Die Evolution frisst ihre Kinder – Nicky Silvers Horror-Comedy „Fette Männer im Rock“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Die blonde Tussi im Kostüm beklagt sich, als wär’s mit der Pauschalreise nicht so recht gelaufen: Nein, ach nein, Strände habe sie noch nie leiden können. Der ganze Sand in Strümpfen und Schuhen…

Diese Phyllis (Harriet Kracht) und ihr debiler, anfangs immerzu stotternder Sohn Bishop (Sebastian von Koch) sind als einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes auf einer Insel gestrandet. Als Bishop seinen ersten Hunger mit Muttis Lippenstift gestillt hat, darf er die verblichenen Fluggäste tranchieren. Mit dem Unterarm einer Nonne fängt’s an, hernach ist es auch schon mal ein Baby, das er kannibalisch vertilgt und dessen Hirnschale er mit dem Trinkhalm ausschlürft. Hier fragt man sich denn doch beklommen, wohin sich das Theater treiben lässt.

Nicky Silvers Farce „Fette Männer im Rock“ erspart einem aber auch nichts. In der Dortmunder Studio-Aufführung (Regie: Hermann Schmidt-Rahmer) erleben wir eine schrille Horror-Comedy. Immer wieder gleiten jedoch Schatten und Irrlichter des Traumes über die Szenerie, so dass dies alles als monströse Kopfgeburt kenntlich wird, womöglich ausgebrütet in der Phantasie eines früh vom Vater vernachlässigten Kindes. Mal überlappen sich die Zeitebenen und Figuren, mal gleiten sie mit Spiegeleffekten aneinander vorbei – just wie im (Alb)-Traum.

Die Personen sind nicht mehr fest umrissen, sind nur noch Wiedergänger ihrer selbst, Attacke und Selbstaufgabe fließen ineinander. Auch bodenloser Unernst und jähes Erschrecken changieren hier, zuweilen bewusst bonbonkitschig verknüpft.

Jener besagte Vater (Sébastien Jacobi), blasiert-cooler Kinoregisseur, tut’s unterdessen mit einem durchgeknallten Pornofilm-Starlet (Sandra von Kiedrowski), das zwischen den paar verbliebenen Optionen des Lebens zuckt, als seien es Stromstöße. Frau und Sohn werden das Flugunglück ja wohl nicht überlebt haben, oder? Doch!

Nach Jahren kehren die zwei zurück, nun flackert das Urzeit-Lagerfeuer mitten im Wohnzimmer. Sohn Bishop, längst verwilderter „Wolfsjunge“ und durch nichts mehr aufzuhalten, besorgt der Mutter haufenweise die ersehnten Schuhe – von Leuten, die sie „nicht freiwillig hergeben“. Sodann schlachtet er den Vater, dessen schwangere Gespielin und wohl auch die inzestuös begehrte Mutter ab. Das hysterische Nach-Spiel in einer Psychiatrie lässt alles vollends kollabieren. Wer Arzt ist und wer Patient, kann man allenfalls noch daran erkennen, ob der Kittel vorn oder hinten zugeknöpft wird. Am Ende ertönt nur noch das Geschrei der Affen…

Umkehrung der Evolution also. Unterm dünnen Anstrich der Zivilisation bricht die rohe Kreatur hervor – wie für alle restlichen Zeiten. Wir müssen keine Kriegsgebiete nennen, um derlei Befürchtungen in der Realität zu verankern. Und wir müssen keine bestimmten Medien oder Geiselnahme-Talkshows zitieren, um zu ahnen, dass Grausamkeiten konsumierbar zugerichtet werden. Silvers Stück ist gar nicht so haltlos, wie es zunächst scheinen mag.

Die Inszenierung wandelt gelegentlich auf dem Grat, letztlich ödes Nur-noch-Chaos zu produzieren. Doch das Darsteller-Quartett, allen voran Sebastian von Koch als Mutant des abgründig Bösen, spielt zuweilen so schockierend angriffslustig, dass man die Stätte der Kultur am Ende keineswegs nur amüsiert, sondern angefüllt mit wirren Ängsten und Aggressionen verlassen mag. Ob solche Gefühle wohl fruchten?

