholt sind. Leider gibt es für die Filme keinen Ton, was besonders bei den abgefilmten (mehr oder minder spontanen) Bühnenereignissen schade ist.

Frühform der urbanen Künste

Die Spielstraße bot Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen, einst und jetzt und zukünftig. Warum aber beteiligt sich „Urbane Künste Ruhr“ an der Marler Schau, jene Organisation, die in der Nachfolge des Kulturhauptstadtjahres ganz überwiegend öffentliche Orte im Hier und Jetzt mit aktuellen Kunstprojekten bespielt? Nun, die Verwandtschaft der Themen ist nicht zu leugnen, und ursprünglich, so Britta Peters, sollte die „Spielstraße“ nur ein Teil des Urbane-Künste-Projekts „Ruhr Ding: Klima“ sein, das nun aber, Corona ist schuld, auf die Mitte nächsten Jahres verschoben wird.

  • „Die Spielstraße München 1972“
  • Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Creiler Platz, Rathaus
  • Bis 1. November 2020
  • Geöffnet Di – Fr 11 – 17 Uhr, Sa und So 11 – 18 Uhr
  • Kein Katalog



Operetten-Passagen (4): Karneval auf der Bühne – Emmerich Kálmáns „Die Faschingsfee“ in München ausgegraben

Eine Operetten-Rarität in München, passend zum Karneval: "Die Faschingsfee" von Emmerich Kálmán. Foto: Marie-Laure Briane

Eine Operetten-Rarität in München, passend zum Karneval: „Die Faschingsfee“ von Emmerich Kálmán. (Foto: Marie-Laure Briane)

Karneval, Fasching, Fasenacht: Das war früher goldene Zeit für die Operette. Heute haben die Theater in Deutschland an Rosenmontag und Faschingsdienstag meist geschlossen; wenn nicht, spielt man auch einmal „Lulu“ oder „Elektra“. Man mag zu den närrischen Tagen stehen, wie man will: Auch bei ihnen zeigt sich die Erosion von Festen, die eine ganze Gesellschaft zusammenbinden konnten.

In München sieht es – wie übrigens hierzulande in Düsseldorf („Der Graf von Luxemburg“) und Gelsenkirchen („Die lustige Witwe“) – ein wenig anders aus. Josef E. Köpplinger, Intendant des momentan wegen Generalsanierung geschlossenen Gärtnerplatztheaters, hat sich eine Operetten-Rarität vorgenommen, die noch dazu mit München zu tun hat: Emmerich Kálmáns „Die Faschingsfee“, seit Jahrzehnten, eigentlich seit der Nazi-Zeit, aus den Spielplänen verschwunden, feiert in der Alten Kongresshalle ein Comeback.

Es geht um den Münchner Fasching 1917, mitten im Ersten Weltkrieg. Damals ein zeitgenössisches Stück, denn Kálmán arbeitete eine seiner früheren ungarischen Operetten („Zsuzsi kisasszony“) um, Alfred Maria Willner und Rudolf Österreicher schrieben ein Libretto, das Köpplinger nicht gefällt – und so textete der Experte für’s Unterhaltungstheater geschickt (und ein gutes Stück frecher als im Original) Kálmáns musikalischen Münchner Künstlerfasching um.

Gesellschaftsstück und Sittendrama

So bekommt das Stück in seinen gut zwei Stunden Spieldauer ein rasantes Tempo – und wenn sich am Ende nach endlosen, amüsanten Missverständnissen die unbekannte „Faschingsfee“ als hochadeliges Blut entpuppt, das sich lieber mit dem Bohème-Maler als mit dem ältlichen Herzog vermischen will, fühlt sich das Publikum prächtig unterhalten und applaudiert mit Hingabe.

In seiner Inszenierung bleibt Köpplinger – er hat am Essener Aalto-Theater Verdis „La Traviata“ in Szene gesetzt – nicht beim harmlosen Faschingsscherz stehen. Er schärft Situationen und Charaktere und macht aus Kálmáns Kriegsablenkung fast ein gleichnishaftes Gesellschaftsstück, ein Sittendrama, das auch von Gerhart Hauptmann oder von Carl Sternheim stammen könnte.

Wenn Graf Lothar Mereditt die schöne Unbekannte anbaggert, ist das kein wohlgesetztes Charmieren, sondern sexuelle Belästigung an der Grenze zur Gewalt – und Maximilian Mayer, schneidig in Figur und Stimme, gibt den rücksichtslosen Macho, für den Frauen in solchen Etablissements einfach Freifleisch sind.

Sexuell zudringlich ohne jeden SkrupeL Maximilian Mayer als Graf Mereditt. Foto: Marie-Laure Briane

Sexuell zudringlich ohne jeden SkrupeL Maximilian Mayer als Graf Mereditt. (Foto: Marie-Laure Briane)

Das Etablissement ist von Karl Fehringer und Judith Leikauf als bescheidene Vorstadt-Kneipe aufgebaut. Ein Ambiente, in dem ausgezehrte Leute nach Festesfreuden gieren, die sich, zumal im Krieg, nur kärglich einstellen. Da helfen auch die zehntausend Mark nicht, die der Maler Viktor Ronai bei einem Wettbewerb gewonnen hat. Immerhin, das Geld ist noch etwas wert, der Maler könnte damit die Zeche für die muntere Gesellschaft begleichen – wenn nicht ein dummer Zufall den Gewinn gleich wieder in Nichts aufgelöst hätte… Daniel Prohaska singt und spielt seine Liebhaber-Rolle mit viel Einsatz, aber manchmal doch zu wenig leicht und mit einem an Schmelz armen Tenor.

Illusionslose Frau: Nadine Zeintl als Lori Aschenbrenner, hier mit Simon Schnorr (Baron Hubert von Mützelberg) und Franz Wyzner (Josef, Oberkellner). Foto: Marie-Laure Briane

Illusionslose Frau: Nadine Zeintl als Lori Aschenbrenner, hier mit Simon Schnorr (Baron Hubert von Mützelberg) und Franz Wyzner (Josef, Oberkellner). (Foto: Marie-Laure Briane)

Zu einer Studie jenseits der Tanzsoubretten-Fröhlichkeit hat Köpplinger auch die Choristin Lori Aschenbrenner ausgebaut – eines jener Theatermädchen von damals, die ihre mies bezahltes Engagements vor allem dazu benutzen mussten, sich einen besser gestellten Gatten zu angeln. Mit sexueller Selbstbestimmung war da nicht viel – und die mit dem Mundwerk ebenso flink wie mit ihren Beinen agierende Lori (Nadine Zeintl) will sich ihren jungen Baron (Simon Schnorr) unter keinen Umständen streitig machen lassen. So ist sie, ein bissl doof, ein bissl rechthaberisch, vor allem aber tief um ihre Existenz geängstigt, ziemlich rabiat dabei, ihr Revier zu verteidigen. Eine Chuzpe, der die inkognito erscheinende Fürstin – die Faschingsfee eben – nicht viel entgegenzusetzen hat.

Keine Chance für die Dame

Camille Schnoor macht deutlich, dass sich solche Frauen höheren Standes im vulgären Trubel des Karnevals nicht souverän bewegen können. Ob sie den Maler – besungen mit einem voll tönenden, dunkel gefärbten Sopran, der sich dem Metier Operette noch nicht so sicher ist – wirklich um seiner selbst willen liebt, bleibt offen: Die Dame könnte auch nur fasziniert sein, weil er ihr das Tor in eine andere als ihre steife Adelswelt geöffnet hat. Verliebt ins pralle, ungeschützte Leben?

Drumherum herrscht viel Bewegung – und Köpplinger hält das personenreiche Stück so unerbittlich in Aktion, dass es am Ende fast zu viel der Hektik wird. Ruhepunkte, etwa reflektierende Arien, Szenen inniger Liebe oder intimer Begegnung, kennt diese Operette offenbar nicht. Die rein physische Leistung von Chor, Solisten und Ballett ist bewundernswert; die Bilder klappen auf den Punkt, der Bühnentrubel ist präzise ausgearbeitet.

Zu jeder Operette gehört die große Liebe: Camille Schnoor (Fürstin Alexandra Maria), Daniel Prohaska (Viktor Ronai). Foto: Marie-Laure Briane

Zu jeder Operette gehört die große Liebe: Camille Schnoor (Fürstin Alexandra Maria), Daniel Prohaska (Viktor Ronai). (Foto: Marie-Laure Briane)

Dennoch kommen die Typen zur Geltung, die Köpplinger porträtiert und die Dagmar Morell in eine überbordende Vielfalt sehenswerter Kostüme steckt. Sie nehmen ihren Raum ein, wischen nicht einfach nur peripher vorbei. Zum Beispiel der Transvestit Julian (Josef Ellers), für den der Fasching die ideale Gelegenheit ist, unauffällig seiner Neigung zu frönen, und der eine überraschende Begegnung mit einem coolen Corpsstudenten hat. Oder der Tiermaler Lubitschek, ein wohl stets zu kurz gekommener älterer Herr, an dem Köpplinger den latenten Antisemitismus der Zeit in einer winzigen, beklemmenden Szene offenlegt. Oder das Wirtshaus-Personal, für das die Urgesteine des Theaters, Gisela Ehrensperger und Franz Wyzner, die Bühne mit ihrer Aura füllen. Oder Maximilian Berling, der als Hilfskellner Toni in ein paar Gängen und Szenen genau die Präsenz zeigt, die für seine Rolle nötig ist.

Aber Köpplinger belässt es nicht nur beim scharf beobachteten Zeitmilieu. Er zieht noch eine Ebene ein, die das Stück ins Parabelhafte steigert. Schon zu Beginn sickern geisterhafte Gestalten in den Raum: Soldaten, Rotkreuzschwestern, mit schwarz geränderten Augen, stumm, steinern in der Miene. Sie gruppieren sich um die Bühne, lassen auf Stichwort blutrote Luftballons hochpoppen, mischen sich wie unsichtbar unter die quirlige Gesellschaft. Mahnen sie an die Hunderttausende, die im Krieg einem ganz anderen Feuerwerk zu Opfer gefallen sind? Sind es die Geister der Gefallenen, die sich unter den Lebenden bewegen? Die Regie lässt diese Fragen offen – tut aber zu viel des Guten: Wenn die Toten dann im Schnee tanzen, wirkt der Bogen überspannt und das Bild verliert seine Schärfe. Weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen.

In den Händen von Michael Brandstätter liegt die Musik Kálmáns: Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz spürt mit geschmeidigen Linien den melodischen Einfällen nach, bringt die Tanzmusik auf den Punkt, lässt die Reize des Instrumentariums entdecken. Das ist hinter der Szene nicht so einfach; der Klang ist stets versucht, sich zu kompakter Mischung zu verdichten.

Aber was man hört, ist geeignet, wieder einmal den Hut zu ziehen vor der ideensprühenden Kunst des Komponisten. Auch wenn die Melodien nicht so eingängig sind wie in seinen Welterfolgen, gehen sie mit ihrer ungarischen Farbe –München klingt sehr magyarisch – ins Blut und Nummern wie „Heut flieg‘ ich aus“ haben das Zeug zu einem Mitsing-Faschingsschlager. Da geht man dann mit einem kleinen Kálmán-Schwips nach Haus und freut sich, dass es wieder einmal gelungen ist, eine lebensvolle Operetten-Partitur dem staubigen Schlaf der Archive zu entreißen. Hoffentlich ist am Aschermittwoch nicht alles vorbei…

Alle Vorstellungen waren schon vorab ausverkauft – einer Wiederaufnahme steht also, was das Interesse des Publikums betrifft, nichts im Wege.




Im Chaos der Gerüchte und Nachrichtenfetzen: Der Angst nicht noch mehr Raum geben

Vom schrecklichen Münchner Amoklauf, Attentat (oder wie man es nun nennen soll) am Olympia-Einkaufszentrum habe ich erst gestern Abend erfahren und kann mich natürlich nur kläglich subjektiv äußern.

Fürwahr ein schwacher Trost - und doch beruhigt der Anblick des Meeres. (Foto: BB)

Fürwahr ein schwacher Trost – und doch beruhigt seit jeher der Anblick des Meeres. (Foto: BB)

Ein argloser Nachmittag

Wieder einmal wurden Brechts berühmte Gedichtzeilen wahr: „Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen.“

Auf dem Ausflugsschiff, auf dem wir nachmittags arglos und ahnungslos fuhren, saß auch ein vor Selbstgewissheit strotzender Mann im Trikot von Bayern München, der breitesten Dialekt sprach. Auch er konnte noch nicht wissen, was in seiner Heimat vorfallen würde. Zunächst hatte ich ihn noch scherzhaft anpflaumen wollen – von wegen „Schluss mit Bayern-Meisterschaften“ und so weiter. Aber ach, wie bedeutungslos war das dann alles, welch eine Petitesse. Im Nachhinein war ich froh, kein Wort gesagt zu haben. Wer weiß, welche Ängste er später ausgestanden hat.

