Imaginäre Begegnungen zwischen Ikonen der Geistesgeschichte – Herfried Münklers Buch „Marx, Wagner, Nietzsche“

Herfried Münkler ist einer der bekanntesten Professoren Deutschlands. Wann immer über ideologische Verwerfungen, historische Katastrophen und aktuelle Kriege diskutiert wird, ist seine Meinung gefragt. Ob „Die Deutschen und ihre Mythen“ oder „Der Große Krieg“ – die Bücher des Politik-Wissenschaftlers stehen auf der Bestseller-Liste. Jetzt hat Münkler drei Ikonen der deutschen Geistes- und Kultur-Geschichte vereint: „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch.“

Die ambivalenten Biografien der drei Geistesgrößen, ihre Alltagssorgen und Geldnöte, ihre politischen Analysen, musikalischen Revolutionen, philosophischen Innovationen: alles scheint längst bis ins letzte dunkle Geheimnis und verwirrendste Detail ausgedeutet. Gesellschaftsanalyse und Kapitalismuskritik von Marx; die Idee des kunstreligiösen Gesamtkunstwerks von Wagner; die Vorstellung von individueller Freiheit und Umwertung aller Werte durch den von Kunst beseelten Übermenschen von Nietzsche: tausendfach durch dekliniert. Das weiß natürlich auch Münkler. Deshalb verwickelt er die drei in ein imaginäres Gespräch.

Für Marx war Bayreuth ein „Narrenfest“

Aber Marx und Wagner sind einander nie begegnet. Nur einmal hat sich Marx, als er 1876 auf dem Weg zur Kur nach Karlsbad war und bei einer Zwischenstation in Nürnberg kein Zimmer bekommen konnte, fürchterlich geärgert, weil die Stadt – wie Marx ätzte – überschwemmt sei von Leuten, „die sich von dort aus zu dem Bayreuther Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner begeben wollten.“ Am Kurort angekommen, schreibt Marx an seinen Freund Engels: „Allüberall wird man mit der Frage gequält: Was denken Sie von Wagner?“ Marx dachte nichts über Wagner, er war ihm völlig schnuppe. Der Musikgeschmack von Marx war zu konventionell, um die kompositorischen Neuerungen Wagners auch nur ansatzweise erfassen zu können.

Auch das individualpsychologische und kunstphilosophische Werk Nietzsches hat Marx weder zur Kenntnis genommen noch irgendwo kommentiert. Bei Wagner und Nietzsche liegt der Fall anders: Nietzsche hat Wagner erst glühend verehrt und in ihm den Retter des dionysischen Geistes gesehen, der einen neuen Kunst-Kult erschaffen und Deutschland zu einem aus antiken Ruinen wieder auferstandenen Griechenland machen könnte. Dass sich Nietzsche später von Wagner entfremdete, von seinem großbürgerlichen Lebensstil und seinem Antisemitismus angeekelt war, steht auf einem anderen Blatt.

Posthume Verfälschung der Werke

Münklers Buch ist der Versuch, Marx, Wagner und Nietzsche vom Kopf auf die Füße zu stellen, aufzuzeigen, dass Marx mit dem Realen Sozialismus nichts am Hut gehabt hätte und von Stalins Schergen an die Wand gestellt worden wäre; dass Wagners Antisemitismus zwar etwas Verwerfliches und Nietzsches Kunst-beseelter Übermensch etwas Wahnwitzes hatte, dass beide aber im Grabe rotieren würden, wenn sie wüssten, dass der eine zum Lieblings-Musiker von Hitler und der andere zum Vordenker des Faschismus vergewaltigt wurde.

Münkler konzentriert sich auf so genannten „Knoten“, Punkte, in denen die Biographien der drei sich berühren, Ereignisse, die für alle drei von besondere Bedeutung sind. Einer dieser „Knoten“ ist Bayreuth 1876, wo der vorbei reisende Marx sich über die vielen Wagner-Fans ärgerte und Nietzsche sich von Wagner nicht genügend gewürdigt fühlte, enttäuscht von den Festspielen abreiste und fortan zum Wagner-Hasser mutierte.

