Baukunstarchiv NRW kommt nach Dortmund: Die Geschichten hinter den Fassaden

Bürger-Protest gegen den Abriss des Museums am Ostwall. Foto: Christine Kaemmerer

Bürger-Protest gegen den Abriss des Museums am Ostwall. Foto: Christine Kaemmerer

Am Ende hat kaum jemand mehr daran geglaubt: Voraussichtlich 2018 bekommt NRW ein Archiv für seine Baukunst. Die in Dortmund geplante Sammlung bewahrt nicht nur die Nachlässe wichtiger Nachkriegsarchitekten – sondern auch ein historisches Gebäude vor dem Abriss. Die Erfolgsgeschichte einer Idee.

Darmstadt, im Jahr 1814: Auf dem Speicher des Gasthofs »Zur Traube« findet ein Dekorationsmaler ein merkwürdiges Pergament, auf dem Bohnen zum Trocknen liegen. Zu sehen ist darauf die detaillierte Schnitt-Zeichnung eines Turms. Der Fund stellt sich als Sensation heraus: Es ist der Bauplan für den Nordturm des Kölner Doms, der damals schon seit fast 300 Jahren seines Weiterbaus harrt. Zwei Jahre später taucht in einem Pariser Antiquariat ein weiteres Puzzle-Stück der mittelalterlichen Architektur-Zeichnung auf. Die Arbeiten wurden endlich fortgesetzt. Wer weiß, wie der Kölner Dom ohne diese beiden Entdeckungen aussähe? Heute liegen sie öffentlich zugänglich im Dom aus – baukunsthistorische Dokumente von unschätzbarem Wert und zugleich Stoff einer spannenden Detektivgeschichte.

Kaum ein Bauwerk hat eine so lange und aufregende Baugeschichte wie der Kölner Dom. Und doch: Jede Bau-Epoche schreibt ihre Geschichte(n). Wo werden sie erschlossen, bearbeitet, erzählt? Zum Beispiel in Berlin: Das Baukunstarchiv an der Akademie der Künste dokumentiert vor allem die Berliner Moderne seit 1900. Oder im Architekturmuseum der TU München: Es umfasst eine halbe Million Zeichnungen und Pläne von 700 Architekten seit dem 16. Jahrhundert. In Rotterdam gibt es mit dem Architekturinstitut NAI einen zentralen Ort für die Archivierung aller Epochen und Aspekte der niederländischen Architektur.

Solche Einrichtungen sind »Orte der unerfüllten Möglichkeiten«, wie es im Baukunstarchiv Berlin heißt: Sie zeigen auch das, was nie gebaut wurde. Sie erzählen mehr über Werden und Verändern einer Idee, als ein fertiges Bauwerk es kann. Mitunter leben Pläne, Modelle und Schriftstücke sogar länger als die Gebäude. Baukunstarchive erzählen die Geschichten hinter den Fassaden, von Wunsch und Wirklichkeit, Wahrnehmung und Wirkung der Architektur.

Eines der Exponate: Der nicht realisierte Wettbewerbsbeitrag der Architekten Walter Köngeter und Ernst Petersen für das Mannesmann-Hochhaus.  Foto: A:AI Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW

Eines der Exponate: Der nicht realisierte Wettbewerbsbeitrag der Architekten Walter Köngeter und Ernst
Petersen für das Mannesmann-Hochhaus. Foto: A:AI Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW

Und Nordrhein-Westfalen? In NRW wurde nach dem Zweiten Weltkrieg so viel gebaut wie in keinem anderen Bundesland. Zeugnisse darüber finden sich in den Bauämtern, es gibt u.a. das Ungers Archiv für Architekturwissenschaft in Köln und die (teilweise zerstörte) Sammlung des Kölner Stadtarchivs. Was es nicht gibt, ist ein Ort, der diese Bestände vernetzt. Als sich vor etwa zwei Jahrzehnten zahlreiche bekannte Architekten in den Ruhestand verabschiedeten, drohten die Entwürfe und Pläne, Zeichnungen und Modelle einer ganzen Generation auf dem Müll zu landen – einer Generation, die noch ausschließlich auf Papier gearbeitet hatte, die die Nachkriegsmoderne begründete und deren Schaffen erst seit kurzem vielerorts eine Neubewertung erfährt.

Der Gedanke an das, was da verloren gehen könnte, war den  Hochschullehrern Uta Hassler und Norbert Nußbaum schier unerträglich. Die Architekturhistoriker begannen 1995, die Lücke zu schließen. An der TU Dortmund bauten sie das A:AI auf, das Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW. In quasi letzter Sekunde retteten sie viele Nachlässe vor dem Aktenvernichter. »Anfangs gab es überhaupt keine Finanzierung, das Material lagerte in einem alten Industriegebäude«, erzählt Prof. Wolfgang Sonne, Hasslers Nachfolger am Lehrstuhl. Inzwischen beheimatet das Archiv über 50 Nachlässe von Bauingenieuren und Architekten, und es bestehen Zusagen für weitere Nachlässe, z.B. von Helge Bofinger, Walter Brune, Eckhard Gerber.

Vieles ist noch nicht katalogisiert, zugänglich ist das Archiv auf Anfrage. Doch Studierende und Wissenschaftler arbeiten seit 20 Jahren mit dem Material, haben Ausstellungen damit bestritten, zuletzt zum Werk des Bauingenieurs Stefan Polónyi. Das A:AI ist Mitglied der »Föderation deutscher Architektursammlungen«, immer wieder werden einzelne Exponate für Ausstellungen verliehen. Besonders beliebt: Eines der wenigen erhaltenen Raumstadt-Modelle von Eckhard Schulze-Fielitz, der Ende der 1950er Jahre das Konzept einer multifunktionalen, anpassungsfähigen Megastruktur für Städte entwickelte.

Die Sammlung blieb ein Provisorium – doch ein Gedanke reifte: Der Gedanke, dass das Bundesland ein eigenes Baukunstarchiv braucht, einen sichtbaren und öffentlichkeitswirksamen Ort, der Zeugnisse der Baukunst als Archiv bewahrt und in Ausstellungen und Veranstaltungen vermittelt. Die Initiatoren neben dem Dortmunder A:AI: Architekten- und Ingenieurkammer-Bau NRW, Stiftung Deutscher Architekten, Architekturforum Rheinland und die Landschaftsverbände. Vor drei Jahren gründete sich zur Unterstützung unter Schirmherrschaft des ehemaligen Landesbauministers Christoph Zöpel der »Förderverein für das Baukunstarchiv NRW«.

Ziel war ein Baukunstarchiv für NRW, das neben Architektur auch Ingenieurkunst, Städtebau und Landschaftsarchitektur in den Blick nimmt. Dafür stehen die Namen von Harald Deilmann, Josef Paul Kleihues und Stefan Polónyi. Die drei Architekten und Hochschullehrer hatten als Gründungsväter der Fakultät dafür gesorgt, dass Ingenieure und Architekten in Dortmund gemeinsam ausgebildet werden.

Zum Beispiel Kleihues: Er gehörte zu den Vorreitern eines Paradigmenwechsels im Städtebau, weg von der absoluten Verkehrsorientierung hin zur berühmten »kritischen Rekonstruktion« der Stadt. Kleihues plädierte dafür, historische Strukturen zu rekonstruieren und sich mit heutigen baulichen Möglichkeiten daran zu orientieren. Zwei berühmte Beispiele dafür sind fast täglich in den Medien: die von Kleihues neu geplanten Gebäude links und rechts des Brandenburger Tores, »Haus Liebermann« und »Haus Sommer«. Bei der Internationalen Bauausstellung 1984 in Berlin wurde Kleihues Planungsdirektor, »seine Gedanken prägen den Städtebau noch heute«, so Wolfgang Sonne.

Seine Erben wollten den Nachlass nach Dortmund geben, wo Kleihues nicht nur geforscht und gelehrt, sondern ab 1975 auch die »Dortmunder Architekturtage« etabliert und die internationale Architekten-Elite in die Stadt geholt hatte. Die Erben knüpften jedoch eine Bedingung an den Nachlass: Sie wollten ihn nur in das alte Museum am Ostwall geben, dem damaligen Schauplatz der Architekturtage. Und wieder mal war es knapp: Fast wäre der Nachlass in Berlin geblieben. Denn über dem geplanten Standort am Ostwall 7 schwebte in den vergangenen Jahren die Abrissbirne.

»Das Haus war – wie kaum ein anderes Gebäude der Stadt – ein Ort und Auslöser für Debatten über Stadt und Architektur«, beschreibt Architekturhistorikerin Sonja Hnilica, die zur Historie des Gebäudes geforscht hat. Es ist Dortmunds ältester Profanbau in der Innenstadt. Erbaut 1875 als Königliches Oberbergamt, wurde es 1911 zum Museum um- und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Das Gebäude trägt Spuren aller Bauphasen, aus der Gründerzeit etwa die Segment-
bogenfenster. Prunkstück ist der original erhaltene, seit 1911 glasge-deckte Lichthof des Museums, der zwei Weltkriege überstand.

Trotzdem wurde schon nach 1945 ein Abriss erwogen. Schon damals kämpften Dortmunder Bürgerinnen und Bürger leidenschaftlich und erfolgreich für den Erhalt. Bis die Kunstsammlung im Kulturhauptstadtjahr 2010 in den frisch renovierten U-Turm umzog, Dortmunds neues »Zentrum für Kunst und Kreativität«. Dort ist die Sammlung nun – Nicht-Dortmundern wird es wohl ewig ein Rätsel bleiben – unter dem Namen »Museum Ostwall im Dortmunder U« zu sehen.

Das Haus am Ostwall war seitdem mal Theater-Spielort, mal Festivalzentrum, zeigte einige Ausstellungen. Meist aber stand es leer. Die nahe liegende Idee, dem Baukunstarchiv dort eine Heimat zu geben, scheiterte an der Finanzierung. Auf keinen Fall wollte die Stadt die laufenden Betriebskosten für das Haus weiter übernehmen. Die 1A-Lage der Immobilie mitten im Wallring war zu verführerisch. Die Stadt wollte das Grundstück an einen Investor verkaufen, der nach dem Abriss eine Seniorenwohnanlage hätte bauen lassen.

Doch Tausende Dortmunder, darunter viele Kulturschaffende, wollten nicht aufgeben. Sie gründeten die Bürgerinitiative »Rettet das ehemalige Museum am Ostwall«, die erfolgreich um prominente Mitstreiter warb. Saxofonist Wim Wollner nahm eine CD im Gebäude auf, die musikalisch für die Rettung wirbt. Eine Online-Petition wurde gestartet, rund 8.000 Unterschriften bekam der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau zwei Monate später überreicht. Beeindruckend – und doch sinnlos in den Augen vieler Beobachter. »Der Verkauf ist längst beschlossen, die Chancen auf Erfolg der Petition sind gering«, urteilten die Ruhr Nachrichten im Juli 2013. Auch Wolfgang Sonne, der zukünftige wissenschaftliche Leiter des Baukunstarchivs, machte sich damals wenig Hoffnungen um eine Zukunft des Hauses am Ostwall: »Das Projekt war zwischendurch mausetot.«

Doch hinter den Kulissen wurde weitergearbeitet – und schließlich ein Modell gefunden: Eine gemeinnützige Gesellschaft der Initiatoren betreibt die Einrichtung gemeinsam. Und dann ging es also doch: Kurz vor Weihnachten stimmte der Rat der Stadt Dortmund, allen voran der Oberbürgermeister, für den Erhalt des ehemaligen Museums als Baukunstarchiv – unter der Maßgabe, dass das Gebäude als offenes »Haus der Baukultur« für Kulturveranstaltungen weiter zur Verfügung steht. Dafür will maßgeblich die Bürgerinitiative sorgen, die sich  nun als Verein »Das bleibt!« neu formiert hat. Die Sanierungskosten von rund  3,5 Millionen Euro übernimmt zu 80 Prozent das Land, je 10 Prozent der Förderverein und die Stadt.

Es scheint wie eine schicksalhafte Fügung: Welches Gebäude wäre besser dazu geeignet, ein Archiv zu beherbergen, das das Bewusstsein für Baukultur schärfen soll – als ausgerechnet ein Gebäude, das selbst beinah der Geschichtsvergessenheit zum Opfer gefallen wäre?

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Der Text erschien in der Februar-Ausgabe des NRW-Kulturmagazins K.West

Lese-Tipp: Sonja Hnilica: „Das alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte.“ Essen, 2014, Klartext Verlag, 19,95 Euro

Hier eine Besprechung des Buchs in den Revierpassagen.




Ideen zum Theater der Zukunft – Schlaglichter aufs Dortmunder Festival „favoriten 2014“

Es wäre ein Kunst- und Kulturzentrum, wie es Dortmund gut zu Gesicht stehen würde. Würde und wäre. Gab es hier in Dortmund nicht, wird es mutmaßlich nicht geben. Das ehemalige Museum am Ostwall (MAO) steht lange leer, kostet Geld und wird vermutlich doch als Gebäude erhalten bleiben. Die Entscheidung fällt bald. Hier also lud das Festival Theaterfestival „favoriten“ mit einem ansprechenden Ambiente zum Verweilen, zu Betrachtung und Aktion, zu Café und moderner Speise, zu Gespräch und Performance.

Es war ein temporärer Auftritt eines offenen Hauses mit Anspruch – für die Zeit des favoriten-Festivals. Und dieses hat durch seinen Umfang für Verwirrung gesorgt: Das Programmheft als Rätselbuch, durch das man sich durcharbeiten musste. Cirka 40 Programmpunkte an wahrscheinlich 30 Orten innerhalb von acht Tagen hätte man wahrnehmen können. Die Sinne fanden Beschäftigung: Man konnte hören, sehen, tasten und am Ende auch riechen, als sich durch Ben J. Riepes Installationen mit Schafen und Hühnern ein bäuerliches Geruchsfeld im MAO breitmachte.

Installation Ben J. Riepe

Installation Ben J. Riepe

Das Theaterfestival mutierte zu einem Kunstfest, also zu einer Art RuhrTriennale in Wundertütenform. Der Theaterbegriff wurde strapaziert. Das Festival ist also nicht nur neuerdings ein Kunstfest, sondern hat auch seit jeher kulturpolitische Bedeutung. Es hat einen hohen Stand bei der Politik in NRW. Sieht die sogenannte Szene das ebenso und wer ist das eigentlich im Jahr 2014? Auch darüber wurde diskutiert.

Wie sieht das Theater der Zukunft aus? fragte das „Landesbüro Freie Darstellende Künste NRW“ Besucher, die ihre Meinung in einer Box der Videokamera anvertrauen konnten. Eindeutige Visionen gibt es nicht, aber allerhand Ideen, die bereits in den 90ern formuliert wurden. Von „Mehr Theater überall“ und „raus aus den Häusern“ bis hin zu „Man sollte auch Speisen und Getränke kostenlos abgeben“.

Das Bild ist diffus, Sparten zerfließen oder verschmelzen, es gibt Nischen für alles und jeden, Spezialistenprogramme und offene Versuchsanordnungen. Am Sonntag ging „favoriten“ zu Ende, eine unaufgeregte einwöchige Party, die am Ende sperrig und komisch endete mit einem Absacker-Konzert: Achim Kämper, Jan Ehlen, Tina Tonagel & Freunde ließen den Enzian blühen.

Pro

Das Ambiente stimmt, das MAO-Gebäude ist wieder im Gespräch, das Konzept für das Festival „favoriten2014“ ist erkennbar. Es zeigt sich auch, dass ein Festivalzentrum dem der weitläufigen Spielorte vieles voraus hat. Hier sammelt sich die Gemeinde der Festivalbesucher. Man hat Zeit und Raum für Diskussion und beiläufiges Gespräch. Die Räume werden kontinuierlich verändert durch Künstler, die dem klassischen Theaterraum eher fern sind (David Rauer und Joshua Sassmannshausen, Ben J. Riepe). Es gibt Speis und Trank und die Eröffnung war gelungen, VIPS waren dort, haben gesprochen oder zumindest sich Einblicke verschaffen können.