Die Stunde der Welterklärer

Abends habe ich lange der Versuchung widerstanden, mich über die chaotischen Informations-Brocken hinaus in den unaufhörlichen Nachrichten- und Gerüchtestrom einzuschiffen. Ganz bewusst habe ich in jenem „sozialen Netzwerk“ lediglich ein nachmittags aufgenommenes Foto vom beruhigenden blauen Meer eingestellt, dies- und jenseits aller rasenden Spekulationen über Tathergang, Opferzahl, mögliche Motivationen etc.

Wie rasch waren manche wieder mit Zuschreibungen bei der Hand. Es ist widerlich, wie einige notorische Welterklärer versuchen, in solchen Fällen sofort die Deutungshoheit zu gewinnen, und zwar unabhängig vom (un)politischen Lager.

Versuchung zum Eskapismus

Die Versuchungen zum Eskapismus oder gar zum Eremitentum sind dieser Tage groß. Man möchte sich mitunter in den hinterletzten Winkel flüchten, quasi biedermeierlich genügsam leben und den eigenen Garten pflegen, wie Voltaire einst schrieb. Schweigen und Rückzug wären so angemessen. Aber wohin?

Ausufernde „Tagesthemen“

Schließlich habe ich doch noch den Livestream der „Tagesthemen“ aufgerufen, ganz nach dem Leitsatz: Man kann sich ja nicht komplett ausklinken. Selbst der sonst so souveräne Thomas Roth wirkte hilflos. Er musste die Sendung über Stunden hinweg in einer Art Endlosschleife absolvieren. Immer wieder sah er sich genötigt zu betonen, man könne nur spekulieren – und spekulierte dann mit Hilfe des unvermeidlichen Terrorexperten zwangsläufig drauflos. Aber man musste ja auf Sendung bleiben, sonst hätte es ebenfalls Vorwürfe gegen die ARD gehagelt. Eine journalistische Zwickmühle, aus der es kein Entrinnen gab.

Auch ein Amateurvideo, das zunächst partout nicht richtig laufen wollte, kam dabei zum zweifelhaften Einsatz. Es war jenes, auf dem der mutmaßliche Täter auf einem Dach steht und ruft, er sei in Deutschland geboren, in der Hartz-IV-Gegend… Die Süddeutsche Zeitung entschied sich derweil dafür, nur Standbilder aus dem Film zu zeigen. Recht so.

Unbegriffenes Geschehen

Ich möchte so etwas eigentlich nicht mehr tun, möchte mich nicht mehr anhand von atemlosen Live-Tickern und Minutenprotokollen auf ein völlig unübersichtliches, unbegriffenes Geschehen einlassen. Es bedeutet, dass man der Sinnlosigkeit, dem Chaos und der Angst unnötig breiten Raum gibt. Gewiss: Für Münchner und alle, die um Freunde oder Verwandte in München gebangt haben, wird es sicherlich sinnvoll gewesen sein, auf jede erdenkliche Weise möglichst nah an den Ereignissen zu bleiben – wie wildwüchsig auch immer. Bei Facebook und Twitter gab es unterdessen auch viele tröstende, aufmunternde Worte. Auch das muss einmal gesagt sein.




Festspiel-Passagen II (München): Die Gruberova zehrt nur noch vom früheren Glanz

Die Mechanismen der Macht lassen kein Erbarmen zu: In Donizettis "Roberto Devereux" ist Elisabetta (Edita Gruberova) eine Gefangene. Foto: Wilfried Hösl

Die Mechanismen der Macht lassen kein Erbarmen zu: In Donizettis „Roberto Devereux“ ist Elisabetta (Edita Gruberova) eine Gefangene. Foto: Wilfried Hösl

Eine der üblichen Dreiecksbeziehungen? Nicht ganz: In Gaetano Donizettis „Roberto Devereux“ muss eigentlich von einem „Viereck“ gesprochen werden, denn Sara, das eigentliche Opfer der unheilvollen Konstellation, wird von ihrem Mann Nottingham aufrichtig geliebt – und diese Liebe, verbunden mit gekränkter Ehre, ist für das nachtschwarze Ende dieser immer noch unterschätzten Oper entscheidend, die jetzt bei den Opernfestspielen in München mit Edita Gruberova als Königin Elisabeth I. von England im Spielplan stand.

Aber auch zwischen den anderen Personen geht es nicht um die schwärmerische, romantische Liebe: Die Königin, einsam den Zwängen der Macht und des Hofes ausgeliefert, sehnt sich nach jemandem, dem sie vertrauen, bei dem sie Mensch sein darf. Dem Grafen von Essex, Roberto Devereux, auch historisch eine schillernde Figur, wurde einst seine Liebe durch die Politik genommen. Er ist kein Zyniker der Macht, sondern eher ein charmanter Charismatiker, dem das Glück gewogen war – und den jetzt seine Fortune verlassen hat. Mit Elisabetta verbinden ihn eine zu hingabevoller Freundschaft abgekühlte erotische Anziehung, der Reiz der Macht und eine joviale Vertrautheit mit einer Spur zu wenig Respekt. Sage nochmal jemand, Belcanto-Oper habe nichts mit dem wirklichen Leben zu tun ….

Donizetti und sein Librettist Salvatore Cammarano destillieren das historische Sujet aus der Regierungszeit Elisabeths I. zu einer knapp und schlagkräftig gefassten fiktiven Geschichte über die heillose Geworfenheit von Menschen in eine Welt, in der das Kalkül der Macht selbst dem zaghaften Widerschein von Liebe eine kranke Farbe gibt.

Ein pessimistisches Nachtstück. Donizetti gibt ihm – manchmal möchte man meinen in ironischer Absicht – zum Teil den leichten, beweglichen Ton des Rossini’schen Idioms. Umso beklemmender schlagen die Momente aufs Gemüt, in denen Donizetti das expressive Spektrum einer emotional geladenen musikalischen Sprache einsetzt: Im Duett zwischen Sara und dem Herzog von Nottingham klingen schon die Racheschwüre von Verdis „Rigoletto“ auf.

Ein Vorhof der Hölle: Herbert Murauers Bühne - hier im Finale von "Roberto Devereux". Foto: WIlfried Hösl

Ein Vorhof der Hölle: Herbert Murauers Bühne – hier im Finale von „Roberto Devereux“. Foto: WIlfried Hösl

In seiner Münchner Inszenierung behaupten Christof Loy und sein Bühnen- und Kostümbildner Herbert Murauer die Gegenwärtigkeit des Werks. Das funktioniert in der Führung des Chores und der Personen nicht mehr so eindrucksvoll präzis wie bei der Premiere vor elf Jahren; auch die szenischen Chiffren sind nicht mehr so punktgenau gesetzt. Murauers unpersönlich gestaltete Lobby scheint noch dunkler und dunstiger geworden zu sein: ein unheimlicher Unort.

Aber immer noch bewegt sich der Star des Abends, Edita Gruberova, mit der ihr eigenen szenischen Präsenz in diesem Höllenvorhof. Ihr Selbstbewusstsein, gestützt von einem Margaret-Thatcher-Kostüm, kippt rasch: Im dritten Akt schleppt sie sich nur noch wie automatisch über die Bühne, selbst im Stürzen stößt ihr Flehen nach einer menschlichen Regung nur auf Gleichgültigkeit. Sara, die „Rivalin“, erreicht sie nicht einmal mehr kriechend für eine Geste der Versöhnung. Ein immer noch wirkmächtiges Bild existenzieller Verlorenheit.

„Roberto Devereux“ ist seit der Premiere der Pachterbhof der Gruberova, die 2004 die weibliche Hauptrolle mit fulminantem Feuer kreiert hatte. Das ist schade, denn es verstellt den Blick auf den Wert der Oper und rückt sie in die Nähe des „Primadonnen-Vehikels“. Und die Staatsoper tut implizit so, als gäbe es außer der Slowakin niemanden, der diese Partie auf adäquatem Niveau singen könnte. Dabei hat der umjubelte Abend während der Münchner Opernfestspiele erneut erbarmungslos offenbart, dass sich Edita Gruberova inzwischen heillos übernimmt. Die einstige Königin des Belcanto verrät den „schönen Gesang“ an die Reste einer Stimme, die ihren einstigen Glanz nur noch ahnen lässt.

Gutes Singen ist keine Geschmacksfrage

Warum tut sie sich das an? Warum wirft sie sich mit allen Mitteln, die ihr Technikreste und Erfahrungsschätze verfügbar machen, einem Publikum vor, das zu Recht ihre Lebensleistung bejubelt, das sich aber auch gierig auf den Star stürzt und sich am Mythos von einst sattfrisst? Es mag für diese Unfähigkeit, würdig Abschied zu nehmen, ganz prosaische Gründe geben; einer der poetischen wäre, dass Edita Gruberova einfach die Rampe braucht, den Glanz des Lichts, den Jubel ihrer Fans. Verständlich, aber auch traurig.

Und nein: Singen ist keine Geschmacksfrage und die technische Gestaltung einer Rolle kein Willkürakt. Wer das behauptet, verrät jede Tradition des Belcanto und diskreditiert alle die Sängerinnen und Sänger, die sich mit Hingabe und Beharrlichkeit bemüht haben und bemühen, Technik, Stil und Ausdrucksvermögen gleichgewichtig auszubilden.

Es wäre jetzt müßig, ein Buchhaltungsverfahren zu eröffnen über all die unscharf intonierten Töne der Gruberova, über ihre gezogenen Höhen oder ihre mühevoll platzierten Piani, über Tempo-Willkür oder unstete Tonbildung. Unstreitig ist: Sie hat eine intime Kenntnis der Rollen, die sie gestaltet. Sie schöpft aus einem immensen Vorrat an Erfahrungen, an Gestaltungswissen. Aber sie hat – Fluch der Zeitlichkeit des Menschen – nicht mehr die natürlichen und die technischen Voraussetzungen, um Partien wie die der Elisabetta zu erfüllen.

Der Bariton Franco Vassallo. Im Herbst singt er in München Amonasro ("Aida") und die Titelrolle in "Rigoletto". Foto: Bayerische Staatsoper München

Der Bariton Franco Vassallo. Im Herbst singt er in München Amonasro („Aida“) und die Titelrolle in „Rigoletto“. Foto: Bayerische Staatsoper München

Man mag das in Zeiten, in denen lyrische Mezzosoprane sich eine „Norma“ historisch informiert zurechtstutzen, für unerheblich halten. Man mag den Wandel in der Gesangskultur, der in allen Generationen stattgefunden hat, gleichgültig hinnehmen. Man mag unter dem Vorzeichen postmodernen Pluralismus‘ Gruberovas mühsames Abbilden einer Rolle für eine akzeptable Alternative halten. Anything goes. Aber all diese Wege müssen eines aushalten: Sie müssen sich der Kritik stellen. Und die kann im Falle Gruberovas bei allem Wohlwollen nur dann über die eklatanten Defizite weghören, wenn sie sich die Gegenwart im Glanz der Vergangenheit vergoldet.

Auch diese Kritik ist in die Primadonnen-Falle geraten, nur diesmal aus gutem Grund. Ungerecht ist das gegenüber denen, die in diesem „Roberto Devereux“ Beachtliches, ja sogar Hervorragendes geleistet haben. Der Bariton Franco Vassallo zum Beispiel, der als Herzog von Nottingham eine sorgfältig gebildete, schön timbrierte und zu expressiver Schattierung fähige Stimme zeigt. Sonia Ganassi, die ihre Sara zwar eher mit veristischer Wucht als mit stilistischem Schliff anlegt, aber die entsetzliche Hilflosigkeit ihrer aussichtlosen Lage berührend vermittelt. Alexey Dolgov, der seit seinem Auftritt in Rossinis „Tancredi“ in Berlin (2012) eine Karriere im Westen aufbaut und für Roberto einen kräftigen, manchmal etwas unsicher positionierten, eher robusten als feinsinnigen Tenor mitbringt.

Francesco Petrozzi (Lord Cecil), Goran Jurić (Sir Gualtiero), Andrea Borghini (Page) und Philipp Moschitz (Giacomo) ergänzten das Ensemble; der Chor der Bayerischen Staatsoper unter Stellario Fagione hatte mit den empfindlichen Piano-Momenten keine Probleme. Das routiniert aufspielende Orchester leitete Friedrich Haider, der seiner Dame auf der Bühne noch in jedem metrischen und rhythmischen Manierismus eine zuverlässige Stütze war.

