Eher widerwillig mitgemacht – Borussia Dortmund zur NS-Zeit

Wie stand es in der NS-Zeit um den BVB? Hat der Verein am faschistischen Unwesen freiwillig oder eher notgedrungen mitgewirkt? Solchen Fragen, die sich keinesfalls „erledigt“ haben, widmen sich Rolf Fischer und Katharina Wojatzek in ihrem Buch „Borussia Dortmund in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945″.

Sie haben, so gut es angesichts der schwierigen Quellenlage nur ging, das Thema mit dem Rüstzeug der Geschichtswissenschaft eingehend recherchiert und bislang unbekannte Details zutage gefördert. Der BVB, dessen Präsident Reinhold Lunow ein Vorwort geschrieben hat, hat die Untersuchung nach Kräften unterstützt. Gut so.

Wertvolle Pionierarbeit hatte schon 2002 Gerd Kolbe mit seiner Publikation „Der BVB in der NS-Zeit“ geleistet, für die er noch zahlreiche Zeitzeugen befragen konnte. Im Sinne der zunehmend aufgewerteten „Oral History“ hat er mündlich überlieferte Quellen gesichert, die später nicht mehr zur Verfügung gestanden hätten. Darauf ließ es sich aufbauen. Inzwischen konnten aufschlussreiche Akten und Dokumente (auch Fotografien) gesichtet werden, sofern sie nicht im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden. Erschwerend kam hinzu: Da der BVB in seinen Anfängen ein Arbeiterverein war, haben die Mitglieder weniger Schriftliches hinterlassen, als dies im bürgerlichen Umfeld der Fall gewesen wäre.

Unterschiedlich „nazifizierte“ Vereine

Um ein Fazit des neuen Buches vorwegzunehmen: Die Borussen haben sich gegen eine Vereinnahmung durch die NS-Machthaber nicht wehren können, doch hielt sich diese für längere Zeit in Grenzen. Die meisten anderen Vereine ließen sich bereitwilliger oder in vorauseilender Fügsamkeit gleichschalten. Andernorts gehörten deutlich mehr Vereinsmitglieder zugleich NS-Organisationen an, und zwar oft schon sehr frühzeitig.

Ein nachvollziehbarer Befund lautet so: Es gab Unterschiede, was den Grad der „Nazifizierung“ angeht. Schon der soziologische Hintergrund der jeweiligen Vereine gab eine Richtung vor, wobei man von etwaigen heutigen Sympathien strikt absehen muss. Demnach waren damals bürgerliche Clubs wie etwa der VfB Stuttgart, Werder Bremen (wo anfangs gar höhere Schulbildung Voraussetzung war), Alemannia Aachen oder 1860 München in aller Regel anfälliger für Indienstnahme, desgleichen die größeren Vereine in Nürnberg, Fürth und Kaiserslautern. Sie waren schnell „auf Linie“.

Bürgerliche und proletarische Milieus

Proletarisch grundierte Vereine wie der BVB (Ursprünge in den Stahlwerksvierteln rund um den Borsigplatz) oder auch Hertha BSC Berlin (Wurzeln im „roten Wedding“) waren hingegen zumindest von der Genese und vom Milieu her widerständiger, ihre Mitglieder hatten vor 1933 überwiegend KPD oder SPD gewählt. In Dortmund kam noch ein katholischer Impuls von früheren „Zentrums“-Wählern hinzu – nicht zuletzt durch polnische Zuwanderer. Allerdings konnte aus all dem kein offener Widerstand gegen das NS-Regime erwachsen. Allenfalls insgeheime Sabotage-Akte waren möglich, wenn auch sehr riskant. Eine bewegende und schließlich betrübliche Geschichte solchen Zuschnitts rankt sich um den kommunistisch orientierten BVB-Platzwart Heinrich Czerkus, der lange von Leuten im Verein systematisch gewarnt wurde, wenn die Gestapo sich näherte – bis eigens ein V-Mann auf ihn angesetzt wurde. Czerkus wurde von den Nazis ermordet.

Der BVB galt in den 1930er Jahren noch als Verein, für den man sich nur in seinem engeren Umkreis und nicht in der ganzen Stadt interessierte. Also stand er nicht so sehr im Fokus, auch nicht in dem der NS-Parteigenossen. Ganz anders der FC Schalke 04, der damals die renommierteste Mannschaft des ganzen Reichs stellte. Also ließen sich die NS-Chargen stets gern mit den „Knappen“ ablichten.