Die Freie Szene hat Ideen und lebt in die Zukunft hinein. Das kann man der Kulturpolitik in Land und Kommune nicht oft genug beweisen. Das Publikum ist überwiegend jung und zeigt, dass auch hier keine großen Sorgen angebracht sind, Freunde und Bewunderer unterschiedlicher Kunstsparten zu verlieren. Es war zum größten Teil ein Nischenprogramm. Gezeigt wurden Versuche, Stücke, Installationen und Hör-Seh-Mischungen, die in den meisten Abendprogrammen der Theater oder anderer Veranstaltungshäuser kaum Platz finden würden.

Aber kein Großraum ohne Nische, kein Zentrum ohne Ränder, die das Große, das Herkömmliche zusammenhalten. Auch die Außenspielorte sind nicht für „das Theater“ vorgesehen oder werden umgedacht. Auf Stadterkundungen lauscht man Stimmen, wo man ein Stück Betrachtung erwartet, erlebt man das Hören, im Theater dominiert der Schatten oder wird junge Kunst zum Fragezeichengeber, im Restaurant-Obergeschoss des „U“ findet der Kolonialismus statt.

Und fast überall findet man außergewöhnliche Musik. Seien es die Klagteppiche aus Gesang, Harmonika und Posaune bei Ben J. Riepes (Tanz)installationen, die Live-Begleitungen von Performances und Tanzvariationen oder die Abschluss-Sause im MAO. Zuschauer, Zuhörer – kurz Publikum, gab es zahlreich. Fast alles war ausverkauft. Gut, es gab keine großen Hallen zu füllen; dennoch ein Erfolg, der sicher auch mit der engen Beziehung zu anliegenden Universitäten zu tun hatte, den die Festivalleitung intensiviert hatte.

Kontra

White Void Ben J. Riepe Foto: Ursula Kaufmann

White Void Ben J. Riepe Foto: Ursula Kaufmann

Jahrzehntelang war es bekannt als das Festival der freien Szene, bei dem das Publikum die besten oder zumindest interessantesten Produktionen der freien Theater Nordrhein-Westfalens erleben durfte. „Theaterzwang“ hieß es bis 2010, danach „Favoriten“, was ja schon einen Humorverlust dokumentiert. Man hat der jeweiligen künstlerischen Leitung freie Hand gelassen, sogar bei der Namensgebung. Man, das sind die Veranstalter des Festivals: das Dortmunder Kulturbüro und der Verband Freie Darstellende Künste des Landes NRW.

Nun wurde ein weiterer Schritt vollzogen, zumindest für die Fassung 2014: Es sollte keine Preisverleihungen mehr geben, kein „best of“ – und auf Eintritt hat man auch verzichtet. Das ist schon ein Schritt zu etwas ganz anderem. Die junge Leitung, Johanna-Yasirra Kluhs und Felizitas Kleine, haben ein junges Programm zusammengestellt, das sich kompatibel für das Festivalzentrum, das ehemalige Museum am Ostwall, zeigte.

Es ist nicht möglich, die gesamte Freie Szene abzubilden. Hier wurde sie selektiv behauptet. Das, was die meisten unter Theater verstehen, fand dort jedoch nicht statt. Gut, es war atmosphärisch eine gelungene Ortsentscheidung, auch kulturpolitisch, denn das Gebäude steht im Fokus und wird mutmaßlich erhalten bleiben, aber Theaterräume hat das MAO nicht oder nur sehr bedingt. Selbst, wenn man den Theaterbegriff bis zur Unkenntlichkeit erweitert, so bleiben doch deutliche Qualitätsmängel bei vielen Produktionen, die 2014 nicht dafür herhalten können, die freie Theaterszene NRWs zu repräsentieren, aber das wollte man wohl gar nicht.

Die Bildende Kunst drängt ins Theater, versucht sich an theatralischen Mitteln wie Sprache, womit sich auch eine Tanzrecherche beschäftigt. Schöne verkehrte Welt. Alles schunkelt digital durch die Grenzbereiche, aber leider ist das weder besonders auf- noch anregend. Vielleicht habe ich aber Überraschungen verpasst. „Das hättest Du sehen müssen“, ruft mir ein Kollege entgegen und meint das Stück der Gruppe Subbotik, „Die Sehnsucht des Menschen, ein Tier zu sein.“ Schöner Titel. Tut mir leid, hab ich nicht geschafft. „Ich wollt, ich wär ein Huhn“, fällt mir da ein.

Man hörte hin und wieder Stimmen, die den freien Eintritt als keine gute Idee empfanden. Das würde die freie Szene wieder in die Ecke des Freizeittheaters rücken und ihr den Wert nehmen. Andererseits lockt der freie Eintritt Zuschauer, die mal reinschauen wollen in die neue Theaterkunst. Sieht man dies als Aufbruch für zukünftige Werke der jungen freien darstellenden Szene, dann hat es seine Wirkung erzielt.

Das Publikum bestand überwiegend aus jungen Leuten, vielen Studenten, jungen Künstlern. Das „normale“ Dortmunder Theaterpublikum war nicht allzu zahlreich zu sehen. Das mag auch daran liegen, dass viele von denen tatsächlich noch Zeitungsleser sind und diese haben während des Festivals nichts über „favoriten“ berichtet. Dass trotzdem fast alles ausverkauft war, liegt also an der guten Vernetzung der Klientel und den vielfältigen elektronischen Kontaktwegen.

Eine Auswahl von Produktionen

Jens Heitjohann: „I PROMISE…- Ein Bürgerlauf über Versprechen, die wir (nie) gegeben haben.“

Wieder mal ein Spaziergang durch das Kreativviertel Rheinische Straße. Kleine Gruppen von Inner-City-Tourists treffen auf das vermeidlich Authentische: ein Gewerkschafter, bei dem man schriftlich einer Empörung Ausdruck geben und dann mit dem Protestschild umherlaufen konnte, sympathische Kinder, die einen mit Beton versiegelten Spielplatz beschreiben und zum Basteln animieren, die Erläuterung einer Umfrage zum Thema Kunst in einer Straße, das gemeinsame Lesen eines Brecht-Textes in einer ehemaligen Schulklasse und Bewegung im ehemaligen Versorgungsamt. So weitläufig das Programm, so dünn der Eindruck.

Yoshie Shibahara: Exuviae – Raum/Klang/Skulptur.

Die in  Stanniolpapier eingewickelten Korpusse haben wir schon beim Festival 2012 gesehen und für manche war der Rundgang entlang der Skulpturen bedrohlich. Liebe Apokalyptiker: Es ist nur Spiel.

MOUVOIR / Stephanie Thiersch: Memory Machine – the (an)archive – Archiv eines Archivs

Die Choreografin Stephanie Thiersch erweitert ihr künstlerisches Werk durch bildnerische Arbeit in Verbindung mit Ton und Text. Ihre „Memory-Maschinen“ sind temporärer Bestandteil des Hauses und bieten gute Gelegenheit, textliche Zwischenmahlzeiten einzunehmen. Es macht Spaß, die Aktenfresser-Reste an Wänden und Böden zu lesen, wo immer wieder Pina Bausch-Werke und -zitate vorkommen. Alles geschreddert und dadurch präsent.

Ben J. Riepe: WHITE VOID #14 / EINS bis SIEBEN – Landschaften in Bewegung.

Ben J. Riepes Installationen und Performances waren die prägenden Elemente des Hauses. Allein die Bestückung der Eingangshalle mit Echtrasen und dem „Lichtraum“ (ein krasser Gegensatz) waren das atmosphärische Entree. Hier legten sich schnell Zuschauer auf die karierten Picknickdeckchen, lasen, hörten oder picknickten eben. Auch einer Ansammlung von Nickerchen konnte man zusehen. Eine Woche lang änderten und variierten Ben J. Riepe und sein Team die Anordnung der Performances. Am ersten Abend durchquerten die Besucher Nebelräume mit tönenden Menschen und streunenden Hunden, man betrat weiße Räume im Ganzkörpernebel, durchwatete kleinräumige Überflutungen, verfolgte eine Gruppe schwarz gekleideter Personen, die ihre Musik- und Bewegungsrituale auf den Rasen pflanzten, um am Ende den Raum mit drei in sich ruhenden Schafen teilen zu können.

SEE!: Ok, Panik – Ein Rausch (am Abgrund) – mit einem musikalischen Kompensationsstrahl.

Wir sitzen in einem Raum, die Stühle stehen verteilt im Feld der Darbietung. Zwei Männer beginnen mit ihren Textkaskaden von PeterLicht, die – so heißt es im Programm – stetig und unablässig in der Stratosphäre aus Krise und Kapitalismus kreisen. Dazu sehen wir Bewegungen, die dem Tanztheater entlehnt, eher an Überbrückungsaktionen denken lassen, von Text zu Text. Die Musik spinnt den Faden. Aufrüttelndes Berühren findet nicht statt. Ein Statement, eine Petitesse.

Eike Dingler & tanz lange: Tracking Dance – Bewegung im Bild

In zahlreichen Nebenschauplätzen gehörten Gespräche, Diskussionen oder Präsentationen zum Programm für Spezialisten. So hatte die Choreografin Gudrun Lange die Möglichkeit, ihr Fotobuch, zusammen mit dem Fotografen und Designer Eike Dingler vorzustellen: Werkstatt der tanzenden Bilder. Zwischen den Geräuschen der Kaffeemaschine und Unfallfahrzeugen von der Straße war der Konzentrationsaufwand groß, aber solche Gelegenheiten gehören zu einem Festival. Nischen müssen besetzt werden.

Unusual Symptoms / Andy Zondag: somewhere – Metamorphosen.

Andy Zondag, Stefan Kirchhoff, Julia Schunevitsch und Justus Ritter bespielen und betanzen einen Raum, der sich auch hier mit Nebel füllt. Untermauernde Musik begleiten die zwei Tänzer auf ihrem Weg der Tanzverweigerung. Am Ende zittern die Körper, die kunstvoll geschmiedete Musik trägt den Rhythmus und am Ende sehen wir eine überflutete Landschaft in Bangladesch – entstanden aus zusammengefegtem Konfetti.

subbotnik: Die weiße Insel – ein Erzählabend mit Musik.

Die Herren von „Subbotnik“ klappen nach einem musikalischen Intro, unterstützt durch „eine klavierspielende Mutter“ ihre Manuskripte auf und lesenspielen – unordentlich weiß geschminkt – eine Expedition zum Nordpol (1896). Studentisches Theater in nostalgischer Formgebung.

Copy & waste – Enyd Blython

Hinter einem Gazevorhang: Ein Darsteller nimmt Mahlzeiten ein und….?. Davor im Grünen: ein Picknickkorb und weitere Requisiten. Man vernimmt eine Hörversion aus Enid Blytons Romanwelt.

bodytalk "Frauenbewegung" Foto: Klaus Dilger

bodytalk „Frauenbewegung“ Foto: Klaus Dilger

bodytalk: Frauen~Bewegung – Emanzipatives Tanztheater mit Livemusik.

Bodytalk mit einem Flashback-Cocktail: Am Ende ein wenig Rocky Horror Picture Show, ist „Frauenbewegung“ alles in allem eine rücksichtslose, wilde Tanztheaterperformance, es gibt Remake-Flash-backs ans Ende der 90er, Trash, Tanz, Drama, Revue. Hosen runter, Brüste raus! mit gut gelungen Cover-Versionen von Donna Summers „I feel love“, „I don’t want to fall in love“ (Chris Isaac) und Grace-Jones-Adaptionen von „Walking in the rain“ und „Nightclubbin“.  Die bemerkenswerten Tänzer und Darsteller fetzen und powern – unterbrochen von biografischen Schnipseln und einer Pausenirritation, in der die Männerhausidee propagiert wurde. Ein Abend mit viel Action und einer vortrefflichen Vorlage zur Diskussion für und wider. In der Mitte findet sich kein ruhiger Ort.

Naoko Tanaka: Absolute Helligkeit – Installation – Performance.

Es ist dunkel im Studio des Schauspielhauses. Eine grazile Japanerin erscheint, entledigt sich ihrer Turnschuhe und betritt ihre Installation aus einem umgekehrten Stuhl, einigen Gebilden und Objekten. Sie nimmt einen langen Lichtstab und leuchtet in die Objekte, um sie herum und auf und ab. Wir sehen Schatten an den weißen Wänden. Es ist ausverkauft. Schattenspiele. Objektkunst live. Die Menschen applaudieren kräftig. Ich gehe eine Rauchen und frage mich, ob ich noch in diese Welt passe. Vielleicht sollte ich doch noch einen Banküberfall konzipieren, aber selbst da gibt’s ja kein Geld mehr, sondern nur noch Kulisse.

kainkollektiv & OTHNI Laboratoire de Théâtre Yaoundé: Fin de machine / Exit.Hamlet – Eine deutsch–kamerunische Grenzüberschreibung.

Vorschlaghammer Foto: S. Hoppe

Vorschlaghammer Foto: S. Hoppe

Ich sehe im Dortmunder U (View) eine Theatersituation, die ich dort nicht für möglich gehalten habe. Geht doch. Ich sehe eine ambitionierte Kooperation von kainkollektiv mit Bühnenpersonal aus Kamerun. Ich höre Französisch und deutsche Übersetzungen. Ich lese Übertitel. Ich sehe, wie der Tonmann an seinen Geräten geradezu ausflippt, wenn seine live produzierten Elektrotöne durch den Raum hüpfen, eine eigene Performance. Ich sehe Aufklärungstheater, Geschichtsunterricht und zeitgenössisches Theaterspiel in afrikanisch-europäischem Mix. Ich sehe und höre Kolonialismus-in-Kamerun und spüre, dass ich mich unwohl fühle.

vorschlag:hammer: Mori no kokyu. Das Atmen des Waldes – Ein Japan–Abend ins Offene

Geht man ins Dortmunder Schauspielhaus, wundert man sich über gar nichts mehr, denn unübliche Formen und Raumgestaltungen sind dort an der Tagesordnung. Die Gruppe vorschlag:hammer schafft eine „Insel der Kunst, der Vergemeinschaftung und des Lebens an sich“. Man erlebt ein sehr kurioses Stück Theater. Seltsame Gestalten in verschiedensten Verkleidungen, alles irgendwie japanisch, alles irgendwie nah einer Katastrophe, rätselhaft und doch nicht fern von uns. Nach einem Karaoke-Vorspiel, wird das Publikum auf die Hinterbühne gebeten. Auf künstlichem Stroh sitzen wir, bekommen Brot vom Buttermeister und Tee, der erst abkühlen musste. Man darf Tropfen fangen und ansonsten den eigenartigen Gestalten zusehen wie sie fast nichts machen, was zielführend sein könnte. Leider fallen die Sprachpassagen deutlich ab. Die Kraft der Bilder dominiert.

 




Freies Theaterfestival „Favoriten 2014“ in Dortmund – Chaos, Krise, Kreativität

Black Box auf echtem Rasen, von innen gleißend weiß. Foto: Katrin Pinetzki

Black Box auf echtem Rasen, von innen gleißend weiß. Foto: Katrin Pinetzki

Es riecht erdig im ehemaligen Museum am Ostwall: Die große, lichte Eingangshalle ist mit Rasen ausgelegt. Picknickdecken liegen bereit. In der Mitte: ein schwarzer, begehbarer Kubus. Wer neugierig die Tür öffnet, stößt einen überraschten Schrei aus: Innen blendet gleißend weißes Licht, auch Wände, Boden, Decken: weiß. Ein Stuhl in der Mitte lädt ein, der extremen Sinneserfahrung nachzuspüren – und das umgebende Nichts mit Bedeutung zu füllen.

