Was heißt denn hier naiv – Kunsthalle Recklinghausen zeigt Werke von russischen Laienmalern

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wenn wir von naiver Kunst reden, so ist das allemal ein unscharfer Sammelbegriff. Sicher, da gibt’s die unbedarften Sonntagsmaler, die aus schierem Horror vacui (Angst vor Leere) auch noch den letzten Bildwinkel besinnungslos füllen – gegen jede kompositorische Vernunft. Doch manche, die gleichfalls „naiv“ genannt werden, sind eher subversiv veranlagt und üben sich im freien Spiel mit dem vom Kunstbetrieb Verdrängten.

Mit der Recklinghäuser Kunsthalle traut sich jetzt mal wieder ein stockseriöses Haus ans Thema heran – eine Anknüpfung an örtliche Gepflogenheiten, denn hier setzte sich schon der frühere Hausherr Thomas Grochowiak fürs rege Schaffen der Laien ein. Auf drei Etagen präsentiert man nun rund 60 Arbeiten von „Russischen Naiven“ neueren Datums.

Die Bilder stammen aus der weltgrößten Spezialsammlung, welche von der Galeristin Charlotte Zander in einem Schloss bei Stuttgart verwahrt wird. Im „Ländle“ (Tübinger Retrospektive) ist derzeit ja auch der Berühmteste aller Naiven zu bewundern: der „Zöllner“ Henri Rousseau, der längst alle Weihen der Kunstgeschichte empfangen hat.

Die Russen stehen immer noch mehrheitlich für eine dörflich orientierte Themenwahl, die meist um Frömmigkeit und Feste im Jahreslauf kreist oder auch Wolfsrudel in sibirischer Kälte aufsucht. Das unverkennbare Prägemuster etlicher Bilder gibt die große Ikonen-Tradition vor. Und diese religiösen Schöpfungen waren nun einmal flächig, sie enthielten sich jeder perspektivischen Raffinesse.

Das Ungelenke wird kultiviert

Recklinghausens Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich scheint aber selbst ein wenig im Zwiespalt zu stecken. Sein geschulter Blick merkt den Bildern natürlich „das Ungelenke, Nicht-Gekonnte“ an. Derlei Defizite aber würden von den Besten der Zunft auf frappante Außenseiter-Weise „kultiviert“ und produktiv gewendet, findet der Museumsmann.

Gilt also der Spruch „avanti dilettanti“? Beileibe nicht nur. Wenn etwa ein Pawel Leonow seine üppigen Szenarien von freudigen Festivitäten ausbreitet, so geschieht dies zwar ohne jede Perspektive und Tiefenstaffelung. Doch seine umstandslos aufzählend und aufschichtend gestuften Werke verweisen auf moderne Verfahren der seriellen Art.

Auf Bildern wie „Treffen der Königin von Holland“ (1998) reiht Leonow alle Geschehnisse simultan . Es ist eine Malerei wie mit staunend offenem Munde, manches Gesehene zwanghaft wiederholend. Groteske Fügungen: Vögel fliegen immer wieder in derselben Gruppen-Formation, Hubschrauber reihen sich artig ein. Auch auf der Straße sind Autos und Tiere brav hintereinander unterwegs. Überholen verboten. Musiker, die zum Fest aufspielen, erscheinen in symbolhafter Erstarrung wie auf einem Fries. Und alles, selbst ein ansonsten munterer Zirkus, wird von akkuraten Hecken rechteckig eingefriedet; ganz so, als seien die Phantasie-Räume, die sich da öffnen könnten, dem Künstler selbst zu weitläufig.

Wo die nackten Paare fliegen

Mag die pure Malweise auch naiv, wenig professionell (und gar nicht akademisch) wirken, so könnte die Haltung, die sich dahinter offenbart, als nahezu avanciert gelten. Postmoderne Profis, die eh mit allem Verfügbaren spielen, fänden wohl einiges Vergnügen darin. Ganz und gern zu schweigen von Joseph Beuys‘ altem Sprüchlein, jeder sei ein Künstler.

