Das Kabarett neu justiert – ein paar Zeilen zum Tod von Richard Rogler

Richard Rogler, 2016 beim Dortmunder Festival „Ruhrhochdeutsch“ im Spiegelzelt an der Westfalenhalle. (Foto: Bernd Berke)

Welch ein Verlust! Der Wahl-Kölner Richard Rogler ist mit gerade einmal 74 Jahren gestorben. Er war im üblichen Wortsinne weder Kabarettist noch gar Comedian, sondern einer, der die Kabarett-Kunst an den entlarvenden Schnittstellen zwischen Privatleben und Politik recht eigentlich neu justiert hat. Insofern ein Pionier seines Metiers.

Stationen seines Werdegangs (darunter auch Kindertheater) und die zahlreichen Preise lassen sich vielfach nachlesen. Ich möchte es bei einer flüchtigen und doch prägnanten Erinnerung belassen. Ich meine Roglers erzkomische Nummer rund um die damalige pakistanische Premierministerin Benazir Bhutto (in diesem Amt 1988-1990 und 1993-1996), eine ausgesprochen schöne Frau, was ja eigentlich nicht viel zur politischen Sache tut. Jedoch…

Richard Rogler stellte sich jedenfalls vor, wie die damalige Weltelite der Staatsmänner bei einem internationalen Treffen untereinander tuschelt, was wohl bei der Bhutto „geht“ und wie man an sie herankommt. Wunder über Wunder: Die Herrschaften waren auch nur Männer. Da „saß“ einfach jedes Wort und jeder verstohlene, hinterhältige Tonfall. Man wusste sogleich, dass hier ein Großer seiner Zunft zugange war. Seltsam oder auch nicht, dass ich mich ausgerechnet daran zuallererst bzw. zuallerletzt erinnere.

Für diesen und viele andere Auftritte einfach nur danke. Die ihn auf der Bühne oder medial erlebt haben, werden ihn nicht vergessen.




Zum Tod des Dortmunder Theatermachers Rolf Dennemann

Rolf Dennemann auf der Theaterbühne. (Foto: © Guntram Walter)

Der Dortmunder Theatermacher, Schauspieler und Autor Rolf Dennemann ist gestorben – viel zu früh mit 71 Jahren.

Ein einziges Mal hat Rolf Dennemann an einem Autorentreffen der Revierpassagen teilgenommen, doch kann ich leider nicht behaupten, ihn wirklich näher gekannt zu haben. Umtriebig, ja getrieben schien er an jenem Abend zu sein. Er hat sich denn auch vorzeitig verabschiedet. Rückblickend betrachtet, war es ein geradezu gespenstischer, ungemein betrüblicher Abend, denn auch einen anderen unserer Autoren, den schmerzlich vermissten Kulturkenner Martin Schrahn, habe ich damals zum allerletzten Mal gesehen. Wie nichtsahnend wir geplaudert haben…

Vor Jahren hat Rolf Dennemann hin und wieder für die Revierpassagen geschrieben. Vor allem ist mir seine dreiteilige Serie „Krankenhausreport“ in Erinnerung geblieben, in der er 2014 höchst eindrücklich seine teilweise bizarren Erfahrungen beim Klinik-Aufenthalt beschrieben hat. Daraus und aus weiteren Notizen ist einige Zeit später die Vorlage zu einem seiner Theaterprojekte geworden. Alles wurde ihm zur Szenenfolge.

Nachdem ein anderes Medium kurzerhand nur die Pressemitteilung der Stadt Dortmund als Nachruf auf Rolf Dennemann publiziert hat, erlauben wir uns mit den folgenden Absätzen ausnahmsweise ein ähnliches Verfahren, freilich in transparenter Darbietung. Hier also der (leicht gekürzte) Wortlaut der städtischen Würdigung:

„Rolf Dennemann war ein kreativer Geist in vielen Bereichen der regionalen und überregionalen Kulturszene. Er hat sie durch seine Ideen, Inszenierungen, Inspirationen und sein Engagement für die Kulturschaffenden sehr geprägt.

(…) Dennemann wurde in Gelsenkirchen geboren und lebte seit den 1990ern in Dortmund. Er war freischaffender Regisseur, Autor, Festivalleiter und Schauspieler. Außerdem war er als Gründungsmitglied und geschäftsführender Vorstand prägend für die künstlerischen Produktionen des Vereins „Artscenico“ in Dortmund. Er war langjähriger Leiter des internationalen Theaterfestivals „off limits“ und hat (…) bedeutende internationale Produktionen nach Dortmund geholt. Von 1996 bis 1998 leitete er den „Theaterzwang“ (jetzt „Favoriten“), ein (…) Festival der freien Theaterszene aus NRW in Dortmund (…)

Rolf Dennemann (…) war Spezialist für ortsspezifische Inszenierungen auf ehemaligen Industriegeländen – in Parks, Hotelzimmern, sakralen Räumen, Brachflächen oder Wohnblöcken. Mehr als 50 (…) performative Theaterstücke hat er produziert. Dabei war ihm nicht nur wichtig, sich der besonderen lokalen Bedeutung der Orte im Ruhrgebiet zu nähern, sondern damit auch andere Menschen anzusprechen, die nicht zum Stammpublikum im Theater gehören. (…)

Als Schauspieler war Dennemann nicht nur auf Bühnen präsent. Er arbeitete für Kino- und Fernsehproduktionen unter anderem mit dem Dortmunder Regisseur Adolf Winkelmann in seinen Filmen „Nordkurve“, „Eine einzige Tablette“ und „Junges Licht“. Auch andere deutsche Regisseure setzten auf den Schauspieler: Tom Tykwer („Der Krieger und die Kaiserin“), Fatih Akin („Solino“) und Detlev Buck („LiebesLuder“) zum Beispiel, auch für den „Tatort“ stand er schon als „Ruhrgebietsoriginal“ vor der Kamera. (…)

„Rolf Dennemann hat die Kulturszene auf vielfältige Weise geprägt. In der Region und hier in Dortmund hat er viele Spuren hinterlassen, er wirkte aber auch international auf Festivals und in Projekten und führte die Menschen zusammen. Als Mensch, als Künstler, als kreativer Querdenker wird er sehr fehlen“, so Kulturdezernent Jörg Stüdemann.“

 

 




„Jo, der Froonz“ – Zum Tod von Franz Beckenbauer

Haben soeben den WM-Titel 1974 gewonnen (von links): Gerd Müller, Franz Beckenbauer und Trainer Helmut Schön. (Wikipedia Creative Commons, Bert Verhoeff für Anefo) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en

Nein, wir wollen hier nicht seine gesamte (sportliche) Biographie herunterrattern, sie war imposant genug und in Fußball-Deutschlands Breiten unerreicht.

Es gab Zeiten, da hätte Franz Beckenbauer, der gestern mit 78 Jahren gestorben ist, durchaus Bundespräsident oder dergleichen Gewichtiges werden können – zumindest „gefühlt“. Boulevard-Medien krönten ihn gar zum „Kaiser“, nahezu alle Welt übernahm diesen Titel. Was sonst will man in einem Lande machen, das keine Monarchen mehr hat? Nun gut, manche kürten ihn auch zur geradezu erdenthobenen „Lichtgestalt“.

Ganz persönlich erinnere ich mich an einen unscheinbaren, aber vielleicht doch bezeichnenden Moment zur Mitte der 1960er Jahre im Dortmunder Stadion Rote Erde, dem Vorläufer des Westfalenstadions (vulgo Signal-Iduna-Park). Es gastierten die Bayern, damals noch Aufsteiger und Emporkömmlinge der Bundesliga. Franz Beckenbauer fing einen Dortmunder Angriff souverän ab und leitete einen eigenen ein. Da ertönte hinter uns Kindern eine sonore, bayerisch getönte Stimme: „Jo, der Froonz…“ Es lag das ganze Urvertrauen darin, das sie in ihren höchstbegabten Libero hatten und zu Recht haben durften.

Mit der WM 1990 den Zenit erreicht

Schon beim legendären Wembley-Endspiel 1966 ist er mit dabei gewesen, 1974 hat er als Spieler und 1990 als Trainer („Teamchef“) die Fußball-Weltmeisterschaft errungen. Sein stiller Gang übers Spielfeld inmitten des Triumphs ist zum Inbild geworden. Es war der Zenit seiner großen Laufbahn. Damals schien er über manche, wenn nicht alle Zweifel erhaben zu sein. Töricht allerdings seine Einschätzung, nach der deutschen Vereinigung werde die Nationalmannschaft „auf Jahre hinaus unschlagbar“ sein. Noch ungleich törichter dann einiges, was er auf Funktionärs-Ebene unternommen hat. Es soll nicht weiter vertieft werden. Nicht hier und heute. Wie er die WM 2006 nach Deutschland geholt hat? Sagen wir’s mit bedenklich wiegendem Kopfe und den Worten von Gerhart Hauptmann aus dem „Weber“-Drama: „Nu ja ja, nu nee nee“.

Stets tauglich für Gesprächsstoff und Parodien

Zusammen mit dem weitaus weniger eleganten Uli Hoeneß hat Beckenbauer die Grundlagen zur dauerhaften Dominanz des FC Bayern München gelegt. Selbst als Ruhrgebiets-Bewohner – und zumal Dortmunder – muss man solchem Wirken einen gewissen Respekt zollen, auch wenn von „echter Liebe“ in dieser südlichen Richtung natürlich keine Rede sein kann. Trotzdem fehlten die oft goldigen, manchmal auch schneidigen Meinungsäußerungen des sonnigen Gemüts Beckenbauer schon seit einiger Zeit, sie waren stets unterhaltsam und haben für Gesprächsstoff gesorgt. Dankbar haben die Medien jedes Wort aufgegriffen. Sprichwörtlich wurden auch Satzfetzen aus seinen Werbeauftritten – von „Kraft auf den Teller, Knorr auf den Tisch“ bis hin zu „Jo, is‘ denn heut‘ scho‘ Weihnachten?“

Nicht die geringste Qualität Beckenbauers hat sich eben darin gezeigt, dass er wunderbar parodiert werden konnte und also ein unverwechselbares Profil hatte. Allen voran hat dies Olli Dittrich (alias „Dittsche“) bewiesen, der für TV-Features in die Rolle des „Kaisers“ schlüpfte und sogar einen Doppelgänger desselben mimte.




Der König ist tot – Fußball-Zauberer Pelé starb mit 82 Jahren

Freudentränen nach dem Gewinn der Fußball-WM 1958 (Brasilien – Schweden 5:2): der damals 17-jährige Pelé (Mitte) mit Didi (li.) und Torwart Gilmar. (Wikimedia gemeinfrei / Aftonbladet) – Link zu Angaben bei Wikipedia: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1958_VM-final_Sverige-Brasilien.jpg

Der König ist gestorben. Pelé (1940-2022), König des Fußballs, den sie (nicht nur) in Brasilien ehrfürchtig just so genannt haben: „O rei“! Als er sein 1000. Tor schoss, läuteten dort vielerorts die Kirchenglocken… Tatsächlich dürfte er jetzt im Fußballhimmel weilen und weiter „zaubern“. Mögliches Motto, sonst anderweitig vergeben: An Gott kommt keiner vorbei, außer Pelé…

Meine frühesten Erinnerungen an Fußball reichen in die Zeit zurück, als er zum weltweit besten Fußballspieler wurde – bis hin zu den Weltmeisterschaften von 1958 (nur noch ganz vage Eindrücke) und 1962, als lediglich per Radio nachts live aus Chile übertragen wurde. Beide Male gewann Brasilien mit dem unvergleichlichen Stürmer Pelé den WM-Titel. Seine dritte WM holte er dann mit der Seleção von 1970. Keinem anderen ist das gelungen. Na klar: Auch damals holten schon Teams die Trophäen, aber nicht ohne herausragende Protagonisten. Bis heute zergehen gereifteren Fußballanhängern die Namen von damals auf der Zunge: Didi, Vavá, Pelé, Garrincha…

Spätestens seit den frühen 60er Jahren war er natürlich auch bei uns im Ruhrgebiet ein Begriff, wie in jenen Zeiten sonst nur noch Uwe Seeler, wenn es um Ausnahme-Könner außerhalb des Revier-Fußballs ging. Nun gut, in den hiesigen Breiten sprach man ihn meist etwas anders aus, nämlich „Péle“ – mit Betonung auf dem ersten „E“. Klang auch gut und mächtig bewundernd; wobei sich sein bürgerlicher Name ohnehin nach höchstem Adel anhörte, zumindest für deutsche Ohren: Edson Arantes do Nascimento.

Zwar hat Neymar ihn mittlerweile eingeholt, was die Summe der Tore für die brasilianische Nationalmannschaft angeht, doch man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen: Nie wird dieser überkandidelte Kerl einen auch nur annähernd vergleichbaren Legendenstatus erlangen. Erstens hatte er viel mehr Spiele Zeit zum Rekord, vor allem aber eilt ihm der Ruf voraus und hinterher, häufig mit grotesken Verrenkungen darzustellen, wie schlimm er gefoult worden sei. Pelé hingegen war ein untadeliger Sportsmann.

Pelé durfte – quasi als Nationalheiligtum – nicht bei europäischen Vereinen wie Real Madrid spielen, sondern blieb dem FC Santos von 1956 bis 1974 erhalten, sozusagen per Dekret der damaligen brasilianischen Regierungen. Und jetzt mal Tacheles, da bin ich entschieden konservativ. Für mich ist und bleibt Pelé der größte Spieler der Fußball-Historie, trotz Maradona. Ohne Umschweife schließe ich mich Alfredo di Stefano an, der gesagt hat: „Der beste Spieler aller Zeiten? Pelé. Messi und Cristiano Ronaldo sind großartige Spieler (…), aber Pelé war besser.“

Pelé kam aus ärmlichen Verhältnissen. Als Kind hat er barfuß gekickt, weil die Eltern keine Fußballschuhe kaufen konnten. Als Bälle sollen anfangs zusammengeknüllte Socken oder Grapefruits gedient haben. Straßenfußballer halt. Das waren meistens die allerbesten. Siehe auch Maradona und Messi.

Ob Pelé auch in den heutigen Zeiten des athletischen Hochgeschwindigkeits-Fußballs mitgehalten hätte, sei dahingestellt. Die Ästhetik und die Raffinesse, die er verkörperte, sind jedenfalls weitgehend geschwunden. Wahrscheinlich würden eisenharte Verteidiger einen wie ihn heute mit allen (un)erlaubten Mitteln attackieren und er würde als Sportinvalide enden.

Jetzt aber verneigt sich die Welt, sofern sie den wirklich schönen Fußball noch zu würdigen weiß.




Funkelnder Geist, fröhlich voraus – zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

Hans Magnus Enzensberger, am 20. Mai 2006 in Warschau (Polen). (Wikimedia Commons / Own work of © Mariusz Kubik, editor of Polish Wikipedia). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/deed.en

Eine erfreulich lange Lebenszeit war ihm vergönnt. Nun aber trauert die literarische Welt: Hans Magnus Enzensberger, der wohl brillanteste Intellektuelle seit den frühen Jahren der Bundesrepublik, ist mit 93 Jahren in München gestorben. Unter den Lebenden fällt einem allenfalls noch jemand wie der ebenso vielseitige Alexander Kluge ein, wenn es um derart funkelnden Verstand geht, der sich aus gutem Grund an alle Themen wagt.

Enzensberger war alles andere als ein Schriftsteller aus dem Elfenbeinturm, wusste er doch auch die Klaviatur der Medien zu bespielen wie kaum ein anderer. Sehr früh und beispielhaft hat er die Sprache von Augsteins „Spiegel“ analysiert und später das deutsche Fernsehen fachgerecht seziert. Sein ganzer Habitus und sein geradezu elegantes Denken waren eine Absage ans alte Deutschland, sie schienen einer luftigen übernationalen Sphäre anzugehören.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit hat der 1929 in Kaufbeuren geborene und dann in Nürnberg aufgewachsene Mann sich u. a. als Schwarzhändler und Barmann verdingt, was durchaus nach wertvoller Lebenserfahrung klingt. Später hat er edlere Berufungen mit Leben erfüllt, er war Rundfunkredakteur beim Schriftstellerkollegen Alfred Andersch und Lektor im Suhrkamp-Verlag.

Der weltläufige Enzensberger blickte zeitig weit über Deutschland hinaus: 1960  hat der polyglotte Sprachkünstler den wunderbaren Gedichtband „Museum der modernen Poesie“ herausgegeben, mit dem er herausragende Lyrik aus aller Welt einsammelte und den poetischen Stand der Dinge als sinnliche Bestandsaufnahme reflektierte. Mit dem Band „Ach Europa“ (1987) hat er zudem seine Vision für diesen unseren vielfältigen Kontinent entworfen. Er dürfte denn auch – neben Böll und Grass – durch all die Nachkriegs-Jahrzehnte der international bekannteste deutsche Autor gewesen sein.

Enzensberger hat auch kaum zu überschätzende Verdienste als Herausgeber und Anreger. So publizierte er nach dem „Museum der modernen Poesie“ das um 1968 ungemein wichtige „Kursbuch“, gegen Ende der 70er Jahre die ambitionierte Kulturzeitschrift „TransAtlantik“ (gemeinsam mit Gaston Salvatore) und von 1985 bis 2004 die von Franz Greno herrlich gestaltete bibliophile Reihe „Die andere Bibliothek“. Eine Spezialität: Enzensberger war überdies ein Liebhaber der Mathematik, von deren Schönheit er auch andere gern überzeugen wollte – nachzulesen in „Der Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben“.

Bereits 1957 und 1960 waren Enzensbergers frühe Lyrikbände „Landessprache“ und „Verteidigung der Wölfe“ erschienen, mit denen ein unerhört neuer, geradezu „frech“ auftrumpfender, sogleich einnehmender Tonfall in die deutschsprachige Literatur kam, nein: Einzug hielt. Kleiner Schwenk ins Persönliche: Wir hatten eine recht junge Deutschlehrerin, die uns Mitte der 60er Jahre zumal auf Enzensberger und Ingeborg Bachmann aufmerksam machte, wofür man noch heute dankbar sein darf. Den furiosen Debüts folgten Dutzende weiterer Bücher, die wir hier nicht aufzählen wollen. Entsprechende Listen finden sich vielfach in Druckwerken und im Netz. Auf dem Foto sind ebenfalls ein paar Titel zu erkennen.

Je nun, im heimischen Billy-Regal befinden sich auch ein paar Bücher von Enzensberger. Ehrensache. (Foto: BB)

Enzensberger betätigte sich praktisch auf allen Feldern des Schreibens und Debattierens. Auch und gerade als Essayist setzte er neue Maßstäbe, wobei er stets wundersam wandelbar blieb und sich nie auf eine starre Meinung festnageln ließ. Sein luzider Duktus konnte an Größen wie die Freigeister Montaigne oder Lichtenberg erinnern. Ja, auf solchen Höhen war er unterwegs, immerzu formvollendet.

Dem allgemeinen Stand der Diskussionen war Hans Magnus Enzensberger in aller Regel weit voraus. Wer immer geglaubt haben mag, er habe ihn bei der oder jener festgelegten Denkfigur „erwischt“, dem war dieser höchst bewegliche, niemals dogmatische Geist schon wieder frisch und fröhlich enteilt. Bei ihm wusste man nie im Voraus, wie er sich zu einer Sache stellen und wie er argumentieren würde. Deshalb waren seine Texte eigentlich immer überraschend und spannend.

Mehr noch: Oft ertappte man sich bei der dringlichen Frage, was wohl Enzensberger zu dieser oder jener Wendung der Zeitläufte sage? Um maßlos zu untertreiben: Es gibt heute nicht mehr so furchtbar viele Schriftsteller und Intellektuelle, auf die derlei Wünsche gleichfalls zuträfen. Heißt im Umkehrschluss: Hans Magnus Enzensberger wird uns fehlen. Sehr.




Journalist vom besten alten Schlage – Fritz Pleitgen ist gestorben

Gerade in Zeiten, da das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem hie und da ins Gerede geraten ist, betrübt diese Nachricht umso mehr: Der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen ist mit 84 Jahren in Köln gestorben. Er stand für eine Ära, als ARD und ZDF meistenteils für vorbildlichen Journalismus bürgten.

Fritz Pleitgen am 29. Mai 2010 bei der Eröffnung der „Emscherkunst“ in Herne. Wikimedia Commons © Arnoldius / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Wenn Fritz Pleitgen eine Aufgabe übernahm, konnte man stets darauf bauen, dass die Sache in den richtigen Händen war. Das galt auch, als der gebürtige Duisburger 2007 Geschäftsführer der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010 wurde.

In diesen Zusammenhängen hat er seinerzeit die Kulturredaktionen des Reviers öfter zusammengerufen und über seine ambitionierten Vorhaben informiert – niemals wolkig, immer sachgerecht. Gern denkt man an diese Pressekonferenzen zurück. Pleitgen gehörte zu den eindrucksvollen Menschen, die eine ungeheure Präsenz ausstrahlen, sobald sie nur einen Raum betreten und zu sprechen beginnen.

Nein, ich werde jetzt nicht alle Ämter aufzählen, die Fritz Pleitgen mit großem und erfolgreichem Engagement ausgeübt hat. Wer seinen Lebenslauf liest, weiß, dass er praktisch von Anbeginn ein Journalist vom besten alten Schlage gewesen ist, der schon mit 14 Jahren freier Mitarbeiter bei einer Zeitung in Bielefeld war – für Gerichts- und Sportberichterstattung. Als höchst versierter Nachrichtenmann, Korrespondent und Senderchef wird er in Erinnerung bleiben.

Möge sich der gebührenfinanzierte Rundfunk wieder und weiter so entwickeln, wie es in seinem Sinne gewesen ist.




Mit Leib und Seele der Oper verschrieben: Früherer Aalto-Intendant Stefan Soltesz gestorben

Stefan Soltesz in seiner Essener Zeit. (Foto: Matthias Jung)

Gestern spät abends drangen die ersten Kurzmeldungen durch die sozialen Netzwerke: Stefan Soltesz ist tot. Der frühere Essener Intendant und Generalmusikdirektor brach während seines Dirigats von Richard Strauss‘ „Die schweigsame Frau“ an der Bayerischen Staatsoper München zusammen und verstarb kurze Zeit später im Krankenhaus. Er wurde 73 Jahre alt.

Ein Augenzeuge berichtet: Gegen Ende des ersten Akts, gerade als die turbulente Probe der Operntruppe im Hause von Sir Morosus in vollem Gange ist und der alte Kapitän mit dem Speerschaft Wotans auf den Boden geklopft hat, ist ein dumpfer Knall zu hören. Einen Augenblick später „entsteht großer Trubel: einige Leute stehen auf, gestikulieren, schreien wild. Wir schauen vergnügt weiter, denn es ist ja eine lustige Oper und wir dachten, das gehöre dazu.“ Doch dann erklingen Rufe nach einem Arzt, der Vorhang fällt und der Abenddienst tritt vor den Vorhang und bittet das Publikum, vorzeitig in die Pause zu gehen.

