Wenn Molly Bloom Konsonanten knattert: Das „Now!“-Festival schmückte sich mit einer Uraufführung von Rebecca Saunders

Das 1990 gegründete Ensemble Musikfabrik zählt zu den führenden Klangkörpern der zeitgenössischen Musik (Foto: Katharina Dubno)

Prozesse des Übergangs rückte das am Wochenende zu Ende gegangene Essener Festival „Now!“ für Neue Musik in den Fokus. Exemplarisch spiegelte sich das diesjährige Motto „Transit“ in den monumentalen Gurreliedern von Arnold Schönberg: Ein Schlüsselwerk an der Nahtstelle zur Moderne, das aufgrund der verlangten Riesen-Besetzung mit mehr als 400 Interpreten nur selten zur Aufführung gelangt. In der Philharmonie Essen war es in der reduzierten Fassung von Erwin Stein zu erleben, gewissermaßen in einer Taschenversion mit „nur“ rund 100 Musikern und 200 Choristen.

Rebecca Saunders, die im Juni 2019 den Ernst von Siemens Musikpreis entgegen nahm, zählt zu den führenden Komponistinnen unserer Zeit (Foto: Astrid Ackemann)

Von Übergängen und von der Faszination an der Zusammensetzung von Klängen sprach die Komponistin Rebecca Saunders in einer öffentlichen Einführung vor Beginn des 11. Festival-Konzerts. Etwa 100 Jahre nach den Gurreliedern komponierte die in Berlin lebende Britin ein Raumklang-Stück nach dem berühmten Monolog der Molly Bloom aus dem Roman „Ulysses“ von James Joyce. Einen Teil daraus mit dem Titel „Nether“ hat sie jetzt überarbeitet und verlängert. Saunders, im Juni 2019 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrt, beschreibt ihr Werk als ein Lauschen auf die Stimmen im Kopf, als Tiefenbohrung in eine verborgene innere Welt.

Kontinuierlich gesteigerte Erregung

Wie ausdrucksstark sie dabei nicht nur mit den Mitteln der Sprache, sondern auch mit den verschiedenen Klangfarben der Instrumente arbeitet, demonstrierte das in Köln ansässige Ensemble Musikfabrik beim „Now!“-Festival. Von einem mystisch fernen Pianissimo-Beginn ausgehend, steigern die fabelhaften Musikerinnen und Musiker die Erregung kontinuierlich. Dabei wandern die Motive so raffiniert durch die verschiedenen Stimmen, dass selbst das aufmerksame Ohr zuweilen zweifelt, welches Instrument gerade welchen Klang produziert. Wie Janet Fraser (Sopran) den Text der Molly Bloom wispert und haucht, ihn zuweilen singt, dann hinter vorgehaltener Hand erstickt murmelt oder in einem wahren Konsonanten-Gewitter heraus knattert, ist ohnehin ein Ereignis.

Dirigier-Spaß der demokratischen Art

Eine konzertante Aufführung von Stephan Winklers kleinem Musiktheater „Schweres tragend“ für zwei Sänger, fünf Instrumentalisten und Elektronik hatte den Abend eröffnet. Die Geschichte von Gisela aus Schwabing, einer Institution der Münchner Nummernkabarett-Szene, zerfällt dabei in zwei Teile. Im Opernteil findet zwischen Sachika Ito (Sopran) und Daniel Gloger (Countertenor) szenische Interaktion statt. Indessen rutschen die Sänger völlig in den Hintergrund, sobald Thomas Hupfer als „Erzähler“ auftritt. Die Lippen zur Stimme von Stephan Winklers Freund Max Goldt bewegend, die vom Zuspiel-Band kommt, verleiht er der Geschichte einen unerwartet nüchternen Anstrich.