Borussia Dortmund hatte seinerzeit keine jüdischen Spieler, so dass man auch nicht gezwungen war oder gedrängt wurde, jemanden auszuschließen, wie dies bei vielen anderen Vereinen geschah – selbst bei solchen, die von jüdischen Bürgern (mit)gegründet worden waren. Kein Dortmunder Verdienst also, sondern eine Folge der Mitgliederstruktur.

Verdruckster Umgang nach dem Krieg

Erhellend auch das Kapitel über den Umgang mit dem Thema in der Nachkriegszeit. Mindestens bis zur Jubiläumsschrift von 1969 (der BVB 09 wurde damals 60 Jahre alt) muss die Haltung dazu als verdrängend, verlogen und verdruckst bezeichnet werden. In der erwähnten Broschüre wurden zwar Bilder aus der NS-Zeit gezeigt, freilich hatte man sie dilettantisch retuschiert (Übermalung von Hakenkreuzfahnen etc.) und damit „entschärft“. Es dauerte noch eine ganze Weile, letztlich bis in die späten 90er Jahre, bevor endlich offen über die NS-Verstrickungen geredet wurde – wenigstens von jüngeren Jahrgängen.

Das Buch dürfte zum Standardwerk über den BVB in jenen finsteren Zeiten werden. Zwar ist man in manchen Fragen auf Spekulationen angewiesen, doch klingen die Mutmaßungen zumeist plausibel und werden transparent ausfbereitet. Vor allem aber hat sich die intensive Quellenarbeit ausgezahlt. Im steten Wechsel zwischen Blicken aufs größere Ganze und biographische Nahansichten zeichnen Fischer und Wojatzek ein vielschichtiges Zeitbild, das auch Widersprüche und Leerstellen umfasst.

Rolf Fischer / Katharina Wojatzek: „Borussia Dortmund in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945″. Metropol Verlag, Berlin. 256 Seiten mit zahlreiche Schwarzweiß-Abbildungen, 24 Euro.




Widerstand im Zeichen von Glauben und Menschlichkeit: Vor 75 Jahren wurden drei Mitglieder der Weißen Rose hingerichtet

„Es lebe die Freiheit“, schallt es am 22. Februar 1943 kurz nach 17 Uhr durch den Hinrichtungsraum im Gefängnis in München-Stadelheim. Es sind die letzten Worte von Hans Scholl, bevor er durch das Fallbeil sein Leben verliert. Kurz vor dem 24-jährigen starb seine jüngere Schwester Sophie, wenig später der dreifache Vater Christoph Probst. Am Vormittag hatte der berüchtigte Bluthund der NS-Regimes, Roland Freisler, ihr Todesurteil gesprochen.

Büste von Sophie Scholl in der Walhalla (seit 2003). (Bildhauer: Wolfgang Eckert / Foto: Ryan Hulin - Wikimedia Commons - Link zur Lizenz:

Büste von Sophie Scholl in der Walhalla (seit 2003). (Bildhauer: Wolfgang Eckert / Foto: Ryan Hulin – Wikimedia Commons). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Freisler war extra aus Berlin nach München gereist. Er wollte einen Schauprozess. Aber die drei jungen Leute, Akteure der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“, stahlen dem brüllenden Präsidenten des Volksgerichtshofs die Schau. Ruhig und gefasst vertraten sie ihre Überzeugungen, entgegneten sie den Tiraden.

„Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen … auf mich nehmen“, ist im Vernehmungsprotokoll Sophie Scholls zu lesen. „Heute hängt ihr uns, und morgen werdet ihr es sein“, sollen die letzten Worte von Hans Scholl vor dem Scheingericht gewesen sein.

„Arbeiten wider die Geißel der Menschheit“

Der aktive Widerstand der „Weißen Rose“ begann Ende Juni 1942, als Hans Scholl und Alexander Schmorell das erste von sechs Flugblättern verfassten und verteilten. „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren‘ zu lassen“, beginnt der Text, und appelliert dann an die Leser: „Daher muß jeder einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewußt in dieser letzten Stunde sich wehren, soviel er kann, arbeiten wider die Geißel der Menschheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates. Leistet passiven Widerstand … wo immer Ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist, ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind, gleich Köln, und ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist.“

In den weiteren Flugblättern prangerten die jungen Widerständler die Massenmorde an Juden und Polen an, von denen Hans Scholl an der Front erfahren hatte. Sie verdeutlichten die Mitschuld aller Deutschen, die das Unrecht ertrugen statt es zu bekämpfen. „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen, die Weisse Rose lässt Euch keine Ruhe!“, heißt es am Ende des vierten Flugblatts.