Nach einer ungewöhnlich langen Zeit werden die Zuschauer wieder in den Saal gerufen und erfahren, dass die Vorstellung beendet werden muss. Zunächst denkt man im Publikum an einen Hitzschlag, doch dann verbreitet sich rasch die schreckliche Nachricht. Die Bayerische Staatsoper gibt auf ihrer Webseite „mit Entsetzen und großer Trauer“ den Tod von Stefan Soltesz bekannt. „Wir verlieren einen begnadeten Dirigenten. Ich verliere einen guten Freund“, twittert Staatsopernintendant Serge Dorny.

Stefan Soltesz prägte das Essener Musikleben als Generalmusikdirektor der Philharmoniker und Intendant des Aalto-Musiktheaters ab 1997. Seinen nicht ungetrübten Abschied aus Essen nahm er im Juli 2013 mit „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss, eines seiner Lieblingskomponisten, für dessen Werke er als Spezialist galt. Geplante spätere Gastdirigate hat Soltesz abgesagt, nachdem die Stadt Essen es nicht geschafft hatte, den langjährigen erfolgreichen Motivator des Essener Musikkultur angemessen zu verabschieden. „Ich habe es geliebt, hier zu arbeiten“, sagte der scheidende Chef damals, und die WAZ zitierte seine Worte bei der Abschiedsfeier im Aalto-Theater: „Ich habe die 16 Jahre in Essen mit großer Begeisterung erlebt. Es war der wichtigste und schönste Lebensabschnitt. Behalten Sie mich in guter Erinnerung.“

Soltesz war ein Prinzipal alter Schule und als Dirigent den großen Namen verpflichtet: Mozart, Strauss, Wagner. Kompromisse, vor allem in künstlerischer Hinsicht, waren seine Sache nicht. So liebenswürdig er mit seinem Wiener Charme spielen konnte: Wenn es um die Musik ging, war er unerbittlich. Orchestermitglieder können davon erzählen, von seinen Sottisen, von seiner fordernden Detailarbeit, von dem Gefühl dauernder Hochspannung und des Spielens „auf der Stuhlkante“: Aber auch von seiner unbedingten Solidarität, seinem unbändigen Einsatzwillen – und vor allem seinem Charisma, seiner magischen Hand, mit der er die Musik in wundersamer Vollendung hervorlocken konnte.

Natürlich trat er in Essen 1997 mit „Arabella“ von Richard Strauss an – jener umstrittenen, oft gering geschätzten Oper von 1933, die jetzt wieder auf dem Spielplan des Aalto-Theaters steht und von Tomáš Netopil überzeugend, aber anders dirigiert wird. Strauss sollte den Essener Spielplan in den kommenden Jahren prägen: 1998 folgte „Die Frau ohne Schatten“, die in der Inszenierung von Fred Berndt bis 2013 im Repertoire bliebt. Es folgte die Rarität „Daphne“ (1999), dann „Elektra“ (2000), „Ariadne auf Naxos“ (2002) und „Die ägyptische Helena“ (2003). „Salome“ schloss 2004 diesen Strauss-Zyklus vorläufig ab. An die frühen Werke oder an ein kleines Juwel wie „Intermezzo“ wollte der Pragmatiker nicht denken, obwohl er schon in den neunziger Jahren Strauss‘ „Friedenstag“ in einer Inszenierung von Peter Konwitschny an der Semperoper Dresden dirigiert hat.

Stefan Soltesz war mit Leib und Seele ein Mann der Oper. Schon der Anfang seiner Karriere, 1971 am Theater an der Wien und im folgenden Jahrzehnt an der Wiener Staatsoper und der Oper Graz, war vom Musiktheater geprägt. In Salzburg assistierte er Größen wie Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan. Auch an seine nächsten Stationen in Hamburg und Berlin, in Braunschweig als GMD und in Antwerpen/Gent als Chefdirigent dominierte die Oper. Was nicht heißt, dass Soltesz nicht auch faszinierende, berührende, hochgespannte Konzertabende  dirigierte. Nicht umsonst wurden die Essener Philharmoniker unter seiner Ägide 2003 und 2008 zum „Orchester des Jahres“ gekürt.

Aber man spürte: Das Herz des gebürtigen Ungarn, der im Alter von sieben Jahren 1956 zu den Wiener Sängerknaben gekommen war, schlug im Musiktheater. Kennengelernt habe ich ihn 1991, als er in Berlin in John Dews durchdachter Inszenierung von Giacomo Meyerbeers „Les Huguenots“ den Taktstock schwang und demonstrierte, wie subtil Meyerbeer die dramatischen Situationen erfasst. Mit Meyerbeer erlebte ich Stefan Soltesz auch eines der letzten Male, 2019 an der Semperoper, wo er wiederum trotz fragwürdiger Kürzungen auf Wunsch von Regisseur Peter Konwitschny die „Hugenotten“ mit kundigem Blick durchdrang: „Soltesz dirigiert mit Gefühl für Farben und dramatische Entwicklungen“, schrieb ich damals.

Aber auch an seinem Stammhaus Essen ist an unvergessliche Aufführungen zu erinnern. Jeder wird da seine eigene Rangfolge entwickeln. Gelegenheit, den Dirigenten Stefan Soltesz zu erleben, gab es mannigfach. Er war ja omnipräsent, übernahm viele Premieren selbst, ersetzte seine eigenen Kapellmeister oder ausgefallene Gastdirigenten. „Soltesz ist ein Chef, der auch für sich selbst einspringt“, meinte ein Kollege einmal scherzhaft. Diese Präsenz ist heute leider unüblich geworden, sichert aber Vertrauen, Verlässlichkeit und gibt einem Haus und einem Orchester eine unverwechselbare Prägung.

Für mich eines der prägendsten Erlebnisse mit Soltesz war – neben seinen immer wieder mitreißenden Strauss-Abenden – seine Arbeit an Vincenzo Bellinis „I Puritani“. Die Sorgfalt, mit der er diese zunächst so „einfach“ erscheinende Partitur einstudierte, der Blick für den großen Bogen, die atmende Phrasierung, die Gliederung der Melodie, die Liebe zum instrumentalen Detail, brachten die Qualitäten Bellinis ans Licht des Tages und ließen den angeblich so simplen Belcanto in einem neuen Licht erscheinen. Eine Meisterleistung der Dirigierkunst.

Müßig aufzuzählen, wo der unermüdliche Dirigent als Gast anzutreffen war. Ob Hamburg oder Wien, München oder Berlin, Budapest oder Frankfurt, Rom, Paris, Zürich oder Buenos Aires. Sein Name tauchte immer wieder auf – auch an der Komischen Oper Berlin, wo er zuletzt in Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ sein Faible für die Spätromantik des 20. Jahrhunderts ausspielen konnte und mit Paul Abrahams „Viktoria und ihr Husar“ einen hinreißenden Operettenabend bescherte.

Stefan Soltesz wird fehlen, aber die Erinnerung an ihn lebt in der Seele all jener weiter, die er mit Musik beglückt hat, und sie werden ihm im Herzen die Kränze flechten, die die flüchtige Zeit nicht nur dem Mimen, sondern auch den Musikern gern vorenthält.




Ein fairer Sportsmann durch und durch – zum Tod von Uwe Seeler

Uwe Seeler am 23. Mai 1968 im Endspiel des Europacups der Pokalsieger: AC Mailand – Hamburger SV 2:0. (Wikimedia / Public Domain. Ron Kroon / Anefo, Nationaal Archief – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en)

Für Menschen meiner Alterskohorte gibt es ein paar wenige Gestalten, die eigentlich „immer da waren“ und ohne die man sich das Dasein auf diesem Erdkreis gar nicht vorstellen mag. Bob Dylan und Paul McCartney gehören beispielsweise für viele von uns dazu. Oder auch die Queen. Und auf wiederum anderem Felde: Uwe Seeler. Umso trauriger ist diese Nachricht: „Uns Uwe“ ist heute mit 85 Jahren gestorben.

Der Mann hat seinem Hamburger SV immer und immer die Treue gehalten – geradezu ein Ausbund an Verlässlichkeit, noch so fern von heutiger Wechselwut und Geldgier in der Branche. 1961 schlug er ein Millionen-Angebot von Inter Mailand aus. Seither ist er den Fans im ganzen Land noch mehr ans Herz gewachsen. Müßig zu sagen, dass er auch im Privatleben eine treue Seele war.

Und dann all diese unvergesslichen Szenen: Wie er damals mit hängenden Schultern nach der WM-Finalniederlage 1966 gegen England vom Platz ging; wie er in der Revanche, dem WM-Spiel 1970 gegen England, den sensationellen Hinterkopf-Treffer erzielt hat. Und so weiter…

Auch in Dortmund kamen wir ballversessenen Jungs an einem Vorbild wie ihm nicht vorbei. Sicher, wir bewunderten BVB-Heroen wie Sigi Held und Lothar Emmerich. Doch mindestens auf gleichen Höhen rangierte damals in unserer Vorstellung Uwe Seeler. Er war der Inbegriff des Torschützen, dem Kinder in ganz Deutschland nacheiferten. Wenn einem ein besonders sehenswerter Treffer gelang, hieß es auch im Ruhrgebiet schon mal: „Fast wie Uwe Seela, ey!“

Uwe Seeler, der seine Laufbahn 1972 beendet hat, ist nie Weltmeister geworden und war doch wohl der populärste aller deutschen Fußballspieler. Er war spürbar bodenständig, ehrlich, bescheiden, hatte keine Allüren und schon gar keine Affären. Ein fairer Sportsmann durch und durch.

Ganz gleich, wie man es mit dem Hamburger SV hält – man konnte es jedenfalls nachfühlen, dass Uwe Seeler unter dem Abstieg des Vereins in die zweite Liga gelitten und sich einen Wiederaufstieg sehnlichst gewünscht hat. Wie schade, dass er das nicht mehr erleben durfte.




Zum Tod von Herbert Achternbusch: Bayerischer Suff – auch im alten Griechenland

Betrübliche Nachricht: Der Dichter, Filmemacher, versierte Biertrinker, Lebenskünstler usw. usw. Herbert Achternbusch ist mit 83 Jahren gestorben. Und was finde ich dazu in meinem Archiv? Ausgerechnet eine Art „Verriss“ – vom 21. Mai 1996. Aber sei’s drum. Schmeicheleien waren seine Sache eh nicht. Passt scho‘. Hier der Text von damals, gesudelt anlässlich der Mülheimer Theatertage. Nehmt’s halt als Nachruf, sanft möge er ruhen:

Herbert Achternbusch beim 33. Filmfest in München, 2015. (Foto: © Wikimedia Commons/Harald Bischoff) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Nein, der „Nabel der Kultur-Welt“ ist Mülheim gewiß nicht. Dieses (von manchen keck beanspruchte) Prädikat wies auch Hans-Georg Specht, Oberbürgermeister der Stadt, in aller Bescheidenheit zurück, als er jetzt die Mülheimer Theatertage eröffnete. Doch immerhin steht nun gleichsam wieder ein Wanderpokal des deutschen Feuilleton-Betriebs an der Ruhr. Denn zum 21. Mal geht es beim allzeit interessanten Dramatikerwettbewerb ums beste neue deutsche Stück.

Alkoholische Hirnzertrümmerung

Der Aufgalopp der Inszenierungen begann mit A wie Achternbusch, Herbert. Der hat mit seinem Drama „Letzter Gast“ sozusagen bayerische Kneipenatmosphäre ins klassische Griechenland verpflanzt. Treffen sich also ein alter Ägypter, ein Grieche und der Wirt, („zugroaster“ Römer) in einem Lokal zu Hellas. An der ägäischen Bucht ist das Bier grün, es verfehlt aber seine Wirkung nicht. Und wenn hernach der lebensgefährliche „Selbstgebrannte“ zum Einsatz kommt, zucken gar Blitze über die Bühne, die schlagartige alkoholische Hirnzertrümmerung signalisieren.

Und so salbadern sie denn auch, einer nach dem anderen seinen delirierenden Monolog abliefernd. Groteske Parodie auf die altgriechische Kunst der Rede und des Dialogs? Mag sein. Zwölf Lokalrunden werden binnen zwei Stunden Spielzeit geschmissen, und jede wird eingeläutet wie ein Boxkampf.

Wie viele Hügel hat das antike Rom? Ist die Erde eine Scheibe oder eine Kugel? Wie wäre es, wenn die Menschen statt der vielen Götter nur noch einen einzigen verehren? All das und noch vieles mehr wird beredet am promillo-philosophischen Stammtisch, der später – welch sinnfälliger Kommentar zum Stück – im überquellenden Theaterschaum versinkt.

Auftritt der Tierkopf-Götter und des kleinen Krokodils

In Alexander Langs Einrichtung (Münchner Kammerspiele) wird dem verbalen Wirrwarr mit Fez und Karneval Genüge getan. Da defilieren die ägyptischen Tierkopf-Gottheiten (Horus, Anubis & Co.) stumm und gravitätisch durch die Szenerie, da rennen bayerische Polizisten samt Nikolaus hinterdrein, und überm Tresen, der an einen Altarschrein erinnert (schönes Bühnenbild: Caroline Neven Du Mont), reckt auch schon mal ein kleines Spielzeugkrokodil sein Haupt. Tri-Tra-Trullala.

Achternbusch scheint sich stets auf die Gnade des frühesten Einfalls verlassen zu haben. Schreib’s halt gleich hin, ‘s ist sowieso egal. Geradezu verschwenderisch gut muten die schauspielerischen Leistungen an. Thomas Holtzmann als vierschrötiger Wirt, Michael von Au als tuntiger Grieche Semel, Regisseur Alexander Lang selbst als stocksteifer Ägypter Ptah und Jörg Hube als lachender „letzter Gast“ Thukydides – das ist schon ein Ensemble, auch mit Trinksprüchen aller Ehren wert.

Sechs weitere Autoren und ihre Stücke sind noch im Wettbewerb. Man wird sehen, wem am Schluß zugeprostet wird.

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P. S.: 1996 hat Achternbusch den Dramatikerpreis nicht errungen. Allerdings war er in Mülheim 1986 mit „Gust“ und 1994 mit „Der Stiefel und sein Socken“ erfolgreich. Die Fülle seiner weiteren Preise und Ehrungen wollen wir hier nicht aufzählen.

 

 




Er konnte viel mehr als diese Albernheiten im Wirtschaftswunder – zum Tod von Bill Ramsey

Label von Bill Ramseys Single „Pigalle“ (Polydor NH 24428) aus dem Jahr 1961. (© Deutsche Grammophon / Quelle: www.rocknroll-schallplatten-forum.de)

Ich mach’s kurz, es gibt gar nicht so viel zu sagen: Es stimmt mich traurig, dass Bill Ramsey mit 90 Jahren gestorben ist. Seine Stimme hat ein paar Tonlagen meiner Kindheit und meiner Generation mitgeprägt – bevor die Beatles und all die anderen kamen.

Zu den weit verbreiteten Weisheiten über den 1931 in Cincinnati/Ohio geborenen US-Amerikaner, der sich nach seiner Soldatenzeit dauerhaft in Deutschland niederließ, gehört es, dass er musikalisch viel mehr vermochte, als er in seinen Schlagern zeigen durfte. Eigentlich war er ein Jazz-, Swing- und Blues-Könner von Graden – ähnlich wie etwa Paul Kuhn, mit dem er öfter gemeinsam aufgetreten ist. Doch derlei Fähigkeiten waren in der Adenauerzeit nicht so sehr gefragt.

Bill Ramsey im August 2005. (© Wikimedia / Sven Teschke – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en)

Es musste vielmehr entlastend komisch sein; komisch nach dem biederen Verständnis der Wirtschaftwunderzeit. Und bitte recht pfiffig, aber nicht so anspruchsvoll oder gar schwermütig. Um der lieben Einkünfte Willen trug Ramsey in den späten 1950ern und frühen 60ern vorzugsweise jene etwas anzüglich-albernen Titel vor, die – ob nun gewollt oder ungewollt – ein paar Zeitgeist-Spuren jener Jahre auf den Begriff brachten: allen voran „Pigalle“ („…daaaas ist die größte Mausefalle mit-ten in Pa-ris“ – 1960) oder „Zuckerpuppe (aus der Bauchtanzgruppe)“, welch Letztere schenkelklopftauglich nicht aus dem Orient, sondern aus dem weniger geheimnisumwitterten Wuppertal stammte. Auch erfuhren wir durch ihn, dass die Mimi ohne Krimi nie ins Bett ging. Ach ja. Der Titel ist sicherlich schon zweihunderttausend Mal gelaufen, wenn es um Krimilektüre ging.

Seine Schlager-Popularität zog es nach sich, das er dutzendfach in „Opas Kino“ mitmischte: Besagte Mimi war auch eine Filmfigur, Ramsey spielte ihren genervten Gatten. „Die Abenteuer des Grafen Bobby“ kamen gleichfalls nicht ohne die freundlich-rundliche Präsenz dieses sympathischen Menschen aus.

Aber es gab eben auch den anderen Bill Ramsey, der an der Hamburger Hochschule für Musik dozierte und TV- oder Radio-Sendungen moderierte, die sich ernsthaft mit populärer Musik befassten. Noch im hohen Alter, bis 2019, hatte er eine Musiksendung beim Hessischen Rundfunk. Es war ihm wohl sehr daran gelegen, dem Publikum zum besseren Verständnis zu verhelfen. Ein bleibendes Verdienst.




Ein paar Worte über „Pa“, der nicht mehr da ist

Bei Facebook haben ihn alle nur „Pa“ genannt. Anfangs dachte ich, das Kürzel bezeichne ihn als typische Vaterfigur. Und im Grunde war es ja auch so. Er hatte tatsächlich etwas Väterliches. Doch die beiden Buchstaben waren eine Kurzform seines Vornamens Paul.

Wie ich darauf komme? Weil es mich beschäftigt, nein: erschüttert, dass Pa gestorben ist. Weil mir nichts bleibt, als es schreibend zu vergegenwärtigen. Die unfassbare Nachricht ist heute früh eingetroffen, auch via Facebook. Einer seiner drei Söhne hat ihn aufgefunden. Es ist zum Heulen.

Pa hätte einen solchen Vergleich mit sanftem Spott bedacht, aber ich habe ihn mir immer auch ein wenig als „Herbergsvater“ vorgestellt. Er war jedenfalls einer, der Gruppengeist zu stiften wusste wie nur ganz wenige; einer, um dessen imaginäre Lagerfeuer sich im sonst manchmal so asozialen Netzwerk viele versammeln konnten – sei’s im Zeichen des Fußballs (er betreute seit etlichen Jahren geradezu hingebungsvoll eine vielköpfige Tipprunde); sei’s in Gefilden der Rockmusik, auf deren Feldern er profunde, weit ausgreifende Kenntnisse besaß. Er konnte einem so wertvolle Hinweise geben, wie es kein Algorithmus  der Welt vermocht hätte. Hätte er eine Radiosendung gehabt, so hätte man sie unbedingt hören müssen. Musik war bei ihm stets mit den Fährnissen des Lebens verwoben, seichtes Zeug mochte er nicht.

Seine Menschlichkeit erwuchs nicht zuletzt aus Leidenserfahrung. Aus dieser Erfahrung heraus hat er nach Kräften anderen Leuten geholfen, durch Zuhören, Zuspruch und mehr. Dass er selbst kein leichtes Lebensschicksal hatte, war zu erfahren und zu spüren, wenn man einander hin und wieder persönliche Botschaften geschrieben hat – jenseits des freundlich scherzenden, aber doch meist nicht so verbindlichen Gruppenwesens im Netzwerk. In (seltenen) Telefonaten kam eine weitere Dimension hinzu: seine beruhigende, sozusagen weltweise Stimme mit dem tief „geerdeten“ bayerischen Tonfall.

Einige Leute, die ihn – wie ich selbst – „nur“ übers Netz, aber nicht von Angesicht gekannt haben, sagen mehr oder weniger dasselbe. Etwa in diesem Sinne können wir uns alle einigen: Trotz der räumlichen Distanz und der virtuellen Beschränkungen hat man immer seine Warmherzigkeit gespürt – auch durch seinen gelegentlich knorrigen oder schnoddrigen Humor hindurch. Nein, herzig, gefühlig und oberflächlich sentimental war er nicht, aber herzlich und mitfühlend. Ein durch und durch feiner, grundanständiger Kerl. Man hätte so gern irgendwann noch ein zünftiges Weißbier mit ihm getrunken.

Pa, der als aufrechter Nach-Achtundsechziger in der bayerischen Provinz – fern vom Getriebe der Städte – gelebt hat, litt oft geradezu verzweifelt unter den politischen Zeitläuften, zumal unter populistischen und schlimmeren Umtrieben. Vielleicht hat ihn auch das ein Gutteil Lebenskraft gekostet. Aber wir können es nicht wissen.

Pfüat di, Pa.




Von Unna aus ein wenig die Welt verändern – Nachruf auf den vielseitigen Theatermann Peter Möbius

Peter Möbius (1941-2020). (Foto: Thomas Kersten)

Gastautor Horst Delkus mit einem Nachruf auf den Theatermann, Autor und Grafiker Peter Möbius, den älteren Bruder des legendären Rocksängers Rio Reiser („Ton Steine Scherben“). Peter Möbius hat vor allem in Unna und Dortmund gewirkt.

Ist das nicht der Bruder vom Rio? Ja, er war es. Rios großer Bruder, der mich da vor rund neun Jahren in meinem Büro bei der Wirtschaftsförderung des Kreises Unna aufsuchte. Die Kollegin outete sich als große Verehrerin von Rio Reiser: Das ist mein Lieblingsmusiker. Peter hat es gefreut.  War doch eine solche klammheimliche Liebe von notwendigerweise kapitalfreundlicher Wirtschaftsförderung zu dem exorbitant kapitalkritischen Möbius-Bruder eine ausgesprochen ungewöhnliche.

Was es mit „Hermann von Unna“ auf sich hat

Peter holte damals irgendwelche Unterlagen ab. Es ging um „Hermann von Unna, eine Geschichte aus der Zeit der Vehmgerichte“. Erzählt von Benedicte Naubert, die diesen Roman 1788 (!) veröffentlichte. Die Handlung ist simpel, aber der Roman förderte Unnas guten Ruf Anfang des 19. Jahrhundert in ganz Deutschland: Das Städtchen Unna hat ein wichtiges Salzwerk Königsborn; berühmter  aber ist es durch den viel gelesenen Vehmgerichts-Roman: Hermann von Unna!, schrieb 1834 ein gewisser Carl Julius Weber in seinen „Brief(n) eines in Deutschland reisenden Deutschen“.

Der Roman ist von nicht allzu großer literarischer Qualität. Aber sein Stoff wurde selbst in Schweden und Dänemark aufgegriffen und zu einem Theaterstück umgewandelt. Zu einem Schauspiel in fünf Akten. Mit Chören und Tänzen.