Knotenpunkte der Geschichte

Auch der deutsch-französische Krieg von 1870/71 ist ein „Knoten“, der Wagner in seiner Deutschtümelei bestärkte und von der Zerstörung des verhassten Paris träumen ließ, während Nietzsche sich erst freiwillig als Sanitäter meldete und später um das von der Pariser Commune zerstöre kulturelle Erbe fürchtete. Marx dagegen sah als Diagnostiker auf den Krieg und die Niederschlagung des Aufstands und entwickelte aus seinen Analysen eine neue Sicht auf die Rolle der deutschen Arbeiterklasse. Die Revolution von 1848/49 ist ein weiterer „Knoten“: Wagner hat als Hofkapellmeister zusammen mit seinem Anarchisten-Freund Bakunin auf den Dresdner Barrikaden gekämpft, Marx als Chefredakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“ die Politik mit journalistischen Mitteln begleitet: beide, Wagner und Marx, gingen nach dem Scheitern der Revolution ins Exil.

Für Nietzsche, damals noch ein Kind, blieb die Revolution folgenlos, sie war für ihn nie ein Thema. Der Antisemitismus ist ein „Knoten“ und Anlass, nach entsprechenden Belegen zu suchen, zu zitieren, wie Marx in privaten Briefen seinen Widersacher Lassalle wegen seines „jüdischen Aussehens“ beleidigte; Anlass auch, ausführlich zu diskutieren, ob Alberich im „Ring“, Beckmesser in den „Meistersingern“ und Kundry im „Parsifal“ als Juden-Stereotype anzusehen sind, und was es bedeutet, wenn Nietzsche die Juden als Urheber des „Sklavenaufstands in der Moral“ tituliert.

„Begleiter im 21. Jahrhundert“?

Münkler umkreist Themen wie die Wiedergeburt der Antike, Krankheit und Schulden, gescheitere Revolution und gelungene Reichsgründung, Bourgeoisie und Proletarier, die europäischen Juden und die Umsturzprojekte mittels Kunst und neuer Werte-Ordnung. Er fahndet nach Zitaten und biografischen Daten, versucht das Werk der drei Protagonisten zu entwirren, auf seinen unverfälschten Kern zurück zu führen und als Wegweiser vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart zu deuten. Eine Sisyphusarbeit.

Zum Schluss schreibt Münkler, „alle drei miteinander ins Gespräch gebrachten Denker (sind) im 21. Jahrhundert angekommen – und haben hier, nach hochideologischer Auslegung ihrer Werke im 20. Jahrhundert, wieder zu sich selbst gefunden. Einer Welt im Umbruch entstammend, können sie zu Begleitern im 21. Jahrhundert werden, ebenfalls eine Welt im Umbruch.“ Wie diese „Begleitung“ aussehen, welche Themen für die Lösung der heutigen Probleme wichtig sein könnten, das hätte man doch gern etwas genauer gewusst. Doch darüber schweigt sich der sonst so beredte Münkler leider beharrlich aus.

Herfried Münkler: „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“. Rowohlt Berlin 2021, 720 Seiten, 34 Euro.

 




Die visionären Erwartungs-Räume des Giorgio de Chirico – ein virtueller Besuch in der Hamburger Kunsthalle

Giorgio de Chirico: „Der Lohn des Wahrsagers“ (1913), Öl auf Leinwand. (Philadelphia Museum of Art, Louise and Walter Arensberg Collection, 1950 / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Artist Rights Society (ARS), New York, SIAE, Rome – Foto: © Philadelphia Museum of Art)

Um mal positiv zu denken: Immerhin haben sich im Zuge der Corona-Pandemie die längst noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten des Digitalen auch hierzulande deutlich erweitert, besonders im Schulwesen und im Kulturbereich. Wäre ich gestern aus Dortmund zur Hamburger Kunsthalle angereist? Wohl kaum. Unter den obwaltenden Umständen: erst recht nicht. Wie gut also, dass es einen virtuellen Rundgang durch die neueste Ausstellung des Hauses geben konnte. Besser noch: Die Hanseaten haben eine famose Schau über die „metaphysischen“ Jahre des Giorgio de Chirico (1888-1978) zustande gebracht. Erfreut merkt man es selbst aus der Distanz – und bekommt Bilderdurst aufs analoge Erlebnis!