Tiefes christliches Grundverständnis

Zum Verhängnis wurde den Geschwistern Scholl eine Aktion am Vormittag des 18. Februar. Beim Auslegen des sechsten, von dem später ebenfalls verhafteten und ermordeten Kurt Huber verfassten Blatts in der Universität stieß Sophie Scholl einen Stapel vom zweiten Stock in den Lichthof des Gebäudes. Sie wurden vom Hausmeister, einem SA-Mann, entdeckt und nach Verhör durch den Universitätspräsidenten, einem überzeugten Nationalsozialisten, der Gestapo überstellt. In den Verhören, so ist den Protokollen zu entnehmen, bekräftigten die Geschwister ihre prinzipielle Gegnerschaft zum NS-Regime und seiner Ideologie.

Hans und Sophie Scholl verteidigten Freiheit und Menschenwürde aus einem tiefen christlichen Grundverständnis heraus. Aufgewachsen in einem liberalen evangelischen Elternhaus, zeigten sie anfangs Sympathien für die NS-Jugendorganisationen, wandten sich aber ab, als sie die totalitären Ziele des NS-Staates immer deutlicher erkannten.

Hans Scholl kam in Kontakt mit katholischen Theologen wie Theodor Haecker und Carl Muth. Eine wichtige Rolle für seinen Entschluss, Widerstand zu leisten, dürften neben seinen Fronterlebnissen auch die Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen spielen.

Das Gewissen in barbarischen Zeiten

Für die umfassend gebildete, musikalisch und literarisch interessierte Sophie Scholl war ein intensiver Glauben einer der wesentlichen Impulse, dass sich die 21-Jährige – gegen den Willen ihres Bruders – der Widerstandsbewegung aktiv anschloss. Die Biologie- und Philosophie-Studentin wirkte im Januar 1943 erstmals daran mit, ein Flugblatt herzustellen und zu verteilen.

Für Sophie wie für Hans Scholl war die Entwicklung ihres politischen Bewusstseins eng mit der Vertiefung ihres Christentums verbunden. Der „christliche Mensch sei Gott mehr als dem Staat verantwortlich“, waren sie überzeugt. Der Münchner Weihbischof Ernst Tewes brachte es auf den Punkt: „Sie hatten die Unbedingtheit ihres Gewissens erfahren und wurden durch nichts davon abgebracht.“

Heute, 75 Jahre nach ihrer Hinrichtung, sind die Geschwister Scholl und die anderen Mitglieder der Weißen Rose ein Beweis, dass selbst unter barbarischen Zeitläuften der Einzelne die Chance hat, nach seinem Gewissen zu handeln.




Musiktheater zur Shoah: Essener Jüdin steht im Mittelpunkt

Als das Unheil begann, Gestalt anzunehmen, wohnte Perl Margulies in Essen. Mit ihrem Mann Benzion (oder eingedeutscht Benno) führte sie ein Geschäft. Eine ganz normale Hausfrau aus der bürgerlichen Mittelschicht wird 2012 zur Protagonistin einer Oper. „Refidim Junction“ heißt das Werk des Jerusalemer Komponistin Magret Wolf. Uraufgeführt wurde das Musiktheater nun in einer beispielhaften Zusammenarbeit von Musikhochschule und Theater Würzburg. Und die Essener Jüdin spielt darin eine Hauptrolle. Sie war eines von Millionen Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Frühes Opfer des Rassenwahns: Perl Margulies lebte bis 1933 in Essen. Foto: privat

Frühes Opfer des Rassenwahns: Perl Margulies lebte bis 1933 in Essen. Foto: privat

In „Refidim Junction“ stellt Magret Wolf Briefe zweier jüdischer Frauen gegenüber, der Würzburger Dichterin Marianne Rein und der Essenerin Perl Margulies. Beide werden Opfer der Verfolgung: Die junge Lyrikerin wird 1941 nach Riga deportiert, wo sich ihre Spur verliert: Sie ist vermutlich verhungert oder erfroren. Perl Margulies taucht in Mannheim bei Verwandten unter, nachdem ihr Mann schon 1933 aus Deutschland geflohen ist. Ein quälendes Jahr lang muss sie auf das Visum warten, das ihr und ihren Kindern die Ausreise nach England ermöglicht. „Wir erreichten London am Sonntag, den 12. Mai 1934“, schreibt Perls Tochter, Alice Shalvi, im Programmheft.