Feuer und Flamme für ein spezielles Vorhaben

Mehr als 200 Jahre später war dieser Stoff für den leidenschaftlichen Theatermann Peter Möbius eine Steilvorlage. Er schrieb mir: „Die Texte der Arien und Chöre sind grauenvoll: „Reim Dich , oder ich fress Dich“. Interessant dagegen sind die musikalischen Regieanweisungen, die Bemerkungen, wo und wie Tanzeinlagen und musikalische Überbrückungen in diesem Schauspiel vorgesehen waren. Du fragst Dich, wie es an der Zeitenwende vom Achtzehnten zum Neunzehnten Jahrhundert zu dieser Modewelle kommen konnte, die sich schwärmerisch dem Mittelalter hingab? Heute, bei uns, nennt man das Ostalgie, wenn die Ossis von vergangenen Zeiten schwärmen (…). Wenn die vertraute Wirklichkeit im Umbruch ist, verklärt sich die Vergangenheit. Das war auch in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert so (…) Das Buch ist ein herrliches und kluges Plädoyer für die Flucht in eine fassbare Fantasiewelt, wenn die Wirklichkeit unfassbar geworden ist. Mehr dazu und was das mit dem Schauspiel „Hermann von Unna“ zu tun haben könnte, ein andermal.“

Peter hatte Feuer gefangen für dieses Projekt. Als ich ihm nachts schrieb, ich hätte endlich die Partitur gefunden für diese Oper, kam seine Antwort prompt. Am nächsten Morgen, kurz nach fünf Uhr: Deine Nachricht beflügelt mich, das Stück abzuschreiben und mit Reinhard Fehling über das Projekt zu reden. Ich kenne sonst niemanden, der so ein musikalisch-theatralisches Vorhaben fachkundig betreuen könnte. Doch das Projekt „Hermann von Unna“ wurde nach diesem kurzen Strohfeuer von uns beiden auf Eis gelegt, nicht weiter verfolgt. Ich bedaure es noch heute.

Argwöhnisch beobachteter Nachlassverwalter

Kennengelernt haben Peter und ich uns Mitte der neunziger Jahre, als ich wirtschaftsförderlich bei der Kreisstadt Unna anheuerte. Peter war für mich von Anfang an mehr als „der große Bruder von Rio“, dem Sängerpoeten, mit bürgerlichem Namen Ralph, dem jüngsten der drei Möbius-Brothers. Und der bekannteste. Als Rio am 20. August 1996 starb, gab es Berlin wenige Tage später zu seinem Abschied ein „Konzert der Freunde“. Ich wäre gerne hingefahren, konnte aber nicht. Aus beruflichen Gründen. Peter schenkte mir den Konzertmitschnitt. Zwei CDs mit Rios Liedern, gesungen von den Rest-„Scherben“, Ulla Meinecke, Marianne Rosenberg, Herbert Grönemeyer und anderen.

Peter wurde mit seinem Bruder Gert Rios Nachlassverwalter. Kein leichter Job, argwöhnisch beobachtet und verbunden mit viel Kritik von Rios ehemaligen Weggefährten und Fans aus der Ton-Steine-Scherben-Zeit. Zum Beispiel dafür, dass sie ein Zeile aus dem Kassenschlager „König von Deutschland“ an einen Elektronikkonzern verkauften, um damit das Rio Reiser-Haus in Nordfriesland als Begegnungsstätte für zwei weitere Jahre finanzieren zu können. Nachlassverwalter war nun weiß Gott nicht der Traumjob dieses Multitalentes, dem es –  das Schicksal vieler Allrounder – leider nicht vergönnt war, mit nur einem Werk oder nur einer Begabung, den ganz großen Durchbruch und die damit verbundene Anerkennung  als Künstler zu erreichen.

Schon mit 16 Jahren Bühnenbild-Assistenz bei Heinz Hilpert

Geboren wurde Peter 1941 in Berlin. Sein Vater war Ingenieur für Kartonverpackungen bei der Siemens AG; da er immer wieder mal versetzt wurde, musste die  Familie mehrmals umziehen. Peters Bruder Gert erinnert sich in seinem Buch „Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser“: „Während ich Lehrling bei der Versicherung war, hatte Peter, nachdem er bei der privaten Kunstakademie März in Stuttgart eingeschrieben gewesen war, mit sechzehn Jahren schon einen Job als Bühnenbild-Assistent am Göttinger Stadttheater, damals noch unter der Intendanz von Heinz Hilpert. Nach seiner Rückkehr nach Schmiden [bei Stuttgart; HD] bewarb er sich bei der Stuttgarter Kunstakademie die Professor Gerhard Gollwitzer, dem Bruder des progressiven Theologen Helmut Gollwitzer und wurde sofort ohne Prüfung aufgenommen.

…und auch noch ein hochbegabter Schauspieler

Die Folge war, dass Rio und mir dieser Bruder immer unheimlicher wurde. Dann bekam er auch noch eine kleine Rolle in dem Film von Frank Wisbar „Hunde, wollt ihr ewig leben“, einem kritischen Stalingradfilm. Mehr ging damals in unserer Familie nicht. Wir alle stürmten das Dorfkino in Schmiden, um zu prüfen, wie künstlerisch nachhaltig unser Familienmitglied den von Kugeln durchsiebten Reichswehrsoldaten darzustellen in der Lage war. Natürlich waren wir einhellig der Meinung, dass Peter das großartig gemachte hatte, und natürlich waren wir felsenfest davon überzeugt, dass er auch in Zukunft andere Rollen glaubwürdig darstellen würde. Eine Schauspielausbildung, diesen teuren Quatsch, so unser Vater, hätte Peter nicht nötig. Von Null auf hundert war er nun nicht nur ein begnadeter Maler, sondern auch ein hochbegabter Schauspieler – am besten Filmschauspieler.“

Später studierte Peter an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart, wo er mit Andreas Weißert Theater spielte. Wohl prägend waren für Peter die jungen Jahre in Nürnberg. Hier gründete er das Comic Teater, auch damals schon ohne „h“ geschrieben. Mit sechs anderen jungen Leute, die sich von der Nürnberger Kunstakademie kannten, zog er im Mai 1965 mit Traktor, einem umgebauten Bauwagen und 30 selbst angefertigten Masken und Kostümen einen ganzen Sommer durch Franken und Oberbayern.

Ohne erfolgreiches Theaterspiel kein Abendbrot

„Doktor, Tod und Teufel“ hieß das Stück, das sie auf Dorfplätzen und Märkten spielten. Eine harte Schule für das Comic Teater: „Wir mussten so spielen, dass das Publikum blieb. Sonst hätten wir kein Abendbrot gehabt. Denn gesammelt wurde erst zum Schluss“, erinnert er sich später in einem Interview.

Politisch prägend für Peter war – wie für viele seiner Generation – der  2. Juni 1967: Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration am Ku’damm gegen den Schah von Persien. Peter war bei dieser Demonstration dabei. So wurde aus ihm ein Achtundsechziger. Als Andreas Weißert 1975 in Dortmund Oberspielleiter wurde, holte er Peter Möbius vom Theater am Turm, wo er bei Rainer Werner Fassbinder spielte, nach Dortmund.

Bundesweit beispielloses Engagement in Unna

In Dortmund wurde Peter Möbius Leiter des Kinder- und Jugendtheaters. Mit seiner Comic-Truppe inszenierte er 1975 „FeuerZirkus“  und „Die Struwwelpeter Revue“, Stücke die er selbst geschrieben hatte und zu denen Rio Reiser mit den Scherben die Musik machte. Die agile Truppe wurde in Dortmund gekündigt – man unterstellte ihnen Kontakte zu den Möchtegern-Stadtguerilleros vom „2.Juni“, einer RAF-ähnlichen Gruppierung.

Die Stadt Unna hatte damals den Mut, sie über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme einzustellen, der ersten für eine Schauspielertruppe bundesweit. Mit dem Hoffmans Comic Teater (HCT) bekam Unna die kritische Masse an Akteuren, die Unna als Kulturstadt geprägt haben. Peter war der Motor und Spiritus Rector. Dabei waren unter anderem Hartmut Hoffmeister, Ingeborg Wunderlich, Andy Koch, Rio Reiser, Martin Paul, Uta Rotermund, Claudia Roth und etliche andere. Daraus entstanden sind zahlreiche kulturelle Einrichtungen, die bis heute das kulturelle Leben von Unna prägen: der Kinderzirkus Travados, das Werkstatt Theater Unna (seit 1999 das „Narrenschiff“), das soziokulturelle Zentrum Lindenbrauerei, das Stadtspielwerk und die Jugendkunstschule, zu deren 40jährigem Jubiläum Peter noch eine viel beachtete Laudatio hielt.

Rio Reiser lieferte oft die Songs zu Peters Projekten

Peters Stärke lag vor allem darin, künstlerische Projekte mit Breitenwirkung zu entwickeln. Immer wieder dabei: sein Bruder Rio Reiser, der zu vielen Projekten die Songs lieferte. Zu diesen Projekten gehörte das „Ruhrschrei-Festival“ unter der Liedbachbrücke in der Massener Heide, die „Märzstürme“ (1981), eine „große Freiheitsrevue“ zur Erinnerung and die Märzrevolution 1920 im Ruhrgebiet, die Unnaer Stadtoper „Wasser des Lebens“ (1989), das Musical „Die Braut der Brüder“, aufgeführt bei den Ruhrfestspielen 1995 sowie seine letzte große Inszenierung „Das Tor zum Paradies , „ein musikalisches Portrait in sieben Bildern“ über den streitbaren Prediger und Komponisten heute noch bekannter Choräle, Philipp Nicolai (1997).

Mit den „Märzstürmen“ zog das Hoffmanns Comic Teater durchs Ruhrgebiet. Zur Vorbereitung interviewte man noch Zeitzeugen, die von den Greueltaten der präfaschistischen Freikorps-Truppen im Ruhrgebiet berichteten. Rio Reiser schrieb dazu wunderbare Lieder. Ton Steine Scherben machte die Musik. Der Schreiber dieser Zeilen kann sich noch heute gut an die Aufführung in einem Zirkuszelt vor dem Dortmunder Stadthaus am heutigen Friedensplatz erinnern. Damals dabei unter anderem, als rotbackige Krankenschwester, die heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth und die Dortmunder Kabarettistin Uta Rotermund.

Die Geschichte des inzwischen legendären Hoffmans Comic Teater wollte Peter immer aufschreiben. Ob er es noch geschafft hat, weiß ich nicht. Immerhin gab es 2018 in Unna noch eine Ausstellung: „51 Jahre Hoffmanns Comic Teater 1965 – 1981. Spuren und Impulse einer aufsässigen Künstlerbande“. „Dario Fo“, sagte er einmal, „das war unser Vorbild.“

Grafik und frühe Computer-Experimente

Peter Möbius war nicht nur Theatermann mit Leib und Seele, sondern auch ein hervorragender Grafiker. Er gestaltete etliche Programmhefte für das Summertime-Kulturprogramm in Unna, das er ebenfalls inspiriert und künstlerisch betreut hatte. Ein anderes Projekt von Peter, Jahre später, konnte leider nicht realisiert werden: Ein Computerspiel, das er in unzähligen Stunden in den neunziger Jahren am Computer entwickelte. Mit magischen Bildern und einer phantastischen Geschichte, alles am Computer mühevoll „gezeichnet“. Grafikprogramme gab es damals noch nicht. Daraus sollte eine CD entstehen. Diese Silberlinge kamen damals gerade auf  und waren so „in“ wie heute das Streamen. Ich konnte im den Kontakt zu einem Produzenten von CDs vermitteln. Der spezialisierte sich allerdings, wie sich dann herausstellte, mehr auf Pornos. Die waren marktgängiger. Das Projekt verschwand im digitalen Nirwana.

Einer, der sich ins politische Geschehen einmischte

Peter betätigte sich auch als Filmregisseur. 1990 war er als Autor und Koregisseur (mit Uwe Penner) von „Türmers Traum“. Der Film war ein Beitrag zur 700jährigen Geschichte der Stadt Unna. Mit rund 300 Mitwirkenden, darunter viel Volk, einigen Kommunalpolitikern, sowie Roman Marczewski, dem  heutigen Präsidenten des Ruhrgebiets-Karnevals Geierabend, und Cäcilie Möbius, Peters Tochter, heute Schauspielerin beim Theater Narrenschiff und anderswo. 1997 drehte Peter ein TV-Porträt seines Bruders Rio Reiser: „Ich bieg’ dir den Regenbogen – ein biografischer Dokumentarfilm“.

Als politischer Mensch mischte sich Peter Möbius immer wieder ein in das politische Geschehen seiner Wahlheimat Unna. Das brachte ihm nicht nur Freunde. Er war Mitgründer der Alternativen Liste in Unna, der GAL. Schrieb ein lesenswertes Memorandum zur Weiterentwicklung der Kulturpolitik in Unna, das leider viel zu wenig Beachtung fand. 2008 war er Mitinitiator eines Bürgerbegehrens. Verkleidet als Kommerzienrat, schlug er mit einer Glocke Alarm gegen den Abriss historischer Bausubstanz in Unnas historischer Innenstadt und ihren vermeintlichen Ausverkauf an Investoren. Der Mann mit Hut und Weste wusste, wie man Theater für`s Volk macht.

Peter Möbius starb in der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag, am 13. April, im Alter von 78 Jahren an einer Krebserkrankung.




Er war eine Stimme der Sprachlosen – zum Tod des Dortmunder Schriftstellers Josef Reding

Unser Gastautor, der in Kamen lebende Erzähler, Lyriker und Maler Gerd Puls, würdigt den Dortmunder Schriftsteller Josef Reding, der am vergangenen Freitag mit 90 Jahren gestorben ist. Bei diesem Beitrag handelt sich um Auszüge des Nachworts zu einem Reding-Lesebuch, das Gerd Puls herausgegeben hat. Wir veröffentlichen den (stark gekürzten) Text, der hier erstmals zu Redings 90. Geburtstag erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung des Urhebers:

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch, aus dessen Nachwort Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch (2016 erschienen im Aisthesis-Verlag), aus dessen Nachwort die Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Josef Redings Erzählband „Nennt mich nicht Nigger“ war 1957 ein bemerkenswertes, erstaunliches Buch. Auch, weil es den Blick der deutschen Leser über den eigenen Tellerrand hinaus lenkte, in diesem Fall auf die Nöte und Bedrängungen der schwarzen Bevölkerung in den USA.

Sechzig Jahre später halte ich es immer noch für bemerkenswert, weil es nach wie vor ein realistisches Werk von hohem literarisch-sozialen Wert ist, moralisch und allgemein gültig; nicht nur für die 1950er Jahre, nicht nur in der Beschreibung US-amerikanischer Zustände. Ein Buch, das Partei ergreift für Erniedrigte und Ausgegrenzte, für Schwache und Bedürftige, für Opfer und Verlierer überall auf der Welt.

Josef Redings erster Kurzgeschichtenband liefert „24 realistische Erzählungen aus USA und Mexiko, die in moderner mitreißender Sprache das Problem des leidenden, verachteten Menschen behandeln“ – so der Klappentext des im Recklinghausener Paulus-Verlag erschienenen Buches. Es waren 24 short stories in der Tradition von Herman Melville, Marc Twain, Jack London, John Steinbeck, Ernest Hemingway oder Truman Capote.

Der in Castrop-Rauxel geborene (dann in Dortmund lebende) Stipendiat Josef Reding schrieb die Kurzgeschichten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre während seines Studiums an einer Universität im mittleren Westen der USA. Nach eigenem Bekunden hatte er es schwer, seinen Verleger zu überzeugen, das Buch, das ein großer Erfolg und Redings literarischer Durchbruch wurde, überhaupt auf den Markt zu bringen.

Als die short story in Deutschland Einzug hielt

Die ursprünglich typisch amerikanische Textsorte short story hatte in den frühen 1950er Jahren in Deutschland Einzug gehalten, und unter den deutschen Autoren war der junge Josef Reding längst nicht der einzige. Kurzgeschichten und Erzählungen von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Wolfdietrich Schnurre fanden in den Nachkriegsjahren rasch ein großes Publikum. Doch die jungen deutschen Autoren kamen in den Schulen nur selten vor.

Als amerikanische Besatzungssoldaten Kurzgeschichten in ihrem Gepäck nach Deutschland brachten, fand vor allem die junge Generation nach ihrer von den Nazis verratenen und missbrauchten Kindheit rasch Zugang zu dieser neuen Form. So auch der aus einer Arbeiterfamilie stammende Josef Reding, der 1945 als 16jähriger Schüler im Ruhrgebiet noch im Kriegseinsatz war und als „Wehrwolf“ in amerikanische Gefangenschaft geriet.

Sprachliche Knappheit – typisch fürs Ruhrgebiet

Über seine Haltung zur Kurzgeschichte schrieb Reding: „Mich begeisterte die Ökonomie der Kurzgeschichte, die Einfachheit, die Klarheit der Sprache. Mich faszinierte der Anspruch, dem Leser nur zwei Daten zu überlassen in der Zuversicht, dass er genug Kreativität besitzt, um selbst zum Datum drei bis neun zu kommen. Heute bin ich sicher, dass mein spontaner Aufgriff der Kurzgeschichte auch mit der Ausdrucksweise der Menschen zu tun hat, unter denen ich aufgewachsen bin: den Menschen des Ruhrgebiets. In dieser Landschaft herrscht im sprachlichen Umgang das Knappe vor, eine anziehende Sprödigkeit des Ausdrucks. Der Gesprächspartner, der Kumpel, bekommt nur weniges mitgeteilt und muß sich auf manche karge Anspielung seinen ,eigenen Reim‘ machen, muß also mitdenken, mitdichten.“

Seine Themen waren vorgegeben durch den NS-Faschismus. Seine Erfahrungen als „Kind in Uniform“ und als „Wehrwolf“ veröffentlichte er bereits in den 1940er Jahren in Schülerzeitungen.

Den Blick für die Welt ringsum öffnen

Die Titelgeschichte und die meisten anderen Texte des Bandes „Nennt mich nicht Nigger“ schrieb er als Student in den USA, wo er mit Farbigen zusammenlebte und auch engen Kontakt zur Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King hatte. Über den Titel bemerkte er 1978: „Aber es wäre ein Mißverständnis, wollte man ihn nur auf die Situation der rassischen Minderheiten in den USA beziehen. Der Titel steht auch für andere Mitmenschen, die um ihrer Rasse, um ihres politischen Bekenntnisses, ihrer Herkunft, ihrer Religion willen verfolgt werden.“

Josef Reding blieb dem Genre der Kurzgeschichte verbunden, man darf ihn darin getrost einen wahren Meister nennen. Er wusste seine Haltung auch in späteren Texten, die nicht mehr in den USA, sondern in Lateinamerika, Asien, Afrika und natürlich in Deutschland und vor allem im Ruhrgebiet spielen, immer eindringlich und ehrlich zu vermitteln.

Gleichzeitig weisen die Geschichten aus der Beschränkung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der frühen Nachkriegsjahre hinaus, öffnen den Blick deutscher Leser wieder neu auf die Welt ringsum und werden zu literarischen Zeugnissen für die einfache Einsicht, dass Missachtung und Unterdrückung viele Farben und Facetten hat und dass zu allen Zeiten an allen Orten „der Sprachlose des Sprechers bedarf“, wie Josef Reding es formuliert hat.

Auch ein Chronist von Flüchtlings-Schicksalen

Nach dem Aufenthalt in den USA arbeitet er 1955/56 ein Jahr freiwillig im Grenzdurchgangslager Friedland, wo er zum Chronisten der Schicksale der Flüchtlinge und Spätheimkehrer wird, danach drei Jahre in Lepragebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Später wird er Mitglied der Synode der Bistümer der Bundesrepublik.

Für sein literarisches Gesamtwerk erhielt Josef Reding zahlreiche Preise, u.a. den Rom-Preis Villa Massimo, den Annette von Droste-Hülshoff-Preis, den Preis der europäischen Autorengemeinschaft KOGGE, den Preis für die beste Kurzgeschichte und den Literaturpreis Ruhrgebiet. Dass eine Hauptschule in Holzwickede im östlichen Ruhrgebiet bereits zu Lebzeiten seinen Namen trug, sah er als Auszeichnung, gleichzeitig als Verpflichtung.

Werner Schulze-Reimpell würdigte Redings Verdienste um die Kurzgeschichte in der „Deutschen Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Ein in unserer Gegenwartsliteratur schier vergleichsloser Meister dieser Form ist der Westfale Josef Reding. Redings Short-Stories werden gänzlich unprätentiös erzählt, ohne formale Verfremdung und aufdringliche Literarisierung, dafür mit einem hohen Maß von Authentizität, wie unmittelbar vor Ort recherchiert. Vor allem stimmen seine Menschen, ihre Sprache, ihre Art, sich zu geben und zu reagieren…“

Christliche Ethik als moralisches Fundament

Dabei dürfen spätere Erzählbände nicht unberücksichtigt bleiben. „Wer betet für Judas?“,, „Allein in Babylon“, „Papierschiffe gegen den Strom“, „Reservate des Hungers“ und „Ein Scharfmacher kommt“ lauten die Titel weiterer Bände im Bitter Verlag, in denen er für sein großes Thema immer wieder neue Schauplätze, Konstellationen und Varianten findet. So spielen viele der 25 Erzählungen der 1967 erschienenen Sammlung „Ein Scharfmacher kommt“ im Ruhrgebiet. Eindringlich, prägnant und unverwechselbar spiegelt Reding in ihnen Menschen und gesellschaftliche und politische Verhältnisse in der im Umbruch befindlichen Industrieregion.

Christliche Ethik als moralisches Fundament, dazu das Ruhrgebiet als geografische Heimat, das sind die wesentlichen Wurzeln, Fixpunkte und Richtschnüre, mit denen Redings Schreiben verknüpft ist. Die Menschen des Ruhrgebiets – genau wie die Flüchtlinge und Heimkehrer in Friedland und die Bewohner der Schwarzenviertel New Yorks, der Slums und Favelas Nairobis oder Sao Paulos – liefern die Bilder und Mosaiksteine zu Redings literarischem Werk.




…und immer wieder die Frage nach Wembley – Zum Tod der Dortmunder Torwart-Legende Hans Tilkowski

Große Trauer – nicht nur beim BVB: Die Torwartlegende Hans Tilkowski ist mit 84 Jahren gestorben. Aus diesem Anlass noch einmal ein (erstmals im Juli 2017 in ähnlicher Form erschienener) Beitrag des Gastautors Heinrich Peuckmann über den legendären Torhüter von Borussia Dortmund und Westfalia Herne:

Untrennbar war seine Fußballkarriere mit einem einzigen Tor verbunden. „Herr Tilkowski“, riefen ihm bis zuletzt wildfremde Menschen zu, „ich habe da mal eine Frage.“ Und noch im Umdrehen antwortete er: „Der war nicht drin!“ Hans Tilkowski und das Wembley-Tor, er wurde es einfach nicht los.

Torwart-Legende Hans Tilkowski an seinem 70. Geburtstag im Juli 2005. (Foto: Helmut S. / Redaktion "Die Kirsche" - Permission: Wikimedia Commons) - Permission: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Hans_Tilkowski.jpg&action=edit

Hans Tilkowski an seinem 70. Geburtstag im Juli 2005. (Foto: Helmut S. / Redaktion „Die Kirsche“ – Wikimedia Commons)

1966 hat dieses Tor, das keines war, das WM-Finale entschieden, die Engländer wurden  Weltmeister, Hans Tilkowski blieb die Ehre, Torhüter im Endspiel einer Fußball-Weltmeisterschaft gewesen zu sein.

Vor oder hinter der Torlinie?