Edita Gruberova wird in München im April 2016 dreimal, bei den Opernfestspielen einmal am 13. Juli 2016 die Titelrolle in Donizettis „Lucrezia Borgia“ singen. Info: www.staatsoper.de

 




Zum Tod von Helmut Dietl: „Kir Royal“ – ein Gipfelglück der deutschen Fernsehgeschichte

Seine Fernsehserien „Monaco Franze“ und „Kir Royal“ sind Legenden. Man kann man sie wieder und wieder anschauen – und man wird ihrer nicht müde werden.
Der Regisseur Helmut Dietl, der jetzt im Alter von 70 Jahren an Lungenkrebs gestorben ist, war einer der ganz Großen des Metiers, der mit „Schtonk“ (1992) und „Rossini“ auch im Kino Erfolge feierte. Aus Anlass seines Todes hier noch einmal ein Beitrag aus der Revierpassagen-Reihe „TV-Nostalgie“, zu verstehen als Hommage und als tiefe Verneigung vor dem Regisseur.

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Wir erinnern uns: Nach den vergleichsweise kargen 70ern standen viele Leute nach 1980 ganz unverblümt auf Luxus und Verschwendung. Diese Zeitstimmung ist nirgends trefflicher eingefangen worden als in einer Fernsehserie: „Kir Royal“ (ab September 1986 im ARD-Programm) gehört wohl immer noch zum Besten, was das Medium in Deutschland je geboten hat.

Der feiste Fabrikant Haffenloher (Mario Adorf, re.) triumphiert über den konsternierten Klatschreporter "Baby" Schimmerlos (Franz Xaver Kroetz). (Bild: Screenshot aus: http://www.dailymotion.com/video/xyfa8q_kir-royal-folge-1-wer-reinkommt-ist-drin_creation)

Der feiste Fabrikant Haffenloher (Mario Adorf, re.) triumphiert über den konsternierten Klatschreporter „Baby“ Schimmerlos (Franz Xaver Kroetz). (Bild: Screenshot aus: http://www.dailymotion.com/video/xyfa8q_kir-royal-folge-1-wer-reinkommt-ist-drin_creation)

Man hätte all die Dekadenz und Korruption, den obszönen Reichtum und das dazu passende Schnorrertum in der Münchner „Bussi“-Gesellschaft ganz anders, nämlich viel zorniger darstellen können. Doch Regisseur Helmut Dietl und sein Drehbuchautor Patrick Süskind (beide entwickelten auch die ebenfalls famose Reihe „Monaco Franze“) bevorzugten die funkelnd elegante, vor Humor sprühende und doch nicht so leichthin versöhnliche Variante. In „Kir Royal“ wurde mit leichtem Florett gefochten, nicht mit dem Degen. Die Stiche „saßen“ aber umso zielsicherer.

„…und dann biste mein Knecht“

Schon die erste Folge (Titel „Wer reinkommt, ist drin“) des Sechsteilers darf als kleines Wunderwerk gelten. Wie spielerisch und doch überaus präzise die Figuren eingeführt werden, wie man gleich mitten in die pralle Handlung gezogen wird, das ist und bleibt meisterlich.

Sodann die großartige Besetzung: Franz Xaver Kroetz als hochmütiger, selbstherrlicher, oft grantiger Klatschreporter „Baby Schimmerlos“, der jegliche Bestechlichkeit weit von sich weist und dann doch ziemlich schnell kapitulieren muss, als der stinkreiche Klebstoff-Fabrikant Heinrich Haffenloher (Mario Adorf) finanziellen Druck macht, um groß in der Zeitung gefeiert zu werden. Unvergessen, wie Haffenloher diesen Schimmerlos zur Schnecke macht („Ich sch*** dich zu mit meinem Geld…und dann biste mein Knecht…“). Eine groteskere Mixtur aus armem Würstchen und erdrückendem Machtgehabe hat die Welt nicht oft gesehen.

Ein Ensemble sondergleichen

Dabei haben wir Senta Berger als „Babys“ Gespielin noch gar nicht erwähnt. Oder Dieter Hildebrandt, der einen ebenso servilen wie listigen Zeitungsfotografen mit heischendem Dackelblick gibt. Ruth-Maria Kubitschek als Verlegerin. Billie Zöckler als dralle Redaktionssekretärin. Harald Leipnitz und Peter Kern, die mit ihrem Restaurant nach Anerkennung in der Schickeria lechzen. Edgar Selge als arroganter Kellner im Edelfresstempel. Und und und. Ein Ensemble sondergleichen.

Hemmungslos auf dem Tisch tanzen

In „Kir Royal“ sind alle getrieben von der Gier nach Glanz und Prominenz. Jede(r) will gepflegt die Sau rauslassen, in der Klatschspalte des einflussreichen Boulevardblatts auftauchen und an den Partys teilnehmen, wo Champagner und eben Kir Royal in Strömen fließen. Ausgerechnet zu den schmetternden Freiheitsklängen der „Marseillaise“ wird in der ersten Folge turbulent auf dem Tisch getanzt. Da darf ein strohdummes Mäuschen beim Cancan auch schon mal im forcierten Überschwang die Brüste freilegen, damit’s ein schön frivoles Foto gibt… Das ist so herrlich peinlich!

Späte, allerdings weit weniger glanzvolle Pointe: Ausgerechnet die Münchner Abendzeitung (AZ), die damals für die Zeitung in „Kir Royal“ Pate gestanden hat, geriet vor einiger Zeit finanziell ins Schlingern. So ändern sich die Zeiten.

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Vorherige Beiträge zur Reihe : “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11)

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Hier noch ein Link zum Nostalgie-Beitrag über „Monaco Franze“: http://www.revierpassagen.de/19073/tv-nostalgie-2-monaco-franze-bleibt-unvergesslich/20130726_1310




Wozu denn der ganze Zinnober? – Zwei Jahre als Autor beim Netzwerk „Seniorbook“

Zwei Jahre lang habe ich nebenher Texte für den Münchner Internet-Auftritt seniorbook.de verfasst. Jetzt habe ich mich dort per Mail als Autor verabschiedet; leichten Herzens und aus guten Gründen.

Dabei fing damals alles recht manierlich an. Vorwiegend habe ich Beiträge über TV-Sendungen geschrieben. Warum nicht? Das haben wir ehedem bei der Zeitung in langjähriger Übung praktiziert; vielfach auch in Form der schnellen Abend- und Nachtkritik. So auch jetzt.

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Die Idee, ein soziales Netzwerk für gereifte Leute (worunter „50 plus“ verstanden werden sollte) aufzuziehen, fand ich zudem gar nicht übel und sogar zukunftsträchtig. Nicht zu vergessen: Die Honorare pro Artikel gingen in Ordnung.

Ein Bauunternehmen im Hintergrund

Ein wenig stutzig wurde ich allerdings, als ich hörte, dass hinter dem Auftritt eine Baufirma steht, die u. a. Seniorenresidenzen errichtet. Man muss kein Schelm sein, um sich dabei was zu denken. Nun, so lange man ihnen nicht nach dem Munde schreiben muss…

Die Seniorbook-Mitarbeiterin, die mich angeworben hat, war als Journalistin und Netzadministratorin ausgesprochen fähig. Damals konnte man von einer ebenso freundlichen wie vernünftigen und zielgerichteten Autorenbetreuung reden. Sie ließ einem weitgehend freie Hand. Absprachen wurden beiderseits stets eingehalten. Es war zeitweise eine Freude. Die Zahl der Klicks und Zugriffe konnte sich sehen lassen. Seinerzeit gewährte man den Autorinnen und Autoren noch einen Einblick in diese statistischen Daten und hielt sie ständig auf dem Laufenden über die Mitgliederzahlen des Netzwerks. Gut für die Selbsteinschätzung.

…und dann kam der „Vorstand“

Doch leider verließ besagte Community-Managerin nach einigen Monaten das Haus, um sich Besserem zuzuwenden. Und wie es so oft in derlei Fällen geschieht: Damit änderte sich praktisch alles zum Nachteil. Die Bühne betrat nun jemand, der sich volltönend als „Vorstand“ bezeichnete und allzeit mit dem Wort „viral“ um sich warf. Alles müsse „viral“ sein. Gute Genesung kann man da nur wünschen.

Mit ihm wehte alsbald ein anderer Wind. Er ließ rasch die besagte Möglichkeit der statistischen Selbstkontrolle kappen. Ganz klar, man sollte nicht mehr mit Fug behaupten können, ein Beitrag sei gut gelaufen. Dass außerdem jede Möglichkeit unterbunden wurde, Autoren untereinander kommunizieren zu lassen, versteht sich beinahe von selbst. Teile und herrsche. Das uralte Prinzip der Macht-Männchen.

Statt dessen drängten sie einen, sich zusätzlich beim Netzwerk Google+ anzumelden und beide Profile zu verknüpfen, auf dass man mit Autorenbild in den Google-Fundstellenlisten erscheinen sollte. Welch‘ substanzielle Neuerung! Dumm nur, dass Google die Funktion kurz darauf tilgte.

Anbetung der Suchmaschine

Heilig war nun die besinnungslos gehandhabte Suchmaschinen-Optimierung. Gleich nach Einführung der neuen Leitlinien wurde einer meiner Texte im Sinne der maschinellen Auffindbarkeit dermaßen idiotisch verhunzt, dass praktisch in jedem Satz der Name eines bestimmten TV-Promis vorkam; völlig penetrant, ohne jegliche Variation. Das las sich hanebüchen – und stammte absolut nicht mehr von mir. Selbstverständlich habe ich mich beschwert. Fortan wurden meine Texte nicht mehr angetastet. Immerhin.

Ein weiterer Hebel setzte bei der Unterstützung der Autoren an, die nunmehr praktisch entfiel. Beiträge verliefen im Sande – ohne besondere, netzaffine Aufbereitung, geschweige denn, dass sie den Usern empfohlen worden wären. Wozu dann überhaupt der ganze Zinnober? Wozu noch Autoren? In der Tat kann man sich ja fragen, ob ein soziales Netzwerk Autorenbeiträge braucht – oder ob ein bisschen Trallala-Animation reicht.

Talkshows bis zum Abwinken

Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass die anfänglich bewusst seriöse Ausrichtung, in deren Rahmen sich ein besonderes Augenmerk auf die Kulturkanäle 3Sat und arte richtete, sich jetzt flugs erledigt hatte. Überhaupt wurden plötzlich ganz andere, ja geradezu gegenteilige Themenparolen ausgegeben. Was bis dato ein Schwerpunkt war, sollte gefälligst unterbleiben: Keine „Tatorte“ mehr besprechen (die werden ja auch nur von ein paar Millionen Menschen gesehen); statt dessen sollten Talkshows (immer und immer wieder Jauch & Co.) mit ihrem ewiggleichen öden Gästefundus in den Mittelpunkt rücken; übrigens mit der Maßgabe, die „eigene“ Meinung provozierend zuzuspitzen und also geradewegs zu manipulieren. Einen solchen Mist habe ich noch nie mitgemacht.

Haufenweise Pegida-Fans

Doch auch so kamen derart viele Kommentare à la Pegida (avant la lettre) oder AfD, dass man diese Phänomene geradezu hat anrücken sehen können. Abenteuerliche Verschwörungstheorien zuhauf, Misstrauen gegen alle Medien inbegriffen, üble Beschimpfungen von „Gutmenschen“ und Minderheiten als Krönung. Die Mischung also, die man inzwischen bis zum Erbrechen kennt. Echte Diskussionen waren zwecklos. Redaktionell moderiert wurde ohnehin kaum. Lass laufen…

Nun ja. Man kann es sich denken: Spätestens nach drei Jauch-Ausgaben hat sich das Ganze als ernsthaftes Rezensionsthema erledigt, eigentlich auch schon vorher. Daneben durfte ich hin und wieder TV-Nostalgie bedienen, indem ich mir Jahrzehnte alte Sendungen noch einmal zu Gemüte führte. Das hatte ja immerhin noch was und war einigermaßen zielgruppengerecht.

Komplette Konfusion

Doch Sinn und Verstand hatte das konfuse Konzept schon längst nicht mehr. Zu Beginn des neuen Jahres wurden über Nacht sämtliche Film- und Fernsehthemen komplett abgeschafft. Einfach mal so. Es reicht ja auch, wenn man mit den Senioren ein bisschen über Gesundheit, Partnerschaft, Haustiere und Gartenfreuden plaudert. Viel Spaß noch dabei!




Festspiel-Passagen IV: Große Momente – Diana Damrau als „Traviata“ in München

Diana Damrau bei ihrem Münchner Debüt in  Verdis "La Traviata" mit Arturo Chacón Cruz als Alfredo. Foto: Wilfried Hösl

Diana Damrau bei ihrem Münchner Debüt in Verdis „La Traviata“ mit Arturo Chacón Cruz als Alfredo. Foto: Wilfried Hösl

München musste warten – doch die Zeit hat sich gelohnt: Nach New York, Zürich, Mailand, London und Paris ist Diana Damraus Violetta Valéry nun auch an der Bayerischen Staatsoper angekommen.

