Helden auf Halden

Geleucht von Otto Piene - mit Schattenwanderern. Foto: Normen Ruhrus

Geleucht von Otto Piene - mit Schattenwanderern. Foto: Normen Ruhrus

Von 18 bis 6 Uhr sollen wir Helden sein. Helden auf Halden, trotzend und wandernd und schauend. Die Haldensaga will noch einmal Kulturhauptstadt fühlen lassen – aber das Wetter sieht das anders.

Samstag, 18 Uhr. Wir haben uns die Tour A 2 von Moers nach Neukirchen-Vluyn ausgesucht, Sonnenuntergang auf Halde Rheinpreussen, Sonnenaufgang auf Halde Norddeutschland. Neun Helden auf Wanderung. Dass der Startpunkt verlegt wurde, entdecken wir nur durch Zufall. Am Startpunkt stehen statt der von uns erwarteten 20 Menschen gefühlte 200. Ein buntes Getümmel aus Outdoor-Jacken, Wanderschuhen, Thermoskannen und Isomatten. In einem Zelt bekommen wir außerdem noch einen Radioempfänger, Vitamin C-Tütchen (so hohe Dosis, dass man es nur einmal am Tag nehmen darf!), Lageplan und Regenponcho.

Zwischen den vielen Wanderwilligen gehen die Tourguides beinahe unter. Wir finden in Andreas, einem Pfadfinder, unseren. Der Arme sieht sich 71 Menschen gegenüber und sein Gesicht sagt, dass er vielleicht mit 30 gerechnet hatte. Immer, wenn er „Hallo, Hallo“ sagt, sollen wir „Hier“ rufen.

Hallo Hallo

Mit Hallo Hallo und Hier marschieren wir los. Vorbei an bestens gepflegten Vorgärten, ordentlich, geradlinig, grün, kein Schnickschnack. Autos müssen sich der Masse ergeben und auch bei Grün halten. Kinder radeln mit offenem Mund an uns vorbei, Vorhänge an Fenstern werden vorbeigeschoben, als hätte Moers so etwas noch nicht gesehen.

Kurz vor dem Haldenaufstieg macht einer von uns sein Radio an. Amy Winehouse ist tot. Wird die Wanderung nun ein Trauermarsch?

Nach einigen Metern können wir die Spitze von Otto Pienes Geleucht erkennen. 30 Meter hoch ist die Reminiszenz an eine Grubenlampe, rubinrot, wie ein Leuchtturm der Schwerindustrie.

Inne-Halden

Pause. Inne-Halden. Und warten auf den Sonnenuntergang und das Radioballett. Wir breiten Decken und Isomatten aus, ziehen an, was noch im Rucksack liegt, essen und schauen. Auf die schöne Weite, die sich vor uns auftut, Grün, Häuser, Industrie, ein Panorama, wie es vielleicht nur das Ruhrgebiet kennt. Der Wind macht uns den Genuss nicht leicht, die Finger werden eiskalt.

Radioballett bei der Haldensaga. Foto: Normen Ruhrus

Radioballett bei der Haldensaga. Foto: Normen Ruhrus

Da beginnt das Radioballett. Und wir schauen uns an, bekommen neue Namen, fragen uns, wie unser Leben mit diesem anderen Namen verlaufen wäre. Wir wiegen uns vor und zurück, drehen uns umeinander, bis das Gegenüber still zu stehen und die Welt sich zu drehen scheint. Wir legen uns auf die Wiese, halten unser Ohr an die Halde und lauschen ihrem bassigen Gemurmel, hören von ihren Schmerzen, nehmen einen Stein als Andenken auf, der nur auf uns gewartet hat, seit Anbeginn der Zeiten. „Den Leuten zugucken ist viel lustiger, als selbst mitmachen“, sagt ein Mann, der sich das Treiben der Tanzenden ansieht.

Plötzlich ist es dunkel, die Sonne ist heimlich hinter den Wolken untergegangen. Das Geleucht erstrahlt plötzlich und mit ihm am Hang rot strahlende Scheinwerfer. Wunderschön.

Wir wandern weiter. Durch stumme Siedlungen, als wären wir die einzigen Menschen. An einer Statue sollte ein Erzähler stehen, doch der hat es sich anders überlegt. Am Ort der Nachtruhe warten vier Menschen auf uns, die berichten von Märchen, Imkerei, Stadthistorie. Und die Dame, die von der Post erzählt, heißt Christel. Zwischen Zelten mit Wasser und Knäckebrot und nur einem kleinen Unterstellplatz, der längst überfüllt ist, sollen wir im schönen Schein der Öllampen ruhen. Zwei Stunden lang. Schön wäre das in einer Sommernacht, wie man sie Ende Juli erwarten würde.