Der aserbaidschanische Linienrichter Tofiq Bachramow hat die folgenreiche Entscheidung nach einem Schuss von Geoff Hurst getroffen. Tilkowski hatte den Ball noch mit den  Fingerspitzen berührt und an die Unterkante der Latte gelenkt, von wo er, da war er sich sicher, auf und nicht hinter die Torlinie tickte. Schiedsrichter Dienst aber folgte der Meinung von Bachramov und erkannte auf Tor. Es war das 3:2 für England und die Entscheidung bei dieser WM. 

Als 2009 die deutsche Fußballnationalmannschaft in einem WM-Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan antreten musste, sind Tilkowski und ich im Vorfeld des Spiels nach Baku gereist. Bachramow war nämlich nicht einfach nur ein Linienrichter, er war später der berühmteste Fußballfunktionär des Landes geworden, er hat den Verband nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion gegründet. Es gibt eine Briefmarke mit seinem Konterfei, nach seinem Tod wurde das Nationalstadion nach ihm benannt und überlebensgroß, in Bronze gegossen, steht sein Denkmal davor.

Eine versöhnliche Rede an den früheren Linienrichter

Der aserbaidschanische Fußballverband und Vertreter der deutschen Industrie wünschten sich vor dem Länderspiel eine versöhnliche Geste. Was lag da näher, als Hans Tilkowski einzuladen? Und wenn es um Werte wie Versöhnung oder soziales Engagement geht, war Tilkowski immer ansprechbar. Da lebte fort, was er als Kind einer Bergarbeiterfamilie in Dortmund-Husen erfahren hat, Solidarität nämlich und ein tief empfundenes Gerechtigkeitsgefühl.

Vor der versammelten Presse, vor Fernsehen, Funktionären und Regierungsvertretern hat er in Baku, unter dem Bachramow-Denkmal stehend, eine beeindruckende Rede zur Fairness im Sport gehalten. Der erste Satz stand natürlich schon beim Abflug fest: „Der Ball war nicht drin.“ Aber dann wies Tilkowski auf die völkerverbindende Funktion des Fußballs hin, der es immer wieder schaffe, Menschen zusammen zu führen und so seinen Beitrag zu leisten zu einer friedlichen Welt. Zum Schluss hob er den Kopf und  sprach das Denkmal direkt an: „Tofiq, wenn du noch leben würdest, hätten wir garantiert ein schönes Gespräch über Fairplay im Sport.“

Es begann beim Vorortverein SV Husen

Das kam gut an, Tilkowski war ein überzeugender Botschafter des deutschen Fußballs. Trotz solcher Momente, seine Karriere auf das  Wembley-Tor zu reduzieren, ist aber ebenso falsch  wie ungerecht. Beim SV Husen, dem Dortmunder Vorortverein, hat er begonnen, Fußball zu spielen. Ganz nebenbei hat er auch noch geboxt, es waren die beiden Sportarten, die Arbeiterjungen im Ruhrgebiet damals gerne ausübten. Samstags boxen, sonntags Fußball.

Der Fußball war aber doch Tilkowskis große Liebe. Nach der Zwischenstation beim SuS Kaiserau, dem Verein im Schatten der Sportschule, wo er schon als ganz junger Mann in der ersten Mannschaft spielte, wechselte er 1955 zu Westfalia Herne in die Oberliga. Fußballlegende Ernst Kuzorra hätte ihn gerne „auf Schalke“ gesehen, aber Tilkowski hatte die Sorge, an deren Stammtorwart Orzessek nicht vorbeizukommen. Und er wollte vor allem eins, nämlich spielen.

Als Sepp Herberger aufmerksam wurde

Seine Entscheidung erwies sich als goldrichtig, Trainer Fritz Langner vertraute dem jungen Torwart und Westfalia konnte, nicht zuletzt dank seiner tollen Paraden und seines noch besseren Stellungsspiels, jahrelang die Klasse halten. Schnell fiel er Bundestrainer Herberger auf, der Torhüter ohne Showeinlagen liebte, und im April 1957 war es so weit. Beim Länderspiel in Amsterdam, das 2:1 gewonnen wurde, stand der junge Hans Tilkowski zum ersten Mal im Tor der deutschen Nationalmannschaft. Auf insgesamt 39 Einsätze hat er es gebracht und war damit für einige Zeit Rekordnationaltorhüter.

1959 wurde dann zum großen Jahr von Westfalia Herne. Noch vor den Großvereinen Schalke und Borussia Dortmund wurde völlig überraschend die westdeutsche Meisterschaft gewonnen. Bei der darauf folgenden Endrunde zur Deutschen Meisterschaft fehlte den Spielern allerdings die Kraft. Fritz Langner, unsterblich mit der Trainingsanweisung „Ihr fünf spielt jetzt vier gegen drei“, hatte wohl zu hart trainieren lassen.

Funkstille mit dem Bundestrainer

In dieser Zeit stieg Tilkowski zum Stammtorhüter der Nationalmannschaft auf. Er bestritt alle Qualifikationsspiele für die WM 1962 in Chile, beim Turnier selbst aber  erlebte er eine bitterböse Überraschung. Nicht er durfte nämlich spielen, sondern der unerfahrene Wolfgang Fahrian. Vier Jahre vorher hatte Herberger Tilkowski nicht zur WM in Schweden mitgenommen, weil er zu jung sei und zu wenige Länderspiele bestritten hätte. Vier Jahre später war Fahrian noch jünger und hatte noch weniger Länderspiele als Tilkowski 1958 bestritten. Der hat mit dem Bundestrainer danach für einige Zeit kein Wort mehr gewechselt.

Eineinhalb Jahre lang herrschte Funkstille zwischen den beiden, denn Tilkowski hatte seinen Stolz und ein bisschen war er auch ein westfälischer Dickkopf. Er stand in dieser Zeit trotzdem im Blickpunkt des Fußballs. 1964, mit Einführung der Bundesliga, war er  zu Borussia Dortmund gewechselt und lieferte mit dem Verein glanzvolle Spiele im Europapokal, vor allem gegen Titelverteidiger Benfica Lissabon.

1966 Europapokalsieger mit dem BVB

Tilkowski hielt in diesen Spielen, was zu halten war und immer auch ein bisschen mehr. Sogar in eine Europaauswahl wurde er berufen. Schließlich war es Herberger, der ganz gegen seine Gewohnheit nachgab. Ob er ihn mal anrufen dürfe, hat er ihn beim Bankett nach einem Europapokalspiel gefragt. Er durfte und am Neujahrstag 1964 stand Tilkowski wieder im Tor der Nationalmannschaft. Es war aber kein guter Neueinstand, das Spiel gegen Algerien ging mit 0:2 verloren.

Mit Borussia Dortmund feierte Tilkowski weiter Erfolge. 1965 wurde die Mannschaft Pokalsieger und im Jahr darauf gewann sie als erste deutsche Mannschaft einen Europapokal, den der Pokalsieger. Nach Libudas sagenhaftem Heber aus vierzig Metern wurde Liverpool in Glasgow mit 2:1 geschlagen.

Die deutsche Meisterschaft hätte die Mannschaft  auch gewinnen können. Trainer „Fischken“ Multhaup wollte den Feiern aus dem Wege gehen und die Mannschaft für die letzten Bundesligaspiele abseits vom Trubel in aller Ruhe vorbereiten, aber das ließ sich in Dortmund, das im Freudentaumel lag,  nicht durchsetzen. Nach vielen Feiern gingen die letzten drei Spiele allesamt verloren,  1860 München überflügelte im letzten Moment die Borussia und wurde Deutscher Meister. So blieb Tilkowski, 1965 Fußballer des Jahres, der Meistertitel verwehrt.

Zwei Jahre spielte er noch bei Eintracht Frankfurt, dann begann er eine Karriere als Trainer. Werder Bremen, der 1. FC Nürnberg, auch AEK Athen waren u.a. seine Wirkungsstätten.

Soziales Engagement – vor allem für Kinder

Danach engagierte sich Tilkowski für Sozialprojekte, für das Friedensdorf in Oberhausen zum Beispiel, wo in Kriegen verwundete Kinder operiert und wieder  gesund gepflegt werden. Er sammelte Geld für Aktionen der Unicef, für leukämiekranke Kinder und vieles mehr. Eine Hauptschule in Herne ist nach ihm benannt worden. Natürlich sorgte Tilkowski dafür, dass diese  Multikulti-Schule einen Bolzplatz bekam, getreu seinem Motto, dass der Fußball über alle Unterschiede hinweg Gemeinschaft stiftet.

Außerdem war er Botschafter für den westfälischen Fußball-  und Leichtathletikverband und wies beharrlich daraufhin, dass Westfalen und das Ruhrgebiet viel zu bieten haben, auch im Sport. Er musste in dieser Eigenschaft oft in die Sportschule Kaiserau, wo er als junger Spieler unter Leitung von Dettmar Cramer seine Torwartausbildung erfuhr und wo inzwischen ein Neubau nach ihm benannt wurde. So schloss sich bei ihm, der immer wieder gerne nach Kaiserau zurückkam, der Kreis.

Auch mit über 80 noch drahtig und rege

Skandale ware Tilkowski fremd. Er war noch immer mit seiner Frau Luise, mit der er drei Kinder hat, verheiratet.

Wer diesen drahtigen, geistig regen und immer, wenn es um eine gerechte Sache ging, streitbaren Mann sah, mochte ihm das Alter von über 80 Jahren kaum abnehmen. Er müsste, so dachte man, nur seine Torwartkluft anziehen, dann könnte es wieder losgehen…




„Dann habe ich meinen Job ja wohl richtig gemacht“ – eine persönliche Erinnerung an Martin Schrahn (1959-2019)

Sein Lachen klingt mir noch im Ohr, wenn wir am Telefon die neuesten Neuigkeiten aus dem Kulturbetrieb ausgetauscht haben.

Martin Schrahn †

Martin Schrahn †

Ich sehe seine hochgewachsene Gestalt vor mir, die mir vom anderen Ende eines Opern- oder Konzerthausfoyers zuwinkt, um mich gemeinsam mit seiner Frau Anke zur Bar zu locken, damit wir vor dem Kulturgenuss noch schnell ein Erfrischungsgetränk zu uns nehmen konnten.

Pointierte, feinsinnige und fachkundige Artikel verfasste er über das Musikgeschehen im Ruhrgebiet und darüber hinaus: Erst lange Jahre in der Kulturredaktion der Ruhrnachrichten in Dortmund und dann (nach seinem gesundheitsbedingten Ausscheiden) als freier Journalist, u. a. für die Revierpassagen. Kritisch waren seine Artikel, aber immer mit Witz und mit Liebe zu den Künstlern geschrieben. Beschwerden von diversen Kulturschaffenden, die sich in ihrer Eitelkeit verletzt oder auf den Schlips getreten fühlten, nahm er immer äußerst sportlich. „Dann habe ich meinen Job ja wohl richtig gemacht“, sagte er und lachte fröhlich.

Wie viele nette Stunden haben wir auf der Terrasse des Ehepaares Schrahn/Demirsoy verbracht oder auf ihrem gemütlichen Sofa. Einmal im Jahr gab es Apfelkuchen für alle Freunde – sozusagen aus dem eigenen Garten. Denn das Bäumchen, das wir beiden zur Hochzeit geschenkt hatten, trug ziemlich schnell Früchte.

Wir sind gemeinsam auf Berge gefahren, wir haben Münchens Museumslandschaft unsicher gemacht. Dabei war Martin Schrahn seit seiner Geburt aufgrund eines schweren Herzfehlers gehandicapt. Doch ich habe nie einen Menschen getroffen, der weniger Aufhebens von seiner Krankheit machte als Martin. Er thematisierte sie einfach überhaupt nicht. Wer nicht wusste, wie es um ihn stand, bemerkte oft gar nichts. Ich glaube, das war ihm wichtig: Seinen Interessen nachzugehen und so gut zu leben wie möglich, ganz ohne Wehleidigkeit.

Letztes Jahr hatten wir schon einmal große Angst um sein Leben: Aber er hat sich tapfer aus dieser Krise herausgekämpft und war schon wieder fast der Alte. Doch diesen Winter schlug das Schicksal erneut zu, auf grausame Art. Die letzten Wochen waren wir sehr in Sorge um ihn, aber hofften alle, dass er auch diesen Angriff auf seine Gesundheit abwehren könnte. Dass er bald aus dem Krankenhaus herauskäme und wir wieder zusammen die Kulturlandschaft durchwandeln würden.

Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt und das ist unendlich traurig; alle Worte, die diesen Schmerz zu beschreiben versuchen, kommen mir unfassbar schal vor.

Wir, seine Freunde, seine Kollegen, seine Weggefährten, seine Angehörigen und bestimmt auch seine Leser werden ihn unsagbar vermissen.




Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner gestorben

Der Schriftsteller Wolfgang Körner ist mit 81 Jahren in Dortmund gestorben, und zwar bereits am 25. April.

Was bleibt, ist das Werk: Typoskriptseite von Wolfgang Körner, verwahrt im Fritz-Hüser-Institut. (© FHI)

Bleibendes aus dem Nachlass: Typoskriptseite mit handschriftlichen Korrekturen von Wolfgang Körner, verwahrt im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut. (© FHI)

Durch bloßen Zufall habe ich diese traurige Nachricht gestern im Facebook-Auftritt des Dortmunder Literaturhauses entdeckt, das wiederum auf einen kurzen Nachruf im Magazin „Buchmarkt“ verwies. Heute kam eine Pressemeldung der Stadt heraus, die zusätzlich darauf abhob, dass das am Ort ansässige Fritz-Hüser-Institut Körners literarischen Nachlass bewahre. Nur gut, dass Körner seinen einst (scherzhaft?) geäußerten Vorsatz („Ich schmeiße alles weg!“) nicht umgesetzt hat.

Umstände und Zeitpunkte der Veröffentlichungen deuten darauf hin, dass der 1937 in Breslau geborene Wahl-Dortmunder Wolfgang Körner längst dem öffentlichen Bewusstsein entglitten war. Das war einmal ganz anders gewesen: Körner hatte der einflussreichen Dortmunder „Gruppe 61″ angehört – u. a. gemeinsam mit Max von der Grün, Günter Wallraff und Erika Runge. Diese Formation hatte sich vor allem die realistische Schilderung des gewöhnlichen Alltags und der Arbeitswelt auf die Fahnen geschrieben. Dazu fügte sich auch ein Roman wie Wolfgang Körners „Versetzung“ (1966), eine auch von Popliteratur inspirierte Ansicht aus der Welt der Angestellten, wie sie damals – viele Jahre etwa vor Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie – noch keineswegs gängig war.

Aus seinem vielfältigen Werk am bekanntesten wurde der Roman „Nowack“ (1969), eine sozialkritische Auseinandersetzung mit Zuständen im Ruhrgebiet. Via Fernsehen entfaltete Körner, der sich zunehmend auf Satire und Parodie verlegte, auch bundesweite Wirkung – mit seinem Drehbuch zur kultverdächtigen Serie „Büro, Büro“ (1981), quasi einem frühen Vorläufer von „Stromberg“. Bis heute ist die Reihe auf manchen Internet- Plattformen abrufbar. Weithin bekannt wurde auch „Der einzig wahre Opernführer“ (1985), gleichfalls nicht bierernst gemeint und bei Rowohlt immer noch lieferbar.

Leute, die ihn näher gekannt haben, wie etwa der Publizist Klaus Waller, beschreiben Wolfgang Körner als Menschen mit „Ecken und Kanten“, der aber vor allem Humor besessen habe. Körner, so Waller im erwähnten (und oben verlinkten) „Buchmarkt“-Artikel weiter, habe manche Kollegen und andere, die in Not geraten waren, unterstützt. Am irdischen Gütern hing er nicht, denn, so Körners in jedem Sinne gut geerdete Begründung, er müsse „nicht die reichste Leiche auf dem Friedhof sein“.




„Schlechtes Theater ist mir völlig unerträglich“ – Zum Tod von Bruno Ganz: Erinnerung an ein Gespräch vor 20 Jahren

Bruno Ganz 2011 bi der Filmpremiere von „Satte Farben vor Schwarz" in der Essener „Lichtburg". (Foto: Loui der Colli / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Bruno Ganz 2011 bei der Filmpremiere von „Satte Farben vor Schwarz“ in der Essener „Lichtburg“. (Foto: Loui der Colli / Wikimedia Commons) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Unermesslicher Verlust fürs Theater und fürs ambitionierte Kino: Der Schauspieler Bruno Ganz ist mit 77 Jahren in Zürich gestorben. Seine Biographie kann man an vielen Stellen nachlesen, so u. a. auch hier. Seit seinen Auftritten in Peter Steins großen Schaubühnen-Inszenierungen der 70er Jahre zählte der Schweizer zur allerersten Garde der Schauspielkunst.

Der vielfach mit Preisen dekorierte Bruno Ganz hat auch mit berühmten Filmregisseuren wie beispielsweise Eric Rohmer („Die Marquise von O“), Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“), Werner Herzog, Volker Schlöndorff und Theo Angelopoulos gearbeitet. Als Angelopoulos‘ famoser Film „Die Ewigkeit und ein Tag“ herauskam, hatte ich die Freude, im Januar 1999 in Köln ein Gespräch mit Bruno Ganz zu führen. Bis heute ist er mir in Erinnerung als einer der angenehmsten Gesprächspartner überhaupt.

Bruno Ganz spielte für Angelopoulos den ergrauten griechischen Dichter Alexandros, der mit einem albanischen Flüchtlingsjungen durch reale und imaginäre Grenzgebiete streift. Der abschiedsschwere, vorwiegend melancholische Film errang die „Goldene Palme“ in Cannes. Hier ein Auszug aus dem Gespräch mit Bruno Ganz:

Frage: Eigentlich scheuen Sie Interviews. Jetzt machen Sie Ausnahmen. Sind Sie vom neuen Film besonders überzeugt?

Bruno Ganz: Auf jeden Fall. Vor allem in Relation zu dem, was derzeit sonst so im Kino gezeigt wird. Als ich den fertigen Film in Cannes zum ersten Mal sah, war ich sogar selbst ein wenig gerührt.

Zählt auch die heute so außergewöhnliche Langsamkeit zu den Qualitäten?

Bruno Ganz: Für mich ist dieser Erzähl-Rhythmus tief eingebettet und unerläßlich für dieses Thema. Es geht ja um die Grenzen zwischen Leben und Tod, es werden biographische Verluste registriert. Aber der alte Dichter bekommt auch die Möglichkeit, sich dem Kind gegenüber noch einmal zu öffnen und ungeahnte Zuwendung zu erfahren. Auch die wirkliche Grenze wirkt hier metaphorisch, irreal, wie eine Projektion von Angst. Es sind Bilder, die bleiben. Bilder, die ungeahnte Räume und Zeiten öffnen. Das ist Poesie fürs Kino. Daß Angelopoulos solche Sichtweisen nicht aus kommerziellen Erwägungen aufgibt, obwohl er wohl dazu gedrängt wird – allein das ist eine enorme Qualität.

Wie verlief denn die Zusammenarbeit am Drehort?“

Bruno Ganz: Ungewöhnlich. Angelopoulos mag es nicht, wenn gegessen wird bei den Dreharbeiten. Es gab nicht mal ein Klo. Wir mußten halt in die Büsche gehen. Dazu die Wartezeiten. Zwischendurch wurde mal eine ganze Woche nicht gedreht. Aber ich hatte viele Reclam-Büchlein dabei und habe dann gelesen. Es war asketisch, aber auch dagegen habe ich nichts. Und es war keine Willkür des Regisseurs, ich habe nie das Vertrauen zu ihm verloren. Im Gegenteil.

Hat es ein solcher Film schwerer als vor 20 Jahren?

Bruno Ganz: Damals war die Abrechnung an der Kasse nicht so prompt. Jetzt zählt nur noch der Mainstream. Heute bekommen Leute nach einem Mißerfolg Probleme, ihren nächsten Film zu machen. Sachen ausprobieren, auf eine eigene Art und Weise erzählen das ist viel schwerer geworden.

Gehen Sie oft ins Kino?

Bruno Ganz: Sehr gezielt. „Titanic“ habe ich nicht gesehen. Aber einen wunderschönen Dokumentarfilm über die Tibeter.

Aber Sie ertragen schlechtes Kino noch eher als schlechtes Theater?

Bruno Ganz: Ja. Schlechtes Theater ist mir völlig unerträglich. Es tut körperlich weh. Ich gehe oft vorzeitig ‚raus – ganz leise natürlich. Ich dürfte das eigentlich nicht tun, aber ich halt’s oft nicht mehr aus…

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Das Gespräch stand am 21. Januar 1999 in der Westfälischen Rundschau

 




„Sinnverlust ist Lustgewinn“: Zum Tod des Dichters und Cartoonisten F. W. Bernstein

F. W. Bernstein 2005 auf der Frankfurter Buchmesse. (Foto: Wikimedia /self-made by User:Fb78 - Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

F. W. Bernstein 2005 auf der Frankfurter Buchmesse. (Foto: Wikimedia Commons / self-made by User:Fb78 – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Fb78 – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Abermals eine betrübliche Nachricht aus den höheren Gefilden der Kultur und der Komik: Der Dichter und Cartoonist F. W. Bernstein (bürgerlich: Fritz Weigle) ist gestern mit 80 Jahren nach langer Krankheit gestorben. Ihm höchstpersönlich verdanken wir auch den unverwüstlichen Zweizeiler, der in keiner Sprichwortsammlung fehlen darf: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche“.

Legendär ist Bernsteins enge, zeitweise geradezu symbiotische Zusammenarbeit mit Robert Gernhardt und F. K. Waechter. Diese drei vielfach begabten Künstler bildeten den Kern der nachmals berühmten „Neuen Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors. Das grandiose Trio steigerte sich insbesondere mit „WimS“ („Welt im Spiegel“, von 1964 bis 1976 Beilage der Satire-Zeitschrift „Pardon“) in wunderbaren Nonsens hinein, wie man ihn in Nachkriegs-Deutschland bis dahin nicht gekannt hatte. Bernstein war zuweilen der Schrägste, Sperrigste und Verschrobenste von ihnen. Und das will nichts Geringes heißen.

„Verse von schnatternder Wucht“

Wenn man sich davon überzeugen will, sollte man beispielsweise zu diesem Buch greifen, das wir vor Jahresfrist schon einmal vorgestellt haben: 2017 ist im Kunstmann-Verlag von F. W. Bernstein der Band mit dem bezeichnenden Titel „Frische Gedichte“ erschienen. Als „Mein Programm“ stellte Bernstein dieser Gedichtsammlung solche erhabenen Zeilen voran: „Ihr sucht / Verse von schnatternder Wucht? / Ihr findet sie hier: / Alle von mir“.

Bei F. W. Bernstein kam unter Garantie niemals auch nur die Spur von Pathos oder Weihe auf. Ein hoher Ton wurde nicht geduldet. Kein Thema war ihm zu gering. Vieles hat er auf die elementaren Dinge des Alltags zurückgestutzt, gepflegter Nonsens lag dabei stets auf der Lauer. Markantes Zitat: „Sinnverlust ist Lustgewinn“.

Bloß nicht auf dem Bedeutungshocker sitzen

Unter dem demütigen Titel „So möcht ich dichten können“ heißt es über ein in diesem Sinne offenbar vorbildliches Oktett von Mendelssohn: „Das geht so froh über alle Zäune und umhuscht all / die üblen Möbel, die in der Lyrik herumstehen: / Tiefentisch, Bedeutungshocker, Sesselernst, / das Symbolbüffet, das Vertiko für Relevanzen“.