Im 29. Jahr seines Bestehens bricht das Festival „Favoriten“ gleich mit mehreren Traditionen. Das freie Theaterfestival, eines der wichtigsten in NRW, ist unter der jungen künstlerischen Leitung von Felizitas Kleine und Johanna-Yasirra Kluhs erstmals kein Wettbewerb. Die Künstler konkurrieren nicht, sondern wohnen, arbeiten, feiern zusammen und sorgen für Begegnungen mit den Besuchern – in der ganzen Stadt, vor allem aber im ehemaligen Museum am Ostwall, das nach dem Umzug des Kunstmuseums ins Dortmunder U derzeit (noch) leer steht. Eine Zukunft des Gebäudes als Baukunstarchiv NRW ist dank des bürgerschaftlichen Engagements inzwischen so gut wie sicher.

Dieses ehemalige Museum also ist Festivalzentrum, und dort wird in diesem Jahr weniger Theater gespielt als vielmehr mit theatralen Mitteln darüber reflektiert. Das ganze Gebäude mutiert zur Performance-Bühne und zum Erfahrungsfeld, es ist eine Woche lang (bis 1. November) kaum wiederzuerkennen. Schon vor der Eingangstür die erste Installation, ein Tunnel mit Sitzgelegenheiten aus Sperrholz, ein DJ legt auf und lädt Besucher wie Passanten ein, eine Weile zu bleiben. „Titel: In Arbeit. Ein Festivalumbau“ heißt diese Arbeit von David Rauer und Joshua Sassmannshausen. Weitere Werke der beiden finden sich im Haus – sie sind Recyclingkünstler und haben mit jeder Menge Witz kleine und große Skulpturen eingeschleust, materielle wie immaterielle. Ziel eigentlich aller Festivalkünstler ist es, mit Besuchern ins Gespräch zu kommen, sei es durch eine Partie Backgammon, eine kleine Massage, Maniküre oder eine waghalsige Kletterpartie auf einem raumfüllenden Sperrholzsteg.

Einige Dortmunder wurden im Vorfeld des Festivals über ihr Verhältnis zu Theater interviewt, die Antworten laufen als Endlosschleife in der Galerie im Erdgeschoss. „Woran denken Sie bei modernem oder freiem Theater?“, wird da eine junge Frau gefragt, die sich als „klassisch angehaucht“ bezeichnet. „Chaos!“, antwortet sie prompt.

Tatsächlich: Bei einem Rundgang durchs Haus geraten Besucher leicht in Verwirrung. Wer ist hier Besucher, wer Künstler? Welcher Raum ist wem zuzuordnen? Bei dieser 16. Auflage des Festivals ist das eigentlich egal, einzelne Arbeiten ordnen sich dem Gesamt-Eindruck unter. Das kreative Chaos entsteht durch den höchst produktiven Mix der Kunstformen. Traditionelle Theater-Erfahrungen werden unterlaufen – etwa von der Düsseldorfer Ben J. Riepe Kompanie, die an jedem Tag des Festivals vier Räume neu und anders bespielt. Zur Eröffnung am Samstag waberten Kunstnebel und Obertöne durch die weißen Räume; die Darsteller standen, hockten, lagen oder gingen, einzelne Töne singend, umher. Während sich die Klänge vereinten und mal traumhaft-melancholische, mal schrille Mehrstimmigkeit produzierten, stromerte ein Dutzend gut erzogener Hunde neugierig schnuppernd zwischen Besuchern und Performern umher – eine Einladung, Augen und Ohren zu öffnen und den Kopf ganz frei zu machen von Erwartungen.

Raum-Klang-Skulptur "Exuviae" von Yoshi Shibahara. Foto: Katrin Pinetzki

Raum-Klang-Skulptur „Exuviae“ von Yoshi Shibahara.
Foto: Katrin Pinetzki

Auch die einzige Produktion mit festen Beginn und festem Ende hatte keinen definierten Bühnen- und Zuschauerraum. Die Kölner Choreografinnen „SEE!“ setzten in „Ok, Panik“ einen wie gewohnt kapitalismuskritischen Text des Musikers und Autors PeterLicht in Szene. Während ein Musiker versuchte, den Klang des kapitalistischen Grundrauschens festzuhalten (brummend, bassig, rhythmisch, penetrant präsent), tanzten zwei Darsteller durchs Publikum, zunächst wie von unsichtbaren Fäden gezogen, später zunehmend selbstbewusst mit der Erkenntnis: Auch die Krise ist ein Produkt! Sie ist käuflich!

Die neue Generation der Festivalleitung hat zumindest am Eröffnungsabend ein neues, junges Festivalpublikum angezogen. Krise? Kaum.

Bis 1. November in Dortmund, Infos und Programm hier




Die fast unbekannte Baugeschichte des alten Ostwall-Museums – ein Buch zur rechten Zeit

Eigentlich kaum zu begreifen: Die Baugeschichte des über Jahrzehnte wichtigsten Dortmunder Kunstortes war bis in die jüngste Zeit weitgehend unbekannt. Jetzt soll ein neues Buch endlich Klarheit schaffen, möglichst mit raschen Wirkungen über die hehre Wissenschaft hinaus. Denn in Dortmund wird immer noch um die Erhaltung des früheren Ostwall-Museums gerungen – neuerdings mit deutlich besseren Aussichten.

Nun aber der Reihe nach. Die eingehende Untersuchung der Dortmunder Architektur-Dozentin Sonja Hnilica trägt den nüchternen Titel „Das Alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte“. Der Band ist in staunenswertem Tempo (ein knappes Jahr von der Idee bis zum fertigen Buch) vom Essener Klartext Verlag produziert worden und fördert Erkenntnisse zutage, die unbedingt gegen einen immer noch möglichen Abriss des Gebäudes sprechen. Klartext-Verleger Ludger Claßen gibt sich indes keinen allzu großen Illusionen hin: Früher habe man sich mit Büchern wirksamer in öffentliche Diskussionen einmischen können.

Museum Ostawall_18.8.2014.inddDie allermeisten Menschen halten das Haus am Ostwall für einen typischen, eher schmucklosen Nachkriegsbau. Doch es verhält sich anders: Hinter der gelblichen Klinkerfassade stehen noch wesentliche Teile des alten Mauerwerks aus den Ursprungsjahren. Von 1872 bis 1875 errichtet, beherbergte der vom Architekten Gustav Knoblauch entworfene Bau zunächst das Königliche Oberbergamt, 1911 wurde die Behörde zum Städtischen Kunst- und Gewerbemuseum umgebaut. Unter Ägide des Stadtbaurats Friedrich Kullrich entstand dabei jener wundervolle Lichthof mit Glasdach, den es in ganz ähnlicher Form noch heute gibt; wie denn überhaupt der anfängliche Grundriss weitgehend erhalten geblieben ist.

Auch wenn es von außen nicht den Anschein hat: Das vormalige Ostwall-Museum darf im Kern als ältester Profanbau innerhalb des Dortmunder Wallrings gelten, nur die Kirchen sind früher entstanden.

Die heutige „Außenhaut“ des Gebäudes geht allerdings auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Als Dortmund in Trümmern lag, war es vor allem der Beharrlichkeit der Leiterin Leonie Reygers zu verdanken, dass ab 1947/49 am Ostwall erneut ein Museum entstehen konnte – nun allerdings als reines Kunstmuseum ohne kulturgeschichtliche Nebenlinien. Anfang 1949 gab es am Ostwall wieder die erste Kunstausstellung, bei laufendem Betrieb gingen die Umbauarbeiten bis 1957 Schritt für Schritt weiter.

Eventuell hätte man das Haus im alten Stil wieder aufrichten können, doch diese Option ist offenbar nie ernsthaft erwogen worden. Ganz bewusst hat Leonie Reygers die Zeichen auf Bescheidenheit gestellt. Es sollte kein womöglich einschüchternder, historisierender Imponierbau entstehen, sondern ein einladender, äußerlich schlichter Zweckbau, quasi im Geiste der noch ungefestigten Demokratie. Immerhin wurden solide Materialien verwendet.

Teilansicht des alten Ostwall-Museums im jetzigen Zustand (Aufnahme vom 30. September 2014). (Foto: Bernd Berke)

Teilansicht des alten Ostwall-Museums im jetzigen Zustand (Aufnahme vom 30. September 2014). (Foto: Bernd Berke)

Mag sein, dass man eine derartige Entscheidung heute anders treffen und im Stile des 19. Jahrhunderts restaurieren würde. Tatsache bleibt, dass der Bau – gleichsam schichtweise – eine wechselvoll verwobene Geschichte mit Signaturen verschiedener Epochen darstellt. Im Gegensatz zur bisher vorherrschenden Auffassung müsste man deshalb nachdrücklich für Denkmalschutz plädieren. Das mit Vorkriegs-Relikten wahrlich nicht reich gesegnete Dortmund würde sich bundesweit unsterblich blamieren, wenn hier die Abrissbagger kämen und an selbiger Stätte ein Seniorenzentrum entstünde.

Für ein solches Buch wird es also allerhöchste Zeit, bezieht es sich doch auf einen seit Jahren schwelenden Dortmunder Streitfall: Immer wieder hat der Dortmunder Stadtrat in den letzten Monaten eine endgültige Festlegung übers Ostwall-Museum vertagt. Die nächste Sitzung steht an diesem Donnerstag auf dem Plan.

Täuscht man sich, oder darf die Zögerlichkeit vor einem endgültigen Entscheid allmählich als Hoffnungszeichen gedeutet werden? Professor Wolfgang Sonne, an dessen Dortmunder TU-Lehrstuhl die vorliegende Studie entstanden ist, sagte zur Buchvorstellung mit aller Vorsicht, es werde wohl auch jetzt keine „Guillotinen-Entscheidung getroffen“. Nach derzeitigem Stand dürfe man sogar hoffen, dass das Gebäude „noch in diesem Jahr gerettet werden kann“.

Das einstige Kunst-Domizil steht seit dem Umzug der Bestände zum „Dortmunder U“ leer. Lichtblick: Ab 25. Oktober soll der Bau als Zentrum des Theaterfestivals „Favoriten 2014“ (Treffen der freien Szene NRW) dienen. Dennoch: Bislang droht immer noch ein Abriss, ein entsprechender Ratsbeschluss müsste mit neuer Mehrheit rückgängig gemacht werden, um am Ostwall den Weg für ein NRW-Baukunstarchiv mit Nachlässen einflussreicher Architekten frei zu machen. Hinter den Kulissen wird eifrig über Kosten und Konzepte verhandelt.

Sonja Hnilica: „Das Alte Museum am Ostwall. Das Haus und seine Geschichte“. Klartext Verlag, Essen. 144 Seiten, Broschur, zahlreiche (z. T. farbige) Abbildungen, 19,95 Euro.




Gastbeitrag: „Warum der Museumsbau am Ostwall nicht abgerissen werden darf“

Dem Gebäude, das früher das Dortmunder Museum am Ostwall beherbergt hat, droht der Abriss. Unsere Gastautorin Sabine Schwalbert hat für den Erhalt des Baus eine Online-Petition gestartet, die bis zum Schlusstag (18. September 2013) von 5115 Menschen unterzeichnet wurde und – zusammen mit weiteren Unterschriften – dem Rat der Stadt Dortmund übergeben werden soll. Hier erklärt sie, was sie zu der Petition und zum weiteren Engagement bewogen hat:

Dortmund im Jahr 1947: Die Innenstadt ist nach dem Zweiten Weltkrieg zu mehr als 90 Prozent zerstört. Experten erwägen zunächst, Dortmund an einem anderen Ort komplett neu aufzubauen. Nach einem äußerst harten und kalten Winter 1946/47, der viele Todesopfer forderte, fehlt es nicht nur an Geld, Bau- und Heizmaterial, sondern auch an Lebensmitteln und Kleidung. Tausende Menschen hausen in Notunterkünften oder sind bei Verwandten einquartiert.

Blick aufs Museumsgebäude am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Blick aufs Museumsgebäude am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

In dieser prekären Gesamtsituation beschließt der Rat der Stadt, das im Krieg beschädigte Museum am Ostwall wieder aufzubauen. In den folgenden Jahren wird der Bau sukzessive hergerichtet. Als eines der ersten Museen in der jungen Bundesrepublik zeigt das Museum, das konsequent das Konzept der „Weißen Wand“ verfolgt, in seinen ersten Ausstellungen sogenannte „Entartete Kunst“ – Kunstwerke, die in der Nazizeit verboten und nicht zu sehen waren. Es war ein Signal für den Aufbruch in eine neue, demokratische Gesellschaft, in eine neue Zeit.

All das wusste ich nicht, als ich das Museum am Ostwall für mich entdeckte. Ich weiß auch nicht mehr genau, wann ich das erste Mal dort war. Es ging mir aber ähnlich wie Benjamin Reding, in Dortmund aufgewachsener Filmregisseur: „In meiner Kindheit und Jugend war das Museum am Ostwall für mich so etwas wie eine blühende Insel der Kultur im aschgrauen Asphalt des Ruhrgebiets der Siebziger. Das stille Haus mit dem wundervollen Garten, seinem großzügigen Lichthof, den Kieselböden, der Gabel-Plastik von Wolf Vostell und den mechanischen Zähneputzern hat mich tief beeindruckt…“

Hier konnte man Fluxus-Kunst kennen lernen, ohne vorher zu wissen, was das überhaupt ist. In den 80er und 90er Jahren, wurde ich zum Stammgast in diesem schlichten Haus, das den Besucher so ohne großes Brimborium einfach einlud und einließ. Nach ein paar Schritten stand man mitten im Lichthof und war von Kunst umgeben. Es gab viele, nicht immer hochklassige, aber immer interessante Ausstellungen, in der Bibliothek habe ich oft gesessen und Designzeitschriften durchgeblättert, die ich mir damals als Studentin nicht leisten konnte.

Später verlor ich ein wenig den Kontakt zum Haus. Nach dem Umzug der Sammlung in das umgebaute „Dortmunder U“ war ich sicher, dass sich eine neue Verwendung für das alte Haus finden würde. Denn dieses Haus ist einfach ein Stück Dortmund, fest verwurzelt in dieser Stadt, von außen bodenständig, aber mit immensen inneren Werten. Und es tritt hinter den Werken, die es präsentiert, mit seiner schlichten und doch eindrucksvollen Architektur immer zurück.

Viele Dortmunder meiner Generation haben noch die unrühmliche Geschichte der alten denkmalgeschützten Bibliothek deutlich vor Augen: Nach dem Abriss wegen Asbestbelastung hatten wir jahrelang mitten in der Stadt eine Brachfläche, jetzt steht dort ein mehr oder minder gesichtsloses Kaufhaus. Sollte sich diese Geschichte mit dem Abriss des alten Museums wiederholen?

„Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.“ Diesen Ausspruch von Hanns-Joachim Friedrichs haben wohl alle verinnerlicht, die journalistisch unterwegs sind, aber: Sind nicht auch wir Journalisten Bürger, die politische Entscheidungen grundfalsch finden können? Und wer, wenn nicht wir und andere Kulturschaffende, sollte auf solche Fehlentscheidungen hinweisen? Ich habe die journalistische Leitlinie von Hanns-Joachim Friedrichs letztendlich gebrochen und habe klar Stellung bezogen. Reißen wir dieses Haus ab, treten wir die Arbeit der Wiederaufbaugeneration mit Füßen und verlieren obendrein ein wertvolles Haus zu Gunsten von wahrscheinlich architektonisch durchschnittlichen Wohn- oder Büroflächen.

Mich in dieser Sache einzumischen, eine Petition gegen den Abriss zu starten und mich auch weiterhin zu engagieren war eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe. 5115 Menschen – nicht nur aus Dortmund – haben unterschrieben. Doch mit der erfolgreichen Petition allein ist es leider noch nicht getan.

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Hintergrund

Bericht vom November 2012 in den Revierpassagen
Bericht vom Mai 2013 in www.derwesten.de




Abriss oder Architektur-Archiv: Was wird aus dem früheren Ostwall-Museum?

