Die Hoffnung auf Befreiung in der Geschichte: Luigi Nonos „Intolleranza“ als Stream aus Wuppertal

Die Tristesse von Containerbehausungen moderner Arbeitssklaven. Szene aus „Intolleranza“ in Wuppertal. (Foto: Bettina Stöß)

Luigi Nonos Musiktheater ist eine Ikone der Moderne. Immer wenn eines der Werke aufgeführt wird, umweht ein Hauch säkularen Weihrauchs die Stätte, fühlen sich Musiker und Publikum besonders herausgefordert. Eher bewundert als geliebt, stellen „Al gran sole carico d’amore (1975) und sein Erstling „Intolleranza 1960“ (1961) immense Ansprüche an die Ausführenden.

In Wuppertal wurden sie überzeugend eingelöst: Aus Anlass des 200. Geburtstags von Friedrich Engels war die Inszenierung von „Intolleranza“ (mit dem aktualisierenden Zusatz „2021“) dazu gedacht, an das Schaffen des in Barmen geborenen Urvaters des Marxismus zu erinnern. Tatsächlich ist Nonos Protagonist, ein Gastarbeiter in einer schmutzigen Mine eines fremden Landes, ein Prototyp eines Menschen, der seiner selbst als Subjekt der Geschichte bewusst wird und den Kampf mit den ökonomischen Verhältnissen aufnimmt. Auch Nonos Begriff von der Geschichte, in der sich ein Befreiungsprozess vollzieht, lässt sich auf philosophische Vorstellungen Engels‘ zurückführen.

Dass die Premiere von „Intolleranza 2021“ im Wuppertaler Opernhaus erst ein halbes Jahr nach Engels‘ Geburtstag stattfindet, ist der Corona-Pandemie geschuldet. Es bleibt – aus diesem Grund – auch bei einer einzigen Live-Vorstellung für die Presse. Das Publikum bekommt die „szenische Handlung“ ab 18. Juni als Stream zu sehen. Was in diesem Fall bedauerlich ist, weil Johannes Harneit als musikalischer Leiter die sonst kaum gewährte Chance nutzt, nach Nonos Vorstellungen einen mehrdimensionalen Raumklang zu entwickeln, der im Stream wohl kaum akustisch nachvollziehbar wird.

Aus der Not der Pandemie macht Wuppertal eine Tugend: Das Publikum – in diesem Fall die Musikjournalisten – sitzen im Parkett, haben vor sich auf der Hinterbühne, zehn Meter hoch gestaffelt, 12 Schlagzeuger und 12 Blechbläser, im Graben Streicher, Celesta und Harfen, auf den Rängen 12 Holzbläser und die 24 Sängerinnen und Sänger des Wuppertaler Opernchores, verstärkt durch Einspielungen des Chorwerks Ruhr. Harneit dirigiert im Graben und wird durch einen zweiten Dirigenten, Stefan Schreiber, hinter der Bühne unterstützt.

Das Ergebnis ist eine musikalische Wucht: breit gesplitteter Klang, extreme Transparenz, Reibungen statt Vermischung. Harneits präzise Führung der Ensembles und seine minutiöse Klangkalkulation im Raum führen auch zu verdichteten und verschmelzenden Klängen, zu sphärischen Interferenzen und schwebenden Tongespinsten. Harneit entdeckt in Nonos weiterentwickelter Zwölftonmusik nicht nur die scharf geschnittenen Schläge, die schmerzhaften Dissonanzen, die Spannungen zwischen extremen Registerfarben von Instrumenten, sondern auch die Stille, die Finesse, den von den Solisten des Sinfonieorchesters Wuppertal wohlgeformten Klang.

Mit der Bezeichnung „azione scenica“ (szenische Handlung) setzt sich Nono bewusst von der „Oper“ ab. „Intolleranza“ erzählt nur skizzenhaft eine äußere Handlung, reiht eher innere Prozesse aneinander und verknüpft diese mit politischen Statements, die vor sechzig Jahren als so brisant angesehen wurden, dass der Schott-Verlag in der deutschen Übersetzung auf Entschärfung drängte. Schon Peter Konwitschny hat in seiner Berliner Inszenierung 2001 darauf hingewirkt, die Geschichte klar und unmissverständlich zu erzählen. Dem ist auch Dietrich Hilsdorf in Wuppertal gefolgt.