Kein Wunder, dass sich Bernstein gerade an Rilke rieb, der ja nicht einmal über Wurzelbürsten gedichtet habe. Auch Büstenhalter, Hosenträger und Wasserhähne habe kein Dichterfürst gebührend besungen. Bernstein hat Rilke derweil so ernüchtert parodiert: „Wer jetzt kein Geld hat, der kriegt keines mehr.“ Rilke also ganz und gar nicht. Hingegen könnte man meinen, bei Bernstein zuweilen einen leisen Nachklang von Heinrich Heine oder auch Ringelnatz zu vernehmen. Nein? Na, dann eben nicht.

„Die Zeit ist um. Es ist so weit…“

Der Mann gab sich jedenfalls so nonchalant, dass manche es stellenweise für Larifari halten mochten. Doch dahinter verbarg sich bei näherem Hinsehen und Hinhören ungleich mehr, melancholisches Leiden am Zustand der Welt inbegriffen. Apropos: „Weltende“ klingt bei Bernstein so gar nicht gravitätisch. Hört nur her:

„Die Zeit ist um. Es ist so weit. / Wir sind schon in der Nachspielzeit. / Schlusspfiff! Jetzt wird auferstanden! / Skelette raus, soweit vorhanden; / auf die Bühne zum Finale! / Weltgericht!“

Doch er konnte es auch zum Heulen schön und anrührend. Man lese sein bewusst schmuckloses „Nachruf“-Gedicht zum Tod von Robert Gernhardt – und schweige auch dabei andächtig still.

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F.W. Bernstein: „Frische Gedichte“. Verlag Antje Kunstmann, München. 208 Seiten, 18 Euro.

Als grundlegende Ergänzung empfiehlt sich der ebenfalls bei Kunstmann (bereits anno 2003) erschienene Band „Die Gedichte“.

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P. S.: Im Himmel wird wohl große Freude herrschen und des herzlichen Gelächters wird kein Ende sein, wenn sich Bernstein, Gernhardt und Waechter jetzt dort treffen.




Die Liebens-Würdigkeit – Wilhelm Genazino nachgerufen

Wilhelm Genazino als Gast des Gladbecker Literaturbüros in der Stadtbibliothek Duisburg. (Foto: Jörg Briese)

2015: Wilhelm Genazino als Gast des Gladbecker Literaturbüros in der Stadtbibliothek Duisburg. (Foto: Jörg Briese)

Wilhelm Genazino war einer der Lieblingsgäste des Gladbecker Literaturbüros Ruhr. Mal las und diskutierte er im Jüdischen Gemeindezentrum am Duisburger Innenhafen, mal im Theater an der Ruhr, mal im Foyer des Museums Bochum. Bei Tisch- und Bühnengesprächen für und mit uns blieb er immer jener freundlich-zugewandte Gast, den sich jeder Gesprächspartner oder Veranstalter wünscht.

Während einer Fahrt zum Hotel „Duisburger Hof“ unterhielten wir uns einst über den ihm so verhassten Lärm (aus Nichts), der alles überwuchert: öffentliche Easy-Listening-Musik, die stampfenden Beats aus spätpubertierenden Jünglingskarossen, Self-Marketing-Gedröhne oder Eventwahn. Ein anderes Mal wunderten wir uns über den Zwang zu Selbstoptimierung und die Pflicht zum Auslandsaufenthalt, ohne den kein Leben (vor allem keine Karriere) mehr möglich zu sein scheint. Genazino selbst – durchaus auch ein Reisender – blieb seiner Heimat zwischen Mannheim, Frankfurt und Heidelberg immer verhaftet und machte aus dem Historiker-Motto „Grabe, wo du stehst“ seine eigene Poetik des beharrlich „gedehnten Blicks“, ein detailversessenes Sehen, das nicht nur genau hinschaut und durch schaut, sondern Bewusstsein, Ort und Gegenwart so tief auslotet, dass Wilhelm Genazino zu Recht als leiser, aber wortgewaltiger Wahrnehmungsvirtuose gilt.

Im besten Falle: gescheit, gescheitert, gescheiter

Für diese Meisterschaft erhielt er viele Preise. Und war einer, der sich über Preise (und Preisgelder) auch freuen konnte. Allerdings monierte er in seinem Essay „Funkelnde Scherben. Der Künstler und sein Preis“, dass mit dem Lobpreisen des Autors oft die vielfachen Möglichkeiten des Scheiterns beim Schreiben ausgeblendet werden. Im Vordergrund stehe nur noch das gelungene Werk. Als ich ihn einmal fragte, wie er die ‚Helden‘ seiner Romane beschreiben würde, antwortet er: „Wie uns alle. Jeder, der den Alltag überlebt, ist eigentlich ein Held.“

Den wohl wichtigsten Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis, erhielt Wilhelm Genazino 2004, auch mit der Begründung, dass er sich „wie Georg Büchner stets um die Randexistenzen der Gesellschaft gekümmert“ habe. Man hätte präziser sagen können: vor allem um das Innenleben von vermeintlichen Außenseitern –  denn selbstverständlich wusste Genazino, dass die Einzelgänger, Verlierer und Sonderlinge so selten nicht sind, dass die „Randexistenzen“ heute eher die heimliche Mitte, das unheimliche Massezentrum der Gesellschaft bilden.

Den Eigenbrötlern Genazinos geschieht viel, vieles stößt ihnen zu, doch nur selten passiert etwas. Jedenfalls war das lange so in seinen Texten und in Genazino wuchs der Wunsch, dies zu ändern. In einem TagesAnzeiger-Interview mit Hajo Steinert kommentierte er die Jahre zwischen 1984 und 1989 so:
„Da hatte ich meine bisher größte Krise. Mit Romanen aus der Angestelltenwelt ging es nicht weiter. Fünf Bücher dieser Art waren genug. Mein Programm des psychologischen Realismus war erschöpft. (…) Mit meinem neuen Roman ‚Die Liebesblödigkeit’ betrete ich ein neues Kapitel meines Schriftstellerdaseins. Ich konnte doch mein Programm einer Ästhetisierung der Wahrnehmung nicht ewig fortführen. So wenig wie damals meine Angestelltenromane. Ich will hin zu einem handlungsstarken Romantyp. Mich aus einer Einbahnstraße befreien.“

Vieles blieb dennoch erhalten. Die Ratlosigkeit und der Schwindel, der viele Figuren Genazinos erfasst, ihre Verstörungen, ihre Innen- wie Außenweltallergien. Trotz aller Selbstauskünfte Genazinos, trotz aller Essays und Poetikvorlesungen verweigerte der Autor vorschnelle Lösungen in den Geschichten, und eindimensionalen Schreib-Programmen oder schlüssigen, also erstarrten Poetiken misstraute er weiter zutiefst.

Die schwierige Kunst, innere Welten sichtbar zu machen

Über Virginia Woolf schrieb Wilhelm Genazino: „Es wird von inneren wie von äußeren Befindlichkeiten erzählt, und zwar so, als wären auch die inneren anschaulich. Sie erzählt von der inneren Welt, als könnte man von dieser erzählen.“ Und in der Tat – vielleicht kann man das trotz aller Zweifel, jedenfalls ein Autor von Genazinos Größe. Als Leser sind wir fasziniert davon, wie der Erzähler hörbar macht, Dechiffrierer und Übersetzer dessen ist, was man mit der Sprachwissenschaft Wygotskis oder Piagets das „innere Sprechen“ der Menschen nennt. Wir alle praktizieren und hören dieses unaufhörliche, oft zwanghafte innere Sprechen, aber kaum einer erfasste dieses amorph-wilde Durcheinander zwischen Halbgedachtem, Gefühl, Bild und Wort so als lesbar verstörenden Text wie Genazino. Er brachte es in Form, in eine ästhetische Gestalt, die auch die ganze Tragik und Komik dieses Sprechens und der damit verbundenen Biografien, Hoffnungen, Verletzungen, Sehnsüchte, Absurditäten enthüllt. Dieser „Selbstkommentar unseres unentwegt erlebenden Ichs“ ( so Genazino in seinem Essay „Belebung der toten Winkel“) ist so intensiv gestaltet, dass der Leser nicht umhin kann, auch seinem eigenen inneren Sprechen, das sich nun nicht mehr länger überhören lässt, endlich Gehör zu schenken. Genazino bringt zur Sprache, was andere nur diffus erleben, denn deren inneres Sprechen bleibt – ästhetisch unbearbeitet – bloß fragmentarisch, flüchtig, abgründig, asynchron, amoralisch, voller Tempo- und Bildwechsel.

Wilhelm Genazino genügte dagegen oft nur ein einzelnes Wort (wie „Liebesblödigkeit“ oder „Problembetreiber“) oder ein einziger Satz, um eine Shortest-Story oder doch gleich von der ganzen Welt zu erzählen. So leuchtet er uns mit seinen Romanen, Erzählungen und Essays weiter heim und aus: unsere Innenausstattung, jene Inneneinrichtung des sog. modernen Massenmenschen, der so gerne Individuum, also unteilbares Ganzes und nicht nur zersplittertes Ich wäre.




Soziale Miniaturen (13): Ein Nachruf im bleibenden Zorn

 

 

 

 

 

 

 

Es ist einer gestorben, um den ich nicht richtig trauern mag.

Wie man hört, muss sein Sterben qualvoll gewesen sein. Kann man hier jegliches Mitleid verweigern? Eigentlich nicht. Sicherlich nicht.

Doch zu seinen Lebzeiten habe ich ihn als ein Charakterschwein hassen gelernt. Ja, ich schreibe diese furchtbaren Worte ganz bewusst hin und weiß, dass nicht wenige diese Zeilen unterschreiben würden. Mir ist schon geläufig, dass Hass und Feindschaft schlechteste Ratgeber sind. Auch verraten derlei entschiedene Abneigungen viel über einen selbst. Geschenkt.

Und überhaupt: Über die Toten darf nur Gutes gesagt werden. Es wäre in diesem Falle gar selbstlos. Eher schon neige ich zu einem Nachruf im bleibenden Zorn. Ich will nicht daran ersticken.

Meine nicht allzu tiefe Trauer betrifft denn auch eher allgemeine Sphären. Das Leiden an sich. Die Conditio humana. Hier ist ja ein Mitmensch verstorben. Auch mit ihm ist eine ganz eigene Weltsicht hinweg – wie krude auch immer. Auch er hat sein Innenleben gehabt. Nur hat er es niemals offen gezeigt, sondern mit aller Machtanstrengung einen Kraftkult der Unangreifbarkeit verkörpern wollen. Wie der sich immer über alle Alten und Schwachen lustig gemacht hat! Wie überaus dumm und kurzsichtig das gewesen ist. Es ist, als hätte er nun den allerhöchsten Preis für seinen Zynismus entrichtet.

Er wurde mitten im Weltkrieg geboren, wahrscheinlich hat man ihm in aller Kindesfrühe unerbittliche Härte eingepflanzt. Ebenso wahrscheinlich ist er im Innersten ein armes Würstchen gewesen, insgeheim um ein Zipfelchen Zuneigung bettelnd, freilich ringsum gepanzert. Solch einer wird dann unter gewissen Umständen zum gnadenlosen Schleifer und Galeeren-Einpeitscher, was elend sentimentale Anwandlungen vor hohen Feiertagen und im allfälligen Alkoholnebel nicht ausschließt.

Er hatte sich eine tigerhaft gefährlich klingende Stimmlage antrainiert, er hat sich – völlig ungebrochen, daher zunehmend lächerlich – als Alphamann geriert, hat dabei vielen die Motivation geraubt, sie erdrückt, vor den Kopf gestoßen oder gedemütigt. Etlicher Groll und unterdrückte Wut haben sich gegen ihn angesammelt. Umso betrüblicher, dass er höchst selten wirklichen Widerstand erfahren hat. Ein diktatorisches Lehrstück.

Für seine dumpfen Scherze aus dem Ungeist gesammelter Vorurteile hat er lachbereite Hilfstruppen gefunden, die sich wohl Vorzugsbehandlung oder wenigstens Schonung erhofften. Er hat sich sehr genau gemerkt, wer da nicht aus vollem Halse mittun wollte. Doch nie, nie hat man erlebt, dass er selbst wohlwollend oder gar herzlich über den Scherz irgend eines anderen gelacht hätte. Das hätte er sich selbst als Schwäche angerechnet.

Seine sterblichen Überreste sollen in Frieden ruhen, den er manchem Lebendigen nicht gelassen hat. Und damit gut.




Zum Tod der Musikjournalistin Sonja Müller-Eisold

Rund 55 Jahre lang hat sie für die Westfälische Rundschau (WR) über Oper, Ballett und Konzerte in der Region geschrieben. Welch eine Zeitstrecke, welch eine Lebensleistung! Jetzt ist die Dortmunder Musikjournalistin Sonja Müller-Eisold mit 80 Jahren gestorben. Eigentlich unfassbar, dass sie ihre angestammten Plätze in den Opern- und Konzerthäusern nicht mehr einnehmen kann. Wie sie denn überhaupt aus dem westfälischen Musikleben kaum wegzudenken ist.

55 Jahre lang für dieselbe Zeitung schreiben – solche Betriebstreue gibt es nicht mehr, kann es nicht mehr geben. Sie ging einher mit einer Zuverlässigkeit, wie man sie heute wohl vergebens sucht. Einen Termin ausfallen zu lassen oder sich auch nur zu verspäten, das war für Sonja Müller-Eisold prinzipiell ausgeschlossen. Im täglichen Wirrwarr der Redaktionsarbeit lernt man solche Festigkeit sehr zu schätzen.

Das Wirken der bei Dresden Geborenen ging freilich über derlei „preußische“ Sekundärtugenden weit hinaus. Auf der soliden Grundlage eines Studiums der Musikwissenschaften, das sie in Berlin mit der Promotion abschloss (über Mörikes Lyrik in Hugo Wolfs Vertonung), und eines Redaktionsvolontariats bei der Westfälischen Rundschau, reifte sie zur viel beachteten Kritikerin heran. Doch trotz ihres wachsenden Einflusses blieb die Gattin des früheren WR-Verlagsleiters Hans G. Müller (Heirat 1962, aus der Ehe ging die Tochter Andrea hervor) bemerkenswert unprätentiös. Wenn wir schon bei den Adjektiven sind: freundlich und ausgeglichen müssen hier ebenfalls stehen.

Über zweieinhalb Jahrzehnte durfte ich in der WR-Kulturredaktion mit SME (so ihr weithin bekanntes Kürzel) zusammenarbeiten. Sie war unsere feste freie Mitarbeiterin für alle Sparten der so genannten E-Musik und betreute etwa die Tage Alter Musik in Herne ebenso fachkundig wie die Tage Neuer Kammermusik in Witten. Zwischen solchen Festivals lagen ungezählte Opernpremieren und Konzertereignisse, an Wochenenden waren zuweilen mehrere Termine zu absolvieren. Bis zuletzt hat Sonja Müller-Eisold sich derlei Strapazen zugemutet – vor allem aus tiefer Freude an der Musik. Wer je ernsthaft geschrieben hat, wird wissen, dass bei einem solchen Pensum auch Routinen vonnöten sind.

Alljährlich besuchte Sonja Müller-Eisold die Wagner-Festspiele in Bayreuth. In der ganzen Republik dürfte es schwerlich Menschen geben, die beispielsweise den „Ring“ öfter gehört und gesehen haben als sie. Seit 1990 war sie Vorsitzende des Wagner-Verbandes in Dortmund. Auch nahm sie einen langjährigen Lehrauftrag an der Dortmunder Musikhochschule wahr.

Ihre Kritiken waren in aller Regel sanftmütig, sie taten nicht mutwillig weh. Gelegentlich hat man ihr beim Redigieren zurufen mögen: „Nun sagen Sie dem Regisseur doch mal kräftig Bescheid!“ Doch wenn sie mit einem Auftritt nicht einverstanden war, blieb sie auf noble Weise zurückhaltend und beließ es bei künstler- und also menschenfreundlichen Hinweisen, zarten Andeutungen zwischen den Zeilen. Und wenn man es nur recht bedenkt, hat solcher Zuspruch vielleicht oft mehr gefruchtet, als ein herzhafter „Verriss“ es vermocht hätte.

Durfte sie hingegen aus guten Gründen schwelgen, so war sie vollends in ihrem Element. „Beglückend“ war dann oft eines ihrer liebsten Worte. Es bezeichnet ihr inniges Verhältnis zur Welt der künstlerischen Klänge und zu den Musikschaffenden.

(Einzelne Daten und Sachinformationen, die mir sonst nicht unmittelbar vorgelegen hätten, entnehme ich dem heute in der Westfälischen Rundschau abgedruckten Nachruf).

Historische Grabstätte in Dortmund (Foto B. B.)

Historische Grabstätte in Dortmund (Foto B. B.)




Im Lachen liegt die tiefste Weisheit – Klassiker mit Breitenwirkung: Zum Tod des großen Humoristen und Dichters Robert Gernhardt

Von Bernd Berke

Mag sein, dass er dem Schnitter ganz zuletzt noch ins Gesicht gelächelt hat. Doch welche Tröstung man sich auch vorstellt: Die Nachricht vom Tode Robert Gernhardts macht wohl alle seine Leser zutiefst traurig. Mit ihm verlieren wir den vielleicht wirksamsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart Seine Anhängerschaft reicht weit über die üblichen literarischen Gemeinden und Zirkel hinaus.

Es ist überhaupt kein Frevel am klassischen Erbe, wenn man Gernhardt in einem Atemzuge etwa mit Lichtenberg, Jean Paul oder Kurt Tucholsky nennt. Auch er gehörte zu den ganz großen Humoristen und Wortmeistern.

Szene vor Jahren am Schaufenster einer Dortmunder Buchhandlung: Ein paar Leute besahen sich die Auslagen, sie entdeckten Gernhardts Buch „Über alles“ nebst seiner gesammelten Lyrik. Nun ging’s aber hurtig zur Sache. Jeder kannte diverse Gernhardt-Zeilen und gab sie zum besten. Manchmal klang’s derb-lustig („Der Kragenbär, der holt sich munter / einen nach dem anderen ‚runter“), dann wieder äußerst feinsinnig. Und die Gruppe war durch die Verse derart animiert, dass die Fußgängerzone ein klein wenig „vibrierte. Da sage einer, Literatur könne nichts ausrichten.

Zwischen herrlichen Kalauern und lachender Weisheit, Drastik und Feingeist, die er unnachahmlich zu verknüpfen wusste, war Gernhardt nichts Menschliches, Komisches, Sprachliches fremd.

Das Elend mit den Rezensenten

Seine prägnanten Sinnsprüche zieren nicht nur etliche Anthologien, sie sind auch bereichernd ins verbale Volksvermögen eingeflossen. Vor allem ihm verdanken wir es, dass höherer Nonsens ungeahnte Breitenwirkung erzielen konnte. Selbst die Kinofilme eines Otto Waalkes wurden aus Gernhardts solider Ideen- und Wortmanufaktur beliefert.

Bei ihm stimmte stets der Tonfall des Geschriebenen, und viele Menschen haben das gespürt. Dass dieser ungemein sympathische, vielfach begabte Maler, Zeichner, Cartoonist und Dichter 68 Jahre alt war, wollte man irgendwie nicht wahrhaben, so frisch und hell war sein Geist. Und war es denn wirklich schon so lange her, dass Gernhardt (mit F. K. Waechter und F. W. Bernstein) reimend und zeichnend die legendären „Pardon“-Seiten „Welt im Spiegel“ („WimS“) schuf?

Nun ja. Das war tatsächlich zwischen 1964 und 1976, liegt also ein Stück des Weges zurück. Doch es ist noch gegenwärtig. Denn damals wurde der vordem meist biedere deutsche Nachkriegs-Humor auf eine neue Stufe gehoben. Diese Großtat der „Neuen Frankfurter Schule“ fruchtet bis heute. Ohne Loriot, Heinz Erhardt und eben Gernhardt& Co. wären ein Max Goldt oder Harry Rowohlt so nicht denkbar. Ohne den Mitgründer Gernhardt gäb’s wohl auch kein Satireblatt „Titanic“. Die Fackel wird also gottlob weiter getragen.

Tradition als Wegweiser und Widerstand

Schon gegen Ende der 60er Jahre; als der 1937 in Reval (heute Tallinn/Estland) geborene Robert Gernhardt noch unter dem Pseudonym „Lützel Jeman“ (Mittelhochdeutsch für: „Kaum jemand“) arbeitete, hätte man ahnen können, dass er keineswegs nur Scherze machen wollte. Da reifte ein eminent formbewusster Autor heran, der die Tradition als „Wegweiser und Widerstand“ begriff.

Doch die erste (undotierte) Jury-Auszeichnung bekam er erst mit 50 Jahren. Bis die Feuilletons sein Schaffen priesen, dauerte es elend lang. Erst seit Mitte der 80er, als sein Erzählband „Kippfigur“ erschien, gilt er hochmögenden Rezensenten als würdig. Zuletzt umwehte ihn gar eine Aura von Unantastbarkeit. Die erschütternden Gedichte über seine Herz- und Krebskrankheit dürften zu solcher Ehrfurcht beigetragen haben.

Auch als Kritiker war er eine Instanz. Manches gravitätische Werk hat er als puren Humbug entlarvt, doch hat er auch verborgene Pflänzchen ans Licht gezogen. Dichterische Hervorbringungen (etwa von Wolf Biermann) sezierte er so triftig und erhellend, dass ihm bestenfalls ein Enzensberger ebenbürtig war. Wie sonst nur noch Peter Rühmkorf, hat Gernhardt bewiesen, dass Gedicht und Reim sich auch heute nicht „beißen“ müssen. Willkürlich gehackter Zeilen-Salat eines krampfhaften Modernismus war ihm suspekt. In dem Band „Klappaltar“ hat er mit parodistischen Mitteln Goethe, Heine und Brecht auf ihre Substanz überprüft – und zwar „auf Augenhöhe“.

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GERNHARDT-ZITATE

Wie es der Wal treibt

  • Lyrische Kostproben:
  • „Dein Leben ist dir nur geliehn – / du sollst nicht daraus Vorteil ziehn, /Du sollst es ganz dem Andren weihn – / und der kannst nicht du selber sein. / Der Andre, das bin ich, mein Lieber – / nu komm schon mit den Kohlen rüber.“
  • „Paulus schrieb an die Apatschen: / ihr sollt nicht nach der Predigt klatschen.“ (im Gedicht „Weil’s so schön war“ im Band „Wörtersee“).
  • „Wenn einer eine Chemo macht / dann kann er was erzählen / und seine Umwelt Tag und Nacht / mit Selbsterlittnem quälen.“ (im Band „Die K-Gedichte“).
  • „Der Wal vollzieht den Liebesakt / zumeist im Wasser. Und stets nackt“‚ Gedicht“Animalerotica“, Band „Besternte Ernte“.
  • Die Basis sprach zum Überbau: Du bist~ja heut schon wieder blau! /Da sprach der Überbau zur Basis: Was is? (ïm Gedichtband „Besternte Ernte“).



Kulturmensch und Journalist: Johann Wohlgemuth gestorben

Er war ein Kulturmensch und Journalist aus der guten alten Garde: Johann Wohlgemuth, langjähriger Leiter der WR-Kulturredaktion, ist mit 73 Jahren gestorben.

