Nigel Kennedy: Faxen mit Vivaldi

Nigel Kennedy und Vivaldis „Vier Jahreszeiten“: Für die Anhänger der „historisch informierten“ Aufführungspraxis war das schon 1989 indiskutabel, als der Brite mit seinem Drei-Millionen-Album eine frech-unbekümmerte Deutung auf den Markt warf. Den Geiger mit dem Drei-Tage-Bart, den rasierten Schädelseiten und den edlen Schlabberklamotten interessiert wenig, was Wissenschaftler und forschende Kollegen aus alten Autographen herauslesen. Er versteht sich als ein genuiner Musiker und begründet in diversen Interviews mit gar nicht so schlechten Argumenten, warum er sich um eine philologisch korrekte Lesart und Spielweise nicht kümmert.

Jetzt setzt der Geigen-Punk noch eins drauf: Vivaldi nicht einmal mehr mit dem „klassischen“ Instrumentarium, sondern mit Konstellationen, die aus Jazz und Rock kommen. Mit Elektrogeige, Drums und gestopfter Trompete, Schlagzeug, E-Bass und Computereinsatz. Mit seinem „Orchestra of Life“ reiste Kennedy den ganzen November durch Deutschland, trat in Düsseldorf und Dortmund auf und besuchte nun am Ende der Tournee Essen: „Very special“ sei für ihn das Gastspiel in der Philharmonie, ließ er das Publikum wissen.

Kennedys Musiker kommen nur zum Teil aus der Klassik-Ecke. Zum Beispiel ist der Pole Duszan Korczakowski auch in elektronischer Musik oder Blues zu Hause. Die Sängerin Xantoné Blacq kommt aus der ehemaligen Band von Amy Winehouse. Orphy Robinson am Marimbaphon spielte in der Funk-Band Savannah, mit Jazz-Größen und einem Trompeter wie Wynton Marsalis, gehörte und gehört zu diversen Londoner Jazz-Formationen, ist aber auch Klassik zugeneigt. Und Adam Kowalewski (E-Bass) gehört wie Krzysztof Dziedzic zu den Jazz-Größen in Polen.

Dass Kennedy mit seinem neu gestylten Vivaldi manche Erwartung enttäuscht hat, zeigt sich an der Fluchttendenz von Teilen des Publikums. Denn zum Frühlingsanfang zwitschern elektronische Vögelchen, legen Drums sachte Patterns unter Vivaldis Melodien, schmachten Vocals in schnödester Sechziger-Jahre-Tradition „duuaah“ im Hintergrund. Dann geht’s schon mal an die elektronische Orgel und eine ziemlich schrill heulende E-Violine, füttert Adam Kowalewksi Vivaldi mit dem E-Bass auf, greifen die Violin-Mädchen des Orchesters kräftig zu, um die Musik so schrubbig wie möglich zu akzentuieren.

Doch wer nur reine Willkür riecht, liegt falsch: Kennedy macht zwar alle möglichen Faxen, ist aber ein zu intelligenter Musiker, um einfach ein Crossover zu starten. Er transformiert Vivaldi mit den Mitteln unseres Jahrhunderts, um den unterhaltenden und theatralischen Charakter der Musik bewusst zu machen. Ein Sturm, wie ihn der „Sommer“ entfesselt, kann nicht brav gezirpt werden, will er in unserer lärmenden Zeit als elementares Ereignis wahrgenommen werden. In gewissem Sinne verrät Kennedy Vivaldi, um ihn zu retten. Dass der Verrat auch in grell gegeigte Selbstdarstellung, in willkürliche Prestissimo-Raserei und in musikalischen Schabernack mündet, das muss der Hörer bei Kennedy in Kauf nehmen.

Nigel Kennedys neue CD "The Four Elements" (Sony Music, ca. 17 Euro)

Nigel Kennedys neue CD "The Four Elements" (Sony Music, ca. 17 Euro)

Die Jahreszeiten haben den Briten – der zum Auftritt mit einer „cup of tea“ hereintapst – dazu animiert, selbst „Four Elements“ zu schreiben: eine sechsteilige Suite mit Ouvertüre und Finale, bunt gemischt aus allem, was Kennedy in seinen 55 Lebensjahren an Musik aufgesogen hat. Das reicht von etwas zu lange wiederholten Patterns aus der Minimal Music bis hin zur Rockballade, zu Blues und Dixie, zur langsamen Meditation und zu softigen Wellness-Klängen. In seinen Soli arbeitet er mit Live-Loops; auch ansonsten kommt der Computer zum Einsatz, um so richtig rockige „Atmo“ zu garantieren. Das klappt mit der Frontsängerin Xantoné Blacq in „Fire“; das wirkt flächig-kitschig in den Klangflächen und Oriental-Andeutungen in „Water“.

Zwischendurch langweilt Kennedy als Talkmaster, plaudert Belangloses mit seinen Musikern und tauscht auch mal Faust-Grüßchen mit Leuten aus der ersten Reihe. Nach fast drei Stunden: Ovationen, aber auch Erschöpfung.




Die Klassik lockt mit Sex-Appeal – Während der CD-Absatz insgesamt schrumpft, wächst das Segment der E-Musik

Von Bernd Berke

Die Nachricht lässt aufhorchen: Während der CD-Absatz insgesamt seit Jahren rückläufig ist, ist der Markt für Klassikplatten zuletzt spürbar gewachsen. Woran könnte es liegen?