Es gibt Betrübliches von einer „prominenten“ Dortmunder Baulichkeit zu berichten. Das frühere Dortmunder Museum am Ostwall (dessen Bestände bekanntlich ins „Dortmunder U“ umgezogen sind) gammelt allem Anschein nach erbärmlich vor sich hin.

Schon der flüchtige Laienblick von außen lehrt jedenfalls das Gruseln. Rundum sprießt Vegetation durch die Ritzen zwischen den Steinen, ginge es so weiter, könnte irgendwann die „Natur“ das ganze Areal zurückerobert haben.

Rückseite des früheren Museums am Ostwall im Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Rückseite des früheren Museums am Ostwall im Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Die Freitreppe hinterm Haus ist in einem kläglichen Zustand. Zwischenzeitlich sind hier angeblich Drogengeschäfte abgewickelt worden, das verwahrloste Ambiente hat sich wohl geradezu dafür angeboten. Die Plastiken im kaum gepflegten Gartenbereich sind nicht nur von Sprayern versaut worden, sondern dümpeln bei entsprechender Witterung auch in Wasserlöchern. An der Frontseite zum Ostwall hin zeigt sich der schmucklose Bau noch einigermaßen präsentabel, wenn auch schon die ersten Buchstaben der Aufschrift gestohlen worden sind. Vorne hui…

Ein bisschen Schwund ist immer: Schriftzug des Museums, Zustand Ende Oktober 2012 (Foto: Bernd Berke)

Ein bisschen Schwund ist immer: Schriftzug des Museums, Zustand Ende Oktober 2012 (Foto: Bernd Berke)

Dabei heißt es, dass zwischenzeitlich schon etwa 800.000 Euro in die Sanierung gesteckt worden seien, um das Gebäude z. B. für eine etwaige Veräußerung aufzuhübschen. Ein Investor zeigt sich kaufbereit, will aber das frühere Museum abreißen und statt dessen Seniorenwohnungen errichten. Ob die Stadt solchen Lockungen nachgibt? Eigentlich war der Verkauf der Immobilie schon Ende 2010 beschlossene Sache. Doch dann haben sich die Kräfte verschoben: Es gibt eine womöglich reizvolle Alternative, die freilich bestens durchgerechnet werden muss.

Plastik im Restgrün-Bereich ums frühere Ostwall-Museum, Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Plastik im Restgrün-Bereich ums frühere Ostwall-Museum, Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Das Ostwall-Museum ist – wie gesagt – im Oktober 2010 ins heute immer noch seltsam unfertige, gleichwohl sündhaft überteuerte „Dortmunder U“ (früherer Brauereiturm) umgezogen. Schon lange währt das Gezerre darum, was aus dem leeren Gebäude werden soll. Anfangs hatte es geheißen, die stetig gewachsene Jüdische Gemeinde könne das Objekt nutzen, nun ist seit geraumer Zeit von einem „Baukunst-Archiv NRW“ die Rede. Ein Kernbestand für eine solche Einrichtung befindet sich bereits in der Stadt: An der Universität (TU) werden seit 1995 Nachlässe von etwa 50 bedeutenden Architekten betreut. Es wäre ein Signal, wenn all dies und vielleicht mehr mitten in die Stadt rückte. Der Dortmunder Professor Wolfgang Sonne hat denn auch die Archiv-Idee ins Gespräch gebracht. Ein solches Institut in einer Stadt, in der etliche Kahlschläge und Bausünden zu besichtigen sind – das hätte gerade was! Es wäre zwar längst nicht so populär, aber gleichsam origineller als das künftige Deutsche Fußball-Museum, das quasi jedermann just in dieser Stadt erwarten würde.

Man hofft inständig, dass das Land NRW mindestens 80 Prozent der Umbaukosten fürs Baukunst-Archiv bezahlt. Die Entscheidungen zogen und ziehen sich hin, sowohl in Düsseldorf als auch in Dortmund. Offensichtlich und aus nachvollziehbaren Gründen scheuen die Kommunalpolitiker jedes Risiko, hier einen weiteren, schwer kalkulierbaren Kostgänger heranzuzüchten. Dies wäre in der verschuldeten Stadt auch schwerlich zu vermitteln.

Andere Ansicht des früheren Museums am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Andere Ansicht des früheren Museums am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Es müsste also eine tragfähige Konstruktion mit Förderverein und eventuell mit Landeszuschüssen gefunden werden, mit denen die laufenden Kosten (ca. 300.000 Euro im Jahr, andere Schätzungen lauten auf 425.000 Euro) zu stemmen wären. Vor allem der ehemalige Bauminister Prof. Christoph Zöpel macht sich beim Förderverein, der im Juli in Düsseldorf begründet wurde, fürs Dortmunder Baukunst-Archiv stark. Auch Dortmunds früherer Baudezernent Klaus Fehlemann gehört zu den entschiedenen Befürwortern. Oberbürgermeister Ullrich Sierau und Kämmerer Jörg Stüdemann zeigen sich gleichfalls keineswegs abgeneigt; wenn es denn für die Stadt kostenneutral ausgeht…

Mit realistischen und belastbaren Vorschlägen zur Finanzierung eilt es jetzt wahrlich. Am 15. November soll im Dortmunder Rat (Sitzung ab 15 Uhr) die endgültige Entscheidung fallen. Wenn bis dahin nichts Vernünftiges auf dem Tisch liegt, dürfte es wohl doch zum Abriss kommen. Für diesen Fall kann man sich die hämischen Kommentare der überregionalen Presse schon ungefähr ausmalen. Auch kann man sich lebhaft vorstellen, welchen Sturm der Entrüstung ein vergleichbarer Vorgang in Städten mit starkem Bürgertum auslösen würde.




Zum Tod des Fotokünstlers Bernhard Blume: Erinnerung an eine Dortmunder Ausstellung von 2006

Der 1937 in Dortmund geborene Fotokünstler Bernhard Blume ist mit 73 Jahren in Köln gestorben. Aus diesem Anlass eine Erinnerung an eine Dortmunder Ausstellung:

Dortmund. Ja, was machen d i e denn da?! Wir sehen ein Paar im ehedem romantischen deutschen Wald. Der Mann kniet in anbetender Haltung vor einem Baum, später wird er gar himmelwärts fahren. Derweil hängt die Frau hilflos im Geäst, zappelt eingeklemmt zwischen zwei Stämmen oder saust unsanft hernieder.

Die fotografisch auf großen Schwarzweiß-Tafeln festgehaltene Groteske füllt jetzt den Lichthof des Dortmunder Ostwall-Museums. „Metaphysik ist Männersache“ heißt die Arbeit von Anna und Bernhard Blume. Das ist, wie eigentlich alles bei den Blumes, ironisch gemeint. Bernhard Blume erklärt: „Männer schwelgen schnell in abstrakten Theorien, Frauen bleiben selbst beim Philosophieren bodenständig.“ Er selbst ist freilich in Dortmund geboren und aufgewachsen, also kraft westfälischer Herkunft eben doch ein Mann, der nicht so leicht abhebt…

15 Fotoserien und zahlreiche Zeichnungen des renommierten Künstler-Ehepaares sind jetzt in Dortmund zu sehen. Beim Rundgang kommt man aus dem Grinsen kaum heraus. Denn es ist durchweg hellwache und witzige Kunst.

Noch in den 70er Jahren, in der Wohnung von Bernhard Blumes Mutter zu Dortmund-Kley, ist die Fotoreihe „Ödipale Komplikationen“ entstanden. Da tollt er mit ihr geradezu krähend haltlos auf einem alten Sofa herum, auch schäkern und tanzen die beiden. Die Szenenfolge flimmert zwischen spießiger Gemütlichkeit und orgiastischem Spaß. Zum Piepen jedenfalls! Und man darf Bernhard Blume glauben, wenn er feixend anmerkt: „Ich hatte übrigens nie einen Ödipus-Komplex, da war nichts mit Mami.“

Mit seiner Frau Anna hat er eine nicht minder verrückte „Mahlzeit!“ (Titel) eingenommen. Liturgische Anspielungen vermengen sich in dieser Bilderserie mit niederer Alltäglichkeit. Kartoffel-Quadrate im Mund verformen die Gesichter. Das Ganze endet im blitzartigen Erbrechen, von der Fotolinse gnädig unscharf erfasst. Bei der „Vasenekstase“ fliegt Bernhard Blume mit dem Gefäß schräg und fast surreal durchs Zimmer. Die Wirklichkeit ist tückisch, es fließen so manche Energieströme zwischen Mensch und Dingwelt. Dabei scheint es auch Anflüge ungeahnter Befreiung zu geben; ganz so, als könnte die lästige Schwerkraft auch mal nachlassen.

„de-konstruktiv“ heißt die ganze Schau. Tatsächlich werden hier, im frech-fröhlichen Sinne der Aktionskunst aus den 60er Jahren, starre Gegebenheiten, Gewohnheiten und (kleinbürgerliche) Rituale aufgebrochen, zum Tanzen gebracht – stets freundlich lächelnd, was allerdings auch enthüllend wirken kann: In einem Konvolut von Bleistift-Zeichnungen hat Anna Blume die konstruktivistisch« Moderne (Malewitsch, Mondrian etc.) verulkt. Deren Geometrien wirken, als Muster auf T-Shirts verewigt, nur noch wie billige Dekoration. Wie furchtbar ernst und wichtig sich die Urheber damals genommen haben, dokumentieren daneben ihre gesammelten Lehrsprüche.

Seit einiger Zeit arbeiten die Blumes mit digitaler Fotoausrüstung. Früher haben sie ihre herrlichen Farcen vor dem Ablichten penibel planen müssen, heute hilft die Nachbearbeitung am Computer. Bernhard Blume: „Von solchen Möglichkeiten haben wir immer schon geträumt.“

„de-konstruktiv. Bilder aus dem wirklichen Leben“. Dortmund, Museum am Ostwall. 19. Nov. bis 11. Feb. 2006. Geöff. Di/Mi/Fr 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 3 Euro, Katalog 24,80 Euro

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Infos
• Bernhard Blume wurde 1937 in Dortmund geboren, seine Frau Anna im selben Jahr im westfälischen Bork.
• Die beiden lernten sich in den 50er Jahren bei einem VHS-Zeichenkursus im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus kennen.
• Bernhard Blume arbeitete damals einige Jahre lang in Dortmund als Maler für Kinoplakate: „Das war Akkordarbeit“, sagt er.
• Die Blumes leben seit Jahrzehnten in Köln. Doch Bernhard Blume sehnt sich mitunter nach seiner Heimatstadt: „Ich hänge an Dortmund.“

Ausriss der WR-Kulturseite vom 18.11.2006 (Foto zum Zeitungsartikel: Ralf Rottmann)

Ausriss der WR-Kulturseite vom 18.11.2006 (Foto zum Zeitungsartikel: Ralf Rottmann)

(der Artikel – siehe auch Repro-Ausschnitt – stand am 18. November 2006 in der „Westfälischen Rundschau“, das Foto zum Zeitungsbericht stammt vom WR-Kollegen Ralf Rottmann)




Kartoffelchips und Kunstgeschichte – Der Bildhauer Thomas Rentmeister und seine Lebensmittel-Skulpturen am Dortmunder Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Mhh, lecker!? Die neue Ausstellung im Dortmunder Ostwall-Museum besteht zu weiten Teilen aus essbarem Material. Doch das Wachpersonal wird verschärft aufpassen, dass nichts angeknabbert wird.

So schafft man sich ein künstlerisches Markenzeichen: Skulpturen von Thomas Rentmeister (41) bestehen beispielsweise aus Nuss-Nougat-Creme, Zucker oder Hühnereiern. Ob Formen und Gerüche sich bis zum Ende der Dortmunder Ausstellung im April halten, wird sich erweisen. Derlei verderbliche Stoffe verweigern sich jedenfalls dem auf dauerhafte Werte versessenen Kunstmarkt.

Im Lichthof wird man von zwei noch halbwegs dezent duftenden Hügeln empfangen: Ein mächtiger Haufen Kartoffelchips erhebt sich gelblich wie Herbstlaub, die ähnlich sorgfältig aufgeschütteten Erdnussflips spielen eher ins Bräunliche. So richtig zum schlaraffigen Hineinwühlen, wenn man’s denn dürfte. Übrigens: Nach der Ausstellung soll das alles zu Tierfutter verarbeitet werden.

Die Kellerpartys der 60er und 70er

Hintergedanke für Fachkundige: Skulptur definiert sich durch ihr Verhältnis zum Raum. Hier durchdringt der luftige Raum die lockeren Strukturen der Lebensmittel. Auch daher rührt der rätselhafte Ausstellungstitel „Die Löcher der Dinge“.

Natürlich haben solche Sachen Anspielungs-Charakter, sie wecken Assoziationen. Rentmeister sagt, er beziehe sich auf Jugenderinnerungen an die 60er und 70er. Die besagten Chips und Flips dürften mit neckischen Kellerpartys jener Zeiten zu tun haben. Der handwerklich versierte Künstler hat eine türlose Holzhütte gebaut, aus der entsprechender Party-Lärm (mit Blasmusik) dringt. Die eigens angefertigten Fenster mit falscher Butzen-Gemütlichkeit zitieren Baumarkt-Scheußlichkeit verflossener Jahre.

Rentmeister: „So etwas gibt’s nicht mehr. Heute sieht Hässlichkeit anders aus.“

Der Künstler macht nicht den Eindruck, als werde er von Psychodramen gequält. Spielerisch, doch auch formstreng geht er mit täglichem Konsumgut und Symbolik um. Ein Anflug von von Besessenheit ist auch dabei. Der Mann ist kein Scharlatan.

Albträume für Putzwütige

Eine Raumflucht ist angefüllt mit Dutzenden von kleinen Kinder-Einkaufswagen aus dem Supermarkt. Alle sind randvoll mit rohen Eiern. Eine gestaute Prozession, weit jenseits des Kaufwahns, fragil und schon durch schiere Fülle reichlich grotesk.

Nusscreme-Häufchen, auf fünf museale Sockel gekleckert, werden auf diese Weise: beinahe nobilitiert. Ein altbekannter Effekt seit Marcel Duchamp. Überhaupt ließe sich manche zittrige Linie in die Kunstgeschichte ziehen, z. B. zum Minimalismus oder zurPop-Art. Rentmeister hat ausgediente Kühlschränke nahezu kubistisch arrangiert und die Lücken mit Babycreme verspachtelt. Ganz Kühne denken da vielleicht sogar anCaspar David Friedrichs“ berühmtes Eisschollen-Bild „Die gescheiterte Hoffnung“.

Albträume für Putzwütige mit leichtem Ekelfaktor: ein mit düsenfeinen Zahnpasta-Resten bespuckter Spiegel (sieht irgendwie ästhetisch aus), daneben ein Berg benutzter Papiertaschentücher, ein mit Zucker vollgeschüttetes Bett. Und diese Bescherung: Unter eingedellter Plexiglaskuppel türmt sich ein chaotischer weißer Berg aus Unterwäsche, Zucker, Minzbonbons, Waschpulver. Der Künstler spricht lachend von einer „weißen Sauerei“.

Jetzt bitte keine müden Scherze über diensteifrige Reinigungskräfte im Museum!

5. Feb. bis 23. April. Eintritt 3 Euro, Katalog 16 Euro.

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ZUR PERSON

Studium bei Günther Uecker

  • Thomas Rentmeister wurde 1964 in Reken/ Westfalen (bei Borken, Münsterland) geboren.
  • Er studierte an der Kunstakademie Düsseldarf, unter anderem beim „Nagelkünstler“ Günther Uecker.
  • Rentmeister hat lange in Köln gelebt. Inzwischen ist er nach Berlin umgezogen, wo er neuerdings einen Lehrauftrag an der Kunsthochschule Weissensee hat.
  • Die Liste seiner Ausstellungen ist umfangreich. Einzelschauen hatte er u. a. in der Kunsthalle Nürnberg und im Museum Abteiberg in Mönchengladbach.
  • Markennamen wie etwa Nutella, Penaten oder Tempo spielen bei seinen Skulpturen kaum eine Rolle. Es geht nicht um Konsumkritik, sondern um ästhetische Wirkung.