Gleich 35 Meisterwerke des Italieners, der auch 17 Jugendjahre in Griechenland und rund drei Jahre in Deutschland (München) verbracht hat, sind in der Hamburger Kunsthalle zu sehen. In dieser Dichte werden sie wohl nie wieder zusammenkommen, zumindest nicht in unseren Breiten. Und auch nicht zu einem solch vielsagenden Zeitpunkt. Denn woran könnten die leeren Plätze mit den fluchtenden Architekturen und den überlangen Schatten denn wohl erinnern, die De Chirico so unvergleichlich imaginiert hat? Unweigerlich müssen wir Heutigen an leere Straßen und Plätze beim Lockdown denken. Nein, man muss und soll nicht alles auf die Pandemie beziehen. Doch hier liegen solche Gedanken und Gefühle wirklich nahe.

Beeinflusst von Nietzsche und Schopenhauer, Böcklin und Klinger

Die spürbar von Giorgio de Chiricos Schaffen begeisterte, ja geradewegs beseelte Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers skizzierte zur live gestreamten Eröffnung geistesgeschichtliche Hintergründe. De Chirico sei durch die Lektüre von Nietzsche und Schopenhauer beeinflusst worden, malerisch hätten u. a. spätromantische bzw. symbolistische deutsche Künstler wie Arnold Böcklin und Max Klinger Pate gestanden. Da es zum Wort „Stimmung“ keine italienische Entsprechung gibt, habe de Chirico dafür übrigens stets den deutschen Begriff verwendet. Im Bann solcher Einflüsse habe er eines Tages die Plätze von Florenz und hernach anderer Städte wie Turin wie zum allerersten Male gesehen. Es müsse wie eine Offenbarung oder Erscheinung gewesen sein. Oder soll man gar von Erweckung sprechen?

Nun entstanden jedenfalls ungemein einprägsame Bilder wie „Der Lohn des Wahrsagers“ (1913), das eine weitgehend leere Piazza mit scheinbar einladendem Torbogen, jedoch auch abweisendem Mauerwerk-Riegel zeigt. Miteinander konfrontiert werden eine antike Skulptur der Ariadne (die auf den Rauschgott Dionysos wartet) und eine seinerzeit moderne Eisenbahn – eine absurd „surrealistische“ Kombination avant la lettre, visionär vorausdeutend auf die spätere Kunstrichtung. Kuratorin Görgen-Lammers spricht von einem übernatürlichen „Raum der Erwartung“, der sich hier öffne und ausbreite, von einer ungeheuren, gleichsam ewigen Stille. Kann man so sagen, wenn man es nicht malt. Kunsthallen-Chef Prof. Alexander Klar sekundiert mit „Alpträumen in der Mitte der Gesellschaft“, die de Chirico traumwandlerisch evoziert habe. Auch ein verbaler Ansatz.

Giorgio de Chirico: „Das Gehirn des Kindes“ (Der Wiedergänger), 1914, Öl auf Leinwand (Moderna Museet, Stockholm, erworben 1964 – „The Museum of Wishes“ / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto © Moderna Museet, Stockholm)

Das Bild, das André Breton unbedingt besitzen wollte

Allem realistischen Duktus zum Trotz: Leicht zu deuten sind die Schöpfungen de Chiricos keineswegs. Ein geradezu ikonisches Bild wie „Das Gehirn des Kindes“ (1914) zeigt weder ein Kind noch ein Hirn. Ein unbekleideter Mann in Halbansicht scheint ganz in sich selbst versunken zu sein. Vor ihm liegt ein gelbes Buch, das auf des Künstlers Nietzsche-Lektüre hindeuten dürfte. Er hat nämlich den „Zarathustra“ in der französischen Ausgabe gelesen, die damals just so ausgesehen hat. Ohne Hintergrund-Recherche kann man das schwerlich wissen. Dieses Bild, Ausdruck inniger Suche nach einer Vereinigung von Leiblichkeit und Geistigkeit, ist dem nachmaligen Surrealisten-„Papst“ André Breton so schlagartig aufgefallen, dass er es gekauft und vielen Freunden wie Max Ernst gezeigt hat. Es kann somit als eine Art verfrühtes Gründungswerk des Surrealismus gelten.

