Heilige oder Rächerin: Elisabeth Stöpplers „Norma“ aus Gelsenkirchen nun in Mainz

Von Pollione (Joska Lehtinen) bedrängt: Adalgisa (Marie-Christine Haase). Foto: Andreas Etter

Von Pollione (Joska Lehtinen) bedrängt: Adalgisa (Marie-Christine Haase). Foto: Andreas Etter

Ein aussichtsloser Konflikt, von Anfang an. Noch ist alles in der Schwebe, zu Beginn der Oper „Norma“ von Vincenzo Bellini. Der Status Quo ist prekär, aber gefestigt. Die zur Keuschheit verpflichtete Priesterin der Gallier kann seit Jahren ihre beiden Kinder verbergen. Und ihre Liebe zum Feind ebenso, denn der Vater ist kein anderer als der römische Prokonsul Pollione, der die verhassten Besatzer anführt. Noch kann Norma den bewaffneten Konflikt verhindern, aber dann eröffnet ihr die junge Novizin Adalgisa eine schockierende Erkenntnis …

Bellinis Oper hat in den letzten zehn Jahren eine bemerkenswerte Wiederkehr auf deutschen Bühnen erlebt. Ausweglos gefangen zwischen den Erwartungen und Tabus einer nach Kampf und Krieg gierenden archaischen Gesellschaft und der gescheiterten Liebe zu einem Mann, der ihr Volk unterdrückt, hat Norma mehr zu bieten als den Selbstzweck ebenmäßiger Legati und perfekt geformter Koloraturen.

Die Nähe dieser zerrissenen Frau zur gedemütigten Kindsmörderin Medea ist oft beobachtet worden. Wohin sich Norma wendet, ob sie kompromisslose Rächerin oder heroisches Opfer wird, bleibt bis zum letzten Moment offen. Und dazwischen liegen zwei Stunden eines inneren Konflikts, der in seiner ganzen Unerbittlichkeit und Ratlosigkeit von der Musik und der Dichtung Felice Romanis in wichtigen psychologischen Facetten ausgebreitet wird.

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben in ihrer legendären Stuttgarter Inszenierung 2002 in erschütternden, schlüssigen Bildern Bellinis Oper endgültig aus dem Mief plüschiger Historisierung befreit, ohne ihr eine zwanghafte Aktualisierung aufzudrücken. Das hatte Jorge Lavelli schon 1983 in Bonn vor, ist aber mit Mara Zampieri als Revoluzzerin auf einem Lastwagen längst nicht so gut gefahren.

An Rhein und Ruhr gab es in den letzten Jahren mehr (Dortmund, Bonn) oder weniger (Düsseldorf) überzeugende Versuche, sich Bellinis nach eigenem Bekunden bester Oper zu nähern. In der letzten Spielzeit hat sich dann Elisabeth Stöppler in Gelsenkirchen in Hermann Feuchters abstraktem Bühnenraum ganz auf die Personen fokussieret. Norma ist das Kraftzentrum, um das sich alle drehen.

Nadja Stefanoff als hoheitsvolle Priesterin. Foto: Andreas Etter

Nadja Stefanoff als hoheitsvolle Priesterin. Foto: Andreas Etter

Jetzt hatte die Produktion am Staatstheater Mainz Premiere, wo Stöppler als Hausregisseurin Stil und Spielplan prägen kann – und das nicht zum Nachteil eines in dieser Spielzeit besonders vielfältigen Angebots. Noch stärker als im Musiktheater im Revier konzentriert sie sich auf die Beziehungen der Personen, schwächt Nebenwege wie eine angedeutete homoerotische Verbindung zwischen Pollione und seinem Offizier Flavio ab, arbeitet vor allem Normas Schwanken zwischen impulsiver Liebe zu ihren Kindern und kalkulierender Berechnung ihrer Rache deutlich heraus. Geblieben sind die von Flavio (wie in Gelsenkirchen: Lars-Oliver Rühl) hervorragend rezitierten, den Gang des Stücks zerreißenden Texte von Pier Paolo Pasolini: bewusst gelegte Stolpersteine, die aber eher stören als vertiefen. Geblieben sind auch szenische Symbole wie das nackte Opfer, das am Anfang schon die Sichel am Hals spürt, dann aber von Norma erlöst wird. Ein anrührendes Bild vom Verletzlichkeit und Ausgesetztsein.