 




Und immer wogt das Werk – Jörg Immendorffs wechselhafte Bilderwelten im Dortmunder Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Die entblößte Frau geht an Krücken. Noch dazu balanciert sie auf zwei Kugeln. Doch wenn man sie so sieht, mag man an ein Wunder glauben: Sie wird, wenn auch staksig, vorankommen.

Das Gemälde, dessen Frauenfigur der altdeutschen Welt des Hans Baldung, genannt Grien entlehnt ist, könnte als Sinnbild für weite Teile des Werkes von Jörg Immendorff (55) stehen. Immer wieder scheint dieses insgesamt so imposante Œuvre ins Stocken oder Schlingern, mithin in produktive Unruhe zu geraten. Doch man kann sich darauf verlassen, dass die Pfade nicht in Sackgassen führen; dass irgendwann eine Wende kommen wird, eine Nahtstelle, ein wegweisendes Schlüsselbild – oder gar ein fulminanter Ausbruch des Neuen.

Erst der Pfusch der frühen Jahre, dann immer wieder die Suche, das Kraut-und-Rüben-Chaos, endlich glücklich gefundene, „geschlossene“ Formen: Mit solch beständigen Wechseln und Wogen lässt sich allemal eine lebendige Ausstellung bestreiten, in der jeder Raum (wie Immendorff gestern bemerkte) „seine ganz eigene Temperatur“ hat.

123 Bilder und elf Skulpturen von Immendorff bietet das Dortmunder Ostwall-Museum auf. Der Überblick umfasst alle Werkphasen des Düsseldorfers, der gewiss zu den prominentesten Künstlern der Republik zählt. Mit ansehnlichen 40000 Mark ist denn auch der Preis der Kulturstiftung Dortmund dotiert, den Immendorff heute in Empfang nimmt. Wer hat, der hat.

Rückblende: Anno 1966 hatte Immendorff ein nahezu fertiges Gemälde mit kräftigen Pinselhieben durchkreuzt und darauf geschrieben: „Hört auf zu malen!“ Die Legende besagt, dass in diesem Moment sein Lehrmeister Joseph Beuys das Atelier betreten und „Spitzenbild!“ gerufen habe. Es soll ein Zündfunke gewesen sein: Fortan strebte Immendorff Bilder jenseits der Bild-Gewissheit an, und allzeit kämpften thematische Vorlieben mit rein malerischen Impulsen.

Früher schlug das Herz ganz links: Plakative Bilder in der (freilich halbwegs reflektierten) Nachfolge eines „Sozialistischen Realismus“ bestimmen Immendorffs Kunst-Kurs der 70er Jahre. In Dortmund finden sich einige Beispiele. Ohne zuweilen faule Kompromisse zwischen Bildlichkeit und Schrift kommen sie nicht aus. Heute betrachtet, ist’s knallrote Nostalgie.

In den 80ern wurde Immendorff, zumal mit seiner Bilderserie „Café Deutschland“, zum Seismographen gesamtdeutscher Tendenzen – wie Martin Walser oder Botho Strauß auf literarischem Felde. Ganze Geschichts-Bühnen tun sich in diesen theatralischen Großformaten auf, der Adlerblick des Künstlers stößt meist von oben auf solche Szenerien. Bilder, an deren Vielgestaltigkeit man sich satt schauen könnte.

Ein Hauptaugenmerk der Dortmunder Auswahl gilt indes Immendorffs jüngstem Schaffen. Man wird Zeuge einer Abkehr vom breit ausgespielten erzählerischen Gestus. Es wirkt wie ein Rückzug von historischen Anklängen, wie eine Zurüstung zum Gang ins Elementare. Vielfach wird surreales Formen-Vokabular erkundet, in ganz eigener, souverän zitierender Kombinatorik. Manchmal schnurrt die vordem so reichhaltige Bilderwelt zum Schattenriss zusammen; oder zum ungeheuer rot pulsierenden, organisch blasenhaften Gebilde. Weniger Inhalts-Oberfläche, mehr Tiefe – ein typisch deutscher Zug?

„Immendorff – Bilder“. Museum am Ostwall, Dortmund. Eröffnung Samstag, 2. September, 17 Uhr. Ausstellung 3. Sept. bis 22. Okt. Di/Mi/Fr/So 10-18, Do 10-20, Sa 12-18 Uhr. Eintritt 4 DM, Katalog 45 DM.




Neue Gemeinschaft stiften – Jochen Gerz‘ Kunstaktion „Das Geschenk“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Gesichter blicken einen an – und es werden immer mehr. Schon gestern waren es 400 Porträts, die die Wände des Dortmunder Ostwall-Museums zierten. Im August sollen es rund 5000 sein. Der Ankauf für die Sammlung ist bereits beschlossene Sache.

Der mit documenta- und Biennale-Weihen versehene Künstler Jochen Gerz (60) beschert den Dortmundern mit seiner Aktion „Das Geschenk“ ein spezielles Gemeinschafts-Erlebnis.

In der Medienkunst-Schau „Vision Ruhr“ (frühere Zeche Zollern II/IV – die WR berichtete) hat Gerz ein Fotostudio mit moderner Digitaltechnik eingerichtet. Studenten der Dortmunder FH lichten dort kostenlos Besucher ab. Möglichst gefasst sollen sie dreinschauen, niemand soll sich in Szene setzen. Gerade dann tritt die Individualität der Gesiebter (frontal und in Nahsicht) hervor. Im Schnitt haben sich die Macher 8 Minuten Zeit für eine Porträtsitzung gegeben – samt Ausdruck und Rahmung.

Jede(r) Fotografierte darf ein Bild mit nach Hause nehmen, aber nie das eigene. Also trägt man das Bildnis eines oder einer Unbekannten heim, gewährt symbolisch „Gastfreundschaft“. Das eigene Konterfei nimmt wiederum ein „Fremder“ mit. Menschenfreundliche Vision: sich auf den Anderen einzulassen, ohne Ansehen von Herkunft, Beruf und dergleichen.

Inspirieren ließ sich der in Paris lebende Gerz vom Gedanken an die oftmals bewiesene Solidarität der Revier-Bewohner. Vor diesem Hintergrund stiftet sein Projekt eine neue Gemeinschaft. Besonderer Zusatz-Effekt: Man besitzt ein Kunstwerk und ist zugleich Teil von ihm. All das beschränkt sich nicht auf den privaten Raum, sondern greift ins Öffentliche aus: Sämtliche Zweitabzüge gelangen ins Ostwall-Museum, das somit nach und nach ganz gefüllt wird. Frankfurts Schirn-Kunsthalle will die Schau übernehmen.

Die Westfälische Rundschau unterstützt die Aktion auf vielfältige Weise, auch durch Veröffentlichung von Porträtfoto-Seiten (in der Dortmunder WR-Ausgabe). Zur Eröffnung der Ostwall-Schau (heute um 19 Uhr) wird WR-Chefredakteur Frank Bünte mit Jochen Gerz und dem Ausstellungsleiter Axel Wirths über die „Geschenk“-Aktion sprechen.

Jochen Gerz: „Das Geschenk“. Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 20. August. Di/Mi/Fr/So 10-18, Do 10-20, Sa 12-18Uhr.

„Vision Ruhr“, Zollern 11/IV, DO-Bövinghausen (Grubenweg). Bis 20. August. Tägl. außer Mo 10-19, Fr 10-22 Uhr.




Von Zaubertafeln und explosiven Salzstreuern – Französische Zeichnungen der Gegenwart im Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Armer „Kartoffelschäler“. Auf dem gleichnamigen Bild des Franzosen Fabrice Hybert sitzt der krumm und grau gewordene Mann, ganz in sich zusammengesackt, auf einem kleinen Hocker.

Links neben ihm türmt sich ein gigantischer Berg ungeschälter Erdäpfel, und mit dem stattlichen Hügel rechts von sich scheint er auch noch nicht weit gekommen zu sein. Der Alptraum von einer Arbeit, die sich kaum noch bewältigen lässt, gemahnt fast an den Mythos von Sisyphus.

Das Bild gehört zu einer beachtlichen Auswahl von rund 80 Zeichnungen, die jetzt das Dortmunder Ostwall-Museum präsentiert. Sie stammen von zehn französischen Gegenwarts-Künstlern und gehören zum offenbar reichen Fundus des „Frac Picardie“. Das Kürzel Frac steht, für einen Fonds zur zeitgenössischen Kunst in der nordfranzösischen Provinz. Angesiedelt ist die Sammlung in Amiens, Dortmunds Partnerstadt seit gut 40 Jahren.

Doch was heißt hier „80 Zeichnungen“? Zum einen werden auch Grenzbereiche dieser Gattung erkundet, jene Bezirke also, wo das Zeichnerische fließend übergeht in andere Genres. Außerdem stimmt auch die Zahl nicht ganz. Denn allein Marc Couturiers Serie „Das Unendliche auf der Erde in einem gegebenen Raum“ umfasst 4032 jeweils 15 mal 10,5 Zentimeter große Einzelstücke. In Dortmund sind „nur“ 1500 zu sehen. Es scheint, als habe der Künstler alle nur denkbaren Schraffuren erproben wollen. Die Gesamtwirkung des wandfüllenden Gewimmels ist schon famos.

Wird die Familie jemals zum Essen kommen?

Völlig anders geht Stéphane Lallemand zu Werke. Als geradezu triviales zeichnerisches Medium nutzt er kleine „Zauber“-Täfelchen, wie sie in Spielwarenläden zu finden sind. Staunenswert, wie er es vermag, nur durch das Bewegen zweier kleiner Knöpfe im engen Koordinatenraster der Tafel klassische Akte zu erzeugen. Sogar eine passable Version der berühmten „Nackten Maya“ Von Goya ist dabei.

Seitenwechsel: Annette Messager ist ersichtlich schlecht auf die Männer zu Sprechen. Ihre Bilder mit Buchstaben-Initialen zeigen in die Lettern verkeilte, fiese Kerle, die gleich beschimpft werden: „I“ steht für Idiot, „M“ für Macho, „Z“ für Zéro, womit der Typ als „Null“ abgetan wäre. Ein kleines Alphabet des Geschlechterhasses.

Nahezu lieblich wirken hingegen die bunten Szenen von Christophe Vigouroux. Doch es sind derbe oder geisterhafte Entgleisungen und Menetekel des Alltags, zudem Inbilder der Einsamkeit: Ein Mann pinkelt heimlich ins Waschbecken, eine Mutter brüllt verzweifelt „à table“ (also „Essen kommen!“), als sei die Familie schon längst für immer fort.

In eine ähnliche Richtung weisen auch die rätselhaften Erfindungen der Anne-Marie Schneider. Ihre Kohlezeichnung zweier Salzstreuer lässt fürchten, die an sich harmlosen Dinger könnten im nächsten Moment explodieren. Der international vielleicht ruhmreichste Teilnehmer heißt Jean-Charles Blais. Seine Serie mit Kopf-Fragmenten ist ein subtiles Experiment mit der Verteilung schwarzer und weißer Zonen im Bildgeviert, es handelt sich also um Kunst für Kenner, die feinste formale Nuancen auslotet. Etwas handfester wirken jene Bilder menschenleerer Hafen-Ecken, deren Melancholie Yvan Salomone eingefangen hat.

„Frac“-Direktor Yves Lecointre sagt, in Frankreich sei das Genre der Zeichnung längst nicht so anerkannt wie in Deutschland. Dafür aber hat es sich, nimmt man die Dortmunder Schau zum Maßstab, sehr facettenreich entfaltet.

6. Februar bis 9. April. Di-So 10-17, Do 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 4 DM, Katalog 29 DM




Aus dem Baukasten der modernen Kunst – Dortmunder Ostwall-Museum zeigt die „Sammlung Hoh“

Von Bernd Berke

Dortmund. Da musste selbst Ingo Bartsch, der Direktor des Ostwall-Museums, passen. Eine ganz Reihe von Künstlernamen aus der Sammlung des Fürther Ehepaares Hoh war ihm vormals nicht geläufig. Die offenkundig begüterten Leute, über deren finanzielle Hintergründe nichts verlautet, lassen sich bei ihren Kunstkäufen weniger von berühmten Namen als von Marktlage und Geschmacks-lmpulsen leiten.

Nicht immer beweisen sie dabei eine glückliche Hand. Wie man jetzt anhand von rund 100 Exponaten am Ostwall überprüfen kann, enthält die Sammlung auch etliche kraftlosere Stücke aus der „zweiten Reihe“ der Moderne. Es gibt wenige Gipfel, eher die Mühen der Ebene.

Man sieht also Werke von weniger bekannten, gelegentlich, auch weniger begabten Konstruktivisten, Futuristen, Expressionisten, Surrealisten und so weiter. Böswillig könnte man sagen, dass die Kollektion Beispiele fast aller stilistischen „-Ismen bis zur Mitte des Jahrhunderts wie Kraut und Rüben versammelt. Eine sinnvolle Hängung war gewiss nicht einfach. Sie ist aber erstaunlich gut geglückt und stiftet den einen oder anderen Zusammenhang zwischen den Bildern und Skulpturen.

Freiraum für „Entdeckungen“

So wird aus dem Sammelsurium denn doch ein lehrreicher Baukasten der Moderne. Hier lässt sich manche bildnerische Essenz des Jahrhunderts noch einmal nachvollziehen. Doch vieles ist nur ein fernes Echo der eigentlichen Beweger. Nun gut, nicht jeder kann ein Picasso sein.

Da die Sammlung erst ab Mitte der 80er Jahre entstanden ist, muss man zudem berücksichtigen, dass absolute Spitzenwerke der Klassischen Moderne seither so gut wie unbezahlbar sind. Auch kommt nicht immer alles nach Belieben auf den Markt. Es bleibt abzuwarten, welche Schwerpunkte sich mit den Jahren in dieser Sammlung entwickeln. Sie ist im Werden. Dies ist spannender als eine allseits „abgesicherte“ Auswahl.

Nicht den neuesten Moden nachhecheln

Sympathischer Zug, dass die Sammler nicht den neuesten Moden der Westkunst nachhecheln. Gut auch, dass sie die Aufmerksamkeit sonst weniger beachteten Ländern wie Schweden, Dänemark, Ungarn oder Mexiko widmen. Vor allem aber: Gerade der Umstand, dass sie sich abseits der ausgetretenen Pfade umgesehen haben, öffnet den Blick des Betrachters für Nebenwege. Hie und da kann man seinen Horizont erweitern.

Rings um das eine oder andere Nebenwerk der Prominenz (Feininger, Hoetger, Jawlensky, Kirchner oder Morgner, Zadkine) bleibt also viel Freiraum für „Entdeckungen“.

Einen starken Eindruck hinterlassen beispielsweise die Arbeiten von Walter Gramatté (1897-1929). Besonders sein Einsamkeits-Bildnis „Mann im Schlitten“ (1920) übt einen ungeheuren Sog aus, aber auch „Der Abschied“ (1920) kündet nachhaltig von Wärme- und Kältezonen einer Liebesbeziehung. Das Selbstbildnis des Dietz Edzard (1893-1963), mit Palette und wie zur Abwehr eines Angriffs erhobenem Malpinsel, hat gleichfalls bannende Kraft.

Es fällt auf, dass motivische Vorlieben das Sammlerinteresse prägen. Gleich dreimal sind (in unterschiedlichster Ausprägung) paradiesische Szenen mit Adam und Eva vertreten. Auch die melancholischen Momente der Liebe kehren auf einigen Bildern wieder.

Sammlung Hoh. Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 13. Februar 2000. Di-So 10-17 Uhr. Eintritt 4 DM, Katalog 39 DM.