Das fulminante Hausdebüt unter erschwerten Bedingungen – Joseph Calleja musste kurzfristig vergrippt absagen – ließ eine Sängerin erleben, die das Rollenporträt der „Traviata“ im Vergleich zum Europa-Debüt im Mai 2013 in Zürich noch einmal vertieft hat. Das liegt nicht nur an der älteren, aber in ihrer bildmächtigen Sprache immer noch schlüssigen Inszenierung von Günter Krämer. Vor allem im zweiten Akt, in den Szenen mit Vater Germont, bietet die Bühne Andreas Reinhardts der Sängerin den Raum, darstellerische Intensität zu entwickeln – ein Kennzeichen der stets durchreflektierten und im Detail durchgestalteten Rollenporträts der Sängerin.

Entscheidender ist: Bei Diana Damrau kompensiert schauspielerisches Talent keine stimmlichen Fragwürdigkeiten. Sondern potenziert das idiomatisch zutreffende und technisch abgesicherte Singen im Sinne einer Ganzheit der Expression, wie sie in dem Begriff vom „Sänger-Darsteller“ oder „Sing-Schauspieler“ idealtypisch anvisiert, doch nicht allzu häufig auch erreicht wird.

Damrau muss sich nicht zu Mitteln eines – gern mit Expressivität verwechselten – Deklamier-Verismo flüchten. Sie muss auch nicht um die Koloraturen des ersten oder die mit intensiver Tongebung geschlagenen Bögen des zweiten Akts fürchten. Vor allem hat sie schier endlose Varianten von Stimmfarben zur Verfügung: Ob sie mädchenhaft belustigt auf die linkische Vorstellung Alfredos reagiert oder sich über den Ernst seiner Liebesworte irritiert zeigt. Ob sie sich zaghaft freuend fragt, was dieses Bekenntnis für sie bedeuten könnte, oder ob sie mit trotziger, sarkastischer Rebellion auf die aufkeimende Ahnung einer echten Liebe in ihrer eigenen Gefühlswelt reagiert. „É strano“ ist ein Meisterstück differenzierter Psychologie und dazu technisch tadellos bewältigt.

Eindringliches Kammerspiel: Diana Damrau (Violetta) und Simon Keenlyside (Giorgio Germont) in der Münchner "Traviata". Foto: Wilfried Hösl

Eindringliches Kammerspiel: Diana Damrau (Violetta) und Simon Keenlyside (Giorgio Germont) in der Münchner „Traviata“. Foto: Wilfried Hösl

Im zweiten Akt hat Diana Damrau mit Simon Keenlyside einen Bariton-Partner, der die Noblesse der anspannungsfrei entfalteten Gesangslinie mit der subtilen musikalischen Gewichtung der Worte verbinden kann. Bei diesem Vater Germont hört man den von der Würde der Kurtisane beeindruckten Gentleman, aber auch den berechnenden Patriarchen, der ohne Erbarmen die gesellschaftliche Reputation seiner Familie sichern will. Krämer hat mit dem Einfall, die Schwester Alfredos als stumme Rolle einzuführen, eine nach wie vor überzeugende Ebene emotionaler Spiegelung eingeführt. Das Gespräch zwischen Germont und Violetta ist von beiden Darstellern mit einer stimmlich abgesicherten Eindringlichkeit geführt, die es zu einem ganz großen Moment gestalteten Musiktheaters werden lässt.

Dass Diana Damrau – auf dem Weg zu weiteren bedeutenden Frauengestalten Bellinis, Donizettis und Verdis – mit den leuchtend erfüllten Tönen des Zentrums keine Probleme hat, zeigten exemplarisch die herrlichen Bögen des zweite Bilds im zweiten Akt: Drei Mal beklagt Violetta ihr Erscheinen beim Fest Floras, drei Mal bittet sie Gott um Beistand und Gnade. Damrau lagert diesen großbogigen emotionalen Ausbruch aus der bedrohlichen „sotto voce“ – Atmosphäre der Szene traumsicher auf dem Atem, zeigt nicht die Spur forcierter Attacke. Im Gegenteil: Sie färbt diese Ausbrüche jedes Mal anders, gibt ihnen den sehrenden Seelenschmerz der Situation mit.

Für den dritten Akt mit seiner emotionalen Spannweite zwischen erschöpfter Resignation und verzweifeltem Aufbegehren ist Damraus auch in den Piani und Pianissimi tragender, sicher gestützter und locker geführter Sopran ideal. „Addio del passato“ ist mehr als ein wehmutsvoller Rückblick, mehr als eine Klage über unwiederbringlich verlorene Lebensmöglichkeiten. Die Arie ist der bewusste Abschied vom Leben, eine Bilanz in der Rückschau, auch eine Abrechnung mit einer trügerischen Hoffnung, gipfelnd in dem von jeder Sentimentalität freien Aufschrei „Or tutto finì“. Der Stoß der Posaune wird wenig später die Endgültigkeit dieses Abschieds nach dem letzten Flackern einer Hoffnung in „Parigi o cara“ besiegeln.

In diesem Duett gelang mit dem Einspringer Arturo Chacón Cruz der einen Tag vorher noch Alfredo am Theater an der Wien gesungen hatte – ein intensiv-berührender Moment. Chacón Cruz zeigte sich in dem über die Demonstration tenoraler Schmelzwerte hinausgehenden gestalterischen Zugriff auf „De‘ miei bollenti spiriti“ als Sänger mit Potenzial, das er stimmtechnisch und im Timbre noch einzulösen hätte, wenn ihm günstigere Umstände winken. Paolo Carignani am Pult des diskret agierenden Bayerischen Staatsorchesters hatte einen glücklichen Abend: Verdi klang nicht knallig-brillant und mit vordergründigem „Schmiss“, sondern mit Rücksicht auf die Sänger, mit sensibler Agogik und mit feinen Lasuren einer reichen Palette von Piano-Farben.

Schade, dass Diana Damrau in der Rhein-Ruhr-Region so gut wie nie zu erleben ist. Am 23. September kann man die Gewinnerin der Auszeichnung „Beste Sängerin“ bei den „Opera Awards“ 2014 in einem „Belcanto-Konzert“ im Amsterdamer Concertgebouw hören. Ihre nächsten Auftritte in Deutschland führen sie nach Baden-Baden (Mozarts „Entführung aus dem Serail“) und 2015 wieder an die Münchner Staatsoper, dann in der Titelpartie in einer Neuinszenierung von Donizettis „Lucia di Lammermoor“.




Festspiel-Passagen III: Rossinis „Guillaume Tell“ in München – Rebellion der Spießer

München; Rossinis "Guillaume Tell". Foto: Wilfried Hösl

München; Rossinis „Guillaume Tell“. Foto: Wilfried Hösl

Das gilt es festzuhalten: Ein Haus wie die Münchner Staatsoper mit knapp sechzig Millionen Staatszuschuss kümmert sich – endlich einmal – um ein Schlüsselwerk der Oper, Gioacchino Rossinis „Guillaume Tell“. Und streicht und kürzt in der Partitur herum, als habe es in den letzten Jahrzehnten keine kritische Neuerschließung des Materials und keinen Wandel in den ästhetischen Anschauungen zu Rossinis Arbeitsweise und Werkgestalt gegeben.

Ein Jahr vorher stellte ein Festival mit nicht einmal einer Million mühsam erkämpftem Zuschuss einen „Tell“ auf die wacklige Bühne einer ehemaligen Trinkhalle im württembergischen Bad Wildbad, der alle Striche öffnet und dem staunenden Zuhörer erstmals in vier Stunden und zwanzig Minuten den ganzen musikalischen Kosmos Rossinis erschließt.

In Bad Wildbad hörte man nicht die durchlöcherten musikalischen Formen üblicher Strichfassungen, kam Rossinis subtile Kunst der Ensembles, der groß geschlagenen musikalischen Bögen, der spannungsvollen Entwicklung zum Tragen. Und in München, bei der „Festspiel“-Premiere dieses Jahres? Die handlungsbezogenen Tänze, die zum Besten gehören, was Rossini je aus der Feder geflossen ist: gestrichen. Die Großformen der Ensembles: zerstückt. Dazu ein Dirigent, dem das Gespür für Transparenz, Finesse und freies Ausströmen der Musik abgeht, der die Gewittermusik knallen und scheppern lässt, der in der Ouvertüre weder Konturen ausbildet noch die subtilen Stimmungen der Naturlyrik ausphrasiert. Und der es zulässt, dass diese grandiose Konzentration des musikalischen Dramas in den dritten Akt – nach dem Apfelschuss – versetzt wird.

Nun ist Oper keine akademisch-philologische Angelegenheit, das stimmt. Und ein Abend ohne Kürzungen muss nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Aber gerade von einem Haus wie München wäre zu erwarten, dass es sein Potenzial einsetzt, um ein seit jeher verstümmeltes opus magnum der Opernliteratur in ein ungefiltertes Licht zu setzen. Die Länge kann kein Gegenargument sein: Man kürzt auch die „Meistersinger“ nicht, nur weil das Festspielpublikum zu lange sitzen müsste.

Regie und Dramaturgie hätten, so war zu lesen, auf den Kürzungen bestanden. Hätten sie das Ergebnis dieser ersten Operninszenierung des erfolgreichen Schauspielregisseurs Antú Romero Nunes wenigstens gerechtfertigt oder einsichtig gemacht. Nichts dergleichen: Die Chöre drängen sich an der Rampe oder stehen in Appellplatzformation herum; Solisten agieren mit überdeutlicher Gestik am vorderen Bühnenrand. Gesler, ein netter, grauhaariger Uniformierter, spaziert zwischen Schweizern und Habsburger Soldaten einher. Arnold bejammert seinen inneren Zwiespalt im Spot an der Rampe.

Säulen, Stämme, Rohre: Florian Lösches Bühnenbild sorgt für bezwingende Bilder, aber seine Wirkung schleift sich im Laufe des Abends ab. Foto: Wilfried Hösl

Säulen, Stämme, Rohre: Florian Lösches Bühnenbild sorgt für bezwingende Bilder, aber seine Wirkung schleift sich im Laufe des Abends ab. Foto: Wilfried Hösl

Ein Fall für sich ist Florian Lösches Bühne: Wenn sich bleifarben schimmernde Röhren im dunstigen Licht Michael Bauers herabsenken und einen Wald abweisender, metallglänzender Stämme bilden, durch die sich die Schweizer in Hochzeitskleidern schieben, sieht man einen beklemmenden Raum, in dem Menschen ihre kleinen Freiheiten suchen. Wenn sich die Röhren dann heben und mit ihren schwarzen Öffnungen wie Kanonen von oben auf das Volk starren, stellt sich das Gefühl einer gewaltigen, unfassbaren Drohung ein. Wirkmächtige Bilder.

Doch Löscher lässt in den folgenden drei Stunden diese Röhren in den verschiedensten Formation rauf und runter fahren: Mal liegen ein paar Stämme quer, mal bilden sie das Dreieck eines Hausdachs. Nach einer halben Stunde geht diese Dauerdemonstration der Münchner Bühnentechnik auf die Nerven. Selbst dem innehaltenden Naturbild von Mathildes „Sombre forêt“ gönnt sie keine Ruhe. Der Fluss der Szenerie bleibt beliebig, die Wirkung schleift sich ab.

Anmerkungen zu Europa? Die "Aktualisierung" geht nicht auf. Foto: Wilfried Hösl

Anmerkungen zu Europa? Die „Aktualisierung“ geht nicht auf. Foto: Wilfried Hösl

In Nunes‘ Regie rebellieren die Spießer. Ein Tell, von Annabelle Witt in einen Strickpullover gesteckt, spuckt seine Freiheitsideen als ideologische Tiraden aus – Michael Volle poltert und röhrt, als habe er einen veristischen Reißer zu überstehen – und bringt den alten Melcthal (mit wenigen gestemmten Sätzen: Christoph Stephinger) um die Ecke, um Arnold zum Kampf zu gewinnen. Gesslers Mannen sind von einer dunkelblau uniformierten kleinen Mussolini-Ausgabe kommandiert (schneidend militärisch: Kevin Conners als Rodolphe), der Landvogt selbst wirkt wie ein unwilliger Aristokrat, der versehentlich in einen Volksauflauf geraten ist. Im dritten Akt darf er sich einen Stierkopf überstülpen – aber die Maskerade hat nichts mit dem Wappen des Kantons Uri zu tun, sondern mit einer apokryphen Europa-Symbolik, die sich auch im Schwenken einer grau-schwarzen Fahne mit dem europäischen Sternenkreis manifestiert. Die EU alias Habsburg, die das bieder-spießige Schweizervolk bedrängt?