Die beiden bislang erwähnten Bilder sind aus Philadelphia und Stockholm ausgeliehen, das ganze Projekt ist eine Kooperation mit den Pariser Musées d’Orsay et de l’Orangerie. Erstaunlich, wie die weltumspannenden Museums-Netzwerke (und die Kontakte zu Privatsammlungen) sich trotz Pandemie als haltbar erwiesen haben. Weiterer glücklicher Umstand: Die Hamburger Kunsthalle gilt weltweit als führend, wenn es um gewisse Ausprägungen des 19. Jahrhunderts geht. Hier kann man auf Bestände der eigenen Sammlung zurückgreifen, welche zu de Chirico passen. Der kam nämlich – wie gesagt – auf deutsche Vorbilder wie Arnold Böcklin („Die Toteninsel“) und Max Klinger zurück, so etwa auf Böcklins „Odysseus am Strande des Meeres“ (1869), das in Hamburg als Eigenbesitz präsentiert werden kann und sich beispielsweise zum Vergleich mit de Chiricos Frühwerk „Sterbender Zentaur“ (1909) anbietet.

Giorgio de Chirico: „Sterbender Zentaur“, 1909, Öl auf Leinwand (Kunstsammlung Assicurazioni Generali / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto © Photo Courtesy, Assicurazioni Generali)

Militärdienst und Spanische Grippe

Selbstverständlich darf man den historischen Kontext nicht ausblenden. Wesentliche Werke aus de Chiricos „metaphysischen Jahren“ sind zur umstürzenden Krisenzeit des Ersten Weltkriegs entstanden. Die allgemeine Erschütterung überkommener Weltbilder spiegelt sich in den Kunstwerken jener Epoche, wenn sie nicht gar in ihnen vorausgesehen wird. De Chirico wurde 1916 zum italienischen Militärdienst eingezogen, den er allerdings nicht an der Front, sondern in einer Schreibstube in Ferrara absolvieren konnte. Aber natürlich gingen die Schrecken der Zeit auch dort nicht spurlos vorüber. Und wenn wir schon von Pandemie reden: De Chirico erkrankte an der Spanischen Grippe, die damals Millionen von Menschenleben forderte. Der Künstler überstand die Infektion jedoch.

Die Hamburger Kunsthalle konzentriert sich auf de Chiricos metaphysische Phase, ungefähr von 1909 bis 1919. Kritik und Kunstmarkt haben ihm später die Abkehr von diesen „übernatürlichen“ Darstellungsweisen nicht verziehen. Die Bevorzugung seiner Pittura metafisica blieb natürlich auch Giorgio de Chirico nicht verborgen. Der Künstler, der ohnehin manches Detail in seiner Vita zu verändern beliebte (heute würde man vielleicht „faken“ dazu sagen), malte deshalb auch nach 1920 gelegentlich noch im vorherigen Stile, wenn er Geld brauchte. Dieselbe Marktmechanik rief freilich auch schon mal Nachahmer auf den Plan.

Giorgio de Chirico: „Der beängstigende Vormittag“, 1912, Öl auf Leinwand (Mart, Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto / Collezione VAF-Stiftung / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto © Mart, Archivico fotografico e Mediateca)

Seitenblicke auf den komponierenden Bruder Alberto Savinio

Die Hamburger Ausstellung greift am Rande auch noch einen speziellen Aspekt auf, indem sie sich de Chiricos musikalisch hochbegabtem Bruder Andrea zuwendet, der vorwiegend als Komponist, aber auch als Autor und Maler tätig war. 1905 studierte er in München bei Max Reger, Giorgio de Chirico fungierte damals (nebenher) quasi als Dolmetscher. Andrea de Chirico nannte sich ab 1914 Alberto Savinio. Eine kurze Kostprobe aus seinem  musikalischen Schaffen erklang zur virtuellen Eröffnung der Schau, die damit fast schon zum Gesamtkunstwerk tendierte – eine Gattungsmischung, wie sie auch Savinio als Ideal vorgeschwebt hat. Ein von Giorgio de Chirico gemaltes Porträtbild des Bruders gehört gleichfalls zur Ausstellung, die ihrerseits nach dem Vorbild einer Piazza aufgebaut ist.

Insgesamt umfasst die Schau rund 80 Kunstwerke. Neben Bildern von de Chirico, Böcklin und Klinger zählen u. a. Werke von Pablo Picasso, Carlo Carrà, Giorgio Morandi und Alexander Archipenko dazu, so dass Giorgio de Chirico nicht als isoliertes Phänomen erscheint, sondern eingebunden in den Zusammenhang der Epoche(n).

Und die virtuelle Eröffnung? Nun ja, es fehlte eigentlich nichts. Diverse Grußworte wurden ebenso per Video übermittelt wie der eigentliche Rundgang. Obwohl die Kameraführung nicht immer ganz glücklich war, weckte der erste Überblick doch großen Appetit, gerade weil man nicht nach Belieben vor einzelnen Bildern verweilen konnte. In der Randspalte lief ein Live-Chat, an dem man ablesen konnte, wie angetan viele der rund 1200 Teilnehmer(innen) waren – und wie begierig auf echte, leibhaftige Museumsbesuche.

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De Chirico. Magische Wirklichkeit. Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5. Von 22. Januar bis 25. April 2021 (vorerst nur online, Museumsöffnung noch ungewiss).

www.hamburger-kunsthalle.de

Der Katalog (Hirmer-Verlag) wird im Museumsshop 29 Euro kosten und ist einstweilen für 34,90 € zzgl. Porto online bestellbar unter www.freunde-der-kunsthalle.de

Zusätzliche Publikums-Aktion der Kunsthalle: Fotos von (pandemiebedingt) leeren Straßen und Plätzen können eingesendet werden an submission@hamburger-kunsthalle.de Die eindrucksvollsten Fotos sollen dann im Eingangsbereich der Ausstellung gezeigt werden.

 

 




Geistig angereicherte „Stellensuche“ – André Comte-Sponvilles kleine Sex-Philosophie

978-3-257-06924-2Was macht ein Philosoph, wenn er mal ordentlich abverkaufen will? Richtig, er schreibt ein Buch, das beispielsweise so heißt: „Sex. Eine kleine Philosophie“.

Andererseits hat man in lüsterner Laune relativ wenig mit Philosophie im Sinn. Egal. Der Franzose André Comte-Sponville, ehemals Philosophie-Professor an der Sorbonne, hat ein Buch herausgebracht, das auf Deutsch just so heißt wie oben erwähnt.

Und was steht drin?

Nun, zunächst der Versuch einer Definition von Sexualität an und für sich. Beim Menschen ist sie bekanntlich von der bloßen Fortpflanzung entkoppelt, sie speist sich zudem aus dem Trieb, weniger aus Instinkt. Obwohl wir immer auch Tiere bleiben. Auch behalte der Sex – aller rüden Pornographie zum Trotz – stets einen Rest an Geheimnis.

Na, und so weiter.

Sodann gibt’s einen flotten Streifzug durch ein paar Gefilde der Philosophie-Geschichte, entlang der großen Namen wie etwa Platon, Epikur, Augustinus, Spinoza, Montaigne (dem besondere Aufmerksamkeit zuteil wird), Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Sartre und Bataille. Wer hat was zur Sexualität gesagt, welche Passagen lassen sich herauspicken und dingfest machen? Jaja, die gute alte „Stellensuche“.

Nur ein paar Beispiele. Kant sieht in der Sexualität vorwiegend Erniedrigung am Werk, da hierbei das Geschlechtliche im Vordergrund und das Menschliche hintan stehe. Laut Schopenhauer ist der Sex der Brennpunkt des Willens, und natürlich hat der Erzpessimist in der Fortpflanzung vorwiegend die Fortsetzung des Leids der menschlichen Gattung kommen sehen.

Bei Nietzsche, der sich immerhin gegen die christliche Sex-Verteufelung ausspricht, heißt es dann kurz und bündig: „Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit…“ Noch aphoristischer zugespitzt im „Zarathustra“: „Das Glück des Mannes heißt: ich will. Das Glück des Weibes heißt: er will.“ Bei Bataille stehen Überschreitung und Gewalt im Zentrum. Wo immer ein Gesetz walten will, da wird es umso lieber gebrochen. Im deutschen Text fällt hierbei häufig das Wort „aufwühlend“. Wer wollte da widersprechen?

Genug. Das alles ergibt eine hübsche kleine Sammlung, die allerdings nicht immer vielsagend und vielfach ziemlich unzeitgemäß erscheint. Was ja auch unser Fehler sein könnte. André Comte-Sponville müht sich nach Kräften, noch halbwegs brauchbare Äußerungen der Philosophen den heutigen (Geschlechter)-Verhältnissen und also dem jetzigen Zeitgeist anzubequemen.