Die neuen Zeichen am Himmel – Überblick zum Spätwerk von Joan Miró in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Sonnenfinsternis hätten wir nun also recht glücklich hinter uns gebracht. Doch halt! Schon gibt es neue Himmelszeichen. Sogar ein völlig verfinstertes Zentralgestirn, aus dem dunkle Tropfen herabfallen, gibt es nun im Museum am Ostwall zu sehen. Es gehört – man glaubt es kaum – zu einer „schwarzen Serie“ von jenem Joan Miró, dessen Werke uns doch stets so froh und bunt erschienen sind. In Dortmund aber will man uns eben den „anderen Miró“ zeigen.

Die rund 60 Gemälde, 23 Skulpturen und 40 Grafiken, die in Dortmund präsentiert werden, stammen aus den Jahren 1966 bis 1981. Es geht also um das Spätwerk des 1893 in Barcelona geborenen und 1983 in Palma de Mallorca gestorbenen Künstlers. In dieser Dichte und Breite war das Altersschaffen in Deutschland bislang nicht zu sehen.

Lust auf „Mord an der Malerei“

Miró vollzog einen teilweise entschiedenen Bruch mit jenen liebenswerten Bildern, die zahllose Kalenderblätter oder auch T-Shirts zieren und die man sich (mal ehrlich!) schon ein wenig leidgesehen hat. Wecken sie auch vielfach freudige Gefühle, so hätte man’s doch gern auch mal etwas heftiger, sperriger. Das kann man haben. Jetzt in Dortmund.

Schon in den 30er Jahren war Miró, der die Ländereien des Kubismus und des Surrealismus durchschritten hatte, die Arbeit an der Staffelei zur Qual geworden. Am liebsten hätte er „die Malerei ermorden“ wollen. Ein Grund für die Wut war wohl auch die ärmliche Enge seiner Wohnung in Paris. Ein großes Atelier mußte her, dann konnte man vielleicht endlich aufatmen und von vorn beginnen…

Miró fand sein ersehntes Refugium 1954 auf Mallorca, damals noch eine ruhige, von Touristenmassen verschonte Insel ohne scheußlichen „Ballermann“. Statt dessen gab’s dort noch 77 Kürbissorten.

Erotik als Quelle des Schöpferischen

1956 ließ sich der Katalane auf Mallorca ein geräumiges Atelier nach seinen Wünschen errichten. So groß war es geraten, daß den Künstler anfangs eine Angst vor gähnender Leere befallen haben muss. Er hortete nun allerlei Fundstücke – rostige Nägel, leere Dosen, interessant geformte Steine. Hinzu kommen einfache Bildträger wie Sackleinen oder billiges Holz. Eine Kunst, die nicht stolz triumphiert, sondern so wirkt, als wolle sie wieder am Nullpunkt anfangen.

Manche der vorgefundenen Objekte wurden hernach Bestandteile von Bronze-Skulpturen. Ein Hammer, an passender Stelle eingefügt in eine Figur („Personnage“, 1971), kann auf diese Art auch schon mal obszön wirken.

Überhaupt finden sich in der Dortmunder Schau etliche Beispiele für die erotische und somit schöpferische Anverwandlung der Welt. Sexualität ist ein reich sprudelnder Quell dieser schwebenden, kreisenden, gärenden, pulsierenden, sich gleichsam unaufhörlich selbst gebärenden Symbolsprache Mirós, die der Musik so eng verwandt ist, wie es Malerei nur sein kann.

Ein zweiter Born sind eben jene kosmisch inspirierten Zeichen, von denen anfangs die Rede war. Diese sozusagen planetarische Traumwelt wird bevölkert und durchhuscht von vielerlei irrlichternden Gestalten. Da die meisten Bilder keinen Titel tragen, sind der Phantasie kaum Grenzen gesetzt. Kichernde Kobolde treiben da ihr Wesen, aber auch bedrohliche Phantome.

Den Moment des Schocks einfrieren

Von „Schocks“, die seine Produktion anregten, hat Joan Miró einmal gesprochen. Solche Anstöße konnten von allem ausgehen; von einem rasenden Auto oder einem Staubkorn. Bisweilen, so zeigt die (von Tayfun Belgin aus den Beständen der Miró-Stiftung auf Mallorca nach Belieben getroffene) Dortmunder Auswahl, bleiben diese Schocks im Spätwerk geradezu brutal präsent. Ganz so, als habe der Künstler den Schreck des allerersten Augenblicks bewahrt und eingefroren.

Selbst in der eher lieblich angelegten Serie „Allegro vivace“ gibt es ein Bild mit dem Titel „Der Raub“. Eine andere Arbeit heißt „Rette sich, wer kann“, und eine bebend „Eifersüchtige“ scheint vor lauter Leid explodieren zu wollen.

Wohlig umsonnte Altersmilde zeigt sich hier kaum, sondern Furcht und Schrecken treten oft fratzenhaft hervor. Oder auch der schiere Zorn, woher auch immer rührend. Wenn es dann einmal heiterer zugeht, kann man sich doppelt darüber freuen. Weil es der Finsternis abgerungen ist.

14. August bis 14. November. Museum am Ostwall, Dortmund. Eintritt 13 DM, Katalog 45 DM.




Der Augenblick, in dem die Ordnung schwindet – Arbeiten des Heidelbergers Michael Bacht am Dortmunder Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Unordnung beflügelt mitunter die Kreativität: Als Michael Bacht (51) ein Atelier in einer früheren Tabakfabrik bezog, war diese nicht leergeräumt. Es lagen haufenweise Zigarrenschachteln herum. Bacht warf sie nicht weg. Für einen Künstler kann jeder Zufallsfund tauglich sein.

Und siehe da: Später gingen „Buchobjekte“ daraus hervor. Das sind dünne, aufgeschichtete Kartons, in denen man theoretisch blättern könnte wie in Romanen. Doch sie sind eingefaßt in Gestelle aus Stahl und Stein. Die „Bücher“ sind starre Skulpturen geworden.

Der Heidelberger, der im Dortmunder Ostwall-Museum einen Querschnitt durch sein vielgliedriges Schaffen der 80er und 90er Jahre zeigt, liebt jene anfänglichen Zufalle, deren weiteren Verlauf er ein wenig (aber nicht zu sehr) steuern kann. Wenn etwa Karton sich mit Farbpigmenten vollsaugt, entstehen zwar einander eng verwandte Bilder-Serien nach einem gewissen Plan, doch es bleibt Raum für kleine Überraschungen, Abweichungen, kurz: fürs Unvorhergesehene.

„Strikte Anordnung“ heißt eine Arbeit im Lichthof. Sie wirkt wie eine Ansammlung trost- und fensterloser Reihenhäuser, in deren Mittelspalten sich Asche ausbreitet – Zeichen der Vergänglichkeit. Dahinter hängen vier Fotografien, die das allmähliche Anwachsen eines roten Laserstrahls zum wirren Knäuel festhalten. Da haben wir sie wieder: die Momente, in denen Ordnung und Übersichtlichkeit schwinden.

Meditation mit Pflastersteinen

Gar zu viel Ordnung ist diesem Künstler eben suspekt. In einer ironischen „Hommage“ an Piet Mondrian, der bekanntlich phasenweise wie mit dem Lineal malte, hat Bacht dessen Hauptfarben (rot, gelb, blau) verwendet, jedoch in einer Art Dornenhecke so verzweigt, daß sich die Töne vermischen. Der Wildwuchs wird freilich formal „gehalten“ von einem schwarzen Kreuz, das wie ein Gerüst im Geäst steckt. Schieres Chaos wäre halt auch keine Kunst…

In den bewegten 60er Jahren begann Bach sein Studium. Erinnerungen daran sind Thema dieser Installation: Einige Pflastersteine (!) hängen, nunmehr ganz still und mit Papier-Zwischenlagen gedämpft, in einer stählernen Konstruktion. Eine etwas wehmütige Meditation über den einst so handfesten Protest?

Der Künstler hat sich eingehend mit Zen-Meditation befaßt. Selbst geschichtlich angeregte Werke geraten eher kontemplativ: Ein Feld aus verstreuter Asche, davor einige Spitzhacken, die freilich von aufgesetzten Kugeln in Ruhestellung gehalten werden. Der Künstler deutet an, dies beziehe sich auf die Nachkriegszeit, als aus Schutt und Asche der Wiederaufbau erfolgte – oft allzu rasant und gedankenlos. Bachts Entwurf eines Mahnmals zum Gedenken an die Opfer des 2. Weltkrieges, gedacht für einen bunkerartigen Raum, besteht aus hell angestrahlten Spiegel-Kreuzen, deren Formen sich geisterhaft an den Wänden abzeichnen.

Doch manchmal, wie zur Entspannung, überläßt sich Bacht den raschen Einfällen des Augenblicks. Schauen wir in eine Vitrine: Was bedeutet dieses an einen Kleiderbügel geklemmte Spielzeug-Kamel? Eine Anspielung auf jenen berüchtigt teuren Kamelhaarmantel, in dem Kanzler Gerhard Schröder posierte. Oh, allzu flotter Scherz!

Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 20. Juni. Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 4 DM.




Fundstücke von den Wegesrändern der Welt – Die visuellen „Reise-Notizen“ des Ulrich Gehret in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Dieses Künstlerleben schmeckt nach Freiheit und Abenteuer: Ulrich Gehret (54) war Schwammtaucher in Griechenland, er bereiste intensiv halb Südamerika, unternahm eine strapaziöse Motocross-Tour vom Pazifik zum Atlantik, durchstreifte entlegene Gebiete Indonesiens und Australiens. Hauptsache: Weit weg sein von den allseits geregelten Konsumwelten Mitteleuropas!

Gehret konstruierte gar ein Spezial-Surfbrett, um sich vor der argentinischen Küste als Wellenreiter den Walen nähern zu können. Er hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, die Haut der Riesentiere eigenhändig zu streicheln. Es gelang ihm. Seither weiß er, anders als wir alle, wie das ist.

Aus derlei schweifendem Erfahrungshunger und Späher-Geist müßte doch eine äußerst sinnliche Kunst entstehen, denkt man sogleich. Die Probe auf rund 120 Exempel kann man jetzt im Dortmunder Ostwall-Museum machen.

Schlangenhaut und Schuppenpanzer

Die in Kooperation mit der Bochumer „galerie m“ präsentierte Werkschau vereint „visuelle Notizen“, die Gehret auf Reisen gesammelt hat. Allerhand Fundstücke von den Wegesrändern dieser Welt prägen seine Bildcollagen. Hier glitzert eine Schlangenhaut, dort wölbt sich gar der Panzer eines Gürteltieres. Auch sieht man Metallteile, Pflanzenstücke, Fischgräten oder diverse Papiere, so auch (ferngerückte Erinnerung ans frühere Dasein) eine vergilbte Kopie des 1969 erworbenen Führerscheins. Das alles ließe sich beliebig zusammenkleistern, doch unter Gehrets Händen fügen sich die Funde zu außerordentlich formsicher gestalteten Kunstwerken, die die Sinne unmittelbar ansprechen.

Die Qualität der Materialien ruft widerstreitende Emotionen hervor: schwere Eisenrahmen, weiche Paraffin-Schichten, übermalte Papierfetzen. Zumal der Tastsinn wird gereizt. Unwillkürlich möchte man die Materialbilder berühren, ihre schrundig aufgeschichteten Oberflächen spüren. Ein Impuls, dem man nicht nachgeben sollte, denn etliche Arbeiten tragen ohnehin Verwandlungs-Spuren der Zeit, sie scheinen würdevoll zu verwesen.

Mysterium des täglichen Erlebens

Die Schubladen der Kunstgeschichte müssen geschlossen bleiben. Wenn überhaupt, so ergeben sich mitunter Anklänge ans Informel, aber was besagt das schon? Auch mit markanten, womöglich die Phantasie befeuernden Bildertiteln kommt einem dieser Künstler, der sich um den Markt nicht scheren mag, kaum zur Hilfe. Man sieht sich aufs eigene Erleben verwiesen.

Obwohl aus mehreren Jahrzehnten stammend, bilden all diese Arbeiten doch einen Kosmos. Das Spektrum grauer und bräunlicher Erdfarben wird in alle Richtungen durchmessen, die rissige und brüchige, machmal wächserne, dann wieder kreidige Bilderhaut gemahnt an Formationen der Gesteinsgeschichte, sie ist gleichsam mit Fossilien-Abdrücken durchsetzt.

So wirkt diese Kunst denn auch seltsam urtümlich, zeitenthoben und beinahe anonym. Dabei ist sie doch unmittelbar aus Dingen des täglichen (Reise)-Lebens entstanden. So erhebt die Kunst das Tageserlebnis zum unerschöpflichen Mysterium.

Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 24. Januar 1999. Di-So 10-17. Mi 10-20 Uhr. Eintritt 6 DM, kein Katalog.

 




Glühende Landschaften der Seele – Dortmunder Ostwall-Museum wartet mit betörender Jawlensky-Ausstellung auf

Von Bernd Berke

Dortmund. Psychologen haben allerhand Farb-Therapien entwickelt, mit denen sie ihren Klienten heilsame Gefühle einflößen wollen. Doch die üppigsten Feste der Farbe werden nun mal in der Kunst gefeiert – und eins der schönsten begeht man nun im Dortmunder Ostwall-Museum: 150 Ölgemälde des Alexej von Jawlensky (1864-1941) und rund 30 Werke von Zeitgenossen werden aufgeboten, um die Sinne zu betören.

Museum-Kustos Tayfun Belgin stapelte gestern reichlich tief: Einen „kleinen Beitrag“ zur Jawlensky-Debatte wolle man leisten. Er selbst und die Sponsoren werden wohl wissen, daß sie der Stadt und dem Umland ein Ereignis ersten Ranges beschert haben.

Leidiges Thema seit dem Essener Reinfall mit gefälschten Jawlensky-Aquarellen: Bis zum stichhaltigen Beweis des Gegenteils hält Tayfun Belgin alle in Dortmund gezeigten Bilder für echt, man habe die Herkunftswege geklärt. Generelles Problem allerdings: Jawlensky sei „ein miserabler Buchhalter“ seiner eigenen Produktion gewesen.

Nun aber stracks zum Genuß! Grandios schon der Auftakt im Lichthof des Museums, das übrigens die zweitgrößte Jawlensky-Kollektion Europas aufweist. Hier geht es erst einmal realistisch zu. Man bestaunt opulente Porträts („Maria“, „Hélène im spanischen Kostüm“) aus Jawlenskys Frühwerk. Vergleichsbilder etwa von Ilja Repin und Anders Zorn runden den ersten Eindruck ab: Auch ein Jawlensky hat sich – natürlich – im Horizont seiner Zeit bewegt und sein Schaffen konventionell begonnen.

Meisterliche Behandlung von Farbwerten ist freilich schon erkennbar. Das Haar der „Blondine“ (1894) erstrahlt nahezu überirdisch. Farbe als geistige Erscheinung. Das Streben nach farblicher Harmonie bestimmt Jawlenskys Werk um die Jahrhundertwende. Im „Stilleben mit Samowar“ (1901) erklingen die Tonwerte wie zarte Musik, später wird die Skala kräftiger: Da ergießt sich glühendes Fühlen in ebenso glühende Farben. Außerordentlich die Perspektive im Bild „Schwarzer Tisch“ (1901). Am obersten Rand setzen Blumen und ein Teller sparsame Farbakzente, der Tisch scheint – seines festen Halts beraubt – auf den Betrachter zuzurutschen.

Im Schmerz richtet sich der Blick ganz nach innen

Jawlensky suchte nach einem Stil, mit dem er nicht so sehr die sichtbare Stofflichkeit erfassen, sondern vielmehr in die Innenwelt der Gefühle vordringen konnte. Zeitweise orientierte er sich an Van Gogh (deutlich in Jawlenskys „Stillleben mit Zitrone und Hyazinthe“, 1901) oder an den flirrenden Farbpunkten der Pointillisten. In Dortmund belegt eine Landschaft von Paul Signac diesen Einfluß.