Nunes will uns zeigen, dass die Welt nicht so eindeutig in Gut und Böse einzuteilen ist, wie es das Freiheitspathos der Rossini-Oper suggeriert. Aber er kann nicht klären, was das letztlich bedeutet. Die Erzählung des Münchner „Guillaume Tell“ endet mit der stumpf musizierten Verklärungsmusik und den „Liberté“-Rufen von Revoluzzern, die gerade einmal das Erregungsniveau von Wutbürgern erreichen. Emblematisch dafür kann Tells Frau Hedwige – die schönstimmige Jennifer Johnston – stehen, die sich entschlossen die Schürze vom Kostüm reißt. Immerhin lässt Nunes uns nicht im Unklaren, wie die Liebesgeschichte zwischen Arnold und Mathilde endet: Die „Liberté“ macht ihn unempfindlich gegen die zärtlich auffordernde Annäherung der Frau.

Würde das Bayerische Staatsorchester Wagner so spielen wie diese Grand Opéra, der Protest im Publikum wäre programmiert. Aber es ist ja „nur“ Rossini. Und so dürfen Flöte und Oboe abschmieren, braucht es weder ein sanglich-weich phrasierendes Cello noch transparente Violinen. Die Anfeuerungsarbeit leistet Dan Ettinger, Mannheimer GMD, der bisher nicht durch Großtaten im Belcanto- oder französischen Fach aufgefallen ist. Er nimmt Rossini im Geiste des mittleren Verdi mit viel Saft und Kraft.

Zwischen der bewusst primitiv-martialischen Aufmarschmusik Rossinis und den entrückten Lyrismen könnte die Skala expressiver Möglichkeiten weiter aufgespannt sein. Die Chöre Sören Eckhoffs schlagen sich tapfer; einige Wackler und abgeflachte Phrasen sind bei den derzeitigen Festspiel-Übungen in Ausdauer und stilistischem „Umschalten“ mehr als verständlich.

Vokales Niveau auf Weltspitze präsentiert Marina Rebeka als Mathilde: Ihr gelingt das ariose Naturidyll von Wald und Bergen als Fluchtort vor ihrer Realität mit geschmeidigem Legato ebenso wie die heroisch punktierte Höhe oder der dramatisch geladene Einsatz für Tells Sohn Jemmy gegen die brutale Willkür Geslers. Evgeniya Sotnikova singt mit flexibler Stimme die Rolle des vorpubertären Buben, der mit kindlicher Radikalität den Ideen des Freiheitskampfes folgt.

Bryan Hymel als Arnold überzeugt vornehmlich mit sicher gesetzten Spitzentönen, nicht so sehr mit der unflexiblen, einfarbigen Tongebung und einem gerne ins Gaumige rutschenden Timbre. Im vierten Akt hatte er sich für seine berühmte Szene „Asile héréditaire“ frei gesungen und brillierte mit einem überwältigenden Vortrag. Auch Enea Scala in der zweiten Tenorpartie des Fischers Ruodi beeindruckte mit brillanter Höhe und sicherer Position. Günther Groissböck ist ein eleganter Gesler mit einem warmen Timbre – fast zu schön für den sadistischen Tyrannen. In der Premiere wurde der Regisseur mit Buhrufen überzogen; auch am besuchten Abend waren entschiedene Missfallenskundgebungen zu hören, die diesmal den Dirigenten trafen.




Den Papst in der Tasche: Warum Paderborn (wahrscheinlich) in die Bundesliga aufsteigt

Aus fußballerischen Gefilden ist Bemerkenswertes zu vermelden: Nicht nur, dass überwiegend katholisch geprägte Städte die Schlussrunde der Champions League weitgehend unter sich ausmachen (Madrid, München); auch beim Aufstieg in die Erste Bundesliga sind sie führend.

Dass der 1. FC aus der rheinischen Domstadt Köln dabei ist, durfte man erwarten. Nun aber klopft auch die Mannschaft aus der westfälischen Domstadt Paderborn ans Tor des Oberhauses, um mal kreuzbrav im Jargon der landläufigen Sportberichterstattung zu bleiben. „Stand jetzt“ (auch so eine Floskel) müssen sie sich nicht einmal durch die Relegation quälen, um sich zu qualifizieren.

Tabellen lügen nicht

Tabellen lügen nicht

Zu dieser gelinden Sensation fallen einem schnell diverse Sprüchlein ein. Sicherlich haben demnach die Kölner und Paderborner Kicker „den Papst in der Tasche“. Leute, die ihnen weniger wohl gesonnen sind, mögen spotten: „Mit die Doofen is’ Gott.“ Und was dergleichen gackernder Spontanblödheit mehr wäre.

Auffällig ist es jedenfalls, dass zwei solch ausgeprägt katholische Kommunen in die höchste deutsche Spielklasse vordringen. Eigentlich fehlt jetzt noch Preußen Münster, doch die dümpeln irgendwo derart weit unten herum, dass wir lieber nicht genauer nachschauen wollen. Hält der gegenwärtige Trend an, so darf man aber wohl fest damit rechnen, dass sich statt dessen segensreiche Teams aus Altötting und Telgte einen Weg nach ganz oben bahnen werden.

„Geld schießt keine Tore!“ heißt es (meist fälschlich), wenn Missgunst auf die reichsten Vereine mit den teuersten Stars sich Luft schaffen will. Wer aber netzt für Paderborn ein? Wir wollen da lieber nicht weiter spekulieren, sonst wär’s am Ende noch lästerlich. Vielleicht hat ja die Flügelzange, äh, die parallele Heiligsprechung zweier Päpste noch einmal die letzten Reserven mobilisiert, hat somit mehr Doppelpässe und Flanken gelingen lassen als sonst. So rein mental jetzt.

P.S.: Bliebe noch nachzutragen, dass die Protestanten aus Hamburg, Braunschweig und Nürnberg aufs Högschte abstiegsbedroht sind. Noch Fragen?




Flucht zum Jahreswechsel – München leuchtet

„Ich will zum Jahreswechsel raus“, sagen sich viele und verreisen, um den Wechsel ins Neue Jahr fernab mit Vorsätzen zu verbringen.

Den einen zieht es ans Meer, um über steife Brisen einen klar Kopf zu bekommen. Den anderen locken die Berge und der Schnee, um sich seiner vielen bunten Bilder zu entledigen, denen man täglich ausgesetzt ist. Viele reisen in eine Großstadt, um den Jahreswechsel als ganzheitliche Party zu erleben.  Durch einen Zufall war es bei mir München. Nicht deshalb, um dem fußballerischen Feind auf den Pelz zu rücken. Wenn man aus dem Revier kommt, gehört das Weben des Feindbildes FC Bayern zur Erziehung. Ich war schlichtweg Begleitung, also nicht nur vom eigenen Willen geleitet.

Flügelspiel in München

Flügelspiel in München

Tatsächlich stehe ich vor dem kleinen Fanshop in der Münchner City und ein post-weihnachtliches Gefühl überkommt den Gast aus Dortmund, mutet der Laden doch eher an wie die Geschäftsstelle des Weihnachtsmannes – alles in rotweiß. Und um die Ecke in einer Passage, vor einem Dirndlfachgeschäft, sitzt jemand an einem Flügel und spielt Rachmaninoff auf hohem Niveau. Es ist Silvester am Nachmittag und die Menschen eilen – schwer bewaffnet mit Plastiktüten und Koffern voller Wumm- und Bumm-Material – zu den jeweiligen Parties, um den letzten Balkankrieg akustisch nachzustellen.

Auf der Suche nach einem unspektakulärem Ort, landen wir „the night before“ in Schwabing im „Multikulti“, einem kleinen Lokal gegenüber vom „Lustspielhaus“, in dem sich Kabarettisten die Klinke in die Hand geben, wo zur Silvesternacht der urbayrische Barde Willy Michl aufspielt, von dem ich noch zwei Vinyls aus den 1970ern habe. Er ist der Begründer des bayrischen Blues und tritt heute in Indianerkleidung auf. Wollte man dabei sein, wäre man dicker bayrischer Luft ausgesetzt, umzingelt von urbayrischem Idiom, „lost in translation“. Und ausverkauft ist es sowieso.

Essen als Herausforderung

Im „Multikulti“ wird derweil das Essen serviert. Die Bedienung Olga aus Kiew sagt: “Ich komme aus dem buntesten Land Osteuropas“ und serviert uns gigantische Portionen auf ebensolchen Tellern. Mein „Krautwickel auf transsilvanische Art mit Sauerrahm, Kartoffeln und Speck“ wird von Koch Werner frisch hergestellt. Mutmaßlich hat er für diese Portion den kompletten Weißkohlkopf verwendet, ein mittelgroßes Schwein zerhackt, einen Sack Paprikapulver eingesetzt und ein paar Liter saure Sahne angehäuft. „Die letzte Herausforderung des alten Jahres“, denke ich und verputze schnaufend das zünftige Mahl.

Meine Begleiter haben es mit einem Haufen Wiener Kalbsschnitzeln und einer Lieferung Spaghetti mit allen Meeresfrüchten des Mittelmeeres zu tun, welches bekanntlich von München weniger weit entfernt ist als Dortmund. Am Nebentisch sitzt ein junges italienisches Paar mit ihrem dreijährigen Kind, das es mit einem „Kinderteller“ zu tun hat. In der Größe einer Kinderbadewanne breiten sich auf dem „Teller“ Rühreier für einen gesamten Kindergarten aus.

Steffi Graf, gemalt auf einer Rinderhaut

Hier will ich die Silvesternacht verbringen. „Ein Tisch ist noch frei, der kleine an der Tür.“ Die Einrichtung scheint aus den 70ern ins Jetzt gebeamt: Wände voll mit Gemälden, die Kunstsachverständigen Schaum vor den Mund jagen würden. Eins zeigt Steffi Graf, gemalt  auf einer Rinderhaut. Die Bestuhlung stammt durchweg von unterschiedlichen Omas.  Lampen, die vormals mal was anderes waren und Kerzenständer um Kerzenständer mit Kerzen. Im vorderen Bereich herrscht eine gediegene Wohnzimmeratmosphäre, im Raum hinten rechts laden kleinere Tische zu Tête-a-têtes, die kurze Theke ist mit ihrem Umfeld eine eigene Welt und hinten bedeckt ein buntes, wahrscheinlich handgesticktes Tuch einen Billardtisch. In der Ecke, hinter einem zusammengeknubbelten Vorhang, klemmt sich einer an einen Spielautomaten. Geradeaus geht’s zur Küche, rechts in die un-verzierten Toilettenräume. Unaufdringlich läuft das Album „A hard day‘s night“ von den Beatles.

"Multikulti" in Schwabing

„Multikulti“ in Schwabing

Für acht Uhr ist gebucht. Es soll live-Musik geben. Eine Seitenlehne des Sessels fällt aus ihrer Verankerung. Ich halte sie fest, als wäre sie ein Stück von mir. Die anderen Gäste sind schon da. Die Eingangstür vor uns wird naturgemäß auch als Ausgang benutzt. Es zieht. Diejenigen, die ich begleite, tragen ihre Mäntel auch am Tisch. Der Ausgang ist nah, falls es zu unerwarteten Tumulten kommt. Aber alles ist schön: Die Junge Münchener Generation am Nebentisch, der Vierertisch Pelzmantelschickeria, das stille Paar gegenüber. Im anderen Raum schön sortierte Vierergruppen.

Gibt es wirklich so große Forellen?

Nur an der Theke stehen ein paar abgerissene Anwohner, die schon um acht den Eindruck bestätigen, Bier sei ein Lebensmittel, und zwar von morgens bis abends. Auf dem abgedeckten Billardtisch stehen Sektflaschen, einige junge Dinger liegen oder sitzen schon querbeet. Es soll noch heiß werden in der Nacht ins kommende Jahr. Olga serviert die Forelle, die für jedes Seemannsgarn herhalten könnte. Gibt es Forellen in dieser Größe? Beim Pulpo hat man auf Fisimatenten verzichtet und ihn gar nicht erst in Einzelteile zerkleinert. Das wäre nur was für die Freunde der Häppchen-Kultur. Hier wird gegessen, auch, wenn die Teller erheblich die Größe des Tisches überschreiten. Aber man hat ja zwei Hände. Die beiden silberhaarigen Live-Musiker hocken mit ihren Gitarren vor der Theke und spielen ihre Jugend rauf und runter.

Die kaum angezogenen Mädchen und feierlich gekleideten Jungs am Nebentisch tauschen ihre Flüssigkeiten noch in Form von Getränken aus – sie spritzen Aperol on the rocks und Whisky/Cola . „Was ist Soda?“ fragt die mit dem offenen Oberteil. An der Theke plaudern sich die Einheimischen gegenseitig vom Hocker. Das Weißbier schäumt ihnen aus den Ohren. Ihre Haltung jedoch ist die von Lustknaben aus den Zeiten König Ludwigs.