Die Zeit dazwischen spiegelt sich in rund einhundert Briefen, aus denen Magret Wolf für ihre „szenisch-dokumentarischen Aktion“ Zitate ausgewählt hat. Es sind keine Briefe über den Holocaust, aber sie lassen in all ihren alltäglichen Bemerkungen, in den beiläufigen Bemerkungen, aber auch in manch verborgenem, bitterem Sarkasmus das Böse mitschleichen. Die allgegenwärtige Bedrohung, die Verfinsterung der Atmosphäre wird greifbar.

„Wir hatten ein sehr kultiviertes Haus“, erinnert sich Tochter Alice. „Ein Grammophon, Aufnahmen mit Beniamino Gigli, Jan Kiepura, berühmte Kantoren, Oper, Kino, Theater.“ Schon 1932 war der antijüdische Reflex – nicht nur in Essen – greifbar: „Eine Aufführung des ‚Kaufmann von Venedig‘ weckte so viel antisemitisches Gift im Publikum, dass meine Eltern aus Angst aus dem Theater flohen“, berichtet Alice Shalvi. Im Juni 1933 durchsuchte die Gestapo die Essener Wohnung der Familie Margulies – in deren Abwesenheit. Benzion Margulies floh nach London.

Die Mutter versuchte, das Geschäft abzuwickeln, litt unter dem alltäglichen Terror der kleinen Nadelstiche. Als polnische Jüdin – geboren 1893 in Galizien – hatte Perl Margulies bis dahin ein Aufenthaltsrecht. Noch 1933 erfolgte die Ausweisung und der Wettlauf mit der Zeit begann. Die Familie tauchte in Mannheim unter; die Verwandten dort behandeln sie verächtlich; der Schmerz schlägt sich in vielen Berichten über verletzende Äußerungen und abwertendes Verhalten nieder. Für Perl Margulies war die Zeit bis zur Ausreise elend und trostlos, geprägt vom schrecklichen Warten und zehrender Ungewissheit.

Zwei Jahre hat Wolf an ihrer „szenisch-dokumentarischen Aktion“ gearbeitet; der Eindruck der Uraufführung war überwältigend: Das liegt sicher auch am Thema, und zwar jenseits politisch korrekter Betroffenheitskultur. Es liegt aber auch an der fordernden Verbindung einer formal ausgereiften, klangstarken Musik mit einem Libretto, das sich vom Erzählen fernhält, das Dokumente sprechen lässt, das den unbeschreiblichen Terror der eiskalt funktionierenden Nazi-Vernichtungsindustrie aus erheblicher Distanz und gleichzeitig tiefster Betroffenheit künstlerisch gegenwärtig setzt.

Szene aus "Refidim Junction" in Würzburg. Foto: Nico Manger

Szene aus „Refidim Junction“ in Würzburg. Foto: Nico Manger

Das ist ein erhebliches Risiko, denn nach Adornos apodiktischer Verweigerung eines ästhetisch-künstlerischen Zugangs zum Ungeheuerlichen (nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch) hat es lange gedauert, bis sich die Kunst an das Thema wagte. Das Tabu nützte denen, die am liebsten alles vergessen und auf sich beruhen lassen würden: Verfemte Komponisten und Werke etwa blieben weiterhin unaufgeführt. Es half aber auch nicht bei dem, zu dem sich Kunst berufen fühlen kann: das Unsagbare, die tiefste Schicht des Entsetzens, aber auch der Scham, der Schuld, des Versagens zu „verdichten“ und damit, wenn auch nicht begreifbar zu machen, so doch wenigstens eine Annäherung zu ermöglichen. Zwar schließt die zwangsläufige „Ästhetisierung des Grauens“, die Dramaturg Christoph Blitt zu Recht im Programmheft befürchtet und untersucht, die Gefahr ein, Bosheit, Terror und Leid in ihrer unmittelbaren Wucht zu verkleinern (was im Übrigen schon jede „Erzählung“ tut).