Geistig angereicherte Erotik grenzt Comte-Sponville sorgsam von der Pornographie ab. Fortdauerndes Begehren stellt er über schnöde Befriedigung, wobei das Begehren als Mangel und als Vermögen betrachtet werden könne. Gut, dass wir darüber geredet haben. Auch über Phänomene wie Burka und Nudismus. Und immer wieder über das Animalische in uns.

Unterwegs entstehen zahlreiche Klammer-Sätze (immer gilt es einzuschränken), die von einer gewissen Hilflosigkeit künden. Wollten wir manches komplett zitieren (etwa den ungelenken letzten Absatz auf Seite 157), so würden Leser(innen) dieser Rezension zu schlummern beginnen. Hallo?!

Ob das Ganze auf Französisch anders wirkt? Mag sein. Sie haben ja fürs Leibliche die schöner klingenden Worte. Aber auch der schiere Wohlklang dürfte die Sache nicht retten. Wobei man der Gerechtigkeit halber sagen muss, dass dies Buch aus einem Essay besteht, der einer umfangreicheren Originalausgabe („Le sexe ni la mort“) entnommen wurde. Immer diese Häppchen.

Auf Deutsch ist’s jedenfalls keine prickelnde oder lustvolle Lektüre, sondern es sind Gedankenspiele, die recht fruchtlos um sich selbst kreisen. Mal wieder ein Buch, in dem die Sexualität zerredet wird.

André Comte-Sponville: „Sex. Eine kleine Philosophie“. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Diogenes Verlag, Zürich. 169 Seiten. 19,90 Euro.




Goethe muss natürlich unbedingt ins Sturmzentrum – Eine Traumelf deutscher Dichter und Denker aufstellen

Von Bernd Berke

Heute geht’s endlich gegen Argentinien rund. Aber gestern und vorgestern waren bei der WM erstmals spielfreie Tage. Seufz! Da wusste man ja fast schon gar nicht mehr, was man mit der leeren Zeit anfangen sollte.

Was tut man also? Sich doch mal wieder spielerisch mit Kultur und Fußball befassen. Etwa mit der reizvollen Idee, eine Traumelf mit ruhmreichen deutschen Dichtern und Denkern aufzustellen. Richtig gelesen.

Wer steht im Tor? Immanuel Kant! Der Mann hat sich in der T-Frage gegen Leibniz und Heidegger durchgesetzt. So abgeklärt wie er ist sonst keiner. Er bleibt nicht auf der Linie kleben, sondern denkt weit voraus. Und er dient der ganzen Mannschaft als Ansprechpartner in moralischen Sinnfragen.

Viel wild er wohl nicht auf den Kasten kriegen. , Denn wir haben ja hinten unsere Weltklasse-Viererkette – mit Hölderlin (dichtet, äh, dribbelt jeden schwindlig), dem willensstarken Nietzsche (gefürchtete Blutgrätsche!), E. T. A. Hoffmann (macht schon mit flackernder Miene dem Gegner Angst) sowie dem kompromisslosen preußischen „Abräumer“ Kleist. Die Härte! Aber Vorsicht vor gelben Karten, die Schiri Reich-Ranîcki so freihändig verteilt.

Fürs 4-3-3-System postieren wir vor die Abwehr kreative Spieleröffner, die auch Defensivaufgaben nicht scheuen: den schnörkellosen Büchner, den gewitzten Heine (bei Paris St. Germain unter Vertrag) und den listigen Lessing, der die ganze Dramaturgie eines Spiels lesen kann und mit allen Freiheiten hinter den Spitzen agiert. Ein solches Mittelfeld schmückt ungemein.

Weiteres Prunkstück ist der Angriff. In der Mitte lauert der wendige junge Goethe („Sturm und Drang“) auf Chancen. Von links bedient ihn der schlaue Bert Brecht mit frechen Flanken, von rechts kommt brachial Gottfried Benn, der auf dieser exponierten Position dem hüftsteifen Ernst Jünger den Rang abgelaufen hat. Jedenfalls: Unsere beiden ,Außen“ gehen konsequent bis zur Grund(satz)linie – und dann schnackelt’s.

Da können es sich der schwäbische Trainer Hegel (Devise: „Das Wirkliche ist vernünftig“) und sein Assistent Marx sogar erlauben, Joker wie Schiller, Thomas Mann, Eichendorff oder Fontane auf der Bank zu lassen. Ihre Stunde kommt noch – ebenso wie die der Talente Heinrich Böll und Günter „Odonkor“ Grass.