Lange Schatten der Vergangenheit – Das Westfälische Landestheater verhandelt Ferdinand von Schirachs „Fall Collini“

Junger Idealist und alter Hase: Tobias Schwieger (links) als Pflichtverteidiger Caspar Leinen, Burghard Braun (rechts) als abgebrühter Nebenkläger Mattinger. Im Hintergrund schmachtet Collini (Guido Thurk) in seiner Zelle. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Warum hat Collini den Industriellen Hans Meyer erschossen? Dass er es tat, steht außer Frage, doch Collini schweigt. Caspar Leinen, ein ehrgeiziger, junger Anwalt, wird vom Gericht zum Pflichtverteidiger ernannt. „Der Fall Collini“ ist seine erste Mordsache. Ferdinand von Schirachs gleichnamiger Roman lieferte die Vorlage für das Theaterstück, das nun am Westfälischen Landestheater in Castrop-Rauxel seine Uraufführung erlebte.

Sonderlich originell ist Schirachs Einstieg in die Geschichte sicherlich nicht, viele Krimis, amerikanische zumal, kommen ähnlich daher. Doch geht es dem Autor, der von Beruf Strafverteidiger ist und erst im fortgeschrittenen Alter zum überaus erfolgreichen Literaten wurde, ja nicht nur um Unterhaltung. Nein, von Schirach will auch politisch aufklären. Und deshalb erfährt das Publikum dank fleißiger Recherchen von Rechtsanwalts Leinen im Staatsarchiv bald, dass Collini zum Mörder wurde, weil Hans Meyer seinen Vater 1943, in Italien, als Geisel hinrichten ließ. Eine Klage, die Collini 1968 gegen Meyer erhob, wurde wegen Verjährung abgewiesen. Grundlage dieser Entscheidung war ein Gesetz aus dem selben Jahr, das die Verjährung der Taten der „Helfer“ von Nazi-Mördern regelte. 1968 lebten noch viele von ihnen. So weit, so skandalös.

Gang der Handlung ist nicht völlig überzeugend

Warum aber wartete Collini noch Jahrzehnte, bis er seinen Mord beging? Nun, er wartete, bis ein geliebter Verwandter gestorben war, der Mord, Verhandlung, Haft nicht miterleben sollte. Ein wirklich überzeugender Abschluss ist das eigentlich nicht, immerhin aber sind die juristischen Abhandlungen von Schirachs, die im Roman breiten Raum einnehmen, von Interesse.

Collini schweigt, der Anwalt wartet; Szene mit Tobias Schwieger (links) und Guido Thurk. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Intensive Form

Was nun macht das WLT aus diesem Roman? Auf eine Stunde 45 Minuten ohne Pause hat diese Inszenierung (Karin Eppler) den Stoff eingedampft, was dieser erstaunlich gut überstanden hat.

Nüchtern betrachtet rankt sich die Geschichte um zwei umfangreiche historische Rückblenden: Da ist zum einen die Erinnerung des kleinen Fabrizio Collini an den Überfall deutscher Soldaten auf sein Dorf und die Vergewaltigung seiner Schwester, späterhin an den Bericht über die Erschießung seines Vaters, zum anderen jene an das Gesetz von 1968, das die Taten von Nazi-Befehlsempfängern für verjährt erklärte.

Wenn all dies auf der Bühne zur Sprache kommt, hätte man Vorträge in großer Erregtheit erwarten können, Emotion, Betroffenheit, Fassungslosigkeit. Den ungeheuerlichen Ereignissen, um die es hier geht, wäre das allemal angemessen. Gerade deshalb jedoch erweist sich die sachliche, emotionsarme Darstellung in dieser Inszenierung als die richtige. Gewalttaten und Kriegsverbrechen, so wie sie sich hier darstellen, brauchen keine dramatische Überhöhung, um verstanden zu werden. Im Gegenteil. Die kleine Form gebiert das Grauen.

Der rote Faden verheddert sich

Leider verheddert sich der rote Faden im weiteren Gang der Handlung ein wenig. Wo juristische Sachlichkeit zwingend wäre – es geht immerhin um einen Mord –, findet die Inszenierung Gefallen an der Vorstellung, Collinis Schuld an dem zu messen, was die Nazis ihm und seiner Familie antaten. Das ist ein bisschen leichtfertig, auch wenn die Vorgeschichte bei der Frage nach der Schwere der Schuld gewiss eine Rolle spielt. Collinis Selbstmord setzt dieser thematischen Irritation ein abruptes Ende.

Bemerkenswertes Sound-Design

Das Mobiliar – Stühle, Tische – ist sparsam, dominiert wird die Bühne von einer Art Guckkasten, eine Gefängniszelle wohl, in der Collini sich befindet. Von einer Wanderbühne wie dem WLT sollte mehr Ausstattung auch nicht erwartet werden. Die Oberbekleidung der Damen und Herren (Garderobe: Regine Breitinger) ist weitgehend unspektakulär. Lediglich die Ausstaffierung des Polizisten („Kommissar Balzer“, gespielt von Mario Thomanek) mit Springerstiefeln und altertümlicher Lederjacke, auf der Polizei steht, ist etwas unpassend. Erwähnt werden muss noch das Sound-Design (Ton: Lukas Rohrmoser) das unaufdringlich den Gang der Handlung akzentuiert.

Erfahrene Kräfte

Burghard Braun lässt als Rechtsanwalt Mattinger einmal mehr den in sich ruhenden, unaufgeregt aufspielenden Bühnenprofi erkennen, gleiches lässt sich über Andreas Kunz in der Rolle des Oberstaatsanwalts Reimers sagen; auch Vesna Buljevic als Richterin weiß ihre Rolle mit Ruhe und Konzentration anzulegen, ohne deshalb beliebig zu werden.

Leinen (Tobias Schwieger, links) erläutert Johanna Meyer (Franziska Ferrari) seine Beweggründe. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Zu viel des Guten

Tobias Schwieger jedoch, der hier die Hauptrolle spielt, möchte man nachdrücklich mehr Zurückhaltung empfehlen. Er überspielt den jungen Anwalt, besonders anfangs, so sehr, dass man sich im Kindertheater wähnt (nichts gegen das Kindertheater). Wenn Pathologe Wagenstett (Mike Kühne) detailverliebt die Schussverletzungen Hans Meyers beschreibt, übergibt Caspar Leinen sich mehrere Male kunstvoll, fast schon slapstickhaft. Eine Lachnummer, die allerdings auch den Verdacht nährt, dass dieses aufgekratzte Spiel ein – reichlich unangemessener – Regieeinfall sein könnte.

Auch Franziska Ferrari als empörtem Mitglied des Meyer-Clans wäre Mäßigung anzuraten. Wenn sie allerdings die leicht zwanghafte Frau Dr. Schwan vom Bundesarchiv gibt, die dem Gericht im munteren Expertenton erläutert, wann beispielsweise die Erschießung von Geiseln nach dem Völkerrecht (auch heute noch) erlaubt ist und wann man vielleicht von einem Gesetzesverstoß reden könnte, dann weiß sie wohl zu überzeugen.

Wohltuende Aufgeräumtheit

„Der Fall Collini“ im Westfälischen Landestheater beeindruckt vor allem durch seine dokumentarischen Valeurs, erinnert in seinem Hang zur Belehrung durchaus auch an Fernsehspiele der 60er-Jahre. Die Aufgeräumtheit dieser Inszenierung ist wohltuend, und das Ensemble liefert eine alles in allem überzeugende Arbeit ab. Das Publikum in der voll besetzten Europa-Halle spendete begeisterten Beifall.