Jedoch ist eine künstlerische Bewältigung in der Lage, dem Unbegreiflichen einen Begriff zu geben und es damit in seiner Tragweite, Komplexität und furchtbaren Unmittelbarkeit gegenwärtig und kommunizierbar zu machen. Und ein Medium wie das Musiktheater, das alle Sinne des Menschen anspricht und seine emotionalen Tiefenschichten erreicht, kann unter Umständen eine tiefere Wirkung erzielen als eine nüchtern-kühle, auf den Verstand zielende, scheinbar objektive Dokumentation.

Magret Wolf hat das Dokumentarische und das Theatralische – sie nennt es „Aktion“ –miteinander verbunden und damit gegenseitig erhöht: Die Briefe der jüdischen Frauen sind private Dokumente, in denen die Schrecken der Zeit meist nur in Andeutungen vorkommen, die sich um Alltag und Familie, um Liebe, Zweifel, Angst und Not drehen. Aber wie in diesen oft einfachen Sätzen das Böse mitschleicht, das der einen der Frauen das Leben, der anderen Heimat und Existenz kostet, ist wegen seiner nicht greifbaren, aber allgegenwärtigen Drohung verstörend.

Wolf zieht in das Stück drei Ebenen ein: Die unmittelbarste ist die der beiden Frauen, verkörpert durch je eine Sängerin und eine Schauspielerin. Katja Beer (Sopran) und Charlotte Sieglin (Sprechrolle) sind Marianne – dunkelblonde, lange Haare, hochgewachsene Figur, vermutlich blaue Augen: das „deutsche Mädel“ des Rassenwahns nicht nur der Nazis. Die Sängerin Judith Beifuß und die Schauspielerin Britta Scheerer übernehmen die Rolle der Perl: dunkelhaarig, braunäugig, weiche Formen.

Britta Scheerer (links) und Judith Beifuß als "Perl" in "Refidim Junction". Foto: Nico Manger

Britta Scheerer (links) und Judith Beifuß als „Perl“ in „Refidim Junction“. Foto: Nico Manger

Für das Quartett bedeutet der Abend pausenlose Hochkonzentration. Kaum ein Moment bleibt ihnen, aus der Präsenz auf der Spielfläche auszubrechen. Schreien, Flehen, Protestieren; Einsamkeit, Angst, Resignation; verhaltene Nachdenklichkeit, flammende Wut, Verletzung und Sehnsucht nach Nähe: die Gefühlslagen der Briefzitate könnten unterschiedlich nicht sein. Aber selbst in der banalsten Bemerkung – Wollsocken anziehen, Unterwäsche suchen – schwingt die Bedrückung der Zeit mit, wird am einzelnen Schicksal greifbar, was es bedeutete, in dieser Zeit zu den Opfern zu gehören.

Die Ebene, die Menschen zu Opfern macht, ist in einer Video-Installation präsent. Sandra Dehlers Bühne meidet jede Form von plakativer Unmittelbarkeit. Es rollen einfach die Bestimmungen ab, die zwischen 1933 und 1942 erlassen wurden, um den Juden das Leben erst einzuschränken, dann praktisch unmöglich zu machen und schließlich zu nehmen. Es ist zu lesen, wie furchtbares juristisches Handwerk Zug um Zug Willkür in Gesetzesform gießt – bis schließlich die Züge fahren, nach Riga, nach Stutthof, nach Auschwitz und wie die Orte des Grauens alle heißen. Schreiendes Unrecht wird zu positivem Recht formuliert, hinter dem sich die Täter jahrzehntelang verstecken konnten. Die bürokratisch perfekte Machart lässt einen Kloß im Hals wachsen. An alles war gedacht, selbst an die – untersagte – Tätigkeit jüdischer Schaufensterdekorateure.

Mit dieser Ebene korrespondiert, wie eine Reaktion, ein Gebetstext von Rywka Kwiatkowski aus dem Ghetto Łódż: „Ich habe keine Gebete mehr“. Der Chor zieht eine Zwischenebene ein: Er liest die Namen der 202 Würzburger, die auf der Deportationsliste der Gestapo am 27. November 1941 standen. Schicksale werden benannt, Opfer bekommen einen Namen, Marianne und Perl reihen sich ein in ihren unendlichen Zug.