Dass in Norma am Ende die Menschlichkeit siegt, wird nicht heroisiert, sondern wirkt fast, als sei ihre Kraft letztendlich erschöpft. Zu Beginn die Hohepriesterin in nachtblauem, langem Kleid, zeigt das Kostüm (Nicole Pleuler, sonst mit nicht immer glücklicher Hand) Normas Wandel zur Kämpferin und schließlich zum idealisierten Opfer. Nicht Norma selbst stilisiert sich dazu: Statt auf dem Scheiterhaufen zu sterben, wird sie von der Gesellschaft im weißen Ornat einer Heiligen erhoben.

Nadja Stefanoff, die Mainzer Norma, spielt mit hoheitsvoll schlanker Gestalt die Facetten der Rolle aus – mit erheblichem Stimm-, aber auch Körper-Einsatz: von der selbstbewussten Priesterin bis zur gebrochenen Frau, von der wild entschlossenen Rache bis zum selbstzerstörerischen Aufgeben. Musikalisch beglaubigt Stefanoff ihre Rolle weniger durch flexibel-weichen Schöngesang, sondern eher durch einen kalt glänzenden, ausdrucksstarken, dynamisch facettenreichen Ton, der auf seelische Schwankungen reaktionsschnell eingeht und sie – technisch abgesichert – im Klang vernehmbar macht. Eine Norma, die man so schnell nicht vergisst.

Die Adalgisa der Marie-Christine Haase hat gegen so viel Dominanz keine Chance. Stimmlich ist sie der Partie – die der kritischen Rekonstruktion der Urfassung gemäß einen leichten Sopran vorsieht – vollkommen gewachsen. Aber die Regie Elisabeth Stöpplers gesteht ihr wenig eigenes Gewicht zu, trotz der wundervollen Duette der beiden Frauen. Die Nebenrolle der Clothilde, der eingeweihten Dienerin Normas, ist in ihr aufgegangen – das lässt den Aspekt der Freundschaft zu Norma hervortreten. Auch Oroveso, der Vater Normas, hat wenig eigenständiges Gewicht; Dong.Won Seo mit einer rauen, dem Ideal des „basso cantante“ nicht eben gewogenen Stimme, ist nicht der Sänger, der die Figur aus sich heraus wachsen ließe.

Bleibt Pollione, der Urheber des Konflikts: Joska Lehtinen gibt ihm den eindimensionalen, leicht gaumig gefärbten Ton, der einem auf den ersten Blick ziemlich einfältigem Macho angemessen ist. Auf den zweiten Blick hätte man sich für die gespenstische Traumschilderung von „Meco all’altar di Venere“ mehr Farbe, für den verhärteten Trotz des Finales mehr Furor gewünscht. Was von diesem Mann zu halten ist, macht Stöppler am Ende deutlich: Er stiehlt sich einfach davon.

Sebastian Hernandez-Laverny hat mit dem Chor des Staatstheaters eine gewaltige Aufgabe achtbar gemeistert, auch wenn die Stimmgruppen Mühe haben, sich zu koordinieren, wenn die Sänger über die ganze Breite der Bühne hoch oben auf einer Brüstung stehen müssen. Das Philharmonische Staatsorchester offenbart wenig Schwächen, aber auch wenig Subtilität im Ton. Clemens Schuldt dirigiert wie viele andere eine rasche Ouvertüre und differenziert die Tempi nicht, wodurch der gerade Takt Bellinis in die Nähe eben jener „Leierkastenmusik“ rückt, die der italienischen Oper der Zeit gerne unterstellt wurde.

Wenn Schuldt die Sänger zu begleiten hat, lässt er das Orchester immer wieder zu laut spielen, lässt sich aber auf den Atem der „melodie lunghe“ ein, phrasiert sinnig und arbeitet vor allem die instrumentalen Details heraus, die in der kritischen Fassung für farbige Nuancen sorgen. Dass die Tutti arg knallig wirken, ist nicht nötig; das Martialische stellt Bellini nur im berühmten „Guerra“-Chor aus. Elisabeth Stöppler ist in Mainz eine starke Antwort auf die ambitionierte „Norma“ von Gabriele Rech am anderen Ufer des Rheins, in Wiesbaden (2015), gelungen.

In dieser Spielzeit hat Bellinis „Norma“ noch in Essen (8. Oktober) und in Nürnberg (13. Mai 201) Premiere. Weitere Vorstellungen in Mainz am 1. und 9.Oktober, 1., 17. und 20. November.