  • Weitere Termine:
  • 24.10.2021    Nettetal Haus Seerose
  • 29.10.2021    Marl Theater
  • 30.10.2021   Castrop-Rauxel Studio
  • 2.11.2021    Brilon Kolpinghaus
  • 3.11.2021    Gladbeck Stadthalle
  • 20.11.2021    Sulingen Stadttheater im Gymnasium
  • 3.11.2021    Herne Kulturzentrum
  • 2.12.2021    Rheda-Wiedenbrück Aula des Ratsgymnasiums
  • 12.12.2021    Gifhorn Stadthalle
  • 13.01.2022    Solingen Theater und Konzerthaus
  • 18.03.2022    Bad Oeynhausen Theater im Park
  • 12.05.2022    Bottrop Josef-Albers-Gymnasium

WLT-Kasse: 02305 / 97 80 20.

tickets@westfaelisches-landestheater.de




Trash-Komödie um Nazis und Völkermord – Mario Salazars wüste Mixtur „Schimmelmanns“ im Theater Oberhausen

Den Anfang macht Toni Schimmelmann. Er ist Clown im Zirkus von Nazi-Krüger, rote Perücke, rote Schuhe, lappiges Tutu. Eigentlich will er weg von hier, weil er Nazi-Krüger hasst. Und weil er im Zirkus so unerfreuliche Rollen spielen muss wie die eines jüdischen KZ-Gefangenen, der nicht weiß, ob er heute noch vergast wird oder nicht.

"Schimmelmanns"-Szene mit (von links): Mervan Ürkmez, Jürgen Sarkiss, Ingrid Sanne, Clemens Dönicke, Ayana Goldstein. (Foto: © Katrin Ribbe)

„Schimmelmanns“-Szene mit (von links): Mervan Ürkmez, Jürgen Sarkiss, Ingrid Sanne, Clemens Dönicke, Ayana Goldstein. (Foto: © Katrin Ribbe)

Ist das witzig? Was kommt als nächstes? „Schimmelmanns“ heißt das Stück, das von der ersten Minute an mit Provokationen und Zumutungen auf sein erschrockenes Publikum feuert. Geschrieben hat es Mario Salazar, Kind chilenischer Eltern und 1980 in Ostberlin geboren. Im Theater Oberhausen war nun die Uraufführung.

Mit Anklängen an die Titelmelodie der „Schwarzwaldklinik“ (Live-Musiker mit Keyboards und Schlagzeug auf der Bühne: Martin Engelbach) nimmt das Geschehen seinen Lauf. Es kreist um die Beerdigung des Großvaters, das die Familienmitglieder, die einander nur sehr begrenzt leiden können, zusammenbringt. Auch Toni, der einst vor seiner grauenvollen Familie nach Amerika geflohen war, reist schließlich an.

Nazis sind sie mehr oder weniger alle

Nazis und Altnazis sind sie mehr oder weniger alle, und die Konzentrationslager waren ja wohl eine einmalige historische Leistung. Doch die Syrer sollte man nicht vergasen, billigere Arbeitskräfte gibt es schließlich nicht – auch nicht für das profitable Freizeitpark-Projekt Ossiland in Bottrop, wo der geschäftstüchtige Felix Schimmelmann (Clemens Dönicke) als Hauptattraktion stündlich eine scheiternde Republikflucht nachspielen lassen will.

Witwe Rosi Schimmelmann (Ingrid Sanne), familiäres Epizentrum und angeblich erblindet, will nicht von ihrer Bibel lassen, und sie hasst alle, denen das Neue Testament nichts gilt, Juden, Araber, ganz egal. Früher war sie mal in der SPD. Und seit Beginn ihrer Ehe sei sie permanent vergewaltigt worden. Sagt sie.

Und weiter dreht sich das Kaleidoskop der braunen Unappetitlichkeiten. Doch was sich als Handlung ankündigte, ist eher eine Aneinanderreihung von Meinungen, Positionen, Haltungen, es passiert eigentlich nichts. Auch die demente Großmutter mit ihrer panischen Russenangst (Anna Polke) ist kaum mehr als ein grotesker Sidekick.

Schenkelklopfer zum apokalyptischen Gang der Dinge

Nur eine uneheliche Tochter (Ayana Goldstein), Tati Asensio Rodriguez mit Namen und vorgeblich dunkelhäutig, fällt etwas aus der Art. Sie hat sich der linken „Antinationalarmee“ angeschlossen, was vielleicht ehrenhaft, aber nicht plausibel ist und überdies im rassistischen Schimmelmann-Kosmos keine Rolle spielt. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Thema Raubkunst und in Gestalt von Videoeinspielungen auch die Nürnberger Prozesse vorkommen.

Von links: Jürgen Sarkiss (hinter der Zeitung), Ingrid Sanne, Lise Wolle. (Foto: © Katrin Ribbe)

Von links: Jürgen Sarkiss (hinter der Zeitung), Ingrid Sanne, Lise Wolle. (Foto: © Katrin Ribbe)

Ach ja: Draußen haben die Nazis (oder war es die AfD?) die Macht übernommen oder stehen kurz davor, und alles wird vermutlich jetzt ganz schrecklich. Drinnen aber, im Hause Schimmelmann, gibt man den apokalyptischen Gang der Dinge als schenkelklopfendes Boulevardtheater, als definitiv kurzweilige Tür-auf-Tür-zu-Komödie auf zwei Etagen (Bühne: Maria-Alice Bahra), die ihren Abschluss mit der Wiederkehr des alten Patriarchen Arius Schimmelmann (Klaus Zwick) findet, SS-Hauptsturmbannführer a.D., ausstaffiert wie Uncle Sam. Oder ist das jetzt doch wieder Nazi-Krüger aus Miami, der im ähnlichen Outfit auftrat? Ist auch irgendwie egal.

Regie führt der neue Intendant Florian Fiedler

Was ist die Botschaft dieser wüsten Mixtur aus Nazi-Denken, aktuellem Rechtsextremismus, hartnäckigem Rassismus, Flüchtlingsthematik und so fort? Alles schlimm, gewiss. Doch die unbedarfte Verarbeitung des millionenfachen, industriell durchgeführten deutschen Völkermords im Nationalsozialismus zu Unterhaltungsstoff in einer Trash-Komödie befremdet denn doch. Der Holocaust als Menschheitskatastrophe bis dahin ungeahnten Ausmaßes war eben nicht „Hololo“, wie Arius Schimmelmann, Lacher sind ihm da gewiss, bei seiner Wiederauferstehung memoriert.

Offenbar wurde der Autor von der wirren Internet-Kommunikation am rechten Rand inspiriert. Claus Leggewie kommt im Programmblatt zu Wort, linksliberaler Politologe und Professor in Gießen, der von einem befremdlichen Internet-Dialog mit dem rechten Publizisten und Verleger Götz Kubitschek berichtet.

Es ist ein fiebrig-delirantes Spiel, das sich Mario Salazar ausgedacht hat und das Florian Fiedler, der neue Intendant des Theaters Oberhausen, nun als sein Regiedebut in einer Stunde 45 Minuten auf die Bühne stellt. Der Unterhaltungswert dieser Produktion ist unbestreitbar, auf die nächste Regiearbeit Fiedlers darf man gespannt sein. Anerkennung ist dem engagiert aufspielende Ensemble zu zollen. Das Publikum spendete langen, freundlichen Applaus.




Der Hochstapler, der die Nazis hasste – Jan Zweyers Roman „Eine brillante Masche“

Er besaß zweifelsohne ein hohes Maß an krimineller Energie, trat wechselweise unter sieben verschiedenen Namen auf, vor Gericht versuchte er aber dann den Biedermann oder gar den Helfer in der Not zu geben. Die Rede ist von Johann Bos, dem der Journalist und Schriftsteller Jan Zweyer sein neues Buch widmet.