Das Orchester, das Ulrich Pakusch mit souveräner Übersicht leitet, besteht aus Studierenden der Hochschule. Die übliche Besetzung ist angereichert mit achtfach besetzter Perkussion und Harfe. Cembalo und zwei Akkordeone spielen eine charakterisierende, auf die handelnden Personen bezogene Rolle. Magret Wolf, die in Wien Judaistik und Vergleichende Musikwissenschaft studiert hat, verwendet „patterns“, also motivisch-melodische Bausteine, die sich permanent wandeln; eine zunächst repetitiv anmutende Musik, deren klangliche Variabilität und formale Flexibilität schnell einsichtig wird. Das Orchester agiert hinter dem Projektionsvorhang, der zu Beginn des Stücks einen friedlichen Wald zeigt: eine Naturidylle mit dem Hauch eines Friedhofs, trügerisch und unheilkündend.

Die Inszenierung von Kai Christian Moritz – langjähriges Mitglied des Schauspielensembles des Würzburger Mainfrankentheaters – setzt auf die Spannung von strenger, ritualisierter Bewegung und genau beobachtetem, emotional geladenem Spiel. An ihm liegt es nicht, dass vor allem zum Ende des ersten Teils hin die Spannung zur Anspannung wird und zu reißen droht. Der Versuchung, zu viel in das Stück zu packen, ist Magret Wolf nicht entkommen: Der Zuschauer erlebt das Wachsen des Drucks gleichsam körperlich mit. Doch die Gefahr der Überreizung durch das Trommelfeuer der Emotion ist konkret. Es ist auch Moritz‘ Regie zu verdanken, dass es nicht zum Übersprung von extrem herausgeforderter Betroffenheit zu innerlicher Abstumpfung kommt.

Dem Stück wären weitere Aufführungen zu wünschen; das Thema ist auch 67 Jahre nach dem Ende der Shoah bedrückend aktuell. Und Wolfs Musiktheater ist ein Teil der Erinnerungskultur, die dem Vergessen um der Opfer und der Zukunft willen entgegenwirkt.

Perl Margulies hat Essen nicht mehr wiedergesehen. Vermutlich wollte sie das auch nicht mehr. Sie starb am 21. November 1962 in Jerusalem.

Noch zwei Aufführungen sind in Würzburg geplant am 22. und 24. November. Tickets: (0931) 39 08 124.




Festspiel-Passagen I: Ein Hakenkreuz geht nie

"Der düstre Blick....": Noch starrt Arno Brekers Wagner-Kopf über das Grün des Hügels: Die Vergangenheit hat die Festspiele wieder einmal eingeholt. Foto: Werner Häußner

"Der düstre Blick....": Noch starrt Arno Brekers Wagner-Kopf über das Grün des Hügels: Die Vergangenheit hat die Festspiele wieder einmal eingeholt. Foto: Werner Häußner

Sie sind eröffnet, die alljährlichen Dionysien am mythischen Hügel. Doch Bayreuth wäre nicht es selbst, bliebe es bei den Tragödien im Festspielhaus. Die Komödien finden meist vorher statt, in diesem Jahr ersetzt durch ein deftiges Satyrspiel. Opfer der Medien-Mänaden – manche meinen auch, derer im Direktionsbüro – ist der Sänger Evgeny Nikitin. Seine „Tattoo-Affäre“ ließ die Debatten um Kartenvergabe und Wahnfried-Gestaltung, die Spannung um Neuinszenierung und Zukunftspläne, vorübergehend in den Hintergrund treten. Und besonders wichtig in Zeiten, in denen „Kultur“ der intellektuellen Bescheidung halber einfach mit „Freizeit“ gleichgesetzt wird: Angela Merkel schien das gleiche Kleid wie 2008 getragen zu haben! Jaja, die Spar-Kanzlerin! Und man will deutlich die Seidensöckchen zu ihren Pumps gesehen haben! Wenn das keine Meldungen sind ….

Evgeny Nikitin, der vorgesehene Sänger des „Holländer“, war zu diesem Zeitpunkt schon längst abgereist. Er sollte der erste Russe sein, der am Grünen Hügel den ruhelosen, gespenstischen Seefahrer singt. Die PR-Maschinerie lief auf vollen Touren: Porträts hier, Interviews dort. Jeder wollte etwas über den Bassbariton mit der „tollen Wagner-Stimme“ erfahren, der sich auch als Drummer einer Metal-Band hervorgetan hatte. Doch mitten im Steigflug stürzte Evgeny Nikitin unsanft ab. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt: seine eigene, aber vor allem diejenige Bayreuths.