Die Deutschen haben 2006 rund 11 Millionen Klassik-Scheiben und damit 6 Prozent mehr gekauft als im Jahr zuvor. Der Absatz von Klassik-DVDs ist im selben Zeitraum sogar um 28 Prozentpunkte gestiegen. Auch der Klassik-Fan will seine Favoriten nicht nur hören, sondern sehen. Möglicherweise ist dies eine Nach- und Nebenwirkung der Videoclip-Kultur.

Peter Michalk, Sprecher des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft, mutmaßt: „Es gibt ja eine Renaissance der Bürgerlichkeit. Vielleicht hat der Trend zur Klassik damit zu tun.“ In diesem Zusammenhang erfahre offenbar der Musikunterricht für Kinder wieder höhere Wertschätzung. Denkbar sei also auch, dass manche Eltern Klassik-CDs erwerben, um sie ihrem Nachwuchs ans Herz zu legen.

Pop-Business prägt Konsumverhalten

Wir spekulieren mal mit: In den neuen Verkaufsziffern deutet sich wahrscheinlich an, dass das gesamte Publikum der Platten-Käufer im Schnitt etwas älter ist als früher. Klassikfans sind in der Regel gediegene Leute, die sich die meist nicht ganz billigen CDs leisten (können). Jedenfalls surfen sie wohl nur sehr selten durchs Internet, um dort Raubkopien ihrer Lieblingsmusik zu ziehen.

Andererseits ist auch diese etwas ältere Generation größtenteils mit Rock- und Popmusik aufgewachsen. Das prägt Hör-, Seh- und Konsumgewohnheiten. Da trifft es sich, dass die heutigen Klassik-Stars sich häufig wie Pop-Größen geben. Man muss hier gar nicht an wildere Vertreter wie etwa den Geiger Nigel Kennedy denken. Ein Mann wie der chinesische Pianist Lang Lang begreift sich ganz unverkrampft als Teil der weltweiten Pop-Kultur und viele andere ebenfalls. Mehr noch: Die strahlende Diva Anna Netrebko wird global glitzernd vermarktet – auf einem manchmal schmalen Grat zwischen zwischen seriöser Ausstrahlung und verhaltenem Sex-Appeal.

Auch hat sich hie .und da eine Hit- und Häppchen-Denkweise im Klassikbereich durchgesetzt. Gewisse „Format-Radios“ liefern unentwegt lediglich die „schönsten Stellen“ aus umfangreichen Werken. Nicht nur für puristische, konservative Hörer ist diese Praxis ein Graus, doch sie funktioniert im Sinne einer leichten Konsumierbarkeit.

Auch die HiFi-Technik spielt wohl eine Rolle

Wenn man sich die Plattenhüllen ansieht, ahnt man, wohin die Reise geht. Interpreten der klassischen Musik wirken längst nicht mehr so wirr-genialisch, weltenfern oder knorrig wie einst. Sie werden (mehr oder weniger dezent) erotisch in Szene gesetzt – in erster Linie natürlich die schönen Frauen der Zunft. Man denke nur an all die zierlichen Asiatinnen mit ihren schmucken Violinen. Aber auch so mancher Latin Lover spreizt sich da auf dem Cover. Imagepflege dieser Sorte ist fast schon inflationär.

Ähnliche Tendenzen zur glamourösen Oberfläche setzen sich im Literaturbetrieb gleichfalls durch. Gut aussehende Autor(inn)en haben am Markt erhöhte Chancen. Wenn sie überdies schreiben können, dürfte es in der Regel kein Hindernis sein…

Zurück zu den Klängen: Wer sich ernsthaft mit ambitionierter Rockmusik befasst, müsste sich über kurz oder lang ohnehin auch dem Jazz und der Klassik zuwenden. Hier finden sich eben die anderen Wege der Vollendung. Große, hinreißende Könner sind in all diesen Sparten zugange – um nicht gleich vollmundig von Genies zu reden.

Und noch eins kommt schließlich hinzu, nämlich die Segnungen der Technik. Wer sich eine bessere HiFi-Anlage gönnt, kommt an Klassik eigentlich gar nicht mehr vorbei. Denn die Dynamik guter Lautsprecher lässt sich mit einer Beethoven-Sinfonie ja noch mal ganz anders ausschöpfen als etwa mit den Beatles oder Beyoncé.

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HINTERGRUND

Zahl der Downloads steigt ständig

  • 2005 wurden in Deutschland insgesamt rund 124 Millionen CDs abgesetzt. Die Klassik oder so genannte „E-Musik“ hatte daran einen Anteil von immerhin rund 10 Prozent –  mit offenkundig steigender Tendenz.
  • Im ersten Halbjahr 2006 sank der gesamte Tonträger-Absatz um 3,4 Prozent. Im Vorjahreszeitraum war der Verkauf sogar um 10,1 Prozentpunkte gesunken.
  • Die abschließende Bilanz fürs Jahr 2006 wird erst Ende März vorliegen.
  • Unterdessen steigt die Zahl der Downloads im Internet Im ersten HalbJahr 2005 wurden 7.5 Millionen Einzeltracks legal heruntergeladen, im ersten Halbjahr 2006 rund 10,2 Millionen Titel.
  • Die Statistiken führt der Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft.