Joachim Meyerhoff: Literarisches Denkmal für die Mutter

Theatergänger lieben die genuschelten Spracheskapaden und schlaksigen Bewegungen von Joachim Meyerhoff, Literaturfans amüsieren sich köstlich über seine tragikomischen Erlebnisse und grotesken Selbstentblößungen. Dann aber wird der Wiener Burgschauspieler von einem Schlaganfall niedergestreckt, muss das Sprechen und Spielen neu lernen und wechselt ins Ensemble der Berliner Schaubühne. Doch alles kommt anders als gehofft.

„Ich haderte mit Berlin, der Stadt, in der ich seit fünf Jahren versuchte, heimisch zu werden, und ich haderte mit meinem Beruf, der Schauspielerei, die ich über drei Jahrzehnte mit Hingabe, gar mit Obsession betrieben hatte.“

Bühnen-Ekel und Schreib-Hemmung schlagen ihm aufs Gemüt. Fluchtartig verlässt er Berlin und zieht zu seiner Mutter aufs Land, redet sich ein, er, der 56jährige Griesgram, könne der 86jährigen Frau, die vor Lebenslust strotzt und ihren parkähnlichen Garten allein in Schuss hält, im Alltag eine Hilfe sein. Das Gegenteil ist der Fall. Die Mutter sorgt mit kräftigen Worten und zarter Fürsorge dafür, dass der selbstmitleidige Sohn aus dem Tal der Tränen finden und wieder das machen kann, was er am besten beherrscht: seine tatsächlichen und seine herbeifantasierten Erlebnisse in bizarre Literatur zu verwandeln, Geschichten aufzuschreiben, die aus den traurigen Niederlagen des Lebens komischen Honig saugen und selbst dem verkniffensten Leser ein Lachen ins Gesicht zaubern.

„Man kann auch in die Höhe fallen“ nennt Joachim Meyerhoff (eine Sentenz von Friedrich Hölderlin aufnehmend) den sechsten Teil seines Roman-Zyklus‘ „Alle Toten fliegen hoch“: eine Perlenkette von todtraurigen und berstend komischen Anekdoten aus dem Leben eines Schelms. Er hat davon erzählt, wie er als Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in einem Heim für körperlich und geistig Behinderte aufwächst und sich dort pudelwohl fühlt. Wie er als Legastheniker die Kunst für sich entdeckt, als Schauspieler mit Wörtern jongliert und als Schriftsteller den Wahnsinn der Welt veralbert.

Höchste Zeit, zur Ruhe zu kommen, sich in den Alltag der Mutter einzuklinken und mit Latzhose und Gummistiefeln zum Gärtner zu mutieren. Den Tag mit einem Bad im Meer, einem guten Whiskey und einer klugen Mutter beenden, die auf (fast) jede Frage eine gescheite Antwort weiß. Wochenlang werkeln und trödeln die beiden durch den zu Ende gehenden Sommer, holen Erinnerungen hervor und schmieden neue Pläne. Die Mutter verliebt sich noch einmal und beschließt, mit ihrem Geliebten die Welt zu bereisen, der Sohn findet wieder die passenden Worte für seine abstrusen Geschichten über die Abgründe des Künstlerlebens und collagiert seine hanebüchenen Schilderungen mit liebevollen Erzählungen über seine Mutter.

Eine Geschichte („Mutter ist weg“) will er in einer Lübecker Buchhandlung vorlesen. Doch ihm ist übel und er zittert, hat Angst vor einem neuen Schlaganfall. Da ergreift die Mutter die Initiative. Während ihr Sohn im Hinterzimmer auf einer Couch liegt, tritt sie – als hätte sie nie etwas anderes getan – vor die Zuhörer und liest die Geschichte vor, die sie zuvor gar nicht kannte und jetzt so selbstsicher und Funken sprühend intoniert, als wäre sie selbst die Autorin. Weil sie eine wahre Künstlerin ist, erfindet sie spontan noch ein paar Zeilen dazu und schenkt der unfertigen Story ein großartiges Finale. Hin und weg sind nicht nur die Besucher der Lesung, sondern auch der in seinem Kabuff liegende Joachim Meyerhoff, der seiner Mutter mit seinem Roman ein literarisches Denkmal setzt.

Joachim Meyerhoff: „Man kann auch in die Höhe fallen.“ – „Alle Toten fliegen hoch“, Teil 6. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 358 Seiten, 26 Euro.

 




Mutter, Tochter, Spüli

Eben bei Edeka: eine Tante, entnervt, schwer beladen, aus ihrem Korb quillt schon sehr viel Wohlfeiles, auf den Armen balanciert sie auch noch Zeugs und angelt grad nochmal in die Kühltruhe nach Plastikcontainerchen mit Fleischlappen.