Vor allem die Bühnenlandschaft der Region verdankt ihm sehr viel. Als in den 1980er Jahren das Dortmunder Theater in seiner Existenz bedroht war, stritt er höchst fachkundig und mit Erfolg für den Erhalt des Hauses.

Bei aller kulturellen Weltoffenheit war Johann Wohlgemuth doch zutiefst in Dortmund und hier besonders im Ortsteil Mengede verwurzelt. So hat er denn auch in den ganz großen Zeiten des Bochumer Schauspiels (unter Peymann und Zadek) die anderen Bühnen nie gering geachtet. Das galt natürlich vor allem für Dortmund. Aber auch das Westfälische Landestheater in Castrop-Rauxel lag ihm speziell am Herzen.

Schroffe „Verrisse“ waren überhaupt nicht seine Sache. Dazu liebte er die Menschen am Theater viel zu sehr; vor allem die Schauspieler, die er vor allzu rigorosem „Regietheater“ in Schutz nahm. Und er wusste bis in die Verästelungen Bescheid: So konnte er einem etwa auch haarklein erläutern, welche Rechtsfolgen der Erwerb einer Eintrittskarte nach sich zieht.

Ab 1961 arbeitete der studierte Theaterwissenschaftler als Redakteur für die Westfälische Rundschau. Hier hatte er zuvor das journalistische Handwerk von Grund auf gelernt. Von 1970 bis 1992 zeichnete er für den WR-Kulturteil verantwortlich, zeitweise leitete er auch die Wochenendbeilage.

Freunde und Kollegen nannten ihn nur „Johnny“. Der charmante Plauderer pflegte handfeste und bodenständige Hobbys. Mit Kochkünsten kannte er sich ebenso aus wie mit Tennis oder dem Angelsport. Und seine Leidenschaft für Land und Leute in Schweden war schwerlich zu übertreffen.

Als er in den Ruhestand ging, hatte er endlich mehr Zeit für die Oper und den Besuch großer Ausstellungen – bis hinunter nach Italien.

Jetzt muss man bei jedem erhebenden Kulturereignis denken, dass Johnny“ es nicht mehr erleben kann. Wir werden ihn vermissen.

Bernd Berke

 




In schweren Zeiten – Nach dem Tod von Papst Johannes Paul II.

Ganz gleich, ob man die Ansichten des Papstes geteilt hat oder nicht: Seinen irdischen Tod hat Johannes Paul II. mit einer Fassung und Würde auf sich genommen, die wohl nur aus tiefstem Glauben heraus zu verstehen ist. Vor dieser Haltung müssten sich selbst hartgesottene Atheisten verneigen und sich fragen, wie es denn um ihre eigenen „Gewissheiten“ bestellt ist – jetzt und in der Stunde des Todes.

Es ist abermals Zeit, das große Wort zu zitieren, mit dem Papst Johannes Paul II. 1978 zu Beginn seiner Amtszeit ein Signal setzen wollte: „Habt keine Angst!“ Denn es kommen wahrlich schwere Jahre auf die katholische Kirche und auf ihren künftigen Oberhirten zu.

Große Aufgaben für den Nachfolger

Es wird für jeden Nachfolger eine ungeheure Aufgabe sein, aus dem Schatten des verstorbenen Pontifex herauszutreten. Karol Wojtylas historischer Einfluss ist unbestreitbar. Gewiss, nicht nur einzelne Persönlichkeiten machen Geschichte. Doch hätte der Papst seinerzeit nicht die polnische Oppositionsbewegung Solidarnosc auf so kluge Weise (ebenso behutsam wie wirksam) ermutigt, so gäbe es vielleicht heute noch eine Sowjetunion und eine DDR.

Auch stand Johannes Paul II. für Schritte zur Versöhnung mit den anderen Weltreligionen und für eine entschiedene Friedenspolitik ein. Wichtig war vor allem sein Einspruch gegen den Irak-Krieg. Andernfalls hätten fundamentalistische Kräfte der islamischen Welt mit noch mehr Furor vom „Kreuzzug“ reden können. Zudem wäre seine unbedingte Parteinahme für das werdende Leben in ein ungutes Zwielicht geraten. So aber verdient sie – über allen Streit hinaus – tiefen Respekt.

Wie ein Pop-Star, aber auch ein strenger Geist

Zuweilen gab sich dieser Papst wie ein Pop-Star, dessen Charisma auch junge Leute faszinierte. Er konnte allerdings auch ein äußerst strenger Mahner sein, der etwa in Nicaragua dem kritischen Katholiken und Sozialisten Ernesto Cardenal den Segen verweigerte und dem Schriftsteller stattdessen eine barsche Strafpredigt hielt. Doch auch der Materialismus und die Gier der westlichen Welt waren ihm zuwider. Erst recht, als sie auch in reinem Heimatland Polen Einzug hielten und die Menschen vor den neuen Super.“ märkten statt vor den Kirchen Schlange standen.

Sein Nachfolger wird Felder vorfinden, die Johannes Paul II. als Ödland hinterlässt. So gilt es, endlich die erstarrten oder ausgesetzten Reformen des II. Vatikanischen Konzils fortzuführen. Manche sprechen gar von einer „Gegenreformation“, die der polnische Papst im Sinn gehabt habe. Hier haben sich Konflikte angestaut, die nichts Gutes verheißen, ja eine Kirchenkrise größeren Ausmaßes befürchten lassen.

Bleibende Kraft des Glaubens

So muss der katholische Klerus ganz dringlich das Verhältnis zu den weiblichen Gläubigen klären. Fragen zur Empfängnisverhütung, zur Abtreibung und zum Zölibat sollten neu erwogen werden. Mehr noch: Die Gesten in Richtung anderer Religionen waren wertvoll, letztlich aber nur halbherzig. Nach wie vor verneint der Vatikan das gemeinsame Abendmahl mit protestantischen Christen.

Karol Wojtyla hat geradezu übermenschliche Anstrengungen unternommen, um die katholische Kirche nicht einer modernistischen Beliebigkeit auszuliefern. Unter seinem Pontifikat haben Geheimnisse und Mysterien des Glaubens wieder einen höheren Stellenwert erhalten. Tatsächlich kann man sich fragen, ob eine allzu bereitwillige Weltläufigkeit nicht zwangsläufig in Widerspruch zum Kern der Religiosität, zu Andacht, Einkehr und Jenseitigkeit geraten muss.

Wie immer ein neuer Papst und die Kurie sich hierzu stellen mögen: Es bleibt eine Gratwanderung. Wie weit kann und darf die Kirche den Menschen in ihrem Alltag entgegenkommen? Andererseits: Wie sehr muss sie es tun, damit die Kirche eine lebendige Gemeinschaft bleibt oder wieder wird?

Auch und gerade in der Amtszeit Wojtylas hat sich der Erosionsprozess zumindest in Europa beschleunigt. Viele Gotteshäuser stehen nahezu leer, manche müssen deshalb geschlossen, verkauft oder sogar abgerissen werden.

Hingegen zeugen wachsende Gemeinden in Südamerika, Asien und Afrika von bleibender Kraft des Glaubens und der Hoffnung. Ist es undenkbar, dass der nächste Papst aus den südlichen Breiten kommt?

                                                                                                           Bernd Berke




Sex wie aus dem Supermarkt – Tom Wesselmann, eine Leitfigur der Pop-Art, ist mit 73 Jahren gestorben

Von Bernd Berke

Zu Beginn der 60er Jahre sind die Bilder des Tom Wesselmann grelle Schocks: Nackte, laszive Frauengestalten rekeln sich da – ohne Gesichter, ohne persönlichen Umriss. Als grellrotes Signal lockt zwischen großflächigen Fleischfarben oft nur ein sinnlich geöffneter Mund.

Die Kunstwelt trauert um den Mann, der mit solchen Visionen Zeiterscheinungen auf den bildlichen Begriff gebracht hat: Tom Wesselmann ist, wie jetzt bekannt wurde, am letzten Freitag mit 73 Jahren nach einer Herzoperation in einer New Yorker Klinik gestorben.

Die anonymen Leiber, die er malte, bleiben reduziert auf sexuelle Merkmale und sind zu jeder lüsternen Tat bereit. Diese „Great American Nudes“ verheißen Genuss ohne Reue. Ein offensiver Appell wie aus dem Supermarkt: Alles ist vorhanden, greif sofort zu. Längst erkennen wir darin typische Embleme der 1960er, die sich so freizügig gaben und verdünnt bis heute wirken.

Der Körper als Angebot in der Warenwelt

Solche Gemälde sind „Klassiker“ mit seherisch-diagnostischer Kraft. Der zunehmende Warencharakter der Sexualität leuchtet bereits auf, die allseitige Verfügbarkeit des Körpers als eines unter vielen „Angeboten“. Weibliche Brüste etwa, zumeist im sichtlich erregten Zustand, konkurrieren auf Wesselmanns collagierten, geradezu schaufensterhaften Bildern mit allerlei Botschaften der Reklamewelt.

Nicht so glamourös wie der Medienstar Andy Warhol und weniger auf ein Markenzeichen (Comic-Adaptionen) fixiert als Roy Lichtenstein, gilt Wesselmann als ein weiterer Pionier der Pop-Art. Er selbst mochte sich ungern einsortieren lassen. Welcher Künstler will schon einem „Verein“ angehören?

Anfangs auf Pollocks Spuren

In den 50er Jahren malt Wesselmann, wie damals in den USA üblich, auf Jackson Pollocks Spuren im heftig gestischen Geiste des abstrakten Expressionismus. Auf diesem Felde lassen sich allerdings bald kaum noch individuelle Besonderheiten schärfen. Schon deshalb ist es wohl folgerichtig, sich dem Gegenständlichen zuzuwenden. Vielleicht hilft Wesselmann dabei eine vorübergehende Tätigkeit als Cartoon-Zeichner.

Als treibende Kräfte kommen zudem eine neue, dauerhafte Liebesbeziehung (mit seiner späteren Frau Claire) und eine langwierige Psychoanalyse mit offenbar befreiender Wirkung in Betracht. Sie geben seinem Leben wohl neue Richtung und Halt. Und die ausgiebige Seelenschau schmälert durch „Heilung“ nicht etwa die kreativen Impulse. Trostreiche Erkenntnis gegen das Klischee: Er muss keine „Macken“ hegen und pflegen, um Gültiges auszudrücken.

Kunst soll in den Alltag ragen

Etwa seit 1959 verschreibt sich der allzeit diszipliniert arbeitende Wesselmann (keine Bohème-Attititüden, nahezu bürgerliches Familienleben, mindestens Achtstunden-Tag im Atelier) der europäischen Genre-Tradition, es entstehen zunächst vor allem Stillleben und Akte. Die flächig fragmentierte Sehweise steht in der Überlieferung von Matisse und Modigliani. Doch Wesselmann füllt die Kompositionen mit ausgesprochen amerikanischen Motiven aus Werbung und Warenwelt.

Später fügt er reale Objekte wie Radios, Uhren, Kühlschranktüren oder Handtuchhalter ein, er dringt somit vor in die dritte Dimension. Mit ganz banalen Dingen will seine Kunst ins alltägliche Leben hinein ragen und entschieden auf den Betrachter zukommen. Der wiederum ertappt sich selbst als Voyeur der verführerischen Oberflächen.




Für eine hübsche Welt – Der Künstler Friedensreich Hundertwasser starb mit 71 Jahren

Von Bernd Berke

Einen Friedensreich Hundertwasser konnte man nicht mit dem Vorwurf beirren, er produziere Kitsch. „Die Abwesenheit von Kitsch macht unser Leben unerträglich“, hat er einmal darauf geantwortet. Tatsächlich haben seine malerischen und architektonischen Zeichen-Landschaften ja etwas Anheimelndes, etwas Wärmendes inmitten der manchmal so unterkühlt wirkenden Moderne.

Mit 71 Jahren ist Hundert an Bord des Kreuzfahrtschiffes „Queen Elizabeth II“ gestorben, mit dem er aus seiner Wahlheimat Neuseeland nach Europa unterwegs war. Seinem Testament gemäß soll er auf seinem neuseeländischen Landgut beigesetzt werden, im sogenannten „Garten der glücklichen Toten“.

Die Liebe zur Spiralform

Die bunte Spirale war sein Grundmotiv. Seitdem er diese Form für sich gefunden hatte(es war anno 1953), ließ er sie allüberall einfließen. Sie wurde zum universell verwendbaren Markenzeichen, das sich später nahtlos in die Poster-Kultur und auch ins ornamentale Massendesign etwa für Tassen oder Bettwäsche einschleusen ließ.

Doch Hundertwasser begann als Außenseiter der Szene. An der Kunstakademie hat es der gebürtige Wiener (bürgerlich: Friedrich Stowasser) 1948 nur drei Monate ausgehalten. Lieber orientierte er sich ohne professorale Umwege an Vorbildern wie Gustav Klimt oder Egon Schiele. Auch begab er sich auf ausgedehnte Reisen durch Nordafrika, was seinen Stil gleichfalls prägte. Berühmt wurde sein „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“ von 1958. Er empfahl, Zersetzungs-Substanzen über glatten Beton zu ließen, auf dass die Natur in Gestalt von Schimmelpilzen sich Bahn brechen könnte. Mit derlei Ideen waren nur ganz wenige Bauherren zu begeistern. Auch provozierende öffentliche Nacktauftritte machten seinen Namen bekannt.

Auf seinen zahllosen Bauten, allen voran dem „Hundertwasserhaus“, das längst eine Wiener Touristenattraktion ersten Ranges geworden ist, schimmert das Dekor in allen Regenbogenfarben und immer wieder in Gold, die Fenster sind bewusst „windschief“ gesetzt, die Böden bucklig ausgeführt – und obenauf krönen Dachgärten oder Zwiebeltürmchen die gefälligen Werke. Ein Hauch von Disneyland, dessen Bauten ja auch ohne wirklichen Bezug zur umgebenden Welt entstehen, umweht das Ganze.

Als Einzelstück hie und da mochte das Genuss bereiten, doch Hundertwasser schickte sich an, etlichen Städten diese (so der vielfache Kritiker-Schimpf) „Verhübschungen“ angedeihen zu lassen.

Ökologisches Gedankengut

Es gab nichts, was er nicht in seinem Sinne (um)baute – von der japanischen Müllverbrennungsanlage über den Plattenbau in Wittenberg bis zur neuseeländischen Toilettenanlage. Zuweilen ließ Hundertwasser, der sich die eigene Ortsbesichtigung zuletzt häufig ersparte, nur die Außenhaut der Gebäude nach seinen Vorstellungen umgestalten, während drinnen alles beim Alten blieb. Mit ökologischen und pazifistischen Gedanken, die Hundertwasser seinen Arbeiten beimaß, war das manchmal nur noch schwer zu vereinbaren.

Alle rechten Winkel und geladen Linien gerieten ihm derart zu ästhetischen Feind-Bildern, dass sich die Abneigung zum konservativen Dogma zu verfestigen drohte. Doch wenn man sich die oft lieblos hingeklotzte Nachkriegs-Architektur in jener falsch verstandenen Nachfolge des „Bauhauses“ vergegenwärtigt, kann man für Hundertwassers Aversionen Verständnis aufbringen.




Die großen Gesten hat er nie gebraucht – Zum Tod des Schauspielers Martin Benrath

Von Bernd Berke

Wann immer Martin Benraths einprägsames Gesicht auf der Bühne, im Film oder im Fernsehen erschien, schöpfte man sogleich Vertrauen ins große Ganze. Dann durfte man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Produktion ihre besonderen Qualitäten hatte. Ein Benrath machte keine halben Sachen mit.

Mit 73 Jahren ist Martin Benrath in der Nacht zu gestern an Herzversagen gestorben. Trotz einer Lungenoperation, der er sich Ende letzten Jahres unterziehen musste, kam sein Tod für viele überraschend. Er bedeutet einen ungeheuren Verlust für das deutschsprachige Theater.

Gegen die innere Leere anspielen

Noch am Montag hatten ihn 7,3 Millionen Zuschauer in der Auftaktfolge des ZDF-Dreiteilers „Zwei Asse und ein König“ (zweiter Teil heute um 20.15 Uhr) als ehemaligen Werftbesitzer „Hajo“ Jansen gesehen. Das Bühnenschaffen des gebürtigen Berliners Benrath hatte einst beim Theater am Schiffbauerdamm (1947) und dann ab 1953 unter Gustaf Gründgens in Düsseldorf begonnen. 1962 ging er ans Bayerische Staatsschauspiel nach München, dem er treu blieb. Er selbst hat einmal gesagt, die Bühnenkunst habe ihm geholfen, aus der inneren Leere herauszufinden, die der Weltkrieg hinterlassen hatte.

Seine imponierende, etwas barsche Erscheinung, der oft verhangen wirkende, aber dann und wann aufblitzende Blick und der (von einem Unfall herrührende) „Schmiss“ auf seiner Wange, der ihn anfangs auf den Typus aristokratischer Offizier festzulegen drohte – dies alles täuschte. Benrath konnte nicht nur die strengen, geradezu einschüchternden Rollen spielen, sondern auch leichtere oder gar ein wenig bübisch gefärbte Parts mit Leben erfüllen.

Ein Mann von würdevoller Statur

Seinem eher zurückhaltenden Wesen und seinem Verständnis „preußischer Tugenden“ entsprach es, dass er nie die großen, pathetischen und erst recht keine flatterhaften Gesten benötigte. Er war ein Schauspieler von ganz eigener, stets würdevoller Statur, der sparsam und umso nachhaltiger „instrumentierte“.

Martin Benrath hat zahllose schwergewichtige Rollen des Welttheaters gespielt: Lessings „Nathan“, Schillers Franz Moor in den „Räubern“ und den Philipp im „Don Carlos^ Shakespeares „König Lear“ und Julius Cäsar (1992 unter Regie von Peter Stein), Schnitzlers „Professor Bernhardi“ – um wenige zu nennen. Auch in neueren Stücken wie Botho Strauß‘ „Das Gleichgewicht“ feierte er Triumphe.

Auch das Kino verdankt ihm viel

Natürlich konnte, auch der Film an einem solchen Charakter nicht vorübergehen. Neben Curd Jürgens kämpfte Benrath 1953 in „Meines Vaters Pferde“ um die Liebe einer Frau, in „Kennwort: Morituri“ agierte er an der Seite von Marlon Brando. Auch Helmut Dietls Kinoerfolg „Schtonk“ verdankte Benrath viel von seiner Wirkung.

In Bernhard Sinkels „Berlinger“ übernahm er die Titelrolle des anarchistischen Erfinders und waghalsigen Fliegers, beim selben Regisseur verkörperte er den Bankier Bernheim im TV-Mehrteiler „Väter und Söhne“ (1989). Erst jüngst spielte er den lebensweisen Großvater in der preisgekrönten Strittmatter-Verfilmung |„Der Laden“, eine seiner schönsten Altersrollen.

Dem WR-Mitarbeiter Klaus Braeuer hat Benrath in einem Gespräch zur TV-Serie „Zwei Asse und ein König“ ein literarisches Lieblingszitat verraten. Es stammt von Rainer Maria Rilke und lautet: „Wir leben vor uns hin und nehmen jeden Tag Abschied“.




Zum Tod von Ulrich Wildgruber: Ein Berserker, der uns sprachlos machte

Welch ein tragisches, nahezu theatralisches Ende: Einsam aufgefunden am Strand von Westerland auf Sylt, mit verwehtem Sand bedeckt. Nur einen Rucksack hatte er bei sich, darin steckten Geld und persönliche Papiere. Höchstwahrscheinlich hat der seit langem herzkranke Schauspieler Ulrich Wildgruber den Freitod gewählt.

Der Flensburger Staatsanwalt Helmut Kanzler kleidete es gestern in die Sprache der Behörden: „Wir wissen, dass er suizidale Absichten hatte“. Später bestätigte er die Existenz eines Abschiedsbriefes, den Wildgruber seiner Lebensgefährtin, der Schauspielerin Martina Gedeck, in Berlin hinterlassen habe.

Die Berliner Schaubühne ließ verlauten, man habe keine Depressionen bei dem 62jährigen bemerkt. Seine Bühnenpartnerin Eva Mattes meinte, Wildgruber sei zuletzt sehr erschöpft gewesen.

Über die Hintergründe wissen wir also nichts Genaues. Aber eins ist wahr: Wir sind traurig. Der Kritiker Gerhard Stadelmaier hat Wildgruber den einzigen wirklich revolutionären Darsteller genannt, den dieses Land nach dem Kriege hervorgebracht habe.

In der Tat ist er ein Berserker, ein machtvoller Anti-Schauspieler gewesen. Die Bühne betrat er nicht einfach, sondern er stürmte, fegte, watschelte fahrig darüber hinweg, offenbar ziellos gegen imaginäre Begrenzungen anrennend, mit wirrem Haar und glühendem Blick, so dass man erschrak. Er schien geistig so abwesend und war doch grellwach, war sofort leibhaftig ganz und gar da.

Nach herkömmlichem Verständnis konnte er weder artikuliert sprechen noch differenziert spielen. Viele Figuren überwältigte er auf gleiche Weise, das übliche Handwerk verweigernd: feist, schwitzend, nuschelnd, die Worte achtlos hinwerfend. Doch er zerbröselte Rollen und Texte so, dass in der Asche oft etwas Tieferes aufglomm: dunkelste Triebkräfte des Seins und Handelns. Dieses Wunder bewirkt man nicht mit traditioneller Deklamation. Das Brecht-Wort „Glotzt nicht so romantisch!“ hätte als Motto zu Wildgrubers Tun gepasst. Was er anfasste, wusste er zu verfremden. In seine Charaktere konnte man sich nicht „einfühlen“, man sah sich ihnen sprachlos gegenüber.

Wildgruber hat auch mit Regisseuren wie Hans Neuenfels, Claus Peymann und Peter Stein gearbeitet. Doch auf einen solch monströsen, in den 70er Jahren bitter notwendigen Stückezerstäuber hatte vor allem Peter Zadek gewartet: 1974 spielte Wildgruber bei ihm Shakespeares König Lear, 1977 den „Hamlet“ – beides in Bochum, beides unvergessen. 1976 war er der Hamburger „Othello“, ein „Mohr“, dessen schwarze Schminke nach und nach zerfloss und auf andere Figuren abfärbte.

Enzensbergers „Menschenfeind“ (nach Molière, 1979), Bernhards „Theatermacher“ (1990) Becketts Krapp in und „Das letzte Band“ (1997) waren weitere prägende Rollen. Jüngst spielte er in Zadeks „Hamlet“ an der Berliner Schaubühne (Titelrolle: Angela Winkler) den Polonius.

Seine wüste, tapsige, gelegentlich unsagbar komisch wirkende Körperlichkeit (ein „Riesenkind“ nannten ihn viele) trieb unverhofft gläsern zarte Nuancen hervor. Dann konnte er schwerelos über die Bretter tänzeln und geradezu durchsichtig wirken.

Der am 18. November 1937 in Bielefeld geborene Wildgruber lief auch biographisch kreuz und quer. Kurz vor dem Abi verließ er die Schule, hernach wich er von vorgezeichneten Wegen ab – bis er ans Wiener Reinhardt-Seminar kam. Seine Mitstudenten hießen Franz Xaver Kroetz, Hans Neuenfels, Elisabeth Trissenaar und Libgart Schwarz. Ein legendärer Jahrgang.