Zweyer erzählt – nach wahren Begebenheiten – die Geschichte eines ausgebufften Betrügers, der in den Wirren der ersten Nachkriegsjahre „Eine brillante Masche“ (So der Titel des Buches) fand, um sich zu bereichern. Bos hatte es auf die engsten Angehörigen von Nazi-Funktionären abgesehen, die noch in Haft saßen. Der größte Wunsch der Familien bestand natürlich darin, ihre Männer oder Väter wieder frei zu bekommen. Da klammerte man sich an jeden Strohhalm und fiel auf Leute wie Bos schnell herein, dem es immer wieder gelang, sich das Vertrauen der Verwandten zu erschleichen und sie um große Mengen an Schmuck zu erleichtern.

zweyer

Er gaukelte den Leuten vor, durch diese „Vorkasse“ bei Aufsehern oder Führungskräften von Gefängnissen die Freilassung erwirken zu können. Dazu erfand er glaubhafte Geschichten zu seiner eigenen Person, stellte sich als Kripobeamter oder einflussreicher Industrieller vor. Er  hatte sich zuvor im Umfeld der späteren Opfer umgehört.

Die Kripo war zwar hinter ihm her, aber es kam dem Gesuchten anfangs sicherlich zugute, dass es im Polizeisystem um den Austausch an Informationen – beispielsweise über seine Aufenthaltsorte – nicht zum allerbesten bestellt war. Aber selbst, wen man ihn verhaftet hatte, was mehrfach geschah, sollte es dem wendigen Bos gelingen, aus dem Knast zu türmen.

Doch im Januar 1948 war dann das Spiel endgültig vorbei, der Mann hatte es offensichtlich zu weit getrieben. Handel mit gefälschtem Schmuck war es unter anderem, der die Polizei auf die Fährte von Johann Bos brachte. In der Anklageschrift war die Rede von Diebstahl,  vollendetem Betrug in 45 und versuchtem Betrug in 20 Fällen. Auch Beamtenbestechung und Urkundenfälschung wurden ihm vorgeworfen.

Schon die Lebensgeschichte dieses Draufgängers, der neben seiner Frau noch zwei Verlobte hatte, ist fesselnd, spannend und unterhaltsam zugleich. Durch die Art und Weise, wie der Autor die Biographie des gebürtigen Osnabrückers aufbereitet hat, wird aus dem Buch ein Lesestoff, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte. Zweyer hat nicht nur Gerichtsakten studiert, sondern vor allem auch die Presseberichte zu dem Prozess vor dem Arnsberger Landgericht im Jahr 1950 zur Hand genommen. Dadurch gelingt es ihm, das Bild eines äußerst zwiespältigen Menschen zu zeichnen: Während der Metzgerlehre bestiehlt er seinen Chef mehrfach, bis der ihn schließlich rauswirft, dagegen erweist er sich später als vertrauenswürdiger und liebevoller Vater.

Mit dem geklauten Geld hat er sich übrigens den ersten Besuch in einem Stripteaselokal finanziert. Als ihn während des NS-Regimes der Gestapo-Mann im KZ verschwinden lässt, den er beim Schäferstündchen mit seiner Frau erwischt hatte, bleibt seine Rolle im Konzentrationslager im Ungefähren. Dass er dort aber nicht zu den Tätern gewechselt ist, wie er später beteuert, mag man ihm schon glauben. Das Arnsberger Gericht versucht er auch davon zu überzeugen, dass er – bei allen seinen menschlichen Schwächen – doch eigentlich ein gutes Herz hatte. Nachprüfen ließ sich seine Beweisführung zum Zeitpunkt der Verhandlung nur nicht mehr, denn da waren die Lebensmittel, die er Mitmenschen gespendet oder an Kinderheime verteilt haben will, wohl schon längst verspeist gewesen sein.

Offen ließ es Bos, wo er sein ergaunertes Geld versteckt hatte, sofern überhaupt noch etwas vorhanden war. Für das Motiv seiner Taten legte er ein klares Bekenntnis ab: Er mochte die Nazis nicht leiden und „die meisten, die in den Internierungslagern sitzen, sind dort völlig zu Recht“.

Wenn der Leser am Ende des Buches erfährt, dass nicht alles, was er über Johann Bos erfahren hat, den Tatsachen entspricht, sondern vielmehr der Autor sich hier und da auch schriftstellerische Freiheiten gegönnt hat, ist das dem Band nicht abträglich. Im Gegenteil. So ist es wirklich spannend, sich mit einer solch schillernden Persönlichkeit zu befassen, wobei sich schon die Frage stellt, warum man so wenig über Johann Bos weiß, der auch in Städten wie Hagen und Herne sein Unwesen trieb.

Jan Zweyer: „Eine brillante Masche – Die fast wahre Geschichte eines Lügners“. Roman. Grafit Verlag, Dortmund, 221 Seiten, 9,99 Euro.




Allein für Vostells Arbeiten lohnt sich ein Besuch im Dortmunder „U“

In seiner Heimatstadt Leverkusen haben sie nicht nur ein Bronzeschild zu seinem Gedächtnis angebracht, nein, sogar eine Straße wurde im Jahre 2001 nach ihm benannt: Wolf Vostell, weltbekannter Künstler und auch Professor, 1931 in Leverkusen geboren und 1998 in Berlin gestorben, ist im Dortmundern Museum mit einigen hervorragenden Werken vertreten, und allein das scheint mir ein ausreichender Grund zu sein, mal wieder ins „U“ zu pilgern.

Straße in Vostells Geburtsstadt Leverkusen.

Straße in Vostells Geburtsstadt Leverkusen.

Ein Hauptthema im „Museum Ostwall im Dortmunder U“ sind Fluxus und Happening – Kunstbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die unter anderem von Wolf Vostell vorangetrieben worden sind. Nach einer Verbindung von Kunst und Leben suchte man, „fördert die Nicht-Kunst-Realität“ hieß es sogar in einem Manifest von George Maciunas. Es entstanden also nicht nur Kunstobjekte, sondern vor allem Aktionskunst war gefragt.

Vostell wollte vor allem durch „aggressive Bildsprache“, wie es im Katalog heißt, Missstände benennen und Sozialkritik üben. Am beeindruckendsten scheint mir aber sein Rückgriff auf die Zeitgeschichte zu sein – nämlich in der Dortmunder Rauminstallation „Thermoelektrischer Kaugummi“. Die Installation mit dem seltsamen Titel assoziiert im Kopf sofort die Verbindung zu Bildern von Auschwitz, und wenn man über die am Boden verstreuten Esslöffel knirschend den Raum durchschreitet, kann es einem schon eiskalt über den Rücken laufen.

„So stellt Vostell die Frage nach der Verantwortung jedes Einzelnen für Tod und Leid“, schreiben die Museumsleute. Gerade in der Stadt Dortmund mit seinen aktuellen Naziaufmärschen sollte die Beschäftigung mit dieser Frage besonders wichtig sein.




Der 11. September – 1944 war es ein Tag der Befreiung

Das Datum 11. September – auch amerikanisch als 9/11 abgekürzt – hat sich seit 2001 in das Weltgedächtnis eingebrannt. Die einstürzenden Türme des World-Trade-Centers in New York sind zu einem Zeichen geworden für die Verletzlichkeit der modernen Zivilisation.

Kriegsgefangene in der zerstörten Stadt Aachen. (Quelle: Bundesarchiv)

Zurzeit lese ich mit großem Gewinn „Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45“ des britischen Historikers Ian Kershaw. Da geht es ebenfalls um Terrorismus, wenn auch um weit schlimmeren als 2001, und auch in dem Zusammenhang taucht das Datum 11. September auf. Das war nämlich der Tag im Jahre 1944, an dem „ausländische“ Soldaten, in dem Fall amerikanische, im Kampf gegen Nazi-Deutschland erstmals den Boden des Deutschen Reiches betraten. Dieses Ereignis fand in der Nähe von Aachen statt, und es war der Beginn unserer Befreiung.