Spüli, Kuli auf Zettel, 9,5×9,5cm, 2018 (© Thomas Scherl)

Hinter ihr: das Töchterlein. Blühendstes Hormonchaos mit mürrisch-gelangweiltem Fluntsch (wie man halt so guckt in dem Alter, wenn man mit Muttern einkoofn muß). Latscht, die Hände in den Taschen und ich drauf&dran, daß ich sie anstupse und ihr ein »Mensch, jetzt hilf doch mal« zuraunze. ((Aber weil ich ein angenehmer Mensch bin, laß ich’s bleiben.) (Außerdem weiß man heut ja nie. Am End les ich dann so in zwanzig Jahren in der #meToo-Gazette meinen Namen. Neeneenee, lieber nich.))

Dann, als die beiden schon fast an der Kasse sind: »Spüli, wir brauchen noch Spüli!«, sprach Mutter zu ihrem Töchterlein und das latscht auch folgsam davon und prinzipiell sogar in die richtige Richtung. Vor dem Regal mit Zahnpasta, Duschzeugs usw usf steht sie. Und überlegt. Man sieht in ihrem Köpfchen zäh die Zahnräder sich bewegen (»drehen« wär in dem Stadium des Vorgangs noch zu viel gesagt). Und wenn alle ganz leise gewesen wären, hätt‘ man’s sogar ein bißchen knirschen gehört.

Ziehendes und gezogenes Trum: ah, jetzt wird das Ergebnis rufend ausgegeben: »Mama! Was ist Spüli?« (Bei »unserem« Edeka ist besagtes Regal gut zehn Meter von der Kasse entfernt und ums Eck gehts auch nochmal.)
Irgendwo im Regallabyrinth kicherts.

»Spülmittel!«, ich.
Irgendwo im Regallabyrinth lachts.

»Geschirrspülmittel!«, die Mutter.
An vielen Stellen im Regallabyrinth lachts lauter.

Je nu, ich konnts dann nicht weiterverfolgen, aber irgendwie hat sie die Aufgabe dann doch gemeistert. Applaus, mesdames et messieurs! Auf daß das Kind keinen bleibenden Seelenschaden trage!

An der Kasse seh ich die beiden dann nochmal und belausche Muttern (gehetzt): »Schnell! Jetzt kommt gleich die Sendung im Fernsehn, über Papas Firma.«

Ok, jetzt wär das also auch geklärt.




Soziale Miniaturen (6): Im Herrenhaus

Die ältere Dame trägt wochentags stets einen schwarzen Kaschmir-Pullover. Sie sagt, sie sei einst Schauspielerin bei einem weltberühmten Regisseur gewesen. Beinahe achtlos lässt sie auch Namen wie Marianne Hoppe oder Will Quadflieg herabtropfen. Sie macht kein Aufhebens davon, sondern handelt es ab, als sei es selbstverständlich, derlei Theaterprominenz gekannt zu haben.

Sie lebt in einem weitläufigen Herrenhaus mit riesigem Park. Nebenher vermietet sie einige Ferienwohnungen auf ihren Latifundien. Weitere Domizile liegen in einer deutschen Metropole und in Übersee.

Früh hatte sie die Schauspielerei aufgegeben und sich in gewisse Formen des Journalismus eingefunden. Anfangs hat sie triviales Geschichten für damals noch florierende Illustrierte geschrieben. Später hat sie – unter Pseudonymen – Unterhaltungsromane mit billigem Lebenstrost verfertigt und schließlich ähnlich gelagerte Stoffe fürs Fernsehen gestrickt. Irgendwann glaubte sie die schaumigen Träume vom jederzeit möglichen Aufstieg der kleinen Leute selbst. So etwas schreibt sich leichten Herzens im Herrenhaus.

Ihre größte Sorge ist ihre Tochter, die einer brotlosen Kunst nachgeht. Das ließe sich ja noch regeln. Doch weitaus schlimmer sei dies: „Sie bringt mir keinen vernünftigen Schwiegersohn“, sagt die Dame über die Tochter, die als Einzelkind gar zu zickig sei. Am liebsten würde die Mutter ihr einen passenden Mann suchen. Der müsste halt mit einem etwas kleineren Busen vorlieb nehmen und den „Wildfang“ bändigen… Dafür gäb’s allerdings ein ansehnliches Erbteil und eine doch recht hübsche Gattin obendrein. „Hier. Schauen Sie. Ich habe ein paar Fotos.“

Tiefer Seufzer. In einigen Jahren werde die Tochter 40 sein, dann werde es immer schwieriger, wenn eine so eigenwillig sei wie sie. Den Besten von allen habe sie verschmäht, vergebens weine sie ihm jetzt nach.

Ach, es ist ein Elend. Geradewegs illustriertenreif.