Bildmächtigster Maler der Schau, die punktuell auch schon mal an die Kitschgrenze rührt, ist wohl Alexander Belych. Seine seltsam symmetrische, jedoch mehrdeutige Darstellung „Liebe, Liebe“ summiert in Chagall-Manier fliegende nackte Paare, einen lüsternen Wolf, körperlose Hände, die sich aus einem züngelnden Feuer recken, sowie allerlei erzählendes Beiwerk. Ist’s nun das Paradies oder nicht doch eine Hölle der Liebenden?

Russische Naive. Kunsthalle Recklinghausen (direkt am Hauptbahnhof). Bis 30. September. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 2,50 DM, Katalog 25 DM.




Bizarre Welt aus Holz – Skulpturen des „Naiven“ Hans Schmitt in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Schon ohne Besucher ist das Vestische Museum dicht bevölkert: Opa mit Enkeln, Mutter mit Kind, Putzfrau mit Eimer. Die „Leute“ sind aus Holz; Friedlich stehen sie Seit‘ an Seit‘ – mit einem „Beatle“, mit „Adam und Eva“, Pferden, Katzen usw.

Wir sind mitten im Phantasie-Reich des „naiven“ Bildhauers Hans Schmitt (77), eines ehemaligen Kuhhirten, Kohlefahrers, Gemeinde- und Privatdieners aus Bayerns Provinz, der erst im Alter kreativ wurde und wie ein Besessener Tausende von Skulpturen schuf. Inzwischen gilt er, neben dem 1971 verstorbenen Revier-Naiven Erich Bödeker, als einer der wichtigsten deutschen Vertreter jener Kunstrichtung.

Die „naive“ Sichtweise kann sich einer bewahrt oder aber mühsam wiedererobert haben. Zwischen beiden Polen der „Naivität“ erstreckt sich jedenfalls leider ein weites Feld glatter und marktgängiger Gefälligkeiten. Davon kann bei Hans Schmitt, der nie auf Moden und Entwicklungen der Kunstgeschichte geachtet hat, gar nicht die Rede sein. Seine Arbeiten sind urtümlich, schrundig, rauh, eben nicht glatt. Derlei Qualitäten erheben die Skulpturen über bloßes Kunsthandwerk. Manchmal „unterlaufen“ Schmitt im Schaffens-Rausch gar Figurationen wie die „Dame in Grau“, die stark (und doch eigenständig) an kubistische Plastiken von Picasso gemahnt, oder wie die „Tänzerin“ in beinahe futuristisch anmutender Bewegung sich ergeht.

Schmitt arbeitet ganz offenbar „additiv“, er fügt seinen Figuren immer noch weitere Teile hinzu, „baut an“, als sei es noch nicht genug. Reduktion ist seine Sache nicht. Die findet man weit eher bei Erich Bödeker, von dem einige Arbeiten als „Kontrastprogramm“ der Schmitt-Ausstellung beigegeben sind. Weiterer Unterschied: Schmitt ist entschieden „schamloser“, längst nicht so zurückhaltend wie Bödeker; er protzt geradezu mit Nacktheit.

Die wohl bizarrste Arbeit der Schmitt-Auswahl ist eine klinische Gruppenszene liebenswert-bedenkenloser Art, „Operation“ (1976): Krankenschwester „Narko“ schwingt den Hammer, Doktor „Heuler“ fletscht bedrohlich die Zähne, und Schwester „Placenta“ trägt schon das Austauschherz auf dem Tablett herein…

Recklinghausens Museumsdirektor Ferdinand Ullrich möchte übrigens künftig das Vestische Museum zum gleichrangigen Ausstellungsart (neben der Kunsthalle) aufwerten. Für sein Programm hat er bereits „einen dicken Fisch“ an der Angel: Er verhandelt mit Lothar-Günther Buchheim, dem bekannten und für zäheste Eigenwilligkeit berüchtigten Maler, Autor und Sammler, über eine Ausstellung expressionistischer Zeichnungen aus der Buchheim-Kollektion. Buchheim gehört übrigens auch zu den wenigen Förderern des „Naiven“ Hans Schmitt. Das ehrt ihn.

Hans Schmitt. Recklinghausen, Vestisches Museum, Hohenzollernstraße 12. Bis 8. Oktober. Begleitheft 10 DM, Buch über Schmitt 39,80 DM.