Ein nachgerade unterhaltsames Ende findet der Konzertabend mit dem Stück „Intermezzi“ des griechisch-französischen Komponisten Georges Aperghis. Das liegt nicht nur an den mit Doppeltrichtern ausgestatteten Instrumenten der Blechbläser, die ungewöhnliche Spaltklänge erzeugen, sondern auch an der kommunikativen Situation der im Kreis aufgestellten Musikerinnen und Musiker.

Die beweisen reihum ihre Qualitäten, die auch in das Feld der Komik hinein reichen. Da greift die Flötistin Helen Bledsoe plötzlich zur Gitarre und lispelt dazu mit Kleinmädchen-Stimme. Florentin Ginot unterstreicht sein wildes Kontrabass-Solo durch lautes Hecheln und Keuchen. An dem Klarinettisten Carl Rosman, der in sein Instrument hinein brabbelt wie ein Weltmeister, ist ein veritabler Stimmkünstler verloren gegangen. Mit dem Dirigat wechseln sich die Ensemblemitglieder sowieso ab. Anders als bei Wolfgang Amadeus Mozart ist dieser musikalische Spaß offenbar demokratischer Natur.




Hahne + Horn heute in Herne: Tanz und Neue Musik in den Flottmannhallen

Die Flottmannhallen in Herne bieten heute Abend (Daten siehe unten) ein außergewöhnliches Musik/Tanz-Ereignis an. „Rotlicht“ heißt das Programm der Tänzerin/Choreographin Henrietta Horn und der Komponistin Dorothée Hahne. Was uns dort erwartet ist nicht nur getanzte Neue Musik, wir erleben einen vielschichtigen Dialog, der ebenso die Sinne anspricht wie zum Nachdenken anregt.

Als sei der Tanzboden mit Mikrofonen unterminiert, werden in „Schrittweise“ die Bewegungen der Tänzerin zum Rohmaterial des Klangs. Wie überhaupt bei Dorothée Hahne die Live-Elektronik weniger ein Generator von Tönen als ein verwandelnder Reflektor von Vorgefundenem ist. Das klingt manchmal gruselig, wirkt verstörend, oder es kommt witzig daher.

„Portabel x“ spielt mit der „Tür“ und dem, was tragbar und was nicht mehr tragbar ist. Die Stimmen quietschender, knarzender, knarrender Türen werden gedehnt, gestreckt, gepitcht. Ölen wäre ruinös.

„Kanon“ ist unter dem Aspekt althergebrachter Harmonien vielleicht das „schönste“ Stück des Abends. Dorothée Hahne singt ein Gedicht von Christine Lavant aus „Spindel im Mond“ und zeigt dabei die Nähe von Loop und Kanon.

Drei Intermezzi führen kommunikative Standardsituationen mit ungewissem Ausgang vor. Annäherung oder Befremdung, Monolog und einfühlsames Miteinander.

Akustisch und optisch abwechslungsreich gestaltet sich das Programm, das am 3. Mai dieses Jahres im Pina Bausch Theater an der Folkwang Universität der Künste in Essen uraufgeführt wurde und heute Abend in Herne zu erleben ist. Jazz-Atmen, Zischen des Horns und Schmatzen am Mundstück, ein Alphorn wird geknutscht und gerieben; faunisch bläst Hahne das Schneckenhorn, schelmisch das Abflussrohr aus dem Baumarkt. Die verwitternden Eisenschalen von Blindgängerbomben, die nicht detonierten, klingen nun als Glocken. Die Musikerin wirft von Hand Patronenhülsen, Abfall von Projektilen, in einen umgekehrten Stahlhelm, und daneben stehen Eierbecher, die das Ganze ironisieren. Ein Ohren- und Augenspaß, der zugleich zu denken gibt.

Die neunte Nummer, „es geht, was kommt …“, schließt die Klammer, die eine kurze Stunde zuvor mit „es kommt, was geht …“ geöffnet wurde. Warum der Abend mit den neun Programmpunkten aber „Rotlicht“ heißt? Ein rotes Lämpchen „On Air“ aus einem Tonaufnahmestudio, das manchmal in der sparsamen Bühnenausstattung leuchtet, mag einen Hinweis geben.