                                                                                                                           Bernd Berke

 




Ein dämonischer Gigant – zum Tod des großen Schauspielers Bernhard Minetti

Von Bernd Berke

Wenn Bernhard Minetti die Bühne betrat, war alles gleich wie verwandelt, wie in ein anderes Licht getaucht. Selbst mittelmäßige Aufführungen bekamen dann einen Abglanz von Theaterzauber. Es gab keinen anderen, der so eigen spielte: eigensinnig, eigenwillig, faszinierend eigenartig.

Diesem großen Dämon des Theaters mit den ungeheuer blitzenden Augen huldigten Publikum und Bühnenwelt: „Der König der Theaterkunst ist tot“, sagte gestern der Regisseur Claus Peymann.

Kaum hatte Minetti, der gestern mit 93 Jahren gestorben ist, die Schauspielschule absolviert, da gehörte der gebürtige Kieler ab 1930 zum Spitzenensemble am Berliner Staatstheater unter Leopold Jeßner, Gustaf Gründgens und Heinrich George. Der Kritiker Herbert Jhering drang gleich zum Wesenskern vor: „Ein neues Gesicht. Nicht der glatte Typ. Feurig und kalt zugleich. Ein knapper, aufbegehrender, glühender Schauspieler.“

Fast 70 Jahre Theatergeschichte hat Bernhard Minetti maßgeblich mitgestaltet. Wollte man alle seine weit über 300 Rollen aufzählen, so müßte man etliche Kapitel des Schauspielführers abdrucken. Unter den vielen großen Regisseuren, mit denen er arbeitete, war Jürgen Fehling wohl der entscheidende. Der trieb Minetti die letzten Anflüge von Deklamation aus, hielt ihn zum gezügelten und dadurch noch intensiveren Spiel an.

Während der NS-Zeit ist Minetti nicht aus Deutschland emigriert, sondern hat beim geschickt lavierenden Gründgens weiter gewirkt. Er hat später zugegeben, er sei damals feige gewesen. Politische Feigheit aus Leidenschaft fürs Theater. Das Spielen hat er gebraucht wie tägliches Brot. Ein Bedürfnis, das in finsteren Zeiten fatal sein kann.

Famoses Dreigestirn mit Claus Peymann und Thomas Bernhard

Minetti hat sich jedoch nicht nach dem Gusto der NS-Machthaber gerichtet, sondern – wie Gründgens – die Kunstausübung vor dem direkten Zugriff der Diktatur bewahrt. Freilich hat er (schlimme Ausnahme) 1944 ein Stück des braunen Dramatikers Hans Rehberg inszeniert.

Nach dem Krieg als „unbelastet“ eingestuft, begann er in Kiel von vorn. Erst in den 60er Jahren kam er wieder dauerhaft nach Berlin, und zwar ans Schillertheater, das 1993 geschlossen wurde – eine kulturpolitische Katastrophe, die Minetti nicht verwunden hat. Seit Ende 1994 gehörte er dem Berliner Ensemble (BE) an, seine letzte Rolle übernahm er in Brechts „Ozeanflug“ (Regie: Robert Wilson).

Legendär sein Bühnen-Zweikampf mit Martin Held in Neil Simons „Sonny Boys“. Der Kritiker Friedrich Luft genoß Minetti als „wunderbar streitbares altes Aas“. Minetti wurde zum Spezialisten für zynische, gebrochene Charaktere, zumal in Stücken von Beckett, Genet und Dürrenmatt. Als Greis Krapp hielt Minetti in Becketts Einpersonendrama „Das letzte Band“ bittere Lebens-Rückschau. Auch da war er unnachahmlich. Doch unter Intendanten wie Boy Gobert und Heribert Sasse sah sich Minetti an seiner Stammbühne vielfach unterfordert.

Da traf es sich, daß ihn die Heroen des Regietheaters als überragende Figur entdeckten und zu Gastspielen einluden. Hier war einer, der ihre Ideen souverän unterlief und junge Ensembles allemal mitriß. So erlebten es Claus Peymann, Dieter Dorn und Klaus Michael Grüber, der Minetti 1985 an der Schaubühne die Wunschrolle des wahnhaften „König Lear“ gab.

Famos jenes Dreigestirn, das Minetti mit dem Autor Thomas Bernhard und dem Regisseur Claus Peymann bildete. 1980 war Minetti in Bochum Bernhards unverbesserlicher „Weltverbesserer“ 1984 brillierte er am selben Ort in „Der Schein trügt“, und mit „Minetti“ widmete ihm Bernhard gar ein Stück, in dem sich der Mime selbst verkörpern konnte.

Unvergeßlich seine mal hintersinnig singende, mal maulend mahlende, alles im Nu zermalmende Weltverachtungs-Stimme, sein stechender Bussard-Blick, aus dem hin und wieder listige oder gar kindlich-heitere Funken sprühen konnten. Dann war – für Momente – diese tödliche Komik nicht mehr gar so knochig, fahl, bedrohlich.

Verstörung, letztlich aber immer Verehrung erzwang er auch mit grandioser Anmaßung: „Gegen das Publikum spielen“ wolle er, hat er einmal gesagt. Und das Lachen wolle er ebenso herstellen wie zerstören. Er war auch ein Monument der Un-Gemütlichkeit.




Mann aus kaltem Marmor – Ernst Jünger starb mit 102 Jahren in seiner schwäbischen Zuflucht Wilflingen

Von Bernd Berke

Als der Zweite Weltkrieg endete. war der Schriftsteller Ernst Jünger bereits 50 Jahre alt. Selbst 1914, als der Erste Weltkrieg begann, war er kein Kind mehr, sondern ein 19-Jähriger. Jünger, der gestern mit 102 Jahren starb, hat eine ungeheure Lebensspanne, hat nahezu unser gesamtes Jahrhundert durchmessen. Manche haben ihn allein deswegen in mythische Höhen entrücken wollen.

In jüngster Zeit etwa näherten sich Autoren wie Botho Strauß und Rolf Hochhuth dem Phänomen Ernst Jünger „auf den Knien ihres Herzens“, wie jenes herrlich windschiefe Kleistsche Sprachbild lautet.

Falls man auch nur ein wenig liberalen Geist bewahrt hat, darf man dies nicht vergessen: Der am 29. März 1895 in Heidelberg als Sohn eines Apothekers geborene Ernst Jünger hat den Zerfall der Weimarer Demokratie und noch das Heraufdämmern der NS-Diktatur pathetisch gefeiert.

Vision vom perfekten Körper des Soldaten

Den Jugendlichen zog’s fort zur Fremdenlegion. Vielleicht hat er sich Freiheit und Abenteuer erträumt. In den Ersten Weltkrieg stürzte er sich dann – wie so viele – mit schäumender Begeisterung. Vierzehn Verwundungen trug er davon.

1920 erschien sein literarischer Erstling „In Stahlgewittern“. Weit entfernt von Ernüchterung nach den furchtbaren Schlachten, pries Jünger die „stählernen“ Soldatenkörper und deren „Erlösung“ im allumfassenden Blutrausch. Liest man diesen Text gegen den Strich, so kann er freilich eine höchst wertvolle Lektüre zur Entschlüsselung des Jahrhunderts sein. Dann enthüllt das Buch nämlich sehr präzise die Triebkräfte jener „Männerphantasien“, wie sie Jahrzehnte später von Klaus Theweleit namhaft gemacht wurden.

Jünger selbst schritt – äußerlich kalt bis ans Herz – so gut wie unversehrt durch alle kommenden Katastrophen, nie wieder warf er sich an vorderste Fronten. Der erklärte Geistes-Aristokrat legte sich eine Attitüde der Unnahbarkeit zu. Er stand über allem.

Proletarier als kraftstrotzende Titanen

1932 erschien Jüngers Buch „Der Arbeiter“. Der Autor ließ sich damals zwar auch vom bolschewistischen Menschenbild inspirieren, doch in den Proletariern sah er beileibe keine ausgebeutete Klasse, sondern kraftstrotzende Titanen, die mit dem Rhythmus eiserner Maschinen verschmelzen. Ein ähnlich mitleidloser Männerbund wie das Militär. Für Frauen war in dieser grausigen Welt eigentlich kein Platz, auch nicht für Opfer der Gewaltsamkeit.

Die Nazis verachtete Jünger insgeheim als niedere Plebejer, nachdem er selbst ihren Un- : geist mit heraufbeschworen hatte. Im besetzten Paris residierte er als einer der deutschen Statthalter im Stab des dortigen Wehrmachts-Befehlshabers. Das Inferno der Eroberung hatte er auch schon mal bei einem guten Glas Wein als ästhetisches Schauspiel goutiert. Ein Herrenreiter, der auf Ordnung hielt, sich aber vom flammenden Chaos faszinieren ließ und gelegentlich mit Rauschmitteln experimentierte. Derlei Erfahrungen komprimierte er in dem 1970 erschienenen Band „Annäherungen. Drogen und Rausch“.

Daß ihn gerade französische Intellektuelle so verehren, hat vielleicht mit deren Hang zu erzdeutschen Gegenbildern gallischer Leichtigkeit zu tun: Wagner, Nietzsche, Heidegger, Jünger. Vier tiefe teutonische Abgründe, in die man jenseits des Rheins mit wohligem Schaudern blickt.

Politik im Zeichen der Biologie

Einzelne mag Jünger mit Anstand vor dem Tode gerettet haben, doch das schlimme Ganze hat er ohne Gegenwehr geschehen lassen, als beträfe es ihn gar nicht. Stets neigte er dazu, Politik und Geschichte unter biologischen Vorzeichen zu sehen, wie unabwendbare Naturereignisse. An all dem änderte auch sein Werk „Auf den Marmorklippen“ (1939) wenig, das als Schlüsselroman über Konflikte zwischen NS-Bonzen gedeutet werden konnte. Das vierjährige Publikationsverbot, das die Alliierten 1945 über ihn verhängten, kam jedenfalls nicht von ungefähr.

Oft hat man Jüngers Sprachstil über die Maßen bewundert. Doch neben jenen wie aus kaltem Marmor perfekt gemeißelten Passagen gibt es auch Blendwerk. Die Klarheit ist im Kern oft schiere Banalität. Nicht selten schrieb Jünger unerträglich gravitätisch, indem er noch die geringsten Dinge aus seinem Umkreis zu Ausformungen des Weltgeistes erklärte.

Seine seit 1980 erschienenen Alterstagebücher „Siebzig verweht“ (inzwischen fünf Teile) zeigen ihn mit seiner Insektensammlung, mit Ur-Mutter Erde und der Ewigkeit eisig allein, erhaben über alle Gegenwart. Zu solchen überzeitlichen Höhen zog es auch Staatsmänner wie Kanzler Kohl und Frankreichs verstorbenen Staatspräsidenten Mitterrand hinan, die Jünger gemeinsam im oberschwäbischen Wilflingen besuchten, wo der Autor seit 40 Jahren zurückgezogen lebte.




„Tegtmeier“ lebt nicht mehr – Ruhrgebiets-Komiker Jürgen von Manger mit 71 Jahren in Herne gestorben

Von Bernd Berke

Für alle Auswärtigen war er die idealtypische Verkörperung des Ruhrgebiets-Kumpels: Jürgen von Manger, der mit 71 Jahren in Herne gestorben ist, erfand 1962 seine Figur „Adolf Tegtmeier“ – und verschmolz nahezu mit dieser Rolle.

Landauf landab verbinden die Menschen das Revier mit seinen Auftritten und glauben zu wissen, wie die Leute hierzulande reden. Was „Tegtmeier“ von sich gab, war allerdings niemals echtes Revier-Deutsch, sondern ein Kunstdialekt.

Tegtmeier war jener „kleine Mann“ von der Straße, der sich freilich bildungsbeflissen gab, sich möglichst gepflegt ausdrücken wollte – und dabei immer wieder in arge Sprachnöte geriet. Komischer Kontrast: Gerade wenn ihm eigentlich die Worte fehlten, war dieser Tegtmeier höchst mitteilungsfreudig. Und er hätschelte seine gesammelten Vorurteile, als seien es Weltweisheiten.

Mit Schiller trieb er besonders viel Schabernack

Besonders am hohen und pathetischen Ton eines Friedrich Schiller konnte sich dieser Tegtmeier regelrecht aufreiben. Unvergessen sein Bericht von einer „WaIlenstein“-Aufführung („Dat is von dem, der auch Schillers Räuber geschrieben hat“). Ähnliche Wirkung erzielte er mit eigenwilligen Deutungen von „Maria Stuart“ und ..Wilhelm Teil“.

Tegtmeier hatte natürlich auch das Patentrezept gegen jeden Bildungsballast parat: „Bleibense Mensch'“ empfahl er stets. Mit anderen Worten: Nur nicht zu weit abheben, alles halb so hoch hängen. Und das war nun wiederum ganz nach Art des Menschenschlags im Ruhrgebiet.

Jürgen von Manger stammte jedoch gar nicht aus dem Revier, er wurde am 6. März 1923 in Koblenz geboren. Seine Schulzeit erlebte er dann allerdings bereits in Hagen, wo er das Humanistische Gymnasium besuchte und im Jahr 1941 Abitur machte. Der Sohn eines Staatsanwalts studierte von 1954 bis 1958 in Köln und Münster Rechtswissenschaften, hatte aber zuvor schon erste Bühnenerfahrungen gesammelt, zunächst als Statist.

Nach einer soliden Schauspiel- und Gesangsausbildung wirkte er an den Bühnen in Hagen (bis 1947), Bochum (1947 bis 1950) und Gelsenkirchen (1950 bis 1963). Dabei spielte er auch unter dem legendären Bochumer Theaterchef Saladin Schmitt.

Die Markenzeichen gepflegt

Jürgen von Manger bekam im Theater zwar mitunter einige ernste Rollen, war aber schon bald als Spezialist für das Fach „Charakter-Komik“ gefragt.

Wie jeder bekannte Komiker, so pflegte auch Jürgen von Manger seine Markenzeichen. Da waren Schnauzbart und Kappe (die er angeblich wegen seiner „Maläste mitte Ohren“ trug), der immer irgendwie schiefgestellte, die Buchstaben geradezu genüßlich-quälerisch mahlende Mund, der so recht ahnen und mitfühlen ließ, wie Tegtmeier nach Worten rang, wenn er uns Gott und die Welt nach seinem Strickmuster erklären wollte; da war das listige Blinzeln unter den buschigen Augenbrauen, und da waren schließlich die immer wiederkehrenden Formeln und Floskeln wie das berühmte „Also äährlich!“

Hinter der etwas biederen Maskierung entfalteten sich manchmal ganz schön makabre Gedanken, zum Beispiel, wenn Jürgen von Manger einen seiner bekanntesten Sketche zum besten gab: den vom „Schwiegermuttermörder“. Dieser Mörder („Da hab‘ ich se gesäächt“) war weder teuflisch noch reumütig, sondern schilderte ganz beiläufig die Einzelheiten seiner Tat, so als gehe es um das Selbstverständlichste von der Welt. Es war übrigens eines der allerersten „Stücksken“ von Manger, mit dem er eigentlich nur die Wirkung beim Publikum testen wollte. Sie war durchschlagend, und er kam von der Figur nicht mehr los.

Makabre und peinliche Situationen

Manger ließ Tegtmeier fortan in alle möglichen und unmöglichen peinlichen Situationen geraten – von der Fahrschulprüfung („Hier hat die Omma Vorfahrt“) bis ins Eheinstitut (wo er eine Dame „mit dicke Oberaahme“ suchte), von der Delinquentenzelle bis in den Lehrgang für Unteroffiziere: „Womit wäscht sich der Soldat? – Mit Seife, Herr Unteroffizier! – Nein, mit nacktem Oberkörper.“ Tegtmeier geriet jedenfalls immer vom Regen in die Traufe, stolperte von einer Kalamität in die nächste. Doch er wurstelte sich immer irgendwie durch.

Großen Anklang fanden nicht nur Mangers insgesamt zwölf Langspielplatten, sondem auch seine Fernsehreihen wie zum Beispiel „Tegtmeiers Reisen“ mit gelegentlich hintersinnigen Plaudereien an den Orten des Massentourismus, wo er auch schon mal einen besonders schönen Kartoffelsalat und Übernachtungen in Jugendherbergen empfahl.

Im August 1985 erlitt Jürgen von Manger einen schweren Schlaganfall und war seither halbseitig gelähmt. Auch das Sprachzentrum wurde in Mitleidenschaft gezogen. Tapfer kämpfte er gegen die Krankheit an und hatte sogar schon bald wieder Pläne für neue Auftritte. Doch er mußte die Pläne aufgeben. Er hat sich nie wieder ganz erholt. Zuletzt lebte der Opern- und Antiquitäten-Kenner sehr zurückgezogen mit seiner Frau Ruth in Herne.




Lore Lorentz: First Lady des deutschen Kabaretts – „Kom(m)ödchen“-Gründerin starb mit 73 Jahren

Von Bernd Berke

Sie hat auf der Bühne so manche geschliffene Boshaftigkeit von sich gegeben. Doch zwei Dinge milderten noch ihre schärfste Kritik: ihr gespielt naiver Augenaufschlag und das „R“, das sie mit böhmischem Zungenschlag so herrlich rollen lassen konnte. Lore Lorentz, die mit 73 Jahren in Düsseldorf starb. war die First Lady der deutschen Brettlbühnen.

Die Wut aufs mißliche politisehe Getriebe, befeuert durch Zeitungen, die sie stapelweise las, hat sie lange jung gehalten. „Wir dürfen die Demokratie nicht verplempern“, das war ein Leitspruch. Die letzten Jahre waren freilich nicht mehr ihre Zeit. Wer sie im September 1993 auf ihrer Hausbühne, dem Düsseldorfer „Kom(m)ödchen“ in dem Programm „Verfassungslos“ erlebte, sah eine gebrechliche, durch den Tod ihres Mannes gebrochene Frau. Bewegend der Moment, als sie mit großer Würde dennoch ihren kurzen Chanson-Auftritt absolvierte.

Sie kam bis zuletzt noch täglich ins „Kom(m)ödchen“-Büro, um nach dem Rechten zu sehen, doch die Leitung der Bühne hatte sie im letzten Sommer ihrem Sohn Kay Sebastian übertragen. Zuletzt bekundete sie vor allem ihre „ungeheure Angst“ vor einem neuen Nationalismus in Deutschland. Viele Vorgänge nach der deutschen Vereinigung waren ihr nicht recht geheuer. Sie fand, daß manches schlichtweg gar nicht mehr „kabarettabel“ sei.

Besonders in den 50er und 60er Jahren hatte sie noch ein ganz anderes Feld und kernigere Gegner vorgefunden. Da trafen etliche Spitzen gegen tiefschwarze Politiker wie etwa Franz-Josef Strauß. Die kleine Bühne von Lore und Kay Lorentz (er starb im Januar 1993) wurde zu einem Hort unbeugsam-kritischen Geistes in der Adenauer-Ära. Doch man fraß auch nicht den Sozialdemokraten aus der Hand, sondern erinnerte sie vielmehr hartnäckig an ihre „unverwirklichten guten SPD-Grundsätze“.

Zudem gelang eine Verbindung politischer Aussagen mit literarscher Qualität, wie sie in Deutschland sonst kaum zu finden war. Dafür sorgten nicht zuletzt die Stammautoren Martin Morlock und Eckart Hachfeld. Als studierte Germanistin mit Gefühl für die Feinheiten der Sprache hatte Lore Lorentz dabei mehr als ein Wörtchen mitzureden. Und ohne ihre Vortragskunst wären die besten Texte sowieso vergebliche Liebesmüh‘ gewesen.

Wie es so oft geschieht: Lore Lorentz, am 12. September 1920 als Tochter eines Ingenieurs in Mährisch-Ostrau (heute Ostrava/Tschechien) geboren, hatte durch Zufall zum Kabarett gefunden. Mit Ehemann Kay arbeitete sie 1946 für die Brettl-Bühne eines gemeinsamen Freundes – als Kassiererin. Erst als eine Darstellerin ausfiel, sprang Lore Lorentz ein und konnte zeigen, was in ihr steckte. 1947, in der zerbombten Altstadt von Düsseldorf, schlug dann die Geburtsstunde für das „Kom (m)ödchen“. Das erste Programm hieß „Positiv dagegen“. Zahlreiche Auslandsgastspiele machten die Truppe alsbald auch zu Botschaftern eines besseren Deutschland.

Lore Lorentz, die „mit freundlich-dankbarer Entschiedenheit“ das Bundesverdienstkreuz ablehnte, trat mehrfach auch in Produktionen des Düsseldorfer Schauspielhauses auf (z. B. als „Mirandolina“ von Goldoni, als „Jenny“ in Brechts „Dreigroschenoper“) und war ab 1978 zeitweise Professorin an der Folkwang-Hochschule in Essen. Dort unterrichtete sie die Fächer Chanson, Song und Musical. Kabarett brachte sie den Studenten allerdings nicht bei. Denn das, so meinte sie, „kann man nicht lehren.“




Chaot der Rockmusik – Zum Tod von Frank Zappa

Von Bernd Berke

Das Poster, das den verzottelten Kerl auf der Toilette zeigte, hing fast überall, wo man rebellisch gestimmt war. Es war eine Ikone der 60er Jahre. Und der Titel seines ersten Albums „Freak out“ (etwa: Brich aus!) wurde zum Schlachtruf der Aufsässigen. Der Rockmusiker Frank Zappa, Symbolfigur einer ganzen Generation und Inbegriff des Underground, ist tot. Mit nur 52 Jahren starb er an Prostatakrebs.

Erst gestern früh wurde die traurige Nachricht bekannt, und die Agenturen verbreiteten sie mit dem Dringlichkeits-Vermerk „Vorrang“. Zappa starb bereits am Samstag in Los Angeles, am Sonntag wurde er schon im engsten Kreise von Freunden und Angehörigen beigesetzt. Seine Familie, Frau und vier Kinder, teilte lapidar mit, er sei nun „zu seiner letzten Reise aufgebrochen“. Vielleicht ist er ja nun in jener anderen Welt auf Tournee und logiert in einem jener „200 Motels“, die er einst besang und im Film zeigte.

„Kein Akkord ist häßlich genug…“

„Kein Akkord ist häßlich genug, um all die Scheußlichkeiten zu kommentieren, die von _ der Regierung in unserem Namen verübt werden“, befand Zappa zur Zeit des Vietnam-Krieges. Er soll schon als kleiner Junge gegen seines Vaters Arbeit in der Rüstungsindustrie protestiert haben, indem er tagelang eine Gasmaske trug. Mag das auch fromme Freak-Legende sein, so hielt sich Zappa später doch an die Sache mit den Akkorden. Keiner (außer vielleicht Jimi Hendrix konnte der Bühnen-Elektronik so nervenzerfetzende Kreischtöne entlocken und so chaotisch erscheinende Klang-Collagen basteln wie Zappa.