Tattoos wurden dem Sänger zum Verhängnis. Irgendwann in seiner Jugend hatte er sich tätowieren lassen: mit Runen und einem unübersehbaren Hakenkreuz auf der rechten Brust. Längst hat er es überstechen lassen. Aber die Medien speichern, so vergesslich sie sonst gerne sind, manche Bilder lange. In der ZDF-Sendung „aspekte“ war das Nazi-Mal in Aufnahmen des oberkörperfreien Drummers deutlich zu sehen. Und ein Boulevardblatt, dem jeder Anlass zum Skandal nur recht ist, hatte zu recherchieren begonnen.

Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier reagierten schnell. Ein Gespräch mit dem Künstler, danach eine Presseerklärung: Nikitin verzichtet auf seinen Auftritt bei den Bayreuther Festspielen. Und dann ein Satz, den man zwei Mal lesen muss: „Im Ergebnis der ca. halbstündigen Unterredung wurden Evgeny Nikitin die Konnotationen dieser Symbole gerade in Verbindung mit der deutschen Geschichte bewusst.“

Als Nikitin in den siebziger Jahren in Murmansk aufgewachsen ist, konnten sie noch erzählen, die Leidtragenden des „Großen Vaterländischen Krieges“. Hatte er nie ein Wort gehört über Tod und Elend, die unter dem Zeichen des Hakenkreuzes über sein Volk gebracht wurden? War ihm das Hitler-Symbol tatsächlich nur ein Mittel, um jugendlichen Trotz, Protest, Verweigerung auszudrücken? Wenn ja – und man darf davon ausgehen, dass der Sänger die Wahrheit sagt –, lässt sich nur staunen, wie geschichtsvergessen und blauäugig jemand nach Bayreuth kommt, um den „Holländer“ zu singen.

Nikitin hat nicht mitbekommen, dass seine Tattoos mit dem Nationalsozialismus oder mit Neonazis in Zusammenhang gebracht werden könnten? Da will jemand zur Spitze der Wagner-Sänger weltweit gehören und scheint nicht den Schimmer davon zu haben, welche unheilvolle Rolle Wagners Denken, Wagners Musik und die Ideologie Bayreuths in der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts spielte? Und was soll die „spirituelle“ Bedeutung sein, die der Sänger in diesen Symbolen entdecken will? Nein, Nikitin ist kein Nazi, kein Neonazi, auch keiner von den schrecklichen Verharmlosern. Er ist wohl einfach nur geschichtslos und naiv. Aber: Kann ein Sänger, so schön die Stimme auch sein mag, das heute, zumal in Bayreuth, noch sein?

Nikitin wird dennoch seinen Weg gehen: Beinahe schon demonstrativ wurde darauf hingewiesen, dass er im Herbst als Telramund im Münchner „Lohengrin“ zu erleben ist. Bayreuth plante für die gestrige Premiere derweilen mit dem Koreaner Samuel Youn, der in der Titelrolle des „Holländer“ – und etwa auch als Klingsor im „Parsifal“ – schon in Köln zu überzeugen wusste. Seit 2004 singt Youn bereits bei den Festspielen; 2010 hatte er als Heerrufer seine erste große Bayreuther Rolle.

Samuel Youn als "Holländer" in Bayreuth. Foto: Enrico Nawrath

Samuel Youn als "Holländer" in Bayreuth. Foto: Enrico Nawrath

Es war zu erwarten, dass sich ein „Skandal“ manifestiert – egal, wie die Wagner-Halbschwestern entschieden hätten. In Kommentaren wurde gemutmaßt, die entsprechenden Schlagzeilen seien schon gesetzt gewesen, als Nikitins Absage eintraf. Bayreuth und die Nazis bleibt ein heikles Thema, so lange Arnold Brekers Wagnerkopf noch über das Grün vor dem Festspielhaus in weite, weite Fernen stiert. Katharina Wagner, persönlich unverstrickt, hat bei ihrem Amtsantritt lückenlose Aufklärung gelobt – und das bei der Pressekonferenz zu Festspielbeginn noch einmal bekräftigt. Sie hat die geistige Auseinandersetzung mit den langen braunen Schatten in ihren „Meistersingern“ von 2007 gesucht und in Stefan Herheims „Parsifal“ mitgetragen. Doch so lange die wissenschaftliche Erschließung keine Ergebnisse vorzeigen kann, so lange Quellen weggeschlossen bleiben, wird sich das Gespenst nicht bannen lassen. Die Wunde schließt sich erst, wenn die „Nacht über Bayreuth“ dem hellen Tageslicht historischer Aufarbeitung gewichen ist.