Welch ein Aperol-Blick!

Die Zwei-Mann-Band spielt irgendwas von Rod Steward oder Keith Richards. Helles und Weißes an der Theke, Sekt am Billardtisch. Draußen donnern einem beim Rauchen die ersten illegalen Polenböller durch den Tinnitus. Nebel legt sich zwischen Lustspielhaus und Multikulti. Die ersten Plastiktüten werden im Lokal in Stellung gebracht – ready to be bombastic. Die junge Lady mit den schwarzen Haaren tänzelt an mir vorbei und wirft ihren Aperol-Blick in mein Gesicht. Ich lächle zurück und denke nichts. Die Tür geht auf und eine kleine Partygruppe stößt auf die andere. Drei weitere Sinnbilder jugendlicher Weiblichkeit. Wäre ich ein unzufriedener Rollatorschieber mit einer viel zu dicken Frau, würde mir die Fischsoße aus den Mundwinkeln rinnen. So aber bleibe ich cool wie ein 25-jähriger Golfspieler und starre bedenkenlos auf die Beine, die sich vor mir aufbauen, die High Heels in den Teppich gerammt.

Draußen herrschen gefühlte 5 Grad minus und vor mir sehe ich frostbeulenfreie nackte Beine mit dem Rocksaum auf meiner Augenhöhe.  „Früher war mehr Wolle“, höre ich mich denken und ziehe meine Handschuhe wieder aus.  Die Lady stöckelt weiter zu ihrer Freundesgruppe und legt sich mit einem Eimer Aperol an. „Die Uhr tickt“, fordern uns zwei der Girls auf, „gleich ist es soweit. Neujahr!“ rufen sie und erwecken uns damit aus dem Schlaf der Gesättigten. Gott sei Dank meinen sie nicht meine Lebensuhr. Nein, es sind anständige Einheimische.

Olga schiebt Biere nach und ist unerlässlich freundlich und das ist so echt, dass einem schwindelig wird. Die zwei alten Tanten in ihrer jungen Kleidung, zwei wandelnde Ü-50-Boutiquen, vergnügen sich am Vierer-Tisch mit ihren eisgrauen Männern, die aussehen, als hätten sie noch am Nachmittag einige Ausstellungen eröffnet. Silberringe, Silberhaare, Silberzähne und ein paar Meter weiter parken ihre Designer-Fahrräder. Wir werden herausgeschoben. Auf der Straße zwischen Multikulti und Lustspielhaus werden die Waffenarsenale in die endgültige Stellung gebracht. Ganze Batterien von Raketen aller Art werden in die Luft gejagt. Wer gewinnt? Und es kommen Menschen und umarmen mich, werfen mir Küsse an meine erkaltete Wange, auch die mit den Beinen greift mit frohen Grüßen in meine Souveränität ein.

„Ein Stadl is des“

Olga kommt und freut sich. Ich falle in meinen Sessel und versuche noch, ein Tanzbein zu greifen, aber es entschwindet mit Toni aus dem Nebenhaus in den Billardraum, wo sich die knapp gekleideten Sekttrinkerinnen vor der Böllerei versteckt hielten und nun Liebkosungen austauschen. Wir wechseln den Tisch. Das Lokal wurde umgeräumt, die ersten Jungen beginnen zu altern.  Die Schwarze hat dort einen Relief-Slip, wo in den 90ern noch das Geweih eingestanzt war. Das Böllerfestival draußen wird von den letzten Unentwegten aufrechterhalten. Nachdonnern mit Kollateralschäden an einzelnen Ohren und Mänteln. Die Damentoilette wird zum Lazarett umfunktioniert. Aperol wird zurückgeführt, Unverdautes bollert in die Keramik.

Die mit den Beinen kann sich auf diesen nicht mehr halten. „Sie ist das nicht gewohnt“, sagt der junge Mann mit dem Muskelshirt, der ihren Zickzackgang abfedert. An der Theke steht Andy Borg in einem langen eleganten Mantel und raunt: „Ein Stadl is des.“ Inzwischen laufen weitere Betrunkenen-Transporte per pedes. Wir verabschieden uns von Olga aus der Ukraine. An der Bahnstation treffen wir wieder auf die nackten Beine, die kreuz und quer laufen wollen. Aber der Gentleman hat alles im Griff und sagt: „Sie ist das nicht gewohnt.“

Wir verschwinden in der Dunkelheit des neuen Jahres. Hinter uns werden reihenweise Papierkörbe mit Aperol gefüllt. Am nächsten Tag schreibt die Abendzeitung, ein U-Bahnfahrer sei betrunken über ein Bein gefahren. Hoffentlich war es nicht eins der zwei nackten. Prosit Neujahr!




Es ist schwer, sich daran gewöhnen zu müssen: Dieter Hildebrandt lebt nicht mehr

Dieter Hildebrandt ist tot. Er starb im Alter von 86 Jahren in einem Münchner Krankenhaus. So tickert es spiegel.de durch das weltweite Netz. Knapp und nachrichtlich, wie es sich gehört.

Als ich das gerade vor ein paar Minuten wahrnahm, drehte sich der physische Erdball zwar immer noch weiter, aber der Augenblick blieb einfach stehen. Unwirklich, ein Zustand ist eingetreten, an den man sich zwar gewöhnen muss, aber es nicht will, es vorher auch gar nicht wollte, weil im Inneren stets der Gedanke herrschte, dass er ewig Bestand haben werde.

Dieter Hildebrandt, Klaus Havenstein, Jürgen Scheller, Hans-Jürgen Diedrich, Ursula Noack – die Münchner Lach- und Schießgesellschaft und Sammy Drechsel. Nun leben sie alle nicht mehr, die Helden meiner heranwachsenden Zeit. Nur Dieter Hildebrandt schien bis heute in seiner unverwechselbaren Art mit dem Ungesagten das Zutreffende auszusagen, alle Zeiten überleben zu wollen.

Der gebürtige Schlesier und adoptierte Münchner Dieter Hildebrandt bohrte seinen fröhlich-bissigen Humor durch jedes sich nach dem Kriege anbietende Polit-Segment und tat Repräsentanten jeglicher Couleur damit weh, was Politiker und Wirtschaftsführer am meisten peinigen kann – er sprach ihnen öffentlich ab, dass sie ernst genommen werden müssen. Die Spätfolgen ihres Jobs sind allerdings schon gravierend.

Auch wenn ihm bisweilen ein Bannstrahl nach dem anderen um die Ohren flog, er überstand sie alle. Und stammelte sich weiter durch die real existierenden Gesellschaftsformen deutscher Provenienz, ganz im Stile eines Werner Finck, der ihm anscheinend Vorbild war, im Einlassen auf Auslassungen und Wortspielen, die so aus ihm fielen, als ob sie ihm mal so eben einfielen.

Der legendäre Finck trat übrigens im Theater „Die kleine Freiheit“ in München auf, Erich Kästner schrieb an den Programmen und Dieter Hildebrandt war wesentlich dafür verantwortlich, dass das Publikum es bequem hatte – als Platzanweiser. Ganz so eine Nachkriegskarriere, die ihn in Höhen führte, dass alle, die politisches Kabarett nach ihm lebten, an seinem Können gemessen wurden.

Das Folgende ist nur wirklich meine Ansicht, mein liebevolles, an einem großen Künstler und klugen Menschen Festhaltenwollen: Sie können sich allesamt bemühen, solange und so viel sie wollen, niemand wird so hinreißend und lustvoll je wieder sprachlich und mimisch die Kaste karikieren, die meint, diese Republik lenken zu wollen.

Mit Dieter Hildebrandt starb ein Mensch, den ich leider nie persönlich kennenlernen durfte, aber der mir so häufig aus dem Herzen sprach, dass ich heimlich vermutete, er und sein aufrechter Menschengang müsse einfach zu mir gehören. Ade, Dieter Hildebrandt!




TV-Nostalgie (2): „Monaco Franze“ bleibt unvergesslich

Auf der Suche nach Figuren, die wir im Fernsehen schmerzlich vermissen, gibt’s manchmal kein Vertun: Helmut Fischer als „Monaco Franze – Der ewige Stenz“ gehört unbedingt dazu. Und alle anderen, die an Helmut Dietls grandioser Serie von 1983 mitgewirkt haben, denn die war bis in die kleinste Nebenrolle passgenau besetzt.

Auf Bayern III werden derzeit, den ganzen Sommer hindurch (jeweils montags und donnerstags, immer um 20.15 Uhr), die Folgen des ARD-Zehnteilers abermals gezeigt. Da kann man wirklich sagen: Wiederholung macht Freude!

Wehmütiger Blick zurück

Selig in wehmütiger Nostalgie schwelgend, habe ich mir die Auftaktfolge mit dem schönen Titel „A bissel was geht immer“ noch einmal angeschaut, die am 2. März 1983 erstmals ausgestrahlt worden ist. Du meine Güte, über 30 Jahre ist das schon her…

Moment der ungetrübten Harmonie: Monaco Franze (Helmut Fischer) und sein "Spatzl" (Ruth-Maria Kubitschek) (© BR/Balance Film)

Moment der ungetrübten Harmonie: Monaco Franze (Helmut Fischer) und sein „Spatzl“ (Ruth-Maria Kubitschek) (© BR/Balance Film)

Und so fängt’s an: Der vermeintliche „kulturlose“ und doch auf seine Art so elegante Abenteurer Monaco Franze scharwenzelt mal wieder außerehelich einer Dame (Gisela Schneeberger) hinterher, die sich ein völlig falsches Bild von ihm macht und ihn für einen leidvoll einsamen Wolf halten möchte. Wenn sie wüsste! Monaco Franze, gleichsam nur nebenberuflich Kripobeamter, versucht, mit einer Art Rasterfahndung auf ihre Spur zu kommen. In welchem Münchner Stadteil wohnt sie nur, in welchem Tanztempel kann man sie antreffen?

Ehemann an der langen Leine

Viel besser kennt natürlich die hochkultivierte Gattin Annette von Soettingen (Ruth-Maria Kubitschek) ihren Charmeur Monaco Franze (bürgerlich Franz Münchinger), den sie klugerweise an der langen Leine laufen lässt. Hauptsache, der Schwerenöter übertreibt seine Eskapaden nicht. Dessen herzig-lausbübische Aussage „Geh, Spatzl, seelisch bin i dir treu“ ist längst so legendär wie die ganze Reihe, die nebenher so manchen Eheratgeber ersetzt.

Besser als in dieser ersten Folge kann man einen Serieneinstieg wohl nicht hinbekommen. Wie kunstvoll die Handlungsstränge da verwoben werden! Wie wunderbar stimmig die Episode von den Wagner-Opern erzählt wird, in die Annette ihren Mann unbedingt zerren will. Dabei hasst der ihre hochnäsigen Freunde ebenso wie die Klänge und das Wagalaweia-Getue auf der Bühne. Doch dann bedient er sich einer herrlichen List und weiß plötzlich so gut Bescheid wie der beste aller Opernkritiker. Welch ein Triumph…

Gipfel der Komik

Da werden einige Gipfel der Hochkomik erklommen, und zwar scheinbar völlig unangestrengt. Auf diese Weise funktioniert das nur mit einem famosen Ensemble, zu dem u. a. auch Christine Kaufmann und Erni Singerl zählten. Wie da der herrschende Zeitgeist nachgezeichnet und gleichzeitig funkelnd parodiert wurde, das erreichte geradezu literarische Höhen. Das hat Bestand.

Als Regisseur Helmut Dietl, der sich den „Monaco Franze“ gemeinsam mit dem Schriftsteller Patrick Süskind und mit Franz Geiger ausgedacht hat, 1986 auch noch den gleichfalls unvergesslichen Sechsteiler „Kir Royal“ nachlegte, zählte er endgültig zu den wichtigsten TV-Schaffenden überhaupt. Und München war in jenen 80er Jahren bei weitem die glanzvollste Stadt im deutschen Fernsehen. Auch da gibt es kein Vertun.

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Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Endlich! Ein völlig objektiver Vorbericht zum Finale der Champions League

Hier nun ein paar völlig objektive, hochkulturelle Zeilen zum Spiel der Spiele: Nein, dieses Match lässt sich – um es mit einem legendären Lapsus aus Kickermund zu sagen – wirklich nicht mehr weiter „hochsterilisieren“.

Wenn am kommenden Samstag um 20.45 Uhr MEZ im Londoner Wembley-Stadion Borussia Dortmund und der FC Bayern München das Finale der Champions League austragen, dann fiebert natürlich alle Fußballwelt mit. In Dortmund herrscht allenthalben Ausnahmezustand. Um es vorsichtig zu formulieren. Wenn (sehr frei nach Peter Handke) das Wünschen bei der Kartenvergabe noch geholfen hätte, so würden Hunderttausende in Schwarzgelb nach London kommen.