Info: www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/oper1617/norma




Das Absurde an der Straßenecke: Bohuslav Martinůs „Juliette“ in Bremen

Absurde Realität: Martinus "Juliette" in Bremen, Bühnenbild des ersten Akts (Johanna Pfau). Foto: Jörg Landsberg

Absurde Realität: Martinus „Juliette“ in Bremen, Bühnenbild des ersten Akts (Johanna Pfau). Foto: Jörg Landsberg

Ein Pariser Buchhändler reist in eine Kleinstadt am Meer, erkundigt sich nach einem Hotel, in dem er vor drei Jahren schon einmal abgestiegen ist. Damals hat ihn „das schönste Geschöpf der Erde“ fasziniert und er floh vor ihrer Anziehungskraft. Jetzt sucht er die Unbekannte wieder … Daraus könnte eine melodramatische Liebesgeschichte werden, doch der tschechische Komponist Bohuslav Martinů hatte in seiner Oper „Juliette“ anderes im Sinn.

Die Menschen, denen der reisende Michel begegnet, reagieren sonderbar: Sie können sich an nichts erinnern, was länger als zehn Minuten zurückliegt. Hinter der bühnenfüllenden Fassade eines alltäglichen französischen Hauses öffnet sich im Bremer Theater am Goetheplatz das Land des Surrealen, Unheimlichen. Es lugt hinter den Lamellen der Läden, es winkt aus den Fenstern: eine keifende Fischhändlerin, ein melancholischer Akkordeonspieler, ein schnarrender Kommissar. Und die faszinierende Frau, zunächst unsichtbar, nur durch ihr Lied präsent.

Das Treffen zwischen Michel und dem Objekt seines Begehrens an einer „Wegkreuzung“ könnte von Ionesco stammen, von Cocteau oder von dem tschechischen Schriftsteller Svatopluk Czech, dessen satirisch-surreale Novellen Leós Janáčeks „Die Ausflüge des Herrn Brouček“ zugrunde liegen. Die Bühne erweitert sich zu einem Geviert, Menschen in Frack und Zylinder hetzen steif über den Platz. Das dunstig-schummrige Licht Joachim Grindels schafft in Johanna Pfaus Bühnen-Architektur eine unwirkliche, schwebende Atmosphäre.

Aus den Türen ins Unbestimmte kommen skurrile Figuren: Ein Schankwirt mit mächtigen Epauletten auf dem Mantel, der sein Klavier nebst Hocker und Pianist hinter sich herzieht. Ein Mann auf einem dreirädrigen Veloziped, der wie ein dämonischer Marktschreier Erinnerungsfotos verstreut. Eine Handleserin, die wie ein Kastenteufelchen hinter dem Klavier aufspringt, mit weißen, langen Haaren wie eine Norn.

Jahrmarkt des Irrealen: Nadja Stefanoff als Juliette und Hyojong Kim als Michel in Martinus "Juliette" in Bremen. Links: Christian-Andreas Engelhardt als Erinnerungsverkäufer. Foto: Jörg Landsberg

Jahrmarkt des Irrealen: Nadja Stefanoff als Juliette und Hyojong Kim als Michel in Martinus „Juliette“ in Bremen. Links: Christian-Andreas Engelhardt als Erinnerungsverkäufer. Foto: Jörg Landsberg

Es sind Gestalten, die von René Magritte stammen könnten, oder aus dem unbehaglichen Alltag der Gemälde von Paul Delvaux. Manchmal erscheinen in leeren Fensterhöhlen flüchtige Projektionen (Videos: Ian William Galloway). Und das Spiel mit Vergessen und Erinnern, mit der scheinbar realen und einer – durch eine Lautsprecherstimme eingebrachten – mittelbaren Ebene schafft den Alpdruck eines Traumgespinstes, das uns entsetzt, weil mit der aufgehobenen Kausalität unsere Weltorientierung verfliegt; weil wir alles, mit dem wir rechnen, in einer teilnahmslos grotesken Welt als aufgelöst erleben. Auch der Text spielt mit surrealen Motiven: Was nie geschehen scheint, wird wiedererkannt, was soeben geschehen scheint, ist vergessen. Michel gelingt es nicht, aus der realen Irrealität dieses Welt-Gespinstes zu entkommen: Ob der Schuss, den er auf Juliette abfeuert, getroffen hat, werden er und wir nie erfahren …

Im dritten Akt in einem „Traumamt“ finden wir einen Bürokraten, der die Träume verwaltet und zuteilt – eines jener Motive, die sich in der tschechischen Literatur gerne finden. Aber Martinůs Libretto setzt noch eins drauf, zieht noch eine Ebene des Surrealen ein: Alle auftretenden Personen – ein vom Wilden Westen schwärmende Hotelboy, ein trauriger Mechaniker, ein begehrlicher Sträfling – sprechen von „Juliette“: Aus der einen, geliebten Juliette wird die Frau in vielen Facetten. Ihre Stimme aus der Ferne führt Michel wieder auf die Reise, wieder in eine Stadt am Meer: Vor der Fassade eines französischen Hauses fragt er nach dem Hotel …

Dem Regisseur John Fulljames ist hoch anzurechnen, dass er keinen zwanghaften Transfer versucht, sondern sich auf die Atmosphäre des Surrealen einlässt: Er will nicht mit Gewalt deuten, sondern setzt auf die Kraft der Bilder: Das sinistre Kabinett der Figuren agiert dabei mit der mathematischen Präzision, die wir aus surrealistischen Gemälden kennen. So folgt Fulljames der Vorlage der Oper, dem Drama „Juliette ou la clé des songes“ von Georges Neveux, und bewahrt das Uneindeutige und Unheimliche des Stoffs.