Dietrich Hilsdorf aktualisiert die 60 Jahre alte szenische Handlung: Anspielung auf den Fleischskandal während der Corona-Pandemie. (Foto: Bettina Stöß)

Dieter Richter stellt die Bühne voll mit einem unwirtlichen Wohncontainer-Aufbau, eine schäbig eingerichtete Behausung für den Arbeitsmigranten. Ein Datum wird eingeblendet, der 11. Januar 2021, der Tag, an dem die zweite Verschärfung des Lockdowns bekanntgegeben wurde. Gestalten in weißer Schutzkleidung mit blutigen Schürzen hecheln über die dunkle Bühne (Kostüme: Nicola Reichert). Markus Sung-Keun Park, der Emigrant, klagt mit gequält positioniertem, aber dramatisch effektvoll attackierendem Tenor über die verzehrende Sehnsucht nach seiner Heimat, beschließt, seine Geliebte (Solen Mainguené) zu verlassen und zurückzukehren. Er gerät durch Zufall in eine Demonstration, wird festgenommen, verhört, erfährt in Folter und Konzentrationslager die Allmacht des Staates und die Ohnmacht des Einzelnen. Das Verlangen nach seiner Heimat verwandelt sich in den Willen zur Freiheit. Eine neue Gefährtin (Annette Schönmüller) gibt ihm neue Hoffnung in der Einsamkeit; beide versinken in einer gewaltigen Sintflut.

Hilsdorfs Verweise auf den Tönnies-Fleischarbeiterskandal und das Schicksal moderner Arbeitssklaven aktualisieren das Provokante des Stücks. Die Videos Gregor Eisenmanns sind im Sinne Nonos, der Filmeinblendungen und Projektionen vorgesehen hatte. Sie holen das Außen nach Innen, lassen sich aber auch als überhöhende Momente lesen, die das Einzelschicksal transzendieren. Und während sich – so eine Regieanweisung Nonos – die Projektionen von „Albträumen der Intoleranz“ fortsetzen, sieht man in den Fenstern des Containers die Flut steigen: Die Natur übernimmt am Ende den Willen der marschierenden Arbeiter, „mit dem Hochwasser einer zweiten Sintflut die Städte der Welten zu waschen“. Spätestens in diesem Bild mündet Nonos politisch gemeinte Aktion in eine apokalyptischen Vision, für die er im Schlusschor Textteile aus Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ montiert. Hilsdorf inszeniert dazu sparsam-stille Bilder, die an ein Oratorium erinnern. Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine Zeit, in der „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“.

Luigi Nonos „Intolleranza“ 2021 ist ab 18. Juni im Online-Streaming zu sehen. Weitere Termine, jeweils um 19.30 Uhr, sind 26. Juni, 2. Juli, 13. und 27. August 2021. Tickets zu 12 Euro über die Webseite der Wuppertaler Bühnen: www.oper-wuppertal.de




Menschheitsfamilie mit Gott und Teufel: Dietrich Hilsdorf inszeniert in Essen Alessandro Scarlattis „Kain und Abel“

Ein von der Zeit ausgezehrter, nobler Raum, verblichene Tapeten, ein halbblinder Spiegel. Man sitzt bei Tische, zwei Violinisten spielen Tafelmusik. Die Gewänder entsprechen der Mode kurz nach Beginn des 18. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, in der Alessandro Scarlatti in Venedig sein Oratorium über Kains Mord an seinem Bruder Abel geschrieben hat, eine der Schlüsselgeschichten des Alten Testaments aus dem vierten Kapitel des Buches Genesis.

Das Drama kennt keinen Ausweg: „Kain und Abel oder der erste Mord“ (Cain, overo il primo omicidio) von Alessandro Scarlatti am Aalto-Theater Essen. Von links: Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam), Tamara Banješević (Eva), Xavier Sabata (Gott), Philipp Mathmann (Abel). (Foto: Matthias Jung)

Am Aalto-Theater Essen kleidet sie Dietrich Hilsdorf mit seinen Ausstattern Dieter Richter (Bühne) und Nicola Reichert (Kostüme) ins Ambiente der Entstehungszeit, doch er pflegt damit keinen Historismus, sondern entwickelt ein hochartifizielles Zeichensystem, das für Scarlattis verkappte Oper aus dem Jahr 1707 komplexe Aspekte einer Deutung zulässt.