Häufig wiederkehrendes Motiv auf Jawlenskys Landschaften (u. a. aus Murnau) sind jene Wegbiegungen, deren Verläufe wohl immer auch den Lebens-Weg bedeuten: Wege des Innehaltens, Wege der Sehnsucht. Auf dem Bild „Einsamkeit“ ist zwar keine menschliche Figur zu sehen, doch ein Telegrafenmast ragt 1 ganz allein vor einem von fernher leuchtenden Gebirge auf. Schwankende Häuser und Hügel lassen das Erschauern vor Natur und Dingwelt spürbar werden. Es sind Landschaften der Seele.

Die Dortmunder Schau sättigt nicht nur die Lust am Schauen, sie schickt sich überdies an, Fachfragen aufzuwerten. Beispielsweise: War Jawlensky Expressionist? Der direkte Vergleich der Jawlensky-Arbeit „Stilleben mit bunter Decke“ (1910) mit „Die roten Teppiche“ (1906) von Henri Matisse weist jedenfalls in eine andere Richtung.

Die obere Etage ist zum großen Teil den vielfach variierten Kopf-Bildern vorbehalten. Es gibt ganze Serien maskenhafter Häupter mit bannenden Blicken, aber auch kühl und konstruktiv „gebaute“ Köpfe, die gleichwohl träumerischen Ausdruck annehmen können.

Am Ende stehen Einkehr und schmerzliche Abwendung von der Welt: Der bereits schwer erkrankte Jawlensky nannte diese auf Grundlinien reduzierten Antlitze „Meditationen“. Sah man vorher oft beschwörend weit aufgerissene Augen, so sind diese nun stets geschlossen. Im Leid richtet sich der Blick nach innen.

Alexej von Jawlensky – Reisen, Freunde, Wandlungen. Museum am Ostwall, Dortmund. 16. August bis 15. November. Eintritt 13 DM, Katalog 49,80 DM.

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Zweifel an Jawlensky-Bild gesät

Dortmund. (bke) Vor einem halben Jahr hatte das Essener Folkwang-Museum eine Jawlensky-Ausstellung gezeigt, die etliche Fälschungen enthielt. Gestern weckte ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Zweifel an einem Bild, das ab 16.August in der Jawlensky-Schau des Dortmunder Ostwall-Museums zu sehen sein soll.

Es geht um die Arbeit „Heilandsgesicht: Die heilige Stunde – Letztes Schauen“, die aus einer Wiesbadener Privatsammlung nach Dortmund kommt. Hierbei handele es sich, so jedenfalls die FAZ, „um eine offensichtliche, bis hinein in die eigentlich zufällige Ausfransung von Pinselstrichen detailversessene Kopie des allerdings vom Kopisten nicht genau verstandenen“ Jawlensky-Bildes „Heilandsgesicht: Letztes Schauen“.

Ostwall-Kustos Tayfun Belgin, zuständig für die Dortmunder Schau, sagte gestern auf WR-Anfrage, er halte das Bild aus guten Gründen für echt. Jawlensky habe oft Kopien eigener Motive angefertigt und „leider manchmal auch schlechte Bilder“ produziert. Der FAZ-Beitrag erschöpfe sich in Behauptungen und bleibe Beweise schuldig.

(Meldung erschienen 11.8.1998)

 




Gemälde wie heftige Eruptionen – Künstlergruppe „Cobra“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Als sie die deutsche Kriegs-Okkupation überstanden hatten, dürsteten sie nach Freiheit. Sie wollten sich von keinem mehr etwas vorschreiben lassen, nicht einmal von ihresgleichen. Zum Zeichen ihrer giftigen Abwehrbereitschaft gründeten sie 1948 die Künstlergruppe „Cobra“.

Es waren überwiegend Künstler aus Dänemark, Belgien und den Niederlanden, die den Namen der Gruppe aus den Anfangsbuchstaben ihrer Hauptstädte formten: Co(penhagen), Br(üssel), A(msterdam).

Schon 1951 löste sich die Formation auf. Ohnehin ging jeder seinen eigenen Weg. Ein wunderbarer Wildwuchs. Absolute Freiheit war eben wichtiger als etwaige Geborgenheit. Jetzt zeigt das Dortmunder Ostwall-Museum 143 Werke von 23 Cobra-Mitstreitern. Auch Vorfreuden und Nachwehen der Gruppenbildung gehören dazu.

„Tier, Nacht, Schrei, Mensch“

Einen Schlüsseltext zum vagen Gruppengeist schrieb der Niederländer Constant: Kunst sei im Grunde kein Gebilde aus Farben und Linien, sondern sei „Tier, Nacht, Schrei, Mensch“ – oder all das zusammen. Auf der Suche nach dem Ursprung allen Ausdrucks stieß man aufs Unbewußte, auf Träume, Rausch und Märchen. Man ließ sich von Zeichnungen Geisteskranker ebenso inspirieren wie von Kinder-Kritzeleien. Und siehe da: Der ersehnte Schlaf der Vernunft gebar nicht nur Ungeheuer, sondern vielfach ästhetische Lösungen, die heute noch überzeugen.

Etliche Bilder der Dortmunder Retrospektive gleichen gewaltigen Eruptionen. Schritt für Schritt läßt sich dies anhand einer Bilder-Reihung von Karel Appel verfolgen: erst die Geometrie, dann die zunehmende Auflösung. Asger Jorns „Verbrecher“ scheint aus dem Urschlamm der Gewalt aufzusteigen, die Bildfläche sieht aus, als sei sie besudelt von Blut und Dreck. Ein einziges Entsetzen. Da bleibt nur die Flucht, der Sturz ins Formlose.

„Zwei Sonnen“ (Titel) läßt Carl-Henning Pedersen neben einer gelbroten Figur aufgehen, die in ein Meer zu kippen scheint. Inbild einer alles hinwegflutenden Katastrophe wie am „Jüngsten Tage“. Der famose Lucebert richtet den visionären Blick auf tierhafte Gestalten, die das Innerste der Betrachterseele gleichsam anspringen. Fauchende Schrecksekunden der Freiheit.

Gruppe Cobra. Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 12. Juli. Di-So 1017, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 6 DM. Katalog 55 DM.

 




Bunter war die Mode nie – Dortmunder Ausstellung „Künstler ziehen an“: Avantgarde-Kleidung 1910-1939

Von Bernd Berke

Dortmund. Der Hemdkragen aus blitzendem Aluminium, die Weste papageienhaft bunt, der Anzug mit allerlei farbenfrohen Mustern und lustigen Stoff-Ansteckern. Wäre es nach den Avantgarde-Künstlern gegangen, würden besonders die „Herren der Schöpfung“ nicht so gezwungen grau in grau herumlaufen, wie sie’s meistens tun. Die Dortmunder Ausstellung „Künstler ziehen an“ zeigt Schöpfungen am Schnittpunkt zwischen Alltagsmode und Hochkultur, entstanden zwischen 1910 und 1939.

Metropolen unter sich: Ursprünglich sollte die Schau in der Welt-Modehauptstadt Paris gezeigt werden. Der Plan scheiterte auf höchster politischer Ebene (beim Treffen Kohl / Chirac) an Etat-Fragen. Dann war das New Yorker Metropolitan Museum im Gespräch, konnte aber erst fürs Jahr 2001 zusagen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Ausstellungswesen…

In Dortmund griff man jedenfalls sofort beherzt zu – und erhielt jetzt gar eine auf rund 300 Exponate erweiterte Fassung. Zeitgenössische Originalkleider und später nachgeschneiderte Stücke findet man ebenso wie Stoffproben und zeichnerische Entwürfe. Übrigens: In der Museumsvitrine wird etwa aus der schlichten Hose ganz von selbst ein Kunst-Stück, das man ernsten Sinnes wie eine Skulptur umschreitet.

Ein Extra-Hut für rasante Geschwindigkeit

 

Der durchweg anregende Rundgang durchs Museum am Ostwall beginnt mit den modischen Kapriolen der italienischen Futuristen, die der Kunst rasante Bewegung einpflanzen wollten. Und so entwarf Aldo De Sanctis schicke Kopfbedeckungen nicht nur für Regen- und Sonnenwetter (letztere mit Luftlöcher-Klimazone), sondern auch einen wohl für Autofahrer gedachten schnittigen „Hut der Geschwindigkeit“.

Die metallischen Hemden, deren tapfere Träger auf Dauer vor Schmerzen gejault haben dürften, zeugen gleichfalls von eherner Technik-Begeisterung und einer Art Rüstungs-Bereitschaft. Zur gleichen Zeit zwang Giacomo Balla Grau raus, indem er um 1930 clownsbunte Herrenanzüge aus filzartig aufgerauhter Wolle schneidern ließ, in denen er schon mal selbst einherstolzierte.

Auch dafür, daß sich die Futuristen blindlings mit Mussolinis Faschismus eingelassen haben, findet sich in Dortmund ein Belegstück: Der Anzug, dessen Kolorierung sich aus den italienischen Nationalfarben rot, weiß und grün herleitet, firmiert – scheinbar ganz arglos – als Modell „fascista“. Nichts ist unpolitisch, auch die Mode nicht.

Befreiung und Rückkehr der Zwänge

Diese Erkenntnis gilt auch für die textilen Anstrengungen der russischen Avantgarde, die einen zweiten Schwerpunkt der Ausstellung bildet (ein dritter ist dem Bauhaus-Umkreis gewidmet). In der russischen Abteilung sieht man z. B. geometrisch bestimmte Kleidungs-Entwürfe von Kasimir Malewitsch und Ljubow Popowa oder Stoffmuster nach Ideen von Alexander Rodtschenko.

Während die italienischen Künstler meist Einzelstücke herstellten, drängte es die russischen nach der Oktoberrevolution auch auf diesem Felde in die industrielle Fertigung. Ihre Visionen einer Bildwerdung des „Neuen Menschen“ sollten möglichst massenhaft produziert werden. Hinter diesem Antrieb lauert freilich die Gefahr des Kollektivismus.

In eine ähnliche Richtung driften die reformerischen Entwürfe des Mannes mit dem Künstlernamen Thayaht: Er dachte sich im Geist der Utopie die „tuta“ aus, ein schlichtes weißes Kleidungsstück, das just für die ganze Menschheit vorgesehen war.

Zweischneidige Sache also: Wenn Künstler Mode erfinden, so sind sie vielleicht anfangs auf Befreiung von Zwängen und Einschnürungen aus. Doch manchmal kommen die Zwänge hinterrücks wieder.

„Künstler ziehen an“. 8. Februar bis 19. April (Di-So 10-18, Mi 10-20 Uhr). Ausstellung des Museums für Kunst und Kulturgeschichte im Museum am Ostwall (Ostwall 7 / Infos: 0231/50 26 717). Eintritt 12 DM, Katalog 49 DM.

 

 




Häßliche Armut, Schönheit der Kunst – „ArmutsZeugnisse“ im Dortmunder Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Wenn Künstler die Armut darstellen, können sie leicht in eine Falle tappen. Denn jedes bißchen „Zuviel“ an schöner Linie, an ausgeklügelter Form und Ästhetik wird diesem Thema nicht mehr gerecht. Die Ausstellung „ArmutsZeugnisse“ im Dortmunder Ostwall-Museum enthält viele Beispiele für Balancen und Abstürze auf dem schmalen Grat.

Der vom Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Arbeiterliteratur konzipierte (und von einigen Unternehmen gesponserte) Überblick belegt, daß Armut nach der Jahrhundertwende und in den 20er Jahren ein zentrales Feld der Kunst gewesen ist. In der NS-Zeit wurde das Thema unterdrückt, und im Wirtschaftswunder-Optimismus der 50er Jahre wollte niemand mehr daran erinnert werden.

Zu Zilles Zeiten war’s noch nicht so kompliziert

Erst mit den Krisen der 80er Jahre kam das soziale Menetekel erneut auf. Doch nun werden kaum noch direkte Darstellungen riskiert. Auf abstrakten Farb- und Formenwerten – so etwa bei Felix Droese – lasten nun Inhalt und Ausdruck. Dies erweist sich zuweilen als Überfrachtung. Gelegentlich müssen Schriftzüge im Bild das Thema erst benennen. Andere Künstler retten sich in distanzierte Ironie. Ist Armut am Ende gar nicht mehr künstlerisch zeigbar?

Zu Zeiten eines Heinrich Zille und einer Käthe Kollwitz, mit denen der Rundgang beginnt, schien alles einfacher zu sein. Zille gewährt Einblicke ins vielzitierte Milljöh, die jedoch jetzt als eine Art Folklore verkostet werden könnten. Und schwächere Arbeiten der Kollwitz wirken aus heutiger Perspektive leicht bittersüßlich, wie auf bloße Rührung angelegt. Das kann man von George Grosz und Otto Dix nicht behaupten. Sie zeigen die grotesken Fratzen und Phantome der Armut mit anklagender, immer noch schmerzhafter Deutlichkeit. In der Neuen Sachlichkeit weicht derlei Vehemenz dann wieder einer unterkühlten Glätte.

Auf interessante Nebenwege führt ein Raum mit Eigenbesitz des Hüser-Institutes. Hier sieht man Bilder der sogenannten „Vagabunden“ um Hans Tombrock. Generell gilt: Ein karger Holzschnitt sagt über Hunger, Ausbeutung und Wohnungsnot oft mehr als ein Ölbild. Denn schon mit der Farbe kann die Beschönigung beginnen.

Ein spezielles Exponat sind Teile jener gerichtlich umstrittenen „Klagemauer“, die ein Obdachloser vor Jahren auf der Kölner Domplatte errichtet hat. Das Erscheinen dieser Vielzahl von Papp- und Papierstücken (mit handschriftlichen Aufrufen gegen Elend und Krieg) in einem Museum zeigt nochmals den Zwiespalt: Dokumente eines Notstandes, in der Freizeit konsumierbar.

„ArmutsZeugnisse“. Dortmund. Museum am Ostwall. 5. Nov. bis 31. Dezember, Di-So 10-17 Uhr. Eintritt 4 DM (ermäßigt 1 DM). Katalog 38 DM.




Acht Bilder und ein Name – „Weight and Measure Drawings“ von Richard Serra in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Eine Ausstellung mit acht Zeichnungen? Ja, lohnt sich denn da überhaupt der Weg zum Dortmunder Ostwall-Museum? Nun ja. Es sind Riesenformate, und sie stammen von einem Heros der neueren Kunst: dem Amerikaner Richard Serra.

Dortmunds Kunstverein, der mit dieser Schau am Ostwall gastiert, kann sich auch mit dem bloßen geographischen Verlauf der Wanderausstellung brüsten. Die bisherigen Stationen hießen New York, Baltimore und Lissabon. Nun ist Dortmund als einzige deutsche Stadt an der Reihe, es folgen Miami und eventuell Tokio. Da werden weltstädtische Träume wach.

Im Februar war Richard Serra kurz hier und hat den Ort des Geschehens inspiziert, die Hängung übernahm nun – nach exakten Vorgaben des Meisters – einer seiner Assistenten. Serras große Stahlskulpturen (für die er hierzulande weitaus bekannter ist) beziehen sich ebenso machtvoll wie subtil auf Außenräume. Auch seine Zeichnungen sollen nicht nur für sich bestehen, sondern Erscheinungsbild und Volumen der umgebenden Innenräume „gewichten“. Daher auch der Titel der Schau, „Weight and Measure“ (Gewicht und Maß).

Die acht gerahmten Hochformate, bis zu vier Meter aufragend, bringen dem Ostwall-Lichthof einen ausgeklügelten Rhythmus bei, der innig mit dem Raum zu tun hat und doch sanft von ihm absticht. Ein Wechselspiel aus Näherung und Abgrenzung, Wachstum und Schrumpfung von Flächen. Die schwarzen und weißen, in sich strukturierten Felder hat Serra mit Ölstiften teilweise zentimeterdick auf kostbares Japan-Papier aufgetragen. Es sind Zeichnungen, die nicht in der zweiten Dimension verharren, sondern heimlich, still und leise, aber doch entschieden in den Raum vordringen.