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Exaltierte Leitmedien wie „Spiegel online“ bringen seit vielen Tagen den immer mit neuen Gerüchten und Parolen gefütterten Countdown bis zum Anstoß. Jede halbgare Äußerung aus beiden Lagern, jede Blessur wird da im bebenden Tonfall vermeldet und breit ausgewalzt. Der Ausfall des verletzten Mario Götze wird vollends als Tragödie von shakespearschen Dimensionen dargestellt; wie denn überhaupt der bevorstehende Götze-Transfer von Dortmund nach München das Weltgebäude hat wanken lassen. Naja, wenigstens hat offenbar die eine oder andere Redaktion gewackelt. Schlimmer noch: Heute bemächtigt sich auch eine seltsam besetzte Talkshow des Themas.

Das Feld der Emotionen besetzt

BVB-Trainer Jürgen Klopp erklärt Borussia Dortmund gleich zum spannendsten Fußballprojekt der Welt und wirbt flammend um die Herzen aller echten Fans auf dem Globus. Der Wahlspruch des Vereins, „Echte Liebe“, besetzt – zwischen Leidenschaft und Marketing – das emotionale Feld, während der Widersacher aus dem Süden vorwiegend mit Geld, Geld und nochmals Geld assoziiert wird und darum vielfach gern „Buyern München“ genannt wird. Ja, ja, ja, auch in Dortmund werden ein paar Groschen umgesetzt – und doch besteht da ein Unterschied.

Glaubt man der wahnwitzig ausufernden Vorberichterstattung, so ist ganz Deutschland gespalten in Schwarzgelb und Rot. Es wäre interessant zu erfahren, wie die Sympathien international verteilt sind. Eins ist klar: Die meisten Polen halten schon mal zu Dortmund. Doch die frischgewagte, husarenhafte BVB-Spielweise unter Klopp hat überdies neue Anhänger auf dem ganzen Kontinent gewonnen. Die bloße Vorstellung, dass sie in Lokalen von Rio, Buenos Aires, Tokyo oder Peking ein Dortmunder Tor bejubeln, ist herzerwärmend.

Sich heraushalten? Geht kaum!

Wer sich übrigens aus all dem heraushalten will, verhülle am besten sein Haupt, lasse die Rollos herunter, schalte alle Geräte ab oder begebe sich gleich für eine Zeit ins Kloster. Doch wer weiß, was sie dort am Samstag machen?

Bei nüchterner Betrachtung der Fakten (doch wer wird denn da nüchtern bleiben?) gehen die Bayern als haushohe Favoriten ins Finale. Sie können wahrscheinlich ihre Bestbesetzung aufbieten, während bei Dortmund nicht nur Götze fehlt, sondern zwei Verteidiger, Mats Hummels und Lukasz Piszczek, angeschlagen sind. Auch haben die Bayern eine nahezu makellose Saison hingelegt, so dass man sich fragt, was der künftige Trainer Pep Guardiola dort eigentlich noch richten soll.

Aber warten wir’s ab. Es gibt – sehr frei nach William Shakespeare – Dinge zwischen beiden Strafräumen, die sich unsere Schulweisheit nicht träumen lässt.

Im Fall eines Bayern-Sieges würde man sich drunten etwas freuen und dann bald zur Tagesordnung übergehen. Es wäre sicherlich kein Vergleich zu dem, was in und um Dortmund los wäre, wenn…

Warten wir’s ab. Es gibt Dinge zwischen Auslinien, Pfosten und Eckfahnen, die sich unsere…

Aggression und Zurückhaltung

In München kassiert man Titel ein und hakt sie ab. Viele Anhänger sind schlichtweg saturiert. Das „Mia san mia“-Denken ist weit verbreitet, die entsprechende Denkungsart des (anderweitig „angeschlagenen“) Bayern-Präsidenten Uli Hoeneß kommt einem fast schon gemütlich-folkloristisch vor, wenn man sie mit der unerbittlich aggressiven Stoßrichtung des Matthias Sammer vergleicht.

Demgegenüber wirkt die Zurückhaltung des Dortmunder Präsidenten Reinhard Rauball, des Geschäftsführers Hans-Joachim Watzke und des Sportdirektors Michael Zorc geradezu nobel. In der angeblichen Proletenstadt zeigt man inzwischen deutlich mehr Stil als an der Isar. Nur Jürgen Klopp darf schon mal gepflegt ausrasten. Jawohl, Kloppo darf das.

Ich gebe zu: Sollte Sammer am Samstag aus gutem Grund zornig mit den Zähnen knirschen, so würde mich das doppelt und dreifach er-götzen!




Still und stoisch durch den Krieg gehen: „Neue Zeit“ von Hermann Lenz – wiedergelesen

Wie ist das im Zweiten Weltkrieg gewesen, Tag für Tag, bis zum bitteren Ende? Es gibt wahrlich zahllose Bücher über „Ereignisse“ jener Jahre, hin und wieder auch übers Alltägliche. Doch Hermann Lenz’ Roman „Neue Zeit“ ist und bleibt etwas Besonderes.

Erstmals 1975 erschienen, ist das Werk jetzt in einer neuen Ausgabe greifbar. Man kann es wieder und wieder lesen. Als Zeugnis des Nebenher, des Unscheinbaren, das wohl auch damals die meisten Geschehnisse grundiert hat. Als Dokument einer großen Hilflosigkeit angesichts der Zeitläufte. Als Studie darüber, wie man mitten im allergrößten Dreck ein Mindestmaß an Anstand wahren kann. Und dergleichen mehr.

Weder Helden noch Antihelden

Fernab von jeder Versuchung zum Spektakulären oder Heroischen, aber auch nicht mit vollmundiger Antikriegs-Rhetorik, ja überhaupt mit sehr zurückhaltender Wahl der Worte und Stilmittel, erzählt Lenz die Geschichte seines Alter ego Eugen Rapp, eines Studenten der Kunsthistorie, der wie in einer Art Trance durch die Wirren des Krieges geht; zunächst bei militärischen Übungen, dann als Soldat beim vergleichsweise unblutigen Einmarsch in Frankreich, sodann über Jahre hinweg an der Ostfront in Russland und schließlich in amerikanischer Gefangenschaft.

neuezeit

Die stark autobiographisch geprägte Handlung setzt 1937/38 ein und reicht bis 1945. Zu Beginn trifft der Schwabe Eugen Rapp in München ein, um sich einen neuen Doktorvater für eine Arbeit über Dürer zu suchen, denn die jüdischen Professoren in Heidelberg sind von den Nazis entlassen worden. Rapp hat sich derweil zaghaft mit „Treutlein Hanni“ angefreundet, was sich als zunehmend riskant erweist, denn die junge Frau aus hochkultiviertem Hause, die Hermann Lenz 1946 heiraten wird, ist „Halbjüdin“ (welch eine verquere Begrifflichkeit von allem Anfang an).

Sehnsucht nach gestern

Vor der immer gewaltsamer auftrumpfenden „Neuen Zeit“ und ihren üblen Protagonisten will sich Rapp in andere Epochen fortdenken. Seine innige Sehnsucht richtet sich rückwarts, beispielsweise in die Ära der friedlich verschlafenen deutschen Kleinstaaterei, ins sonst so oft geschmähte oder belächelte Biedermeier zwischen Spitzweg und Mörike. Zustimmend zitiert er einen Professor: „Da nehme ich sogar das Muffige in Kauf…Dagegen das mächtige Deutschland Bismarcks: Sie sehen, was daraus geworden ist.“

Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger Fluchtpunkt ist das Wien früherer Jahrzehnte, die Welt von Schnitzler und Hofmannsthal. Es entwickelt sich also eine tiefe Abneigung gegen alles Gegenwärtige, ein heimwehkranker Hang zum Früheren.

Doch einfach aus dem Jetzt wegstehlen, so die bestürzende Erkenntnis, kann man sich nicht. Und so erlebt dieser Eugen Rapp Jahr um Jahr als überaus befremdliches Vor-sich-Gehen. Warum, so fragt er sich nahezu naiv, wird überhaupt Krieg geführt? „Du aber verstehst nicht, warum ein Russe dein Feind sein soll, wenn er dir nichts getan hat…“

„Zigaretten rauchen und allein sein“

Rapp gehört nirgendwo richtig dazu, er hält sich – so gut es irgend geht – aus dem Gröbsten heraus, macht aber letzten Endes doch zwangsläufig mit: „…dich abseits fühlen, ist dir angemessen“, hält er an einer Stelle fest. Am liebsten sieht er sich so: „Sitzen. Kritzeln. Zigaretten rauchen und allein sein.“ Andererseits: „Du bist jetzt hier hineingestellt; ausweichen kannst du nicht mehr.“ Ja, einmal heißt es sogar: „Laß alles laufen, wie es will. Nur im Krieg nichts ändern wollen…“ Und dann eine solch jähe Einsicht, die einem das Hirn zerreißen müsste: „Denn wozu machst du hier mit? Damit sie hinten ungestört Menschen zu Seife machen können und den Seifemachern nichts passiert…“

Innerlich distanziert bleiben, dennoch genau hinsehen und getreulich aufzeichnen – das kennzeichnet die stoische, zuweilen auch sture Haltung dieser Figur, die wundersam unversehrt, geradezu schlafwandlerisch durch die Hölle wankt.

Die Schilderung der Vorgesetzten und „Kameraden“ schwankt zwischen individuellen Skizzen und Typenkomödie. Fast allen, so wird es hier geschildert, ist die verlorene Sache frühzeitig klar, doch von oben kommen Durchhalteparolen. Die Hierarchien bleiben bestehen. Wer eh schon oben war, bleibt auch im Krieg oben; oft auch darüber hinaus.

Dieser feine und friedliche Ton

Die wahre Sensation dieses Buches ist der durchweg leise und feine Ton. Schon von daher ist der Roman sozusagen Zeile für Zeile ein fortwährender Einspruch gegen alles Kriegerische. Es ist wie die Erprobung einer Sprache, die wieder für kommende Friedenszeiten taugt. Das immer wieder eingestreute schwäbische Idiom steht bei all dem für regionale Verwurzelung im Herkömmlichen, der freilich im Krieg alles fraglos Beschützende abhanden gekommen ist. Einerseits ist die Mundart ein Reservoir des Friedfertigen, dann wieder klingt sie nur noch begütigend. Wenn es etwa heißt, der Krieg sei „kein Schleckhafen“, so mutet das allzu harmlos an. Doch vielleicht hat man ja damals daheim so empfunden. Wenn Rapp auf Fronturlaub nach Schwaben kommt, fängt er auch die dortige, seltsam unwirkliche Lage der Verhältnisse ein.

Mit moralisch sich erhaben dünkendem Halbwissen von heute darf man freilich nicht an diesen Roman herangehen. Natürlich kann man Rapps nur ansatzweise widerspenstige Denkungsart leichthändig verdammen. Ungleich schwerer wäre es schon, dies aus dem Bewusstsein der Zeit heraus zu tun. Und überhaupt: Wer von uns hätte in vergleichbarer Situation den offenen Widerstand gewagt?

Ein gewisses Unbehagen bleibt

Gewiss, an mancher Stelle beschleicht einen Unbehagen. Hat Lenz hier eine Apologie in eigener Sache verfasst? Hat er für Hanni festhalten wollen, dass er im größten Chaos stets an sie gedacht hat, auch in Phasen allgemeiner Auflösung keinen weiblichen Anfechtungen erlegen ist und dass er ihren Ring durch all die finstere Zeit gerettet hat? Ja, das mögen durchaus Antriebe des Schreibens gewesen sein. Und doch weist der Roman weit darüber hinaus. Abermals gepriesen sei das Gespür von Peter Handke, der Lenz einst nachdrücklich empfohlen und somit über eingeweihte Zirkel hinaus bekannt gemacht hat.

Dieser Neuauflage aus Anlass des 100. Geburtstages des Autors (1913-1998) sind einige erstmals publizierte Briefe von Hermann und Hanne Lenz aus der erzählten Zeit des Romans beigegeben. Es sind Auszüge aus einem umfangreicheren Schriftwechsel, dessen Edition noch bevorsteht. Darauf warten wir jetzt.

Hermann Lenz: „Neue Zeit“. Roman. – Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937-1945. Insel Verlag. 432 Seiten, 22,95 Euro.