Natürlich ist so eine Datumsgleichheit reiner Zufall und ohne jede Bedeutung, aber doch von anekdotischem Interesse. Es gibt auch noch drei weitere Septembertage, zu denen man einen Zusammenhang konstruieren könnte: Am 11. September 1609 entdeckte Hudson die Insel Manhattan – exakt jenen Ort, an dem 2001 die Türme brannten. Ebenfalls am 11. September, aber genau 200 Jahre vor dem Attentat, wurde Schillers Jungfrau von Orleans uraufgeführt, jene Tragödie, in der es auch um Befreiung geht. Und um Freiheit ging es auch am 11. September 1989: Da durchtrennte der ungarische Außenminister mit seinem österreichischen Kollegen den Stacheldrahtzaun zwischen ihren Grenzen, damit die Menschen aus der DDR ohne Repressalien „ausreisen“ konnten.

Der 11. September als besonders Datum, ähnlich wie in der deutschen Geschichte der 9. November. Allerdings, wer genau hinschaut, wird zu fast jedem Tag ähnliche Konnexionen darstellen können. Es bleibt eben doch fast alles Zufall, aber man kann daraus richtige Schlüsse ziehen.




Alltag in der Diktatur: „Ich wünsche Klärung der Kellerfrage“

Oktober 1942, also vor 70 Jahren, in einer Kleinstadt am Rande des Ruhrgebietes. Der Krieg ist noch nicht in der Heimat angekommen, aber man bereitet sich darauf vor. Eine kleine, fast absurde Begebenheit aus dem Alltag einer Diktatur soll hier erzählt werden.

Einrichtung eines Luftschutzkellers. (Foto: Anti-Kriegs-Museum)

Weil die Nazi-Führung Bombenangriffe erwartete, wurde die Bevölkerung schon vor Kriegsbeginn auf Luftschutzmaßnahmen, Bunkerbau, Verdunkelung usw. eingestimmt. Später gab es dazu konkrete Vorschriften, unter anderem zur Einrichtung von Luftschutzräumen in privaten Kellern. Diese Keller waren für die Menschen aber als Vorratsräume viel wichtiger als heute, und entsprechend entstanden an vielen Orten Konflikte.

In unserem Fall geht es um eine „Frau Witwe Adolf Wagner“ in der Adolf-Hitler-Straße 56. Sie schreibt an die Gemeindeverwaltung, dass sie ihren Keller als Luftschutzraum eingerichtet habe, aber nun als Ersatz einen anderen Keller brauche. Ihr Mieter Erich Dicker, der habe doch zwei Keller, aber der wolle einen davon nicht abgeben. „Ich wünsche Klärung der Kellerfrage“, schreibt sie an das Amt.

Und vom Amt rückt ein Mann aus in die Adolf-Hitler-Straße und besichtigt den so umstrittenen Keller. Dass der Mieter seinen Keller nicht herausrückt, das sei nun völlig unverständlich, schreibt der Beamte ins Protokoll. „Herr Dicker ist vorzuladen.“ So geschehen, der Mann kommt also eine Woche später persönlich ins Rathaus und erklärt, er habe doch seit 15 Jahren die beiden Keller in Besitz und lehne deshalb die Abgabe eines Raumes ab. Also wurde ihm nun von Amts wegen ein Raum entzogen – die schwierige Kellerfrage war geklärt.

Alltag in der Diktatur – er war oft so banal.




Wie ein Bochumer Kaufhaus zu dem Namen eines Dichters kam

Bochum war in meiner Kinder- und Jugendzeit unser Sommer-Urlaubsziel, weil meine Großeltern dort lebten, und auch der Kohlenstaub machte uns nichts – schließlich waren Opa und Onkels alle Bergleute gewesen. Eine Cousine arbeitete im Kaufhaus Kortum, und schon damals wunderte es mich sehr, dass man ein Kaufhaus nach der Straße benennt, an der es liegt, nämlich der Kortumstraße.

Carl Arnold Kortum

Erst sehr viel später verdrängten bessere Kenntnisse diese Idee, es war nämlich genau umgekehrt: Der Arzt und Dichter Carl Arnold Kortum (1745 bis 1824) war zwar in Mülheim geboren, gilt aber als einer großen Söhne der Stadt Bochum (neben Grönemeyer natürlich) und gab der heutigen Einkaufsstraße in der Fußgängerzone ihren Namen und später auch dem Kaufhaus.

Es gehörte zunächst zum Warenhauskonzern Alsberg, von einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Bielefeld aufgebaut, die mit ihren Geschäften nach Hermann Tietz (Kaufhof) und Rudolf Karstadt nach Umsatz an dritter Stelle im Deutschen Reich standen. 1933 enteigneten die Nationalsozialisten das Kaufhaus Alsberg in Bochum und die anderen Alsberg-Warenhäuser und nannten das Bochumer Haus um in „Kaufhaus Kortum“. Der alte Inhaber starb 1936, sein Sohn wurde 1941 im Konzentrationslager ermordet. Einer der Gewinner der „Arisierung“ des Alsberg-Konzerns war übrigens der Mitarbeiter Helmut Horten. Er stand den Nazis nahe und baute aus den „Erwerbungen“ den Kaufhauskonzern Horten auf.

Kortum und auch Horten gibt es heute nicht mehr. In Bochum wurde das imposante Haus zu einer Art Galerie umgebaut. Auch Horten musste aufgeben. Kaufhof und Karstadt teilen sich den Markt – noch. Vielleicht schließen sie sich ja demnächst zusammen. Kaufstadt wäre doch ein schöner Name.




Zum Gedenken an den Holocaust

Es war heute vor 67 Jahren, da befreiten Rotarmisten das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Es war heute, da sprach Marcel Reich-Ranicki, ein 91 Jahre alter, gebürtiger Pole jüdischen Glaubens zum Anlass im Deutschen Bundestag – und er sprach das bessere Deutsch. Es war heute – da sprach der Unnaer Bürgermeister, bevor ein Dutzend Schülerinnen und Schüler im Rathaus sich selbst eine Frage stellten: „Warum, warum gedenken wir?“ Sie, ebenso wie der Bürgermeister, gaben selbst eine Antwort auf die Frage: „Wir gedenken, weil nur so wir die Brücke des Unvergessens aus der Vergangenheit in die Zukunft schlagen können.“

Es war vor knapp 30 Jahren, da lernte ich Herrn Unna aus Hamburg kennen, ein Nachfahr des Professors Unna, dem man sehr wesentlichen Anteil an der Erfindung der Nivea-Creme nachsagt. Herr Unna aus Hamburg war ca. 1,80 Meter groß, trug blondes Haar und blickte mich aus wasserblauen Augen an. „Ja,“ lachte er, „ich war der Vorzeige-Germane in meinem Gymnasium!“ Sein sportlich-gestählter Körper und seine außergewöhnlichen Fähigkeiten beim Kunstturnen ließen den flugs erbraunten Sportlehrer immer wieder vor der gesamten Klasse schwärmen, was doch ein teutscher Junge so zu leisten vermöge. Der junge Herr Unna schmunzelte dann still in sich hinein. Schwieg aber.

Denn ehrlich boshafte Antworten verboten sich für einen klugen Menschen, sie bedeuteten Lebensgefahr. Herr Unna war – wie sein Vorfahr und dessen Vorfahren, die es aus dem westfälischen Unna nach Hamburg verschlug, jüdischen Glaubens. Und er widerlegte durch sein Sein, dass seine vielen Mitleidenden deshalb leiden mussten, weil sie anders waren. Viele waren eben so sehr nicht anders, dass sie sogar als germanische Vorbilder herhalten mussten.