Impulse aus neuer E-Musik und Free Jazz

Das ging nur, wenn man andere künstlerische Fixpunkte hatte als lediglich die Rockmusik. Bei Zappa waren es Komponisten moderner E-Musik wie Strawinsky, John Cage und Edgar Varese, aber auch der Free Jazz. Ob man ihn bei solchen Grenzgängen zwischen den musikalischen Welten für ein Genie oder einen Scharlatan hielt, war ihm letztlich schnurz. So viel Sarkasmus wie seine Kritiker brachte er allemal auf. Übrigens hat er bis zuletzt verbissen gearbeitet und gegen seine Krankheit angekämpft: Im Frühjahr ’94 wird die kurz vor seinem Tod fertiggestellte Platte „Civilization: Phase III“ erscheinen.

Symbolische Massaker auf der Bühne

Berühmt wurde der am 21. Dezember 1940 in Baltimore/Maryland (USA) als Sohn sizilianischer Einwanderer geborene Zappa anfangs vor allem als Provokateur von speziellen Gnaden. Da ließ er von der Bühne herab Stofftiere ins Publikum ejakulieren, verübte symbolische Massaker an Baby-Puppen und lieferte obszöne Songtexte ab, in denen schmutzige „Four-Letter-Words“ reihenweise vorkamen. Wäre er tatsächlich in den Wahlkampf um die US-Präsidentschaft gezogen, wie er es einmal vorhatte, man hätte Amerika nicht wiedererkannt. Jedenfalls machten die rabiaten Auftritte ihn und seine Band „The Mothers of Invention“ zu Kultfiguren. Daß musikalisch eine ganze Menge Originalität dahinter steckte, merkten anfangs nur wenige.

Vermarktung – nicht ohne Zynismus

Doch auch der wildeste Freak kommt in die Jahre und möchte noch ein wenig abkassieren. So wurde Zappa in den 80er Jahren zum zynisch-gewieften Vermarkter. Auch seine Kinder spannte er ein. Kaum konnten sie singen, mußten sie vors Mikro, kaum konnten sie etwas kritzeln, gab es die Motive auf T-Shirt in Zappas Postversand. Und manchmal verstieg er sich in seiner Provokationslust auch ins Unsägliche, etwa indem er Spezial-KZ’s empfahl, um lasche Musiker auf Vordermann zu bringen…

Irgendwie hatte Grace Slick, die Sängerin von „Jefferson Airplane“ wohl schon recht, als sie mal über Zappa sagte: „Er ist das intelligenteste Arschloch, das ich je getroffen habe.“ Zappa selbst hätte gegen solche Sätze in seinem Nachruf wohl nichts einzuwenden gehabt.

 




Zum Tod von Arno Breker: Immer auf der Seite der Mächtigen

Von Bernd Berke

Der Bildhauer Arno Breker ist am Mittwoch mit 90 Jahren in Düsseldorf an den Folgen einer Grippe gestorben. Das teilten gestern Freunde des Künstlers mit. Bis kurz vor seiner Erkrankung, so hieß es weiter, habe Breker täglich noch mehrere Stunden im Atelier verbracht. Als letzte Werke habe er ein Porträt Ludwig van Beethovens sowie eine überlebensgroße Büste von Salvador Dali vollendet.

Breker gehörte zu den umstrittensten deutschen Künstlern dieses Jahrhunderts. Am Rande eines einschlägigen Gerichtsverfahrens fiel einmal der Satz, die Filmemacherin Leni Riefenstahl habe während der NS-Zeit stets oben schwimmen können – „wie ein Fettauge auf der Suppe“. Der Vergleich trifft wohl auch auf Breker zu. Sein Hang zu aufgeblähtem Pathos, zur hohlen Monumentalität, zu einer Scheinwelt idealisierter Körper, paßte wie angegossen zum Geschmack der Nazi-Ideologen.

Die NS-Führungsclique machte ihn zum engen Vertrauten. Er meißelte Büsten von Hitler und anderen Nazi-Größen. Von 1937 bis 1945, als zahllose wichtige Kollegen längst als „entartet“ aus dem Kunstbetrieb verdrängt worden waren, war Breker Professor an der Kunsthochschule Berlin. Er verschrieb er sich der Produktion für die Partei, leitete einen regelrechten Skulpturen-Großbetrieb mit 46 Mitarbeitern (darunter französische Kriegsgefangene). So verschleuderte er sein durchaus vorhandenes Talent. Nur ein mißbrauchter „Idealist“? Oder ein bewußter Mittäter, der meterhohe Muskelmänner-Figuren wie „Vernichtung“, „Vergeltung“, „Rächer“ und „Kämpfer“ schuf?

Prominenz in seinem Atelier willkommen

Vor dem „Dritten Reich“ hatte Breker auch schon Staatsaufträge in der Weimarer Republik bekommen, u. a. für eine Porträtbüste von Friedrich Ebert. Während der NS-Zeit soll er auch verfolgten Künstlern geholfen haben, Picasso zum Beispiel. In der Stalin-Ära bemühten sich angeblich auch die Herren des Kreml um die Dienste des Deutschen. Breker lehnte ab.

Breker, am 19. Juli 1900 in Elberfeld (heute Wuppertal) geboren, spielte auch eine Rolle in jenem Lehrstück über den gleitenden Übergang in die Adenauer-Ara. 1948 für ein Bußgeld von 100 DM als „Mitläufer“ entnazifiziert, war er schon bald wieder gefragter Porträtist der Begüterten, ja einer der meistbeschäftigten Künstler der Republik. Der Bankier Hermann Josef Abs saß ihm ebenso Modell wie Versandhaus-König Helmut Schickedanz, Mitglieder der Quandt-Dynastie, der politisch stets unzurechnungsfähige Salvador Dali, die schrille Gloria von Thurn und Taxis oder der allzu rundum aufgeschlossene Kunstmäzen Peter Ludwig. Auch Modellathleten wie Zehnkämpfer Jürgen Hingsen oder Hochspringerin Ulrike Meyfarth waren in Brokers Atelier in Düsseldorf-Lohausen willkommen.

Im Dunstkreis mancher Surrealisten

Nicht wenige Surrealisten reklamierten Breker als einen der Ihren. Daran dürfte wahr sein, daß Breker Reflexion und Verantwortung in einem quasi-surrealistischen Sinne ausblendete, so daß seine Figuren sich zu einem (Alp)-Traumreich verlogener Schönheit addieren, das durch die Akademie-Tradition des 19. Jahrhunderts vermittelt wird. Die Texter eines Bildbandes jedenfalls, die Breker im Untertitel als „Michelangelo des 20. Jahrhunderts“ feierten, griffen nicht nur viel zu hoch, sondern gänzlich fehl. Inwiefern, das hat u. a. der verstorbene Bochumer Kunsthistoriker Max Imdahl detailliert belegt.

Wiederholt bewies Breker seine notorische „Unfähigkeit zu trauern“. Eine kritische Anfrage war ihm vor einigen Jahren höchst lästig. Denkbar blauäugig antwortete er: „Wie kann denn Liebe blühen, wenn immer wieder Neid und Haß gesät werden?“ Und er sagte: „Ich brauche meinen Frieden, um zu arbeiten.“ Solchen Frieden hätten andere auch gebraucht – damals, als Breker treu zu den Aggressoren stand.

Soll man nun, angesichts seines Todes, trauern? Ja, sicher: Um einen, der keine Gelegenheit mehr hat, doch noch Einsicht zu zeigen.




Endspiele der Verzweiflung – Zum Tod von Samuel Beckett

Von Bernd Berke

Wie prägend Samuel Beckett für Literatur und Theater der zweiten Jahrhunderthälfte war, zeigt sich schon daran, daß eine Theatergröße wie Thomas Bernhard mit dem Etikett „Alpen-Beckett“ belegt wurde. Becketts bloßer Name stand für eine ganze (Theater-)Welt. Zwar wurde der Ire dem „Absuiden Theater“ zugerechnet, er befand sich aber auf einsamer, alle „Richtungen“ überragender Anhöhe.

Inszenierungen seines Jahrhundert-Dramas „Warten auf Godot“ (1953) waren oft entscheidende Wegmarken in der Entwicklung der jeweiligen Bühnen – wie dies sonst nur noch bei ganz anders gearteten Gigantenwerken à la „Faust“ oder „Hamlet“ der Fall ist. Bekannt wurden auch Beckett-Stücke wie „Endspiel“ (1957), „Das letzte Band“ (1959) oder „Glückliche Tage“ (1961). Torsohafte Bühnengestalten, die nur mit dem Kopf aus Mülltonnen ragten, oder sein 30-Sekunden-Stück „Atem“, das nur aus Atemgerausch besteht, wurden zu Begriffen.

Wie kein anderer fand Beckett Chiffren für einen verzweifelten Weltzustand, aber auch für verzweifelte Komik. So zog er im „Godot“ das Leben auf eine Alptraum-Formel zusammen: Der Mensch werde „rittlings über dem Grabe“ geboren. Er schrieb aber auch „Schauspieler-Theater“ reinsten Wassers: Eine Rolle wie die des alten Krapp in „Das letzte Band“ war Herausforderung für große Darsteller wie Martin Held und Bernhard Minetti.

Der Erfolg des am 13. April 1906 in Foxrock bei Dublin geborenen Autors kam spät. Zunächst unbeachtet blieben frühe Arbeiten, wie der (auf deutsch erst 1989 erschienene) Prosa-Band „Mehr Prügel als Flügel“ (1934) oder die Romane „Murphy“ (1938) und „Watt“ (1944). „Murphy“ begann mit dem wohl meistzitierten aller Beckett’schen Endzeit-Sätze: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues“.

Im Januar 1953 wurde dann in Paris sein Stück „Warten auf Godot“ uraufgeführt. Es rief Heerscharen von Deutern auf den Plan. Jeder konnte hier „seine“ Wahrheit suchen – der Christ, der Nihilist, der Marxist. Wohl über kein anderes Stück ist so hirnzermarternd nachgedacht worden, Beckett hatte – wie auch in anderen Werken – die Bühnenwelt auf scheinbar einfachste Grundformen reduziert, so daß man alles hineingeheimnissen konnte. Das Nichts und das Alles waren hier sozusagen eins geworden.

Der Autor verweigerte (mal verärgert, mal verschmitzt) Deutungshinweise. So wollte er z. B. sein sprichwörtlich gewordenes „Endspiel“ schlicht und einfach als „Spiel“ verstanden wissen. Auch eigene Inszenierungen seiner Stücke gaben wenig Aufschluß.

Beckett hatte 1928 in Paris seinen Landsmann James Joyce zum Freund gewonnen und war zeitweise sein Sekretär. Neben Joyce war zunächst Marcel Prousts Werk für Beckett bestimmend. Zwischen 1930 und 1938 pendelte er zwischen Dublin, London, Deutschland und Paris („Wanderjahre“), ehe er sich endgültig in Paris niederließ, wo er lange isoliert und verarmt blieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er der französischen Widerstandsbewegung angehörte, begann er auch französisch zu schreiben und war Übersetzer seiner eigenen Werke.

1969 nahm Beckett den Nobelpreis für Literatiir an, fuhr jedoch nicht zur Entgegennahme nach Stockholm. Spätestens seit den 70er Jahren galt er als Klassiker der Modeine (und wurde in mancher Inszenierung als solcher verhaimlost). Im letzten Sommer – nach dem Tod seiner Ehefrau – hatte er seine Wohnung aufgegeben und war in ein Altenheim gezogen.

Beckett starb, wie erst gestern bekannt wurde, am letzten Freitag mit 83 Jahren in Paris. Er wurde am 2. Weihnachtstag im engsten Familienkreis auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.




Malen am Abgrund der Seele – Zum Tod von Salvador Dalí

Ich selbst weiß nicht, was meine Bilder bedeuten“, soll er einmal bekannt haben. Und in Anspielung auf seine exzentrischen Eskapaden:„Gäbe es 200 Dalís, wäre das Leben auf der Erde unmöglich.“ Salvador Dali, am 11. Mai 1904 in Figueras bei Barcelona geboren, eine der Leitfiguren des Surrealismus, ist tot.

Er war so bekannt wie unter den Malern dieses Jahrhunderts allenfalls noch sein Landsmann Pablo Picasso. Das Inventar seiner Bilder – brennende Giraffen, zerfließende Uhren, endlos weite Sandflächen, Menschen mit bizarren Krücken und Schubladen im Körper – ist visuelles Allgemeingut geworden; genau wie sein Erkennungszeichen, die „Antennen zum Außerirdischen“ (Dalí), also die hochgezwirbelten Schnurrbartspitzen.

Seine Person beschäftigte Befürworter und Gegner meist mehr als seine Kunst. Ob der Mann nicht eher ins „Irrenhaus“ als in die Kunstgeschichtegehöre, darüber haben Generationen von Dalí-Deutern gerätselt. Dalí selbst, alles andere als von Bescheidenheit angekränkelt, bezeichnete sich selbst als genialen Schöpfer der „kritisch-paranoiden“ Methode, die – sei es Simulation, sei es durch echte Veranlagung – ihre Bildwelten aus dem krankhaft verformten Unbewußten zutage fördere. Natürlich griff auch er auf Vorbilder zurück: Die Lektüre der „Traumdeutung“ von Sigmund Freud gab entscheidende Impulse, Gemälde von Velazquez und Vermeer legten Motive nahe, Böcklins „Toteninsel“ oder das Werk de Chiricos wiesenWege zur optischen Umsetzung der Wahn- und Traumgebilde.

Dalí fand, nach futuristischen und kubistischen „Tastversuchen“, in den späten 1920er Jahren zu einer bis dahin unbekannten, bewußt schockierenden Bildsprache der Halluzinationen. Kernstück der mit bemerkenswert „akademischer“, an Klassikern orientierter Meisterschaft gemalten Bilder: Abgründe zwischen Erotik und Verwesung.

Fast alle Anekdoten über Dalí beziehen sich auf haarsträubende Exzesse. Daß er mit 20 Jahren achtkantig von der Kunstakademie Madrid „flog“, weil er seine Prüfer als Dummköpfe beschimpfte, ist ein vergleichsweise harmloser Schwank. Was Wunder, daß er im sensationsversessenen New York der 30er Jahre – noch mehr als zuvor in Paris – Furore machte.

Ein Kapitel für sich waren Dalís äußerst fragwürdige politische „Ansichten“. Die letzten Sympathien in der Gruppe der (mehrheitlich kommunistisch orientierten) Surrealisten um André Breton verscherzte sich der Aristokraten-Freund durch seine Begeisterung für einen Schlachtenmaler und Bemerkungen wie die, daß er Eisenbahnunglücke herrlich finde, sofern die 1. Klasse nicht betroffen sei. Später befürwortete er nachdrücklich die Franco-Diktatur. Auch langjährige Freunde, wie der 1983 gestorbene Filmregisseur Luis Buñuel, fanden derlei Zynismus unverzeihlich.

Sein Werk ist – nicht immer ohne Duldung oder Zutun des Meisters – beispiellos ausgeschlachtet worden. Fälscher und sonstige Nachahmer traten auf den Plan, und Dalí ließ es zu, daß in immensen Auflagen seine „Original“-Graphik verramscht wurde.

In den letzten Jahren war es stiller um ihn geworden. Seine vergötterte Frau „Gala“, die ihn nach eigenem Bekunden vor dem endgültigen Abgleiten in den Wahnsinn rettete, starb 1982. Der todkranke Dalí zog sich schon vor Jahren von aller Welt auf Schloß Pubol an der Costa Brava zurück.

                                                                                                                            Bernd Berke




Neue Grenzen zwischen Kunst und Leben – zum Tod von Joseph Beuys

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Wenn einer einem toten Hasen die Bilder einer Ausstellung erklärt; wenn einer Waschpulver in ein Klavier schüttet oder eine „Honigpumpe“ baut – ist er dann Vorbote eines neuen „magischen Zeitalters“ oder ein Scharlatan? Das haben sich viele gefragt, die mit der Kunst von Joseph Beuys konfrontiert wurden. Seinem Werk widerfuhren Huldigung, aggressive Abwehr, amüsiertes Gelächter, bares Unverständnis.

Des Rätels Lösung ist denkbar einfach, fast so schlicht, wie manche Beuys-Objekte (die meist nur im Zusammenhang mit vorangegangenen Aktionen verständlich sind): Es i s t Kunst, die sich aber, weil sie die Grenzmarken zwischen Kunst und Leben irritierend neu gesetzt hat, nicht kurzerhand erschließt.

Als der am 12. Mai 1921 in Kleve geborene Kaufmannssohn, am 12. Januar 1986 – es war sein letzter öffentlicher Auftritt – den Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg entgegennahm, trug er natürlich den Filzhut, sein „Markenzeichen“. Filz und Fett waren Grundstoffe vieler seiner Arheiten. Filz, das bedeutet (auch menschliche) Wärme, deren Speicherung zumal. Fett steht gleichfalls für ein energiespeicherndes Prinzip.

Vorratshaltung zum Überwintern in kalten Zeiten, Aufbrechen bankrotter Rationalität, Schaffung neuer Mythen – so könnte man die Ziele schlagwortartig skizzieren. Nicht nur Beuys‘ naturwissenschaftliche Studien fuhrten zu solchen Ausdrucksmitteln, sondern vor allem jenes Urerlebnis des Jahres 1942, als der Stuka-Flieger Beuys über sowjetischem Gebiet abstürzte, von Einheimischen gerettet und dabei in Filzdecken gehüllt wurde.

Ein Star des Marktes und der Medien

Beuys, ab 1949 als Schüler von Ewald Mataré an der Düsseldorfer Kunstakademie, war auch ein Star des Marktes und der Medien. Ein von ihm mit Filz beklebter Flügel, 1967 für 10.000 DM verkauft, war einem Käufer 1974 schon 200.000 DM wert. Zusammen mit Andy Warhol führte Beuys denn auch bald eine imaginäre „Weltrangliste“ höchstdotierter Künstler an. Bei Gelegenheit seiner zuletzt raren Auftritte, wie etwa bei der Düsseldorfer Ausstellung „Von hier aus“, bildeten sich sogleich Trauben von Presse- und Fernsehleuten um ihn.

Zuweilen hatte es komische Qualität, wie seine Kunst sich dem Leben näherte, mit ihm in (oft produktive) Reibung geriet: Die Geschichte von den Reinmachfrauen, die aus einer Beuys-Badewanne die Heftpflaster entfernten und die Wanne gründlich schrubbten, erheiterte die Kunstwelt.

Entlassung durch Johannes Rau

Ernstere Schlagzeilen machte seine Entlassung als Lehrer an der Düsseldorfer Kunstakademie, an der er seit 1961 tätig war und bis zu 350 Schüler betreute, die heute zum großen Teil die Szene bestimmen. Im Oktober 1972 kündigte der damalige NRW-Wissenschaftsminister Johannes Rau Beuys‘ Vertrag fristlos, weil der mit abgewiesenen Bewerbern die Akademie besetzt hatte. Der Rechtsstreit dauerte bis 1978.

1974 gründete er, zusammen mit seinem Freund Heinrich Böll, die „Freie internationale Hochschule für Kreativität“. Grundlage war Beuys‘ Bekenntnis: „Jeder Mensch ist ein Künstler“.

1979 richtete das New Yorker Guggenheim-Museum Beuys als erstem lebenden deutschen Künstler eine umfassende Retrospektive aus, womit er endgültig zum Klassiker der Spätmoderne wurde. Beuys betätigte sich mit großer Beharrlichkeit auch auf politischem Feld. 1967 war er bei der Gründung der „Deutschen Studentenpartei“ dabei, 1972 rief er die „Organisation für direkte Demokratie“ ins Leben, 1976 die „Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher“. 1980 war er Bundestagskandidat für die „Grünen , von denen er sich jedoch jüngst wieder distanzierte.




Malerei als eine Form der Liebe – zum Tod von Marc Chagall

Von Bernd Berke

„Malerei ist nichts, als eine andere Form zu lieben“, hat Marc Chagall einmal seine Kunstauffassung umschrieben. Und er bekannte: „Die innere Welt ist vielleicht wirklicher als die sichtbare äußere.“ Marc Chagall, in der Nacht zu gestern im biblischen Alter von 97 Jahren gestorben, ist ein Maler der warmen, leuchtenden Farben und der Innerlichkeit.

Zwar unmittelbar das Gefühl ansprechend, entstanden seine Bilder dennoch vor einem Hintergrund, dessen Kenntnis Voraussetzung für tieferes Verständnis ist: Die russische Heimat und die Sehnsucht nach ihr, das jüdische Elternhaus, der Chassidismus, der in jeder Erscheinung einen „Funken Gottes“ erblickt – diese Einflüsse seiner Jugend blieben auch lebendig, als Chagall in Paris in den Aufruhr der künstlerischen Moderne geriet.

Zeitlebens ist er nicht von figürlich-gegenständlicher Darstellung abgerückt. Kunsthistoriker rechnen ihn zu den Anregern des Expressionismus (Signal dafür: die von Hewarth Walden veranstaltete Chagall-Ausstellung 1914 in Berlin) und des Surrealismus.

Chagall wude am 7. Juli 1887 in Liosno bei Witebsk als Kind armer Leute geboren. Seine zeichnerische Begabung entfaltete sich früh. 1907 wurde er in Petersburg Schüler von Leon Bakst. Mit einem Stipendium versehen, kommt er 1910 erstmals nach Paris, die damals unbestrittene Weltkunstmetropole. Er lernt dort u.a. Guillaume Apollinaire und Amedeo Modigliani kennen. Chagalls Palette – bis dahin von fahlen Braun- und Grautönen beherrscht – wird in Paris zusehends farbiger, sprühender.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht ihn bei einem Heimataufenthalt. Er leistet Wehrdienst ab, wird nach der Oktoberrevolution von den Sowjets zum Gebietskommissar für Kunst ernannt. Bald aber kommt es zum Zerwürfnis und Chagall reist via Berlin nach Paris (wo er 1939 die französische Staatsbürgerschaft annimmt). Von 1931 bis 1937 sieht er u.a. Palästina. Dort sammelt er Anregungen für seine berühmten Bibelillustrationen.

Beweis für Chagalls visionäre Kraft: Lange vor den Nazi-Exzessen malte er brennende Synagogen. Der Einmarsch der Deutschen in Frankreich bedeutet für ihn den Beginn des Exils in den USA, wo seine erste Frau Bella Rosenfeld stirbt. Chagall kehrte 1947 nach Frankreich zurück, heiratete 1952 Valentina Brodsky („Vava“).

Chagall hinterläßt ein Riesenwerk, über 5000 Arbeiten. Mit Retrospektiven in Hannover und London wurden noch zu Beginn dieses Jahres weithin unbekannte Aspekte dieser Vielfalt deutlich. Chagalls Welt: Dörfliche Szenen, hier eine rote Kuh auf dem Hausdach, zu der eine kopflose Melkerin herabschwebt, dort die blaue Ziege mit dem Leuchter – Figurationen, schwerelose Gestalten zwisehen Traum und Wirklichkeit. Figurationen, von einer märchenhaft reichen (und frommen) Phantasie ersonnen.

Chagall gestaltete das Foyer der Metropolitan Opera in New York (1966), ein Kirchenfenster in Mainz (1978), die Decke im Zuschauerraum der Pariser Oper (1964). Seine Wahlheimat Frankreich erteilte ihm spät diesen ersten öffentlichen Auftrag. Dafür war Chagall der einzige Künstler, dem zu Lebzeiten eine Retrospektive im Louvre gewidmet wurde.