Regina Schmekens Fotos von der Ästhetik eines Spiels namens Fußball

Fußball ist Geometrie. Die Beine gehören Toni Kroos. Foto: Regina Schmeken

Als Fredl Fesl, eine Art bayerischer Hippie der sanft-spöttelnden Natur, 1976 sein Lied von den „44 Fußballbeinen“ singsprechend zur Gitarre anstimmte, mochte ein wenig Gesellschaftskritik dahinter stecken (Heute würde das wenig nett gemeinte „Millionäre in kurzen Hosen“ bemüht). Doch eher ging es ihm wohl um das Beschreiben einer Sportart, die den einen Kult ist, anderen hingegen als sinnlose Rennerei vorkommt. Dass es sich um ein Spiel handelt, das gar ästhetische Komponenten in sich birgt, scheint der öffentlichen Wahrnehmung absolut fremd (geworden).

Hier nun hat sich die Fotografin Regina Schmeken zu Wort gemeldet. Mit aussagekräftigen Bildern, die nicht auf Action ausgerichtet sind, sondern auf Schönheit und (skurrilen) Witz. Die bisweilen Rätsel aufgeben, weil der Betrachter gerade nicht weiß, wo etwa der Ball ist. Weil er überhaupt nur Beine sieht, die sich in Verbindung mit Mittelkreis oder Seitenlinie zu einem grafischen Konstrukt formen. Keine Gladiatoren betreiben hier knallharten Sport, sondern der spielende Mensch gewinnt oder verliert in Schönheit.

Schmekens Fotos sind zurzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Großformatige Schwarzweiß-Studien, denen das Wort Fußballfieber fremd scheint. Eher verbinden sich mit ihnen die Begriffe Ruhe, Kontemplation, ja Intimität. Davon spricht jedenfalls Oliver Bierhoff. Ihm ist es zu danken, dass die in Gladbeck geborene Fotografin die Nationalmannschaft von März 2011 bis zum Juni dieses Jahres begleiten durfte. Die 40 ausgestellten Exponate fallen dabei vor allem durch eine choreographische Note auf. Und das kommt nicht von ungefähr.

Denn die Fotojournalistin hatte nicht nur selbst Ballettunterricht, sondern suchte stets tänzerische Elemente in ihren Bildern. Berühmt wurde eine Aufnahme vom Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München. Da waren Staatsmänner in quirliger Unordnung offensichtlich auf der Suche nach ihrem rechten Platz fürs Gruppenfoto – heiter wirkende Wuselei abseits des steifen Zeremoniells.

Schmekens Fußballbilder also: eingefrorene Bewegungen, gruppendynamische Momente, Szenen abseits des Brennpunktes namens Strafraum. Da liegt etwa der Ball im Netz, und Torwart Ron Robert Zieler mit fragendem Blick daneben: Wie ist die Kugel bloß dahin gekommen? Oder Sami Khedira: Liegt da im patschnassen Gras und schaut offenbar versonnen aufs Regenwasser in seinen Händen.

Vier Beine und ein Kopf oder: Klose und Podolski. Foto: Regina Schmeken

Geradezu skurril die Aufnahme, in der sich Klose und Podolski nach dem Ball bücken: Perspektivisch so eingefangen, dass wir vier Beine, aber nur einen Kopf sehen. Manchmal winden sich Arme umeinander, tänzeln zwei Füße mit dem Spielgerät. Regina Schmeken blickt auf Details, wo der Zuschauer – im Stadion – nur ein Gesamtbild hat. Fans hat die Fotografin übrigens auch abgelichtet: Konzentriert dreinblickende, angespannt sitzende Menschen im deutschen Nationaltrikot, vielleicht in Erwartung eines Freistoßes.

Brutalität aber, randalierende Fans, schimpfende Spieler oder Trainer, brutale Fauls gar sind nicht Schmekens Welt. Man mag ihr Abkehr von der Realität vorhalten, von der Tatsache, dass es letztlich um eine Menge Geld geht und somit wichtige Dinge auf dem Spiel stehen. Doch was ist dagegen zu sagen, dass sie auf die Ästhetik eben jenes Spiels hinweist, zu dem 44 Fußballbeine gehören?

Berlin, Martin-Gropius-Bau, Regina Schmeken, bis zum 6. Januar 2013.

http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/gropiusbau/ueber_uns_mgb/aktuell_mgb/start.php




Kunst mit Trauerflor

Theatermacher tragen gerne schwarz. Wie Hohepriester im Dienste der Ästhetik. Manchmal wie Trauernde, weil das Haus oder eine Sparte kurz vor der Beerdigung steht. Wenn nun aber eine Bühne frohen Mutes den Blick auf die neue Spielzeit richtet, ein frisch inthronisierter Opernintendant Aufschwung, also in Zukunft einen vollen Saal verspricht, wo bisher oft erschreckend die Leere gähnte, sollten wir dann nicht ein buntes, Vorfreude weckendes Programmbuch erwarten dürfen?

In Dortmund ist mal wieder alles anders. Viel Schwarz, viel Weiß im 186 Seiten starken Konvolut der Premieren und Wiederaufnahmen. Purismus in sperriger Schrift, als ginge es um die Bilanz eines Buchhalters, nicht um farbige kulturelle Vielfalt. Porträtfotos des Leitungsteams, jedes für sich mau grau, mit Unschärfe spielend. Diese Macher wirken wie fahle Gestalten, die so neutral wie irgend möglich in die Kamera schauen.

Nichts gegen schwarz-weiße Optik. Manche Szenenfotos oder die Stillleben aus dem Organismus namens Orchester, im Innern des Buches, lassen geradezu aufatmen ob ihrer Lebendigkeit. Die Verwirrung aber bleibt. Was soll uns Trauerflor, wenn es um Kunst geht? Ist das, was mancher abschätzig als Hochkultur bezeichnet, am Ende?

Ach ja. Orange-Rot unterlegt sind die Namen der Sponsoren. Die Ritter (und Retter?) der vornehmen Gestalt im leuchtenden Spendiermantel – ein winziger Lichtblick im Reiche grafischer Tristesse. Geschaffen von xhoch4 design, München. So morbid veranlagt hätten wir uns die Bajuwaren gar nicht vorgestellt.

 




Die Musik der Farben – Bildertausch auf Zeit: Köln zeigt Werke der Gruppe „Blauer Reiter“ aus München

Von Bernd Berke

Köln. Der Presseandrang war gestern nicht ganz so groß, als hätten Bayern München und der 1.FC Köln ihre Kicker ausgetauscht. Doch ein hochkarätiger Bilderwechsel zwischen den beiden Metropolen beschäftigt die Szene schon seit Wochen. Geradezu atemlos wurde jeweils vermeidet, welche Kunstschätze wann, wie, wo und warum auf die Reise gingen.

Nun ist es so weit: Fast 1000 Werke von Pablo Picasso hängen (aus Beständen des Kölner Ludwig Museums kommend) im Münchner Lenbachhaus. Und 65 sonst in München verwahrte Gemälde der legendären Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ sind am Rhein zu sehen. Die Debatte wird nicht so bald verstummen: Offenbart der bloße Tausch schiere Ratlosigkeit, oder ist er kulturpolitisch beispielhaft?

Luftiger präsentiert als am angestammten Ort

Vergleicht man lediglich die Anzahl der Exponate, so muss man argwöhnen: Die Münchner haben die Kölner über den Tisch gezogen, fast wie beim Fingerhakeln. Doch zum Picasso-Konvolut zählen etliche kleinere Papierarbeiten, und außerdem kann man ästhetische Dinge ohnehin nicht aufrechnen.

Was also bietet Köln? Einen ordentlichen Querschnitt durch die Münchner Kollektion. Nicht jeder hiesige Kunstfreund fährt alleweil an die Isar. Was dort an farbigen Wänden hängt, wird in Köln auf keuschem Weiß und mit größeren Zwischenabständen präsentiert. Man kann sich also mehr aufs Einzelwerk konzentrieren als am angestammten Ort.

Such nach dem „Geistigen in der Kunst“

Den größten „Auftritt“ hat Wassily Kandinsky, doch auch Franz Marc, August Macke, Alexej Jawlensky und Gabriele Münter sind prominent vertreten. Münter war es, die 1957 dem Lenbachhaus ihren privaten Kunstbesitz vermachte – bis heute der Löwenanteil der Sammlung.

Die Gruppierung „Blauer Reiter“ war in Bayern verankert. 1908 zogen Kandinsky und seine Gefährtin Gabriele Münter nach Murnau ins Voralpenland. Jawlensky und seine Freundin Marianne von Werefkin gesellten sich hinzu. Kandinsky wurde zur nervös treibenden Kraft bei der Suche nach dem „Geistigen in der Kunst“. Freischwebend wie Musik sollten Farben „erklingen“.

1911 gab es die erste gemeinsame Ausstellung. Als Kandinsky sich 1914 von Munter trennte, zerfiel die Gruppe schon. Auch künstlerisch hatte man sich verschieden entwickelt.

Die stille Sensation ist Gabriele Münter

Bei Kandinsky kann man den Weg von russischen Folklore-Anklängen bis in die Abstraktion verfolgen. Von Marc sieht man postkartenberühmte, kristalline Tierbilder („Der Tiger“), von Jawlensky grelle, dann meditative Köpfe, von Macke jene anmutigen Szenen im Zoo und vorm Hutgeschäft.

Die stille Sensation aber ist: Gabriele Münter! Ihr Gestus bleibt bei allem Neuerungswillen unaufdringlich. Ihre Bilder sind psychologisch durchtränkt und inniglich dingfromm. Keine brachiale, sondern eine sanftmütig lächelnde Avantgarde.

Museum Ludwig, Köln. 13. März bis 27. Juni. Di bis Do und Sa/So 10-18, Fr 11-18 Uhr. Katalog 31 Euro.

 




Bayern liegt in Amerika – Malerei aus Indiana mit bajuwarischen Wurzeln

Idyllische Landschaften, Kühe auf der Weide – das könnten Szenen aus Bayern sein. Doch spätestens wenn man die Titel der Gemälde liest, stellt man erstaunt fest, wie gründlich man sich geirrt hat. Die Freiluftmotive stammen aus dem Staate Indiana im Mittelwesten der Vereinigten Staaten.

Nun ist ja die unterschwellige „Verwandtschaft“ Bayerns und gewisser Landstriche der USA auch schon im Kino mehrfach dingfest gemacht worden. Doch in der Kölner Ausstellung „Zwischen Tradition und Moderne“ gibt es viel direktere Bezüge. Das Wallraf-Richartz-Museum stellt nämlich eine Gruppe von Malern aus Indiana vor, die sich ihr handwerkliches Rüstzeug mitsamt motivischen Anregungen allesamt in den 1880er Jahren an der Münchner Kunstakademie geholt haben.

William Forsyth, John Ottis Adams, Theodore Steele und einige andere aus ihrem Umkreis zog es damals aus drei Gründen ins Bajuwarische. Erstens war die Münchner Akademie leidlich renommiert (auch ein Lovis Corinth studierte damals dort), zweitens war Paris weitaus kostspieliger und drittens hatte man als unbekannter Amerikaner eh kaum Chancen, in die Académie der Seine-Metropole aufgenommen zu werden.

Als die Gruppe in den 1890ern in die US-Heimat zurückkehrte, hatten sich die Künstler jedenfalls dermaßen mit europäischer Kunst „vollgesogen“, daß innige Nachahmung gar nicht ausbleiben konnte. Niederländische Genremalerei wurde genau so als Anregung begriffen bzw. gar „geplündert“ wie die Kunstauffassung etwa von Rubens oder von Wilhelm Leibl.

Manches wirkt dabei arg brav oder schrammt gar haarscharf am süßlichen Kitsch vorbei. Am erstaunlichsten aber: Auch nach der Rückkehr in die Staaten überwogen zunächst bayerisch geprägte Landschaften, so etwa bei Theodore Steele, der das Flüßchen Pleasant Run bei Indianapolis noch ganz dunkeltonig im Stile der Münchner Schule malte.

Nur ganz vorsichtig begann man die andere Licht- und Farbqualität der heimatlichen Landschaften zu entdecken. Die Palette hellte sich auf, allerdings auch unter deutlichem Einfluß französischer Impressionisten, deren Bilder 1893 auf der Weltausstellung in Chicago Furore machten.

Interessant ist es nun, den allmählichen Wandel von „Bayern“ zu „Indiana“ sowie das äußerst behutsame Herantasten an Positionen der Moderne zu verfolgen, die freilich damals schon zur Nachhut zählten. Diese Gruppe amerikanischer Maler, weit davon entfernt, auf eine große, eigene Tradition zurückgreifen zu können, wagte sich lediglich bis zur Grenzlinie des Impressionismus der 1870er Jahre vor, dem sie noch um 1905 huldigte. Die wirklich große Zeit der amerikanischen Kunst, das läßt diese Ausstellung ahnen, war eben noch nicht angebrochen.

„Zwischen Tradition und Moderne. Amerikanische Malerei 1880-1905″. Köln, Wallraf-Richartz-Museum (direkt am Dom). Bis 27. Januar 1991.