Herr Unna erzählte mir dann vor knapp 30 Jahren, dass der größte Teil seiner Familie in den Todeslagern wie Auschwitz-Birkenau umkam. Er erzählte mir auch, dass er nicht als Lamm zur Schlachtbank gehen wollte, dass er floh, sich zunächst der britischen Armee anschloss, bewaffneten Kampf gegen die Nazis (nicht gegen Deutschland an sich) führte, dass er später der Hagana beitrat und Menschen nach Palästina schmuggelte: „So wie im Film ‚Exodus‘.“ Und dass er vielen Palästinensern Wasser brachte, weil er es verstand, es zu finden und nach ihm zu bohren.
Der Krieg war längst vorüber, da kehrte er nach Deutschland zurück und beobachtete mit wachsender Skepsis das politische Tun in Israel. Er schilderte übles Bauchgrimmen, wenn er an seinen israelischen Landsmann Begin dachte. Fast wie peinlich brummte er: „Faschisten sind überall!“

Ich habe Herrn Unna dann (leider) aus den Augen verloren, ließ mir nicht mehr von seinem Lebens erzählen, aber ich erinnere mich immer wieder an ihn, wenn ich lese oder höre, dass die Juden verfolgt und ermordet wurden, weil sie „anders“ waren. Nein, deshalb wurden sie nicht ermordet. Sie wurden ermordet, weil es keine Massenbewegung gab, die ihnen zu Hilfe kam, weil weggeschaut wurde. Und dass wir heute genau hinschauen, dazu dient das Gedenken an diesem Tag. Nie wieder darf dies stimmen: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ (Paul Celan).




Im „Kapp-Putsch“ ging es nicht nur um Worte

Wenn sich heute Bürger gegen Rechtsradikale wehren, dann geht es wie zum Beispiel in Dortmund eher um verbales Engagement, um Demonstrationen und Zusammenschlüsse. Zu Beginn der Weimarer Republik sah das ganz anders aus, da floss Blut, Menschen kamen um, sie wurden sogar wie im Krieg als „Gefallene“ betrachtet.

Grabstein der gefallenen Demokraten. (Foto Pöpsel)

Eineinhalb Jahre nach Ende des 1. Weltkrieges und Ausrufung der ersten Deutschen Republik wagten die rechtsnationalen Gegner einen bewaffneten Aufstand. Zitat aus Wikipedia: „Der Kapp-Lüttwitz-Putsch oder Kapp-Putsch vom 13. März 1920 war ein nach fünf Tagen gescheiterter Putschversuch gegen die Weimarer Republik, der von Wolfgang Kapp und Walther von Lüttwitz mit Unterstützung von Erich Ludendorff angeführt wurde. Er brachte das republikanische Deutsche Reich an den Rand eines Bürgerkrieges und zwang die Reichsregierung zur Flucht aus Berlin. Die meisten Putschisten waren aktive Reichswehrangehörige oder ehemalige Angehörige der alten Armee und Marine, insbesondere der Marine-Brigade Ehrhardt, sowie Mitglieder der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP).“

Gegen diesen Kapp-Putsch gab es vor allem im Rhein-Ruhr-Raum sofort bewaffneten Widerstand. Bei Kämpfen am Bahnhof in Wetter kamen mehrere Männer ums Leben, und auch bei Remscheid forderten Schusswechsel Todesopfer.

Unter anderem wurden zwei 20-Jährige Männer aus Milspe (heute Ennepetal) erschossen. Der Milsper Gemeinderat beschloss, sie an einem Ehrenmal für gefallene Mitbürger zu bestatten. Als 1933 den Nationalsozialisten die Macht übergeben wurde, ließen die örtlichen Parteigenossen die Überreste der beiden demokratischen Kämpfer ausgraben und am Rande des Gemeindefriedhofs wieder bestatten.

Dort wurde nach dem Ende der Diktatur das Doppelgrab vom Rat der nun entstandenen Stadt Ennepetal in die Pflege übernommen, und wer eine Spur der ersten Demokratie in Deutschland sehen will, der findet noch den Grabstein mit der Inschrift:

„In unvergesslicher Erinerung.
Den Milsper Bürgern
Artur Klee, geb. 19. 8. 1899
Max Fuchs, geb. 27. 9. 1899.
In den Kämpfen bei Remscheid
am 19. März 1920 in Abwehr
der Reaktion für die Erhaltung der
Weimarer Republik für
Demokratie und Freiheit gefallen.“

Der Kapp-Putsch scheiterte übrigens, weil der Reichspräsident, die SPD-Minister in der Regierung, der Allgemein Deutsche Gewerkschaftsbund und der Deutsche Beamtenbund, später auch noch die Kommunisten zum Generalstreik aufgerufen hatten und dieser weitgehend befolgt wurde.




Das Ruhrgebiet war gegen Nazis nicht immun: Schon 1932 füllte Hitler die Westfalenhalle

Die Neonazis beunruhigen Dortmund – zu Recht. Ein kleiner historischer Abstecher zeigt nämlich, dass das Ruhrgebiet keineswegs immun war gegen die Nazis um Hitler.

Die alte Westfalenhalle (Foto: Stadtárchiv Dortmund)

Vor gut 85 Jahren, Mitte Juni 1926, kam der Anführer der Nationalsozialisten zum ersten Mal ins Ruhrgebiet. Wegen seiner persönlichen Kontakte zu den Hattinger „Parteigenossen“ begann Hitler seine Rundreise in der Stadt Hattingen. Im Lokal „Märker“ traf er sich mit den örtlichen NSDAP-Mitgliedern, und auf der Treppe vor dem Lokal entstand ein Erinnerungsfoto, auf dem zum ersten Mal auch die Mädchengruppe der NSDAP Hattingen zu sehen ist. Anschließend fuhr Hitler weiter nach Bochum, Elberfeld und Essen, wo er jeweils vor großen Versammlungen seine umjubelten Reden hielt. Die Polizei hatte darauf bestanden, dass diese Kundgebungen als „Mitgliederversammlungen“ aufgezogen wurden, was den Ortsgruppen natürlich entgegen kam. An den Eingängen mussten die Zuhörer Personalausweis, den Partei-Mitgliedsausweis und eine Einlasskarte vorzeigen, und dennoch waren die Versammlungen überfüllt. Wer noch nicht Mitglied war, wurde gleich an der Kasse aufgenommen. Allein für Bochum schätzte die Polizei die Teilnehmerzahl im Evangelischen Gemeindehaus auf etwa 1000.

Im März 1932 war Hitler wieder einmal im Ruhrgebiet, und diesmal sprach er in der Westfalenhalle vor mehr als 18.000 begeisterten Anhängern. Es ging um die Reichspräsidentenwahl, in der Hitler später gegen den Amtsinhaber unterlag.

Bei den letzten freien Reichstagswahlen am 6. November 1932 erhielt die NSDAP entgegen ihren Erwartungen „nur“ 33,1 Prozent der Stimmen. Sie verlor reichsweit 34 Mandate, allerdings lagen die Verluste der Nazis im Ruhrgebiet unter dem Reichsdurchschnitt. Es gibt also im Revier keinen Grund, von einer besonderen Resistenz auszugehen.




Entnazifizierung im Revier: „Darum war ich in der Partei“

Über die Befreiung des Ruhrgebiets vom Nationalsozialismus durch alliierte Truppen habe ich hier vor einiger Zeit einige Hintergründe dargelegt. Nun soll es um die Entnazifizierung nach 1945 gehen.

Wenn die Amerikaner und ihre Verbündeten eine Stadt oder Gemeinde befreit hatten, dann setzten sie in der Regel sofort einen unbelasteten Bürgermeister ein. Manchmal brachten sie ihn sogar mit. Gleichzeitig hatten sie genaue Vorstellungen über die geplante „Denazification“. Noch vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht hatten die Besatzungsmächte am 25. April dazu eine Direktive erlassen, die vor Ort durch provisorisch eingerichtete Behörden und den Militärkommandanten umgesetzt wurde. In der britischen Zone, zu der auch das Ruhrgebiet gehörte, arbeitete die Besatzungsmacht mit einem Skalensystem von 1 bis 5. Die Kategorien 1 und 2 landeten vor Spruchgerichten. Dazu gehörten insbesondere Angehörige der verbrecherischen NS-Organisationen wie SS, Waffen-SS und des SD. Später kam die Unterscheidung zwischen A und B hinzu, nach welchen Kriterien Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, aber auch aus „finanziellen Unternehmen“ vorzunehmen seien. Wer unter A fiel, gehörte zu den „zwangsweise zu entlassenden Personen“. Solche Listen gab es wenige Wochen nach Kriegsende auch für Journalisten.