Bremen: Das Theater am Goetheplatz. Foto: Werner Häußner

Bremen: Das Theater am Goetheplatz. Foto: Werner Häußner

Fulljames, der vor allem in England und Frankreich arbeitet, hat in seiner zweiten Arbeit in Bremen auf das leise Verstörende in Martinůs surrealem Meisterwerk gesetzt und damit mehr Tiefe erschlossen, als es eine vordergründige Aktualisierung vermocht hätte. So kann sich die Bremer Inszenierung in der überschaubaren Reihe der „Juliette“-Produktionen der letzten Jahre (Bregenz, Paris, Genf) selbstbewusst behaupten. In Zürich und Frankfurt wird Martinůs Schlüsselwerk in der kommenden Spielzeit zu erleben sein: Man darf jetzt schon gespannt sein, welche Akzente die Regisseure Andreas Homoki und Florentine Klepper setzen werden.

Musikalisch muss sich die Bremer Aufführung ebenfalls nicht verstecken: Clemens Heil beschwört mit dem prächtig disponierten Orchester den lyrisch-schwebenden harmonischen Reichtum wie die perkussive Intensität oder die skurrilen Akzente in der elaborierten Partitur. Das tschechische Erbe Martinůs ist in einzelnen Wendungen hörbar, verdeckt aber den französischen Esprit der zwischen 1935 und 1937 entstandenen und 1938 in Prag uraufgeführten Oper nicht: Strawinskys brachiale Rhythmen lassen manchmal grüßen, Satie und Milhaud liefern den unsentimental-sachlichen Ton. Wenn im ersten Akt das „Quak-Quak“ einer mechanischen Ente auftaucht, fühlt man sich für einen Moment in Offenbachs groteske Operette „Die Insel Tulipatan“ ver-rückt.

Aber es gibt auch das lyrische Schweben, das schwer fassbare Funkeln apart gemischter Pianissimo-Klänge. Musikalisch ist „Juliette“ ein Meisterwerk, das sich hinter Martinůs bekanntester Oper „Griechische Passion“ nicht verstecken muss. Kein Wunder, dass ihm dieses Schmerzenskind, dem in der nazibesetzten Tschechoslowakei kein Überleben beschieden war, so sehr am Herzen lag.

Ausgefeilte Klangfarben – reaktionsschnelles Changieren

Das Bremer Sängerensemble ist in vielen nicht sehr umfangreichen Partien gefordert: Gefragt sind darstellerische Präzision und variable Expression – von der großbogigen Kantilene bis zum reaktionsschnellen Changieren zwischen Deklamation und rezitativischem Singen. Nadja Stefanoff als Juliette zeigt eine leuchtende Stimme, die ihre Stärke in den ausgefeilten Klangfarben hat. Hyojong Kim bringt die kindliche Ratlosigkeit, das irritierte Staunen, aber auch die aufbegehrende Hilflosigkeit des Michel mit einem präzise agierenden, scharf konturierten Tenor zum Ausdruck. Manche, wie Christian-Andreas Engelhardt als Kommissar, setzen zu einseitig auf Lautstärke, andere wie Tamara Klivadenko als „Alte“ treffen genau den richtigen, halb naturalistischen, halb stilisierten Tonfall. Eine Klasse für sich: Patrick Zielke als „Altvater ‚Jugend‘“.

Und wieder einmal wundert man sich, wie selig an vielen Opernhäusern die Aufmerksamkeit schlummert, eingelullt zwischen Wagner, Verdi, Mozart und Strauss. Zehn Jahre hat es gedauert, bis nach der denkwürdigen Bregenzer Inszenierung das Interesse an „Juliette“ erwacht ist. Unter uns sei gesagt: Es gibt noch weitere Opern von Martinů, die eine Aufführung lohnten, darunter die jetzt erst für Deutschland in Gießen entdeckte „Mirandolina“ oder die vor Jahren (2002) folgenlos in einer vorzüglichen Inszenierung in Augsburg vorgestellte Filmoper „Die drei Wünsche“. Dass auf solche Trouvaillen nicht geachtet wird, ist einfach absurd.