Dorothée Hahne – Musik
Henrietta Horn – Tanz
am Freitag, 29. Juni 2012, 20:00 Uhr,
Flottmannhallen Herne
Straße des Bohrhammers 5
44625 Herne
Spieldauer: 60 Minuten

 

Die Komponistin Dorothée Hahne




Ringen um die Wittener Tage für neue Kammermusik nur vorerst beendet

Auch das "Calefax reed quintet" gastiert in Witten. Foto: WDR

Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ sind gesichert. Das liest sich eigentlich als gute Nachricht. Doch dahinter verbirgt sich leider die Tatsache, dass eines der traditionsreichsten, renommiertesten Festivals in Deutschland auf der Kippe stand. Und dass es an der Finanzierung hing – aber das ist ja für Kulturschaffende ein täglich elend Brot.

Die Kammermusik-Tage, seit 1969 gemeinsam vom WDR und der Stadt Witten veranstaltet, reichen bis ins Jahr 1936 zurück, damals von dem Komponisten Robert Ruthenfranz ins Leben gerufen. Sie entwickelten sich für die tonschöpfende Avantgarde zum wichtigen Uraufführungsforum. Und nicht zuletzt: Die Erfüllung von Kompositionsaufträgen brachte Geld.

Seit langer Zeit also gibt es Konzerte, Klanginstallationen (teils in freier Natur) sowie Gespräche, bisweilen auch Filme. Längst genießen die „Tage“ internationalen Ruf. Und die Porträtkonzerte, seit 1978 im Programm, widmeten sich zunächst vor allem dem Werk, das hinter dem Eisernen Vorhang entstand.

Witten war zudem stets Podium für junge Spezialensembles, aber auch für berühmte Formationen wie etwa das Arditti String Quartet. Schon bald stand das Festival im Ruf, das Donaueschingen des Ruhrgebiets zu sein, anspielend auf das Nachkriegsmekka der Neuen Musik. Selbst das Goethe-Institut brach einst eine Lanze für dieses wichtige Stück deutschen Kulturguts: ohne die „Tage“ sei manche Entwicklung zeitgenössischen Komponierens, etwa die Renaissance des Streichquartetts, kaum möglich gewesen.

Dies alles kostet selbstredend Geld. Der WDR übernahm dabei den größten Batzen, zuletzt etwa 200 000 Euro. Die Stadt Witten und das Land gaben zusammen (Stand 2010) gut 75 000 Euro – deren Anteil sollte in diesem Jahr etwas niedriger sein. Doch die hochverschuldete Kommune hat bisher keinen genehmigten Sparhaushalt, darf also ihren Betrag nicht zur Verfügung stellen. Dies wiederum, eine Auswirkung des sogenannten Stärkungspaktes, lässt die Geldbörse des Landes zugeschweißt. Die Frage, beklommen gestellt, sei erlaubt, inwieweit statt von Stärkung besser von Erpressung die Rede sein sollte. Nun, der Trend, die Kultur den einen oder anderen Kopf kürzer zu machen, hat ja im Moment Konjunktur. So widerlich und kurzsichtig dies auch ist.

Deshalb blieb nach langen Verhandlungen dem WDR nichts anderes übrig, als annähernd die gesamten Kosten für die Kammermusiktage zu übernehmen. Witten selbst muss nur noch die Räumlichkeiten und das Personal zur Verfügung stellen. Ein Scheitern dieser Gespräche wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Nicht nur wegen der Ausfallhonorare für Komponisten und Interpreten, sondern vor allem wegen der (internationalen) Blamage.

Die Not ist indes nur für dieses Jahr beseitigt. Und so wird das Festival vom 27. bis 29. April wie geplant stattfinden. Mit 23 Uraufführungen und dem Porträt des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen. Danach sollen alle Beteiligten über die Zukunft der „Tage“ beraten. Dass es soweit kommen musste, ist schlimm genug.