Wie das im Revier praktisch ablief, zeigen die Erlasse des Regierungspräsidenten in Arnsberg. Am 3. Juni 1945 verlangt er, dass sich die noch vorhandenen Mitglieder der Ortsgruppenstäbe der aufgelösten NSDAP „unter Aufsicht zu versammeln“ haben. An Ort und Stelle musste dann eine Liste aller ehemaligen männlichen und weiblichen Mitglieder der NSDAP in der jeweiligen Gemeinde angefertigt werden. Die beteiligten Funktionäre mussten eine eidesstattliche Erklärung abgeben, außerdem waren die Parteimitglieder nach dem Grund ihres Eintritts in die NSDAP zu befragen. Am 15. Juni seien die Listen abzugeben, eine Abschrift erhielt der Militärkommandant, bei wahrheitswidrigen Angaben drohte „strengste Bestrafung“.

Für das damalige Amt Milspe-Voerde – heute das Gebiet der Stadt Ennepetal – sind im Stadtarchiv diese Listen der einzelnen Ortsgruppen, nach Zellen geordnet, erhalten geblieben. Daraus ergibt sich zum einen, wie stark die Bevölkerung mit Funktionären der NSDAP und ihrer Gliederungen durchsetzt war, und zum anderen, wie feige die Menschen nach der Befreiung mit ihrer persönlichen Geschichte umgingen. Als Gründe für den Parteieintritt am häufigsten genannt wurden: Zwang der Behörden, Überredung durch die eigenen Kinder, Übernahme durch den BDM, wegen der Arbeitsstelle, wegen langjähriger Erwerbslosigkeit, Überredung durch die Frauenschaftsleiterin, aus taktischen Gründen (sehr oft genannt), wegen Aufforderung durch den Ortsgruppenleiter, um den Ehemann vor Angriffen seitens der Partei zu schützen, weil man es für einen guten Zweck hielt, um eine sichere Existenz zu bekommen, aus geschäftlichen Gründen, um im Beruf zu bleiben, weil man ohne Wissen übernommen worden sei.

Seltener werden die Gründe genannt, die wahrscheinlich für die meisten ehemaligen Parteimitglieder eher zutrafen: aus politischer Dummheit (mehrfach genannt), aus Überzeugung (nur wenige Nennungen), weil man Fanatiker war oder einfach „aus Dummheit“.
Einige Befragte machten auch persönliche Angaben: Ein Gastwirt sei nur eingetreten, um eine Konzession zu bekommen, ein anderer war Blockwart und eingetreten, „um meine Familie zu schützen“, ein dritter war körperbehindert und fühlte sich gezwungen, der Partei beizutreten, ein vierter sei „nur auf Anordnung des Dienstvorgesetzten“ beigetreten. Ein Unternehmer schrieb: „Weil ich im Anfang die Sache für gut und ehrlich hielt.“

Wie man sieht, wurde in den meisten Fällen der Parteieintritt als unausweichlich dargestellt. Einige ehemalige NSDAP-Mitglieder versuchten in dieser Befragung sogar, einen angeblichen Austritt zu konstruieren. Ein Unternehmer aus Gevelsberg schrieb, er sei im August 1944 aus der Partei ausgetreten, und das habe er auch in einem Schreiben am 10. Mai 1945 dem Herrn Amtsbürgermeister mitgeteilt. Zu dem Zeitpunkt war das Ruhrgebiet jedoch bereits mehrere Wochen besetzt, und das Deutsche Reich hatte am 8. Mai bedingungslos kapituliert.

Warum sich zahlreiche Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch engagierte Christen dem verbrecherischen Regime widersetzten und dafür Verfolgung und Tod in Kauf nahmen, die meisten Bürger der Hitler-Partei jedoch mit Überzeugung nachrannten, das bleibt ein großes Rätsel. Wenn man den persönlichen Notizen im Ennepetaler Stadtarchiv glaubt, dann waren es überwiegend sehr egoistische Motive – ohne Rücksicht auf die angekündigten Opfer.

Feierstunde zur Gründung der Stadt Ennepetal 1949




Kriegsende an der Ruhr: Bei Hattingen gab es „Friendly Fire“

Immer im Mai wird in Deutschland an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. Im Ruhrgebiet erlebten die Menschen diese Befreiung, die es ja objektiv war, in den Wochen von Anfang bis zum 18. April, als die im sogenannten Ruhrkessel eingeschlossenen Soldaten der Wehrmacht kapitulierten. An einige Details dieser Militäraktionen soll hier erinnert werden.

Für die alliierten Truppen bedeutete die Stadtlandschaft Ruhrgebiet eine gefährliche Herausforderung. Deshalb näherten sie sich mit ihren Panzerverbänden von mehreren Seiten. Bereits am 3. März 1945 hatten deutsche Soldaten die Rheinbrücken in Düsseldorf gesprengt, andere Übergänge folgten. Bei Wesel gelang es britischen und amerikanischen Pioniereinheiten am 23. und 24. März, den Rhein zu überqueren. Nacheinander werden die Städte Dorsten, Dülmen und Hamm befreit. Gleichzeitig näherten sich von Süden durch das Sauerland und das Bergische Land Verbände in Richtung Ruhr. Am 2. April hatten sich bei Siegen die von Norden kommende 2. US-Division und die aus Süden kommende 3. Division getroffen, so dass der geplante Kessel großräumig geschlossen und zugezogen werden konnte.

Bis zum 11. April zogen die südlichen Truppen der Alliierten etwa der heutigen B 54 folgend über Olpe, Meinerzhagen und Kierspe Richtung Hagen, Ennepe-Ruhr und Wuppertal. Wenn es Widerstand gab, wurde mit Panzerwaffen zurückgeschossen, so zum Beispiel in Schmallenberg-Oberkirchen oder in Ennepetal-Voerde. Dort hatte eine deutsche Panzerbesatzung einen amerikanischen Panzer in Brand geschossen. Als Folge gingen zahlreiche Häuser im Dorf durch Granatfeuer in Flammen auf. Unna war am 11. April „überrollt“ worden, wie die Menschen es ausdrückten, während Dortmund von der Wehrmacht kampflos geräumt wurde.

Von Osten aus erreichten die alliierten Soldaten Bochum und die Ruhr, während von Süden amerikanische, britische und belgische Einheiten über Schwelm und Sprockhövel Richtung Hattingen vorrückten. Diese erreichten am Abend des 15. April 1945 den Fluss, doch bevor es zur Teilung des Ruhrkessels durch den Zusammenschluss der alliierten Einheiten kam, lieferten sich die befreundeten Truppen noch ein Gefecht – „Friendly Fire“ genannt, weil man sich nicht rechtzeitig erkannte. Diese und andere Details finden sich in den zunächst als geheim eingestuften Tagesberichten der 8. US-Infanterie-Division, die als Kopien im Stadtarchiv Ennepetal liegen.

Drei Tage später, am 18. April, kapitulierte die deutsche Wehrmacht im Ruhrkessel. Etwa 350.000 Offiziere und Soldaten kamen in Kriegsgefangenschaft, die meisten lagerten zeitweise in den Rheinwiesen bei Düsseldorf. Die NS-Gauführung hatte sich kurz vor der Überrollung noch einmal in Hasslinghausen versammelt, dann schlug man sich in Zivil in die Büsche.