In seiner 20. Inszenierung für das Essener Theater – erinnert sei an die Skandale mit Verdis „Trovatore“ und „Don Carlo“, aber auch an spannende psychologisch fundierte Kammerspiele – macht Hilsdorf aus der biblischen Geschichte ein Familiendrama: Gott und der Teufel sind keine aus dem Off dröhnenden Übermächte, sondern heben am Tisch mit den Menschen das Glas, geraten mit ihnen in körperlichen Kontakt. Wesen aus Fleisch und Blut und dennoch durch ihre Positionen im Geschehen auf der Bühne oft seltsam enthoben: Ein treffend erfundenes Bild für die Präsenz des Transzendenten in, aber nicht seine Identität mit den Lebensvollzügen der Menschen.

Spannung in jedem Moment

Hilsdorfs Fähigkeit, die Bühne auch bei stillstehender Interaktion mit Leben und Spannung zu erfüllen, macht aus diesem pausenlosen 140-Minuten-Stück einen Abend ohne Leerlauf. In jedem Moment auf die Personen auf der Bühne konzentriert, erschließt er mit seinen Darstellern in präzis ausgeformten Gesten und Gängen ihre seelische Verfassung, ihre Emotionen, ihre inneren Entscheidungen. Und das in einem äußerlich handlungsarmen Verlauf, denn das Libretto des Kardinals Pietro Ottoboni – der gleichzeitig mit Scarlatti auch den jungen Händel förderte – stellt die theologische Reflexion gleichrangig neben die biblische Erzählung. Hilsdorfs Vorzug ist, dass er diese Ebene in seine Inszenierung integrieren kann. Der Provokateur von früher hat sich zum genau analysierenden Beobachter gewandelt.

Die Verführung tarnt sich weiblich-erotisch: Baurzhan Anderzhanov (Teufel), Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam). (Foto: Matthias Jung)

Hilsdorfs Zeichensystem lebt aus sinnenfrohen Details, die sich dennoch zu einem schlüssigen Ganzen fügen: Adam und Eva tragen Gewänder in der Bußfarbe Violett. Der Teufel tritt, in eine kostbar gearbeitete Prachtrobe gehüllt, als mondäne Frau auf – mit einer Anmutung von Macht und Erotik, die Kain in ihren Bann ziehen muss. Dass der Böse die Macht Gottes nachäfft, wird deutlich beim Entschluss zum Brudermord: Wie der Schöpfergott Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle streckt er den Finger aus, der quasi den mörderischen Funken auf Kain überträgt.

Das Böse bleibt in der Welt

Zwei Kerzen signalisieren die Opfer: Abels Kerze flammt hoch, Kains Kerze raucht nur. Zurücksetzung und die damit empfundene Ungerechtigkeit, Neid und der Dünkel des „Erstgeborenen“ motivieren die Tat Kains. Er bläst die Kerze des Bruders aus und erschlägt ihn unter der festlichen Tafel. Kain und Luzifer trinken sich zufrieden zu. Später wird Gott den Teufel aus dem Reifrock schälen und so die Täuschung aufheben: Im Untergewand am Rande sitzend, wird dieser die Trauer Adams und Evas beobachten und dabei versonnen einen Apfel schälen. Das Böse bleibt Bestandteil der Welt; es ist aber auch an der Rettung beteiligt: Wenn Adam am Ende auf die Menschwerdung Gottes in Jesus anspielt („aus meinem Blut soll der Erlöser geboren werden“), nagelt der Teufel ein Kreuz mit einem Corpus an die Wand. Das Ende bleibt ambivalent: Dass alle Protagonisten am Tisch die Suppe auslöffeln, wirkt unverkennbar ironisch, lässt aber eine endzeitliche Versöhnung nicht außer Acht. Familiendrama und universales Schöpfungs- und Erlösungsdrama gehen ineinander über.

Hilsdorf ist ein Regisseur, der – ursprünglich aus dem Schauspiel kommend – selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie vergessen hat, szenisch mit der Musik zu interagieren. In Essen führt die musikalische Sensibilität zu einer glücklichen Einheit von Bild und Klang, die über die Integration des Orchesters in das Bühnenbild hinausgeht. Dirigent Rubén Dubrovsky hält so den direkten Kontakt zu Szene, die Sänger und die Musiker stellen sich ideal aufeinander ein.