„Weight and Measure Drawings“. Zeichnungen von Richard Serra. Museum am Ostwall, Dortmund. 21. Juli bis 3. September, di-so 10-17 Uhr. Katalog 20 DM.




Geduldig wie ein Gärtner die Kunst wachsen lassen – Walter Witteks Stahlskulpturen und Bilder im Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Zwei Tonnen wiegt der verwitterte Stahlwürfel, aber er schwebt in der Luft. Aus dem Boden ragt eine beängstigend geschärfte und polierte Spitze. Sie scheint nur darauf zu warten, daß der Kubus herunterfällt. Wäre das ein brutales Aufspießen! Doch es wird nicht geschehen. Vor der Hängung des Würfels hat man im Dortmunder Ostwall-Museum die Statik eingehend überprüft.

Es bleibt aber ein diffuses Gefühl der Bedrohung, wenn man sich unter diese Installation des Künstlers Walter Wittek (51) begibt. Steckt diese Furcht in einem selbst, oder verbirgt sie sich im Kunstwerk? Jedenfalls springt sie vom Objekt auf den Betrachter über – wie eine Elektrizität, die einem die Nackenhärchen aufrichtet.

Eine Fülle von Hintergedanken

Doch Wittek will uns eigentlich keine Angst einjagen. Eine andere Arbeit mit den gleichen Material-Zutaten wirkt ganz feierlich: Diesmal wird die Stahlspitze vom verrosteten Rechteck ummantelt und behütet. Das Ganze steht in einer halbrunden Nische und ähnelt einem Altar. Wiederum anders aufgestellt, können diese Stahlskulpturen aber auch Gedanken an Raketen oder Projektile nahelegen.

Oder sie setzen ökologischen Nebensinn frei. Das Arrangement mit dem Titel „Endlager“ soll gar demnächst tatsächlich in einem solchen versenkt werden. Wittek will die Teile in die Atomstätte von Ahaus bringen, von der er befürchtet, dass sie insgeheim als Endlager geplant sei. Drunten könnten die Stücke verstrahlen und selbstverständlich nie mehr ausgestellt werden. Die Aktion wäre nur via Monitor zu besichtigen.

Zwischen Endlager und Erdmittelpunkt

Hinter Witteks Arbeiten stehen überhaupt jede Menge Hintergedanken. Natürlich in erster Linie künstlerische Überlegungen (etwa zum Gegensatz zwischen Last und Leichtigkeit), aber auch philosophisch inspirierte Vorstellungen.

Die diversen Stahlspitzen, die er in Dortmund postiert hat, bedeuten auch den „Nabel der Welt“. Hintergrund ist eine antike, im Apollontempel zu Delphi als sogenannter „Omphalos“ (Wortverwandtschaft: Phallus, also das männliche Glied) Gestalt gewordene Idee der alten Griechen, es müsse einen Erdmittelpunkt geben. Schon damals hatte das einen mystischen Beigeschmack, denn es war allenfalls eine Sache für Eingeweihte. Solche absichtlich herbeigeführten Unschärfen durchziehen Witteks Werke. Sie scheinen eben jenes verborgene Zentrum zu umkreisen, von dem wir höchstens noch eine Ahnung besitzen.

Ganz konkrete Erlebnisse kommen als Anstöße hinzu: Als Kind erlebte Wittek in Dortmund den Bau des „Florian“-Fernsehturms, dessen Silhouette abends manchmal vom Stahlwerk her überglüht wurde. Auch daher also eine Vorliebe fürs Ragende und der Hang zum Stahl.

Schöpfungen mit Staub und Rost

Dieser Künstler ist kein Mystifax, er arbeitet durchaus handfest. In enger Kooperation mit einem Betrieb, der sonst Druckwalzen herstellt, entwirft er an seinem Wohnort Vreden (bei Borken) die stählernen Plastiken. Wittek, der vor seinem Nürnberger Kunststudium eine Lehre als Stahlgraveur absolvierte, versteht eine ganze Menge vom Handwerk. Und er hat immense Geduld. Auf das Werden seiner „Staub-Bilder“, die gleichfalls in Dortmund zu sehen sind, hat er rund zehn Jahre gewartet. So lange hat es nämlich gedauert, bis sich die Flocken der Zeit so aufs Papier gelegt und verwischt hatten, daß die Fläche geheimnisvoll grau meliert aussah.

Keine Spur vom schnellebigen, geldgierigen Kunstbetrieb. Wittek sieht langmütig zu, wie die Dinge allmählich entstehen und wachsen. Oder er wartet ab, wie sie Patina ansetzen und vergehen; wie zum Beispiel Stahl auf die Dauer rostet und dann auch für rotbräunliche Stempel-Abdrücke auf Bildern taugt. Zwischendurch wird der Rost sogar regelmäßig mit Wasser begossen. Im Garten der Kunst gedeihen eben auch solche „Pflanzen“.

Walter Wittek. Stahlskulpturen. Staub- und Rost-Bilder. 29. Januar bis 12. März. Museum am Ostwall, Dortmund. Di-So 10-17 Uhr. Katalog 30 DM.

 

 

 

 

 




Plötzlich beginnt die Kunst sich zu regen – Werkschau des Kinetikers Pol Bury in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. So viel sichtbare Bewegung hat es im Dortmunder Ostwall-Museum wohl noch nie gegeben. Nun schnurrt es und regt sich an allen Ecken und Enden: Der Kinetik-Künstler Pol Bury und über 100 seiner Werke sind da.

Der Belgier Bury (72) gehört zu den internationalen Größen der kinetischen Richtung, die den Kunstobjekten vorzugsweise Elektromotoren einpflanzte und ihnen so die starre Ruhe austrieb. Bereits 1955 nahm er an der berühmten Pariser Schau „Le mouvement“ (Die Bewegung) teil. In Dortmund sieht man nun erstmals in gebührender Breite, was er davor geschaffen hat: surrealistische Denk-Bilder in der direkten Nachfolge eines René Magritte. Kaum war Bury vom Gedanken der Bewegung ergriffen, hörte er mit dem Malen auf, ja, er vernichtete einen großen Teil seiner Bilder. Magritte war über diesen Sinneswandel so zornig, daß er Bury nicht einmal mehr grüßte.

Die „bewegte“ Phase beginnt mit abstrakten, gegeneinander versetzten Scheiben, denen man noch mit der Hand Anstöße versetzen kann. Doch dann übernehmen Motoren, elektromagnetische oder hydraulische Vorrichtungen diese Arbeit. Und so steht der Besucher in Dortmund staunend vor Prozessen, die ohne sein Zutun ablaufen: Hier zittert ein dürres Gezweig, als streife ein sanfter Wind hindurch, dort rumpeln kantige Holzstücke aneinander vorbei, oder es ruckeln lauter Kugeln auf einer schiefen Ebene, ohne herunterzufallen – alles wie von Geisterhand.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Ein Kennmal Burys ist die „Entdeckung der Langsamkeit“. Er arbeitet weder so zupackend noch so monumental wie einst Jean Tinguely, auch wenn die größte Arbeit in Dortmund immerhin sieben Meter breit ist und 4087 bewegliche Teile umfaßt. Doch selbst in dieser Ausdehnung walten Zurückhaltung und Bescheidenheit, denn Bury betätigt die Bremse. Bewegung ja, aber nicht zu rasch. Man könnte im Trubel das Sehen verlernen. Nur wenige Objekte drehen sich daher so schnell und eindeutig, daß man es sofort wahrnimmt. Die allermeisten scheinen gemächlich abzuwarten, bis sie – an einer gar nicht vorhersehbaren Stelle – ganz plötzlich zucken. Man lauert geradezu, daß man sie dabei ertappt.

Manche Leute versetzt diese Wartestellung in meditative Ruhe, andere mögen eher ein nervöses Kribbeln verspüren und unduldsam ausrufen wollen: „Nun rühr dich doch endlich!“ Mit anderen Worten: Diese Werke taugen auch als Stimmungsbarometer. Vor allem aber als Schule der wachen Sinne.

Ist das alles berechnet, oder ist es Zufall? Pol Bury hüllt sich in Schweigen. Es ist wohl eine ausgeklügelte, seit langem erprobte Mischung aus beidem. Man könnte eine ganze Chaos-Theorie daran knüpfen. Man kann aber auch seine schiere Freude haben an der feinen Ironie, die in diesen Arbeiten mitschwingt. So etwa in den wirklich mobilen „Möbeln“, in denen es hölzern rattert, knarzt und schnarrt – lebendige Schränke, in denen buchstäblich „etwas los“ ist.

An einer anderen Stelle der Schau wird zwar nicht der Hund, wohl aber das Ei in der Pfanne verrückt. Scheinbar magische Kräfte lassen die Hühnerprodukte auf dem Metall rotieren. Und einige der Maschinchen sind sogar – auf elementarer Stufe – musikalisch, denn ihre Kräfte versetzen Saiten in Schwingung.

Vor Trivialisierung sind derlei Dinge nie ganz sicher, einzelne Einfälle sind von anderen zu billigem Kunsthandwerk herabgezerrt worden. Aber da ist es Kommerz. Bei Bury ist es ein Kosmos.

Pol Bury. Retrospektive 1939-1994. Museum am Ostwall, Dortmund. 14. August bis 16. Oktober. Di-So 10-17 Uhr. Mo geschlossen. Eintritt 4 DM. Katalog 49 DM.




Wer hat Angst vor der Freiheit der Farben? Arbeiten von Hartwig Kompa am Dortmunder Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Blau, blau, blau. Rot, rot, rot, rot. Gelb, gelb, gelb. – Kein hypermodernes Gedicht und auch kein Gestammel. Sondern so präsentiert sich (von links nach rechts „gelesen“) eine zehnteilige Farb-Installation im Lichthof des Dortmunder Ostwall-Museums. Erhaben und weiträumig wirkt sie, wie beinahe alles, was in diesem schönsten Teil des Gebäudes bislang zu sehen war.

Der Oberhausener Hartwig Kompa (Jahrgang 1947) befaßt sich seit fast 20 Jahren mit Farb-„Untersuchungen“, wie er es nennt. Zunächst ging er expressiv zu Werke, dann immer verhaltener, beinahe bescheiden den Ausdruckswerten der Farben folgend. Wichtig ist nicht eine Theorie von Wirkung und Wahrnehmung, Kompa will die Farben vielmehr in der Praxis auf die Probe stellen. Vertikale Rechtecke sind, weil sie körperlicher wirken als liegende, sein bevorzugtes Format.

Fast keine der 35 (zumeist mehrteiligen) Arbeiten aus den Jahren 1985-1992, die Kompa jetzt am Ostwall zeigt, trägt einen Titel. Eine Farbe ist eine Farbe. Man soll an nichts denken, sich an nichts erinnern. Man soll schauen, die Sinne schärfen, auch kleinste Wandlungen wahrnehmen. Eine Ausstellung also, für die man hellwach sein muß.

Ungebundene Pigmente

Auf den allerersten Blick erschließt sich nichts. Da sieht man beispielsweise in einem Raum nur verschiedene Blautöne. Wenn man aber verweilt, wird klar, auf wie viele Kleinigkeiten es hier ankommt: auf Höhen, Abfolgen und Abstände, auf das Spiel der Schatten zwischen den Bildern. Vor allem aber auf die Dicke der Bildträger, die man so richtig erst von der Seite her wahrnimmt. Ein und dieselbe Farbe wirkt bei derlei Variationen schon ganz anders; wie sehr unterscheiden sich erst ihre Nuancen!

Die Farbe ist frei. Buchstäblich. Denn Kompa verwendet ungebundene Pigmente in Pulverform. Das bedeutet: Die Farbmaterie ist ganz da, ganz gegenwärtig und greifbar (trotzdem gilt natürlich Berührungsverbot). Als Grundierung benutzt der Künstler feinste Metallspäne (Eisensinter), die sich auf der rauhen Leinwand festhaken. Auch der Untergrund verwandelt die Energie der Farbe. Das wird besonders augenfällig, wenn Kompa seriell arbeitet.

Noch einmal zurück zur Installation im Lichthof. Vor einiger Zeit lief in den Kinos Heiko Schiers Film „Wer hat Angst vor Rot-gelb-blau?“ Das Lichtspiel um Künstler und Kunstmarkt bezog sich auf Barnett Newmans Farb-Bild gleichen Titels, das traurige Berühmtheit durch ein irrsinniges Attentat erlangte. Im Dortmunder Lichthof leuchten nun eben jene Farben: Rot, gelb, blau. Wer hat Angst?

Hartwig Kompa – „Primär Farbe“. Museum am Ostwall, Dortmund. Ab Sonntag, 13. Dezember (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 17. Januar 1993. Di. bis So. 10- 18 Uhr. Katalog 30 DM.




Heldentum und Markenartikel – „100 Jahre politisches Plakat“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Führer- und Vaterfiguren schauen streng oder gütig herab. Fahnen, Adler, Heilige und Flammen halten für historische Vorhaben der Großkopfeten her. Politische Plakate, seit der Französischen Revolution verbreitet, haben meist „denen da unten“ etwas abgefordert – seien es Wahlstimmen, Wohlverhalten, soldatische „Tugenden“ oder Geld.

Mit welchen Bildern und Parolen die deutsche Bevölkerung seit 1870/71 zumeist verschaukelt worden ist, vermittelt ab morgen eine Ausstellung im Dortmunder Ostwall-Museum. 503 Exponate umfaßt diese Zusammenstellung „100 Jahre politisches Plakat“. Das Dortmunder Institut für Zeitungsforschung durchkämmte dafür seine reiche Kollektion (5000 Stücke).

Die im Kaiserreich vorherrschende Stilistik wurzelt zum Teil noch in althergebrachter Karikaturen-Tradltion. Da tauchen etwa jene Landkarten auf, in denen Könige und Schlachtenlenker – stellvertretend für ganze Völker – agieren. Nostalgie kommt aber schon in dieser Abteilung nicht auf, haben doch die Plakate des NS-Staats spätestens im Umfeld des 1. Weltkriegs deutliche Vorläufer, was Heroismus und Zynismus anbelangt.

In der Weimarer Republik, den eigentlichen Blütejahren der Plakatgestaltung, schlagen sich endlich auch zeitgenössische Kunstströmungen nieder. Die Dynamik der Umbruchstimmung deutet sich etwa in Versuchen an, expressionistische oder futuristische Komponenten massenpsychologisch wirksam aufzubereiten. Die bewegte Polarisierung der Weimarer Zeit wird nach 1933 auch formal abgelöst von der statischen Bildsprache eines verlogenen Klassizismus‘. Mit den Kriegsjahren brechen dann wieder hektischere Ausdrucksmittel durch. Man vergleiche etwa die fast angstvoll zittrige Schrift von „Der Feind sieht Dein Licht. Verdunkeln!“, das vor den Luftangriffen warnt, mit den bis dahin gebrächlichen, trutzig-„eisern“ wirkenden Schriftblöcken.

Den Zeitumständen entsprechend, werden die Plakate der unmittelbaren Nachkriegszeit karg. Sie sind mitunter nur auf Litfaßmaß gebrachte Flugblätter und Bekanntmachungen. Schließlich Plakate aus jüngster Zeit: Parteien und Personen werden immer deutlicher nach Art der Markenartikel-Werbung „verhökert“. Beispiel für den Verzicht auch auf holzschnitthafte Argumente: ein CSU-Poster, auf dem ein hübsches Mädchen lächelt. Darunter steht nur: „Lichtblick“. Wahrhaftig überzeugend…

Die Ausstellung wird heute abend mit einem Referat von SPD-Bundesgeschäftsführer Dr. Peter Glotz eröffnet, dauert bis zum 23. September und geht dann auf Rundreise durch NRW. Interessiert zeigte sich auch das Goethe-Institut in Amsterdam. Das Katalogbuch erscheint in einem Dortmunder Verlag und kostet 29,80 DM.