Am 25. April trafen in Torgau an der Elbe amerikanische und sowjetische Truppen zusammen, am 8. Mai kapitulierte Deutschland bedingungslos – der Krieg war in Europa beendet, im Fernen Osten dauerte er noch bis zur Kapitulation Japans am 2. September.

Wie die Befreier mit den NS-Funktionären umgingen, soll bei anderer Gelegenheit erzählt werden.




Im deutschen Nirgendwo – Frank Castorf besorgt in Hamburg die Uraufführung von „Vaterland“ / Was wäre, wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten?

Von Bernd Berke

Hamburg. Das ist ja ein tolles Theater im Hamburger Schauspielhaus: Mitten im Stück springt ein Zuschauer in den vorderen Reihen vom Platz auf und lässt eine Papierschwalbe durch den Raum segeln. Manche spenden dafür Beifall auf offener Szene.

Andere rufen „Aufhören!“ Oder auch, ganz flehentlich: „Gnade!“ Zwischendurch immer wieder demonstrativ lautes Trappeln und Türenschlagen derer, die vorzeitig gehen.

Die teilweise infantilen Regungen im Parkett entsprechen nicht dem Anlass. Auf dem Spielplan steht die Uraufführung des Stückes „Vaterland“ nach dem 1992 erschienenen Roman des britischen Journalisten Robert Harris. Regie bei der hanseatisch-preußischen Koproduktion führt Berlins Volksbühnen-Chef Frank Castorf, berüchtigt als Stücke-Zertrümmerer. Diesmal hatte er – mangels gefestigter Substanz – nichts zu zertrümmern, sondern nur zu collagieren. Dabei scheint er mittendrin aufgehört zu haben, so unfertig wirkt das Resultat dieser fast vierstündigen Zumutung.

Kennedy will Hitler besuchen

Robert Harris hat sich vorgestellt, wie es wäre, wenn der NS-Staat den Krieg gewonnen hätte und sich von Flandern bis zum Ural erstreckte. Schaurige Vision fürs Jahr 1964: Alle monströsen Architekturprojekte des Albert Speer sind verwirklicht, Adolf Hitler herrscht über ganz Europa. Sein 75. Geburtstag steht ebenso bevor wie ein Staatsbesuch des US-Präsidenten John F. Kennedy, der – wie feinfühlig – „die Frage der Menschenrechte anschneiden“ will…

Zudem richtet Harris eine Kriminalgeschichte an: Xaver März (Stephan Bissmeier), Kripofahnder in SS-Diensten, der aber mehr und mehr zum Dissidenten wird, will eine mysteriöse Mordserie aufklären. Wie sich herausstellt, fallen ihr all jene zum Opfer, die zu viel von der (längst verdrängten) „Endlösung der Judenfrage“ wussten, also vom Holocaust. Roman und Stück jonglieren mit dem Schwindel erregenden Gedanken, dass die realen 50er und 60er Jahre nicht weit von solchen Phantasien entfernt waren. Ex-Nazis saßen wieder auf wichtigen Posten, Deutschland errang erneut wirtschaftliche Macht.

Die Szenerie (Bühnenbild: Peter Schubert) bleibt granitstarr, setzt sich aber aus disparaten Elementen zusammen. Links ein schemenhaft sichtbarer Raum, wohl eine Flammenhölle. Dorthin führen Rampen. Zentral flimmern drei Lichtreihen wie auf einer Flug-Landebahn. Ein niedriger Torbogen öffnet sich zur Hinterbühne, rechts befinden sich lauter Türen, als erstrecke sich dort eine kafkaeske Behörde. Der Boden ist mit braunem Granulat bedeckt. All das wirkt wie zufällig addiert und mutwillig verstreut. Kein Ort, nirgends. Wie denn auch – in einer Welt, in der Hitler und die Beatles koexistieren?

Mit Regie-Einfällen und Spielweisen verhält es sich ähnlich. Unentwegt wechseln Tonlagen und Stile ohne ersichtlichen Grund. Zuweilen sehen wir kindische Sandkastenspiele: Figuren hopsen in Fässern oder Kartons über die Bühne. Ri-Ra-Rappelkiste!

Mal schnoddrig, mal hysterisch

Derart beflissen klingt oft der Tonfall des Kommissars März, der naiv und nervös durchs Drama taumelt, dass man sich in einen biederen Wallace-Krimi der 60er versetzt fühlt. Andererseits hält Castorf die Darsteller auch zum schnoddrigen Gestus, zu hysterischen Anfällen oder aggressiven Aufwallungen an – nach Lust und Laune. Vieles gilt als lachtauglich in diesen Comedy-süchtigen Zeiten: Ein Wort wie „Vermissten-Liste“ wird anfangs ausgiebig zerlegt unermüdlich wiederholt. Gewisse Moden werden also, wenn auch lustlos, bedient.

Hin und wieder gelingen allerdings wahrhaft verstörende Sequenzen. Vor allem eine halbstündige Passage fräst sich ins Hirn: Plötzlich geht im Zuschauerraum das Licht an, und es werden originale Beratungs-Protokolle zur Drangsalierung und späteren Vernichtung der Juden mit verteilten Rollen verlesen. Unerträglich schon das Beamtendeutsch, mit dem die materiellen Folgen der Pogrome versicherungstechnisch „geregelt“ wurden Hier konfrontiert uns Castorf mit einer Absurdität, die man schlichtweg nicht aushält.

Buhruf-Orkane für die Regie, unwesentlich gemildert durch lauen Beifall für die Dar- steller. Die Zuschauer, die durchgehalten haben, sind zugleich erschöpft und aufgebracht. Kein gutes Klima zum Nachdenken.

Termine: Hamburg (Schauspielhaus): 2., 4. Mai (Karten: 040/24 87 13) / Berlin (Volksbühne): 27. April.




Vor 50 Jahren: Nazis stellten die Moderne an den Pranger / Zur Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937

Von Bernd Berke

Wieder einer jener schandbaren Gedenktage, von denen wir Deutschen aus eigener Schuld so viele haben: Am 19. Juli 937, vor genau 50 Jahren, wurde in den Münchner Hofgartenarkaden die Hetz-Ausstellung gegen die damals so genannte „Entartete Kunst“ eroffnet. Mit dieser Veranstaltung, die 730 Werke von 112 Kunstlern umfaßte, denunzierten die Nazis die gesamte Moderne der Kunst. Die Namen der damals an den Pranger gestellten Künstler lesen sich heute als ,,Ehrenliste“: Barlach, Beckmann, Chagall, Corinth, Dix, Ernst, Feininger, Grosz, Kandinsky, Kirchner, Kokoschka, Lehmbruck, Macke, Marc, Nolde, Picasso seien nur stellvertretend genannt.

Die Auswahl (sprich: entschädigungslose Beschlagnahme in Museen und bei Privatsammlern) besorge – im Auftrag des früh gescheiterten Möchtegern-Malers Hitler – der damalige Präsident der .„Reichskammer der Bildenden Künste“, Adolf (,,Meister des Schamhaars“) Ziegler, der sich vor allem mit erbarmungslos kitschigen Aktbildern hervorgetan hatte. Von solcher Art waren denn auch die Bilder, die – zeitlich parallel – im Münchner ,,Haus der deutschen Kunst“ den mißliebigen ,,Modernen“ als Beispiel vorgehalten wurden.

Rund zwei Millionen sahen die Wanderausstellung in München, Berlin, Leipzig, Düsseldorf und Frankfurt. Die NS-Machthaber karrten selbstverstandlich ganze Schulklassen oder BDM-Gruppen an die Ausstellungsorte. Allerdings: Nicht alle Besucher verspürten jenen propagandistisch geschickt aufgestachelten Haß auf jegliches Unbekannte und Verstörende, der sich manchmal auch darin entlud, daß Bilder in der Ausstellung bespuckt wurden. Gar mancher kam jedoch aus (heimlicher) Liebe zu diesen Kunstwerken und nutzte damit die fiür lange Zeitletzte Gelegenheit, sie in Deutschland öffentlich zu sehen.