Inspirierte Musik Alessandro Scarlattis

Scarlattis Musik erweist sich in ihrer Tonarten-Dramaturgie und in ihrer vielfältigen, klangsensiblen Durcharbeitung geradezu als theologisch inspiriert. In ihrer Arie „Sommo Dio“ etwa äußert Eva die bittende Hoffnung auf Befreiung durch das „heilige Holz“ und das „geopferte Lamm“ und bringt damit die neutestamentliche, christologische Perspektive ein. Das Lamm, das Abel opfern will, ist ein anderer Verweis auf Christus, das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Die Arie steht in g-Moll, und in dieser Tonart kündigt sich das Erscheinen Gottes in einer Sinfonia – also zunächst rein instrumental – an.

Gott und Abel: Philipp Mathmann (Abel) und Xavier Sabata (Gott). (Foto: Matthias Jung)

Gottes Arie – durch die Art („mezzo carattere“) mit Abel verbunden – steht dann in F-Dur und hebt sich damit deutlich ab – die Transzendenz des Erlösung verheißenden Gottes wird betont, während er, wenn er Kain die Folgen seiner Tat klarmacht, das „menschliche“ g-Moll in G-Dur moduliert, verbunden mit einem unerbittlichen Streicher-Ostinato, welches das Schicksal des mit dem Kainsmal zugleich gezeichneten und vor dem Tod geschützten Mörders in scharfen, harten Akzentuierungen verdeutlicht.

Auf diese Weise schafft die dramatisch begründete, dennoch souverän formal gestaltete Musik Scarlattis eine enge Verbindung mit der Szene. Die Essener Philharmoniker sind in ihrem wachen, flexiblen, in Klang, Phrasierung und Artikulation nahe an historisch informierten Spezial-Ensembles. Eine fabelhafte Leistung der Musiker, die sich ja mit Repertoire aus allen Epochen befassen müssen, aber auch von Dubrovsky: Der Wahl-Wiener, der demnächst Händels „Alcina“ in Hannover und „Giulio Cesare“ in St. Gallen dirigiert, stellt die Beziehung zwischen Bühne und Orchester her und führt die Sänger sicher und in organischen, wenn auch manchmal sehr beschaulichen Tempi. Die Instrumente, etwa das Fagott in den g-Moll-Arien Evas oder die beiden Flöten sind szenisch zugeordnet, und für den Auftritt des Teufels pervertiert Felix Schönherr mit unheimlich schnarrenden Registern den sakralen Klang der Orgel.

Vorzügliche Sänger

Gesungen wird in Essen ebenfalls vorzüglich. Bettina Ranch führt ihren Mezzo elegant durch die Bravour und das Cantabile der Arien Kains, beleuchtet stimmlich die Facetten dieses Charakters, der sich keineswegs im „Bösen“ erschöpft und im Widerstand gegen die zweite Versuchung des Teufels, sich selbstbestimmt das Leben zu nehmen und damit ultimativen Widerstand gegen Gott zu leisten, einen heroischen Zug erhält.

Tamara Banješević kleidet die Trauer und Reue Evas, aber auch ihre Hoffnungen mit einem weich formenden, innigen, flexibel ausgestaltenden Sopran. Dmitry Ivanchey als gebrochener, am Stock gehender Mann in edlem Justaucorps, muss sich in seiner ersten „aria di bravura“ noch mit Mühe und fest sitzender Stimme durch Sechzehntelketten kämpfen, gewinnt aber im Lauf des Abends souveräne Präsenz. Xavier Sabata setzt einen virilen Alt für die Stimme Gottes ein, die er auch mit Schärfe und profunder Energie dramatisch aufladen kann.

Baurzhan Anderzhanov als mondäner Teufel. (Foto: Matthias Jung)

Baurzhan Anderzhanov kann mit seinem unverschleierten, in der Artikulation unbestechlichen, klanglich schlank-leuchtenden Bass in einer weiteren Glanzrolle am Aalto-Theater brillieren. An Philipp Mathmanns Stimme werden sich die Geister scheiden: Der Counter intoniert traumsicher, singt aber die Töne steif, manchmal überzogen schrill an und pflegt das geradlinige „weiße“ Timbre, das in Alte-Musik-Kreisen bisweilen sehr geschätzt wird, mit italienischem Belcanto aber wohl wenig zu tun hat. Dietrich Hilsdorf, der nach sieben Jahren an das Essener Haus zurückgekehrt ist – und in zwei Jahren eine neue Inszenierung verantworten wird – erhielt einhellige Ovationen; das gesamte Ensemble genoss den langen, herzlichen und verdienten Jubel des Publikums.