Termine: 22., 30. September. Karten: 0231/502 72 22.




Schaubude des Unglücks – Nicky Silvers „Zwillingsbrut“ als deutsche Erstaufführung in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Was kommt heraus, wenn man bitterernste psychologische Fälle in die Form einer Seifenoper gießt? Nun, zum Beispiel so etwas wie Nicky Silvers US-Stück „Zwillingsbrut“, das jetzt als deutsche Erstaufführung (Regie: Harald Demmer) im Dortmunder Schauspielstudio gegeben wird. Das populäre Genre wird boshaft-lustvoll bedient und zugleich entlarvt.

Bernadette ist eine hysterische Schreckschraube, quasselsüchtig zum Steinerweichen, als nahezu niedliche Neurotikerin gespielt von Wiebke Mauss. Ihr Zwillingsbruder Sebastian (wie von Woody Allen erdacht: Michael Fuchs) betritt als erfolgloser und hochverschuldeter Ostküsten-Intellektueller die bonbonbunte Bühne der Beschädigten.

Bei Mutters Begräbnis, der ein von der Brause katapultierter Duschkopf den Garaus gemacht hat, begegnen sich die Geschwister. Im nervösen Pingpong der Fix-und-Fertig-Dialoge à la TV-Comedy zeigt sich hartnäckiger Hang zum Unglück. Bloß kein beschauliches Leben führen, es wäre ja wohl nicht zum Aushalten, oder?

Ausbruch zwecklos: Bernadettes Mann Kip (Thomas Gumpert), der nicht mehr Zahnarzt, sondern Maler sein und nackend-naturnah in Afrika leben will, ist eine hüftsteife Lachnummer. Für Sebastian hat der ganze Wahn beim Kindergeburtstag mit dem tristen Frohsinnsterror seines Miet-Clowns begonnen; damals, als sich Bernadette die Haare anzündete, weil sie den sengenden Geruch mochte. Jetzt, seit dem elf Jahre zurückliegenden Aids-Tod seines Freundes Simon, hat der schwule Sebastian keinen Menschen mehr richtig berührt. Nur der Briefwechsel mit einem Mörder im Knast (Christoph Schlemmer) hält sein Interesse am Leben halbwegs wach. Lockung des Abgrunds.

Verstorbene Mutter erscheint in Engelsgestalt

Sodann blitzen die Messer: Sebastians erbärmlich einsame Psychologin (Ines Burkhardt) sticht sich in einem Anfall von Gottsuchertum die Augen aus und vegetiert als zerlumpte Büßerin dahin. Ein geldgieriger Stricher schneidet Sebastian beim Oralsex beinahe das Kostbarste ab. Prompt erscheint die verstorbene Mutter in Engelsgestalt dem verwundeten Sohn und enthüllt: Sebastian ist bei einer Vergewaltigung gezeugt worden. Grelle Effekte in dichter Staffelung.

Ein Panoptikum von Schuld, Sühne und Selbstverstümmelung. Schaubude monströsen Unglücks, Verzweiflungs-Comic. Ganz recht also, wenn man das rasierklingenscharfe Stück in Dortmund auch mit den Mitteln der Schmiere ins Schrille schraubt. Beachtliche Schauspieler, die dies vollbringen, ohne daß es peinlich wird.

Und dann gibt es noch jene Traumspiel-Einschübe, in denen die Phantome eines besseren Daseins herumgeistern. Wenn sich Bernadette am Ende von ihrem Mann lossagt, um mit ihrem Baby und Sebastian eine Dreifaltigkeit zu bilden, kann man sich dies freilich nur als minimalen Glücks-Rest vorstellen: als endgültige Flucht in die Regression, in den seelischen Embryonalzustand. Solches Weh erfaßt keine handelsübliche Seifenoper.

Termine: 30. Nov., 1., 5. und 6. Dez., Karten: 0231/16 30 41.