Zunachst hatte es noch Tendenzen gegeben, den Expressionismus als ,,nordische Kunst“ für NS-Zwecke zu vereinnahmen. Propagandaminister Joseph Goebbels besaß privat einige Bilder yon Emil Nolde, den auch seine Parteimitgliedschaft hernach nicht vor Aussonderung bewahrte. Es setzte sich die breitere Strömung durch: die Kampfansage an alle Kunstrichtungen, die nicht einem verlogenen Klassizismus huldigten, mithin an die gesamte Moderne, besonders nachdrücklich aber an offen sozialkritische Kunst wie die eines Otto Dix und eines George Grosz.

Seele des Kleinbürgers zum Kochen gebracht

Nach der infamen Wanderschau, die die Kunstwerke bewußt lieblos und möglichst nachteilhaft prasentierte, sie aber sicherheitshalber noch mit höhnischen Kommentaren versah, wurden zahllose Werke verfemter Kunstler am 30. Juni 1939 bei einer Auktion im schweizerischen Luzern zu Spottpreisen verschleudert; ein Großteil davon ist deshalb heute in Großbritannien oder den USA zu finden. Bereits im Marz 1939 hatte man auf dem Hof der Berliner Hauptfeuerwache noch kürzeren ProzeB gemacht: Tausende von nicht genehmen Kunstwerken wurden dort verbrannt.

Verfolgung und Vernichtung aller ernstzunehmenden Kunst, mit Ausstellungs- oder gar Malverbot einsetzende Drangsalierung von Künstlern bis hin zur Ermordung, kamen natürlich nicht aus heiterem Himmel. Das Regime nutzte die Entfremdung breiter Schichten von der modernen Kunst, es nutzte tiefsitzende Vorurteile, die schon in der wilhelminischen Kaiserzeit gepflanzt warden waren. Die Seele manches zu kurz gekommenen Kleinbürgers mußte nur noch zum Kochen gebracht werden – und darauf verstand man sich im .„Dritten Reich“. NS-Maßnahmen gegen Künstler begannen auch nicht etwa erst 1937, sondern schon 1933 – in Reden Hitlers, die bereits sehr deutliche Drohungen enthielten, aber auch ganz konkret, z. B. mit der Schließung des ,,Bauhauses“ schon im Jahr der „Machtergreifung“.

Wozu diese Erinnerungen? Wir sind doch weit weg von jenen Zeiten, haben zahllose neue Museen gebaut, die damals verfemten Bilder erzielen Höchstpreise und die großen Ausstellungen sind überlaufen… Jedoch: Hat es in unserer Republik etwa keine Ausfälle und Ausschreitungen gegen Kunst gegeben (Beuys, Serra, Vostell usw.)? Und: Wer versichert uns, daß die jüngst erhobene Forderung, .„endlich wieder“ Nazi-Kunst in unseren Museen zu zeigen, nicht eines Tages aggressiver, mit gefährlicheren Argumenten und emflußreicheren Fürsprechern vorgebracht wird?




Makulatur für die Nazi-Flammen – In Dortmund verlief die Bücherverbrennung 1933 nicht reibungslos

Von Bernd Berke

Dortmund. In den Universitätsstädten hatte man die Sache am 10. Mai 1933 „erledigt“. Pg. (Parteigenosse) Woelbing sollte die Dinge in Dortmund vorantreiben. Seit März war Woelbing Leiter der örtlichen „Bibliotheks-Prüfungskommission“.

Mit Briefkopf der NSDAP-Gauleitung Bochum lud der Studienrat den Dortmunder Magistrat zu einem besonderen Schauspiel ein. Das Spektakel, so versicherte der Schreiber am 29. Mai 1933 ordnungshalber, werde „pünktlich um 21 Uhr“ beginnen. Am gleichen Tag erging in der Dortmunder „Tremonia“ eine an Lehrer und Erzieher gerichtete „dringende Aufforderung, dieser symbolischen Handlung beizuwohnen“.

Am Abend des 30. Mai war es soweit: Über 5000 Bücher, die überwiegend aus dem sozialdemokratischen Volkshaus in der Kampstraße stammten, wurden auf dem Dortmunder Hansaplatz verbrannt. Beteiligt: SA, SS, Hitlerjugend, BDM und NS-Lehrerbund sowie angeblich Tausende von Zuschauern. Die „Westfälische Landeszeitung/Rote Erde“ (Titel des gleichgeschalteten Ex-„Generalanzeigers“) jubelte am 31. Mai weisungsgemäß: „Undeutscher Geist ging in Flammen auf“, zitierte aus den Festreden und druckte einen von den Schülern des Bismarck-Realgymnasiums im Flammenschein vorgetragenen Sprechchor aus der Feder des Studienreferendars Kaiser ab, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: „Wir aber wollen sie töten“, raimte Kaiser auf „falsche Propheten“.

„Undeutscher Geist“, „falsche Propheten“ – das waren für die Nazis u.a. Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Sigmund Freud, Erich Kästner, Heinrich Mann, Kurt Tucholsky und zahllose weitere Autoren. Sämtliche Namen, die in der Literatur Rang hatten, tauchten auf den „Säuberungslisten“ auf.

Obgleich sie so genau zu wissen glaubten, was „undeutsche“, „marxistische“, „zersetzende“oder „Asphaltliteratur“ sei, verfingen sich die Faschisten anfangs in heillosem Chaos: Nicht weniger als 40 Staats- und Parteistellen sprachen bis 1934 über 4100 Buchverbote aus. Was die eine Stelle noch durchgehen ließ, setzte die andere schon auf den Index.

Dennoch waren die als „Bücherverbrennung“ bekanntgewordenen Barbareien straff organisiert. Nichts blieb hier dem Zufall überlassen. Der Zeitplan der deutschen Studentenschaften, die nach Winken aus dem Berliner Propaganda-Ministerium in allen Universitätsstädten für die „Durchfiihrung“ sorgten, war penibel: am 12. April hatte die Veröffentlichungskampagne zu beginnen, ab 26. April waren die für das Feuer bestimmten Bücher „einzusammeln“ (was unter Mithilfe oder Duldung der Polizeikräfte geschah), am 10. Mai sollte das Feuer lodern, und zwar nach reichseinheitlich vorgeschriebenem Ritual – mit Hetzreden, Absingen des Horst Wessel-Liedes und dem pathetisch formelhaften Spruch: „Ich übergebe der Flamme die Schriften von … “

In Dortmund hatten es die braunen Machthaber nicht ganz so einfach. Neben einer starken sozialdemokratischen Tradition gab es einen weiteren hemmenden Faktor: Dortmund hatte keine Hochschule mit rechtsgewirktem Studentenbund, sondern lediglich die Pädagogische Akademie – und die galt als links.

Auch die „Säuberung“ der Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek erfolgte nicht reibungslos im Sinne der Nazis. Heinrich Schulz, damals Leiter der Volksbüchereien, legte zwar am 19. Mai 1933 „ergebenst in neun Durchschlägen“ eine schwarze Liste vor und bat um parteiamtliche Bestätigung, holte dann aber hauptsächlich Makulatur aus den Regalen, die ohnehin ausgelagert werden sollte. Die Brandstifter vom 30. Mai merkten nichts.

Die NS-Bücherverbrennung war kein isoliertes Ereignis. Sie reiht sich – als besonders inhumane Tat – in die lange Geschichte der Zensurakte ein. Heinrich Heine (auch seine Bücher wurden 1933 verbrannt) schrieb schon im 19. Jahrhundert prophetisch: „Das war ein Vorspiel nur; dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“