Vorstellungen am 30. Januar, 20. und 29. Februar, 4., 8., 13., 20. März und 3. Mai. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/kain-und-abel/3798/




Hier rätselhaft, dort Leidenschaft: Die Rheinoper würdigt Alexander Zemlinsky

Schwertkampf von hohem Abstraktionsgrad: "Eine florentinische Tragödie" mit Corby Welch, Jana Vuletic, Anoosha Golesorkhi. Foto: Hans-Jörg Michel

Schwertkampf von hohem Abstraktionsgrad: „Eine florentinische Tragödie“ mit Corby Welch, Jana Vuletic, Anoosha Golesorkhi. Foto: Hans Jörg Michel

Wir wissen nicht viel über das Ehepaar B. und S., sehen immerhin, dass sie schon mal ins Kino gehen. Da sitzen die beiden dann, im roten Sessel, erste Reihe. Sie wie in sich selbst gefangen, vom Gatten ein wenig abgerückt, der sich großspurig mit Popkorneimer in den Sessel gedrückt hat. Ein grober Klotz, ein verängstigtes Weibchen? Nun ja.

Es ist auch nicht ohne weiteres ersichtlich, dass die holde Gattin sanft entschlummert und sich dabei träumend in ihre Innenwelt verkriecht, um eine Geschichte zu imaginieren, die da heißt „Eine florentinische Tragödie“. Nur wer lesen kann im Rheinopern-Programm, ist klar im Vorteil.  Der unbedarfte Zuschauer aber blickt in Düsseldorf auf eine surrealistische, bunte, sonderbare Bebilderung eines Stückes, das doch eigentlich einen Psychothriller darstellt. Erdichtet von Oscar Wilde, in exaltierte, rauschhafte Musik gegossen von Alexander Zemlinsky.

Sich dieses Komponisten anzunehmen, ist grundsätzlich ein Verdienst. Seine Opern hatten ihre Zeit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Gefolge des Verismo. Zemlinsky war ein exzellenter Klangfarbenzauberkünstler, liebte das Ornament, bisweilen die expressive Schärfe, nicht zuletzt eine offene Harmonik auf dem Weg zur Abschaffung der Tonalität. Von den Nazis ins New Yorker Exil getrieben, glänzte sein Stern nur kurz. Erst Ende der 70er Jahre begann eine zögerliche Zemlinsky-Renaissance.

Wenn also die Deutsche Oper am Rhein eben jene „Florentinische Tragödie“ auf die Bühne bringt, in Koppelung mit „Der Zwerg“, ist das alle Aufmerksamkeit wert.  Wenn aber die Regisseurin Barbara Klimo die Dreiecksgeschichte zwischen den Eheleuten Bianca (B.) und Simone (S.) sowie dem Liebhaber Guido Bardi kaum als Kammerspiel, vielmehr als belangloses Nebeneinander inszeniert, wächst die Enttäuschung mit jedem Takt. Die Traumsequenzen, das durch einen Harlekin geleitete Spiel im Spiel, wirken so beliebig wie grotesk. Nun, wir kennen zwar skurrile, irreale Träume. Dass wir indes irgendwie verändert, gar geläutert aus solcherart Schlaf erwachen, scheint allzu unsinnig.

„Die Florentinische Tragödie“ mag kein Schocker sein wie Richard Strauss’ Einakter „Salome“, verträgt deshalb gewiss Distanz vom Opulenten. Doch die aufgeladene psychologische Situation – der Gatte kommt nach Haus und findet einen Fremden bei seiner Frau – verdient eben mehr als die zwanghafte Bebilderung fast jedes Wortes, jeder Geste. Selbst die Zweckentfremdung Magrittescher Motive, die sich Ausstatterin Veronika Stemberger leistet, wirkt da nur befremdend. Dass Kaufmann Simone den Unbekannten, der sich als Fürstensohn entpuppt, einlullt, ihn durch allerlei Gerede perfide in den Bann zieht und zu einem scherzhaften Duell treibt, das für den Liebhaber tödlich endet, entbehrt in Düsseldorf jeder Spannung.