Es fängt an zu regnen. Wir sehen uns aus unseren hellgrünen Ponchos an. Und wandern zurück zu unseren Autos. Halbe Helden. Und trotzdem eine wundersame Nacht.

Alle Fotos: Normen Ruhrus




Gottsucher auf den finsteren Klippen – Späte Uraufführung des 1938 geschriebenen Stücks „Nacht“ von Gertrud Kolmar

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Regisseur Frank-Patrick Steckel war schon zu seiner Bochumer Intendantenzeit in einem Punkte der Schrecken der schreibenden Zunft: Meist war es bei ihm auf der Bühne so düster, dass sich kein Kritiker Notizen machen konnte, sofern er nicht über einen dieser albernen Leuchtstifte verfügte. Nun hat Steckel am Düsseldorfer Schauspiel ein Terrain tiefster Finsternis aufgetan. Das Stück heisst „Nacht“, und es bleibt in jeglichem Sinne dunkel.

Geschrieben hat es die als Lyrikerin äußerst sprachmächtige und formbewusste, einer Droste oder Lasker-Schüler ebenbürtige Gertrud Kolmar (geboren 1894). Die Tochter eines jüdischen Rechtsanwaltes in Berlin, der sich gänzlich assimilierte und deutscher Patriot war, blieb auch nach 1933 im Lande, als dies bedrohlich wurde. Aufopferungsvoll unterrichtete sie taubstumme Kinder und pflegte ihren Vater. Ab 1941 war sie Zwangsarbeiterin in der Rüstungsindustrie. Im März 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert.

Das Stück „Nacht“ entstand 1938 und erfährt hier seine späte Uraufführung. Hauptperson ist Tiberius Claudius Nero, nachmals römischer Kaiser. Im Jahr 2 n. Chr. befindet er sich – mit einigen Gefährten – noch im selbstgewählten Exil auf Rhodos, derweil sein Stiefvater mitsamt Günstlingen in Rom herrscht.

Wir erleben diesen Tiberius als unerbittlichen Gottsucher. An der römischen Göttervielfait zweifelnd, befragt er mancherlei zweideutiges Orakel. Die Begegnung mit der jungen Ischta aus Judäa (die felsenfest an einen einzigen Gott glaubt) führt schließlich zu Szenen, die vollends fremd in unsere profanen Zeiten ragen.

Magische Sprache und ein Pathos der höchsten Werte

In einer erotisch getönten religiösen Aufwallung gibt sich Ischta dem Tiberius als Sklavin anheim, und er wird sie den höheren Mächten als Menschenopfer darbringen. Klar und einfach wie ein Quell sprechend, nimmt Ischta die vermeintliche Bestimmung auf sich. Eine unendlich zarte und doch überlebensgroße Figur, von Birgit Stöger mit bewegendem Ernst gespielt.

Dennoch ist das Ganze eine Gratwanderung am Rande des Unfassbaren, ein Opfergang bis zum Saum des Schwülstigen. Es ist jedoch auch ein erschütterndes Dokument der verzweifelten Suche nach jüdischer Identität in finstersten Zeiten. Dinge also, an die man gar nicht zu rühren wagt.

Somnambules Passionsspiel

Lange geriert sich Tiberius (Marcus Kiepe), der sich am Ende doch wieder in die Niederungen politischer Herrschaft begibt, weltenfern, abweisend und ziellos drangvoll zugleich. Ein Mann, an dessen Schicksal man keinen unmittelbaren Anteil nehmen kann, vielleicht gerade deshalb ein Faszinosum. Außerdem passen derlei Figuren wohl zur neuesten Unterströmung unseres Zeitgeistes, die sich von aller Ironie abwenden und ein neues Pathos der höchsten Werte aufrichten will.

Ein Botho Strauß fände vermutlich Gefallen daran; auch an einer immerzu ans Firmament greifenden Sprache, die mit kostbaren Wendungen wie „gunstbedeutender Traum“ und „tagverborgenes Geheimnis“ edelsten Tones einher wandelt. Die Magie der Worte fügt sich zum Klang-Ereignis jenseits eines sofort nachvollziehbaren Sinnes.

Das Bühnenbild (Johannes Schütz) zeigt düster zerklüftete Klippen, auf denen sich Menschen wie bleiche Geistwesen bewegen, stets auf die größten und letzten Dinge gefasst. Hier vollzieht sich ein somnambules Passionsspiel wie aus unvordenklichen Zeiten.

Steckel und sein Ensemble behandeln den immens schwierigen Text mit Noblesse. Zuweilen werden Worte nur behaucht, als könnten sie sonst klirrend zerbrechen. So umschifft man jede etwaige Peinlichkeit, und es kommt die Würde zum Vorschein, die dem Drama innewohnt.

Termine: 11., 22., 25. und 29. März. Karten: 0211/36 99 11.