Momentan holt sie die Geschichte wieder einmal ein, die beiden Wagner-Urenkelinnen. Ob sie richtig reagiert haben, darüber gibt es weit auseinander liegende Meinungen. Wäre eine gemeinsame Pressekonferenz mit Nikitin der bessere Weg gewesen, wie es der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Nikolaus Bachler, vorgeschlagen hat? Wer die Eigendynamik medialer Prozesse kennt, wird der Idee skeptisch gegenüberstehen – so gutwillig und aufklärend sie auch gemeint sein mag. Andere sehen in der Entscheidung, Nikitin ziehen zu lassen, die richtige Reaktion angesichts der Verstrickungen der Festspiele mit dem Nationalsozialismus. Brigitte Hamann, Autorin eines Buches über „Hitlers Bayreuth“, sagte der „Deutschen Welle“, es sei „so viel an Last durch die Nazis in Bayreuth, heute auch noch, dass man als Chefin der Festspiele ja überhaupt nicht anders kann, als immer wieder zu betonen: Wir distanzieren uns“.

Bachler hatte sich mit scharfer Kritik in die Debatte eingeschaltet: „Ich sehe in der Causa Nikitin zunächst mehr ein Problem Bayreuths und der Wagner-Familie als eines des Sängers.“ Er halte es für verlogen, dass die „Torheit eines 16-jährigen Rocksängers, der diese längst bereut und versucht hat, ungeschehen zu machen, ausgerechnet von der Wagner-Familie geahndet wird“.

Der Staatsopernintendant betonte weiter, man zeige offenbar „mit dem Finger auf jemanden anderen, weil man mit der eigenen Geschichte ein Problem hat“. Nikitin habe in seinen Aussagen den Vorfall aus seiner Zeit als Schlagzeuger in einer Heavy-Metal-Band nicht nur bedauert, sondern auch Reue gezeigt. „Eine Reue, die ich von der Familie Wagner in den letzten 50 Jahren nie vernommen habe.“ In diese Kerbe schlägt auch das Feuilleton der FAZ: „Versagt hat nicht der russische Sänger. Versagt haben, wieder einmal, die Festspiele“, war dort zu lesen. Auch der „Lohengrin“ – Regisseur Hans Neuenfels sieht ein „großes Versagen“ der Festspielleitung: Von einem solchen Vorfall dürfe man nicht überrascht und von einem Boulevardmagazin zum Handeln genötigt werden. Dass das Problem nun in „einer solchen fast infantilen, analphasigen Boulevardposse endet, das finde ich schon besonders beschämend für die Festspiele“. So Neuenfels‘ Resümee.

Solche Äußerungen zeigen, wie bereitwillig mit der unglücklichen Jugendsünde des Evgeny Nikitin nun auch Politik gemacht wird. Die Festspielleiterinnen wollen doch nicht die Jugendtorheit eines Sängers „ahnden“. Sie haben mit Blick auf eine drohende Skandalisierung der Auftritte Nikitins entschieden. Der Bayreuth-Dirigent Christian Thielemann hat es auf seine Art zusammengefasst: „Ein Hakenkreuz geht nie.“ Und mit dieser Feststellung auch gleich einen geistigen Schlenker zu seiner generellen Abneigung gegen Inszenierungen mit Bezügen zur NS-Zeit vollzogen.

Vorwerfen wird diese „Notbremse“ den Festspielleiterinnen nur jemand, der ernsthaft glaubt, die wohlfeile Geschichte vom Hakenkreuzträger auf der braun belasteten Bühne wäre durch einen differenzierten, rationalen Diskurs zu verhindern gewesen. Wer weiß, wie das Mediengeschäft heute läuft, wird nicht im Ernst annehmen, dass Vernunft und Augenmaß die Gesetze dieses Marktes außer Kraft gesetzt hätten.