Und dies, obwohl doch die Symphoniker unter Jonathan Darlington die Musik überaus exzessiv aufleuchten lassen, ja sie klanglich und dynamisch bisweilen ins Extrem treiben. Die Sänger indes befinden sich in einer Zwickmühle. Sie müssen spielen ohne Entäußerung, aber zumeist forciert singen, um gegen die orchestrale Macht anzukommen. Kein Leichtes für Corby Welch (Guido Bardi), Anooshah Golesorkhi (Simone) und Janja Vuletic (Bianca).

Neugier und Furcht: Der Zwerg (Raymond Very) wird ausgepackt. Foto: Hans-Joerg Michel

Neugier und Furcht: Der Zwerg (Raymond Very) wird ausgepackt. Foto: Hans Jörg Michel

Wie anders hingegen „Der Zwerg“. Wo eben noch Ratlosigkeit herrschte, ist nun Staunen angesagt. Wir rücken an die Stuhlkante, lauschen der in ihrer Textur leichteren, gleichwohl süffigen, schillernden Musik. Wir ergötzen uns an schönen, charakterstarken, wendigen, farbenreichen Stimmen. Und wir werden hineingezogen in Immo Karamans spannende, sinnfällige, psychologisierende Inszenierung. Wenn auch der Schluss ein wenig verwirrt.

Zemlinskys Oper, ebenfalls nach Oscar Wilde („Der Geburtstag der Infantin“) spielt am spanischen Hofe. Wo die Prinzessin Donna Clara ihren 18. Geburtstag feiert. Ihr als Geschenk ein Zwerg zugesandt wird. Der fein singen kann, aber hässlich ist, von seiner Fratzenhaftigkeit allerdings nichts weiß. Weil er keinen Spiegel kennt. Der sich in die Infantin verliebt, ihrer Zuneigung gewiss ist, schließlich aber die Bedeutung eines Spiegels begreift und vor Erschrecken über sich selbst stirbt.

Die Geschichte ist so angelegt, dass die Infantin mit ihrem Geschenk nur spielt. Und am Ende die Schultern zuckt, dass das Spielzeug so schnell kaputt geht. Nicht so bei Karaman. Er verhandelt die Anziehungskraft des Hässlichen. Stellt Donna Clara eine Schar von Freundinnen und Zofen an die Seite, die mit pubertärem Gekicher, frühsexuellem Begehren, mit Neugier und Angst einem seltsamen Wesen, dem Zwerg begegnen. Und schafft mit Claras Vertrauter Ghita eine Figur, die in ihren Sehnsüchten und Träumereien nichts anderes als das alter Ego der Infantin ist.

Des Zwergen Pein und der Infantin Leid: Szene mit Raymond Very und Sylvia Hamvasi. Foto: Hans Jörg Michel

Des Zwergen Pein und der Infantin Leid: Szene mit Raymond Very und Sylvia Hamvasi. Foto: Hans Jörg Michel

Der Zwerg wiederum ist Opfer. Nicht das eines Spiels, sondern das der eigenen Unzulänglichkeit. Er ist verwirrt, verliebt, verzweifelt. Und wenn die vermeintliche Spielerei fast ihr tragisches Ende findet, sitzt Donna Clara ebenso verwirrt, vielleicht ein wenig verliebt, eher ziemlich verstört in einer Ecke. Hat sich gekauert neben einen, mit einem imaginierten, üppigen Spiegel verzierten, schicken Sekretär. Verortet in einem weiten Gewölberaum, den Nicola Reichert erdacht hat.

Dass jedoch aus dem Zwergen ein Priester wird, Regisseur Karamann so offenbar das streng katholische Spanien ins Spiel bringen will, in dem die jungen Damen in Einheitskleidchen von uniformierten Gouvernanten getriezt werden, wirkt ein wenig konstruiert. Gleichwohl allenthalben Faszination. Zumal hier die Düsseldorfer Symphoniker so differenziert wie leidenschaftlich zu Werke gehen. Und mit Sylvia Hamvasi (Infantin), Anke Krabbe (Ghita) sowie Raymond Very (Der Zwerg) ausgefeilte Charaktere auf der Bühne stehen, berührender Gesang inklusive.

Die Rheinoper präsentiert also einen Zemlinsky-Doppelabend, der zwischen Rätselhaftigkeit und Leidenschaft pendelt. Gleichwohl muss er als wichtiges Plädoyer für einen zu Unrecht vernachlässigten Komponisten gelten.