Ein Stoff von ungebrochener Aktualität – Ibsens „Nora“ im Westfälischen Landestheater

Nora (Pia Seiferth) (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Von Noras Puppenheim ist nicht viel übrig geblieben. Lediglich eine Spielfläche aus Eichenparkett in Fischgrätmuster, hüfthoch errichtet, füllt den Bühnenraum, erinnert entfernt an einen Boxring. Selbst dieser Rest ist für die Handelnden kein sicherer Ort. Im Verlauf des Abends werden zackenförmige Stücke aus dem Boden verschwinden, sich Abgründe auftun. Das Westfälische Landestheater (WLT) zeigt Henrik Ibsens skandalöses Erfolgsstück „Nora“ energiegeladen, laut, sportiv – und kommt dem Kern der Sache auf diese Weise erstaunlich nahe.

Jung und energisch

Im Laufe ihres langen Bühnenlebens hat „Nora“ etliche mehr oder weniger behutsame Um- und Neudeutungen erfahren. Gleichwohl ist die Frau den meisten Theatergängern als selbstverleugnendes, stets verzeihendes Gefühlswesen geläufig, der Liebe gänzlich hingegeben. Erst am Ende der Geschichte geht ihr auf, dass ihre grenzenlose Liebe kein Geschäft auf Gegenseitigkeit ist, dass sie, die Bilder sind wohlfeil, die Puppe im nämlichen Puppenhaus ist.

Die spontane Entscheidung der Bankiersgattin aus betuchtem bürgerlichen Milieu, nach abgrundtiefer Enttäuschung Mann und Kinder zu verlassen, war nicht nur im Jahr der Uraufführung, 1879, eine Ungeheuerlichkeit, sondern ist es für viele Menschen bis in unsere Tage, allen gesellschaftlichen Fortschritten zum Trotz.

Szene mit Nora (Pia Seiferth, rechts) und Frau Linde (Vesna Buljevic) (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Von einem liebenden, passiven Puppenhauspüppchen hat die Nora in Markus Kopfs WLT-Inszenierung nichts. Pia Seiferth gibt sie als energische Immer-gut-drauf-Erscheinung, als Mitglied gleichsam der Generation Smartphone (natürlich ohne Smartphone), das sich sein Leben an der Seite seines Mannes Helmer (Maximilian von Ulardt) so und genau so ausgesucht hat. So aktiv passt sie eigentlich nicht so recht zu ihrem Gatten mit seinen steten, latent aggressiven Sprüchen und Unterwerfungsgesten. Aber wo die Liebe hinfällt ist es dann eben, wie es ist.

Erpressung

Auch zwischen diesen beiden Charakteren könnte es ja noch geschehen, „das Wunderbare“ (O-Ton Nora), diese grenzenlose Bestätigung ihrer Liebe. Die Bestätigung, dass sie wichtiger ist als jede gesellschaftliche Konvention, wichtiger auch als Helmers neuer gut dotierter Job, der vielleicht gefährdet wäre, wüsste man um den Betrug seiner Gattin. Sie hatte, um es kurz zu erwähnen, die Unterschrift ihres sterbenden Vaters auf einem Schuldschein gefälscht, um sich Geld leihen zu können. Das Geld brauchte sie, um sich und ihrem Mann einen langen, lebenserhaltenden Italienaufenthalt zu ermöglichen. Und nun wird sie erpresst, und fast kommt alles raus.

Nora (Pia Seiferth) am Boden. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Der Konflikt ist relativ zeitlos, egal ob Nora schließlich mit dem berühmten Türenschlagen abgeht oder nicht. In Castrop-Rauxel entfällt das Türenschlagen sowieso, mangels Tür. Hier entschied sich der Regisseur, auch lange noch, nachdem das Licht erloschen ist, den verlassenen Helmer auf der Bühne jammern zu lassen.

Tourneetheater

Sparsame Ausstattungen – diese stammt von Manfred Kaderk – sind sozusagen eine Spezialität des Westfälischen Landestheaters und dem Tourneebetrieb geschuldet. An allen vier Seiten der „Boxring-Bühne“ finden deshalb die Auftritte und Abgänge statt, meistens unspektakulär und zweckmäßig. Der Konzentration auf das Geschehen tut dieser uneitle Inszenierungsstil gut. Weil er überdies Zeit spart, trägt er sicherlich auch dazu bei, das Stück in gerade einmal zwei Stunden (plus eine Pause) mit großer Konzentration und Vollständigkeit auf die Bühne des Studios stellen zu können.

Nora (Pia Seiferth, links) und Doktor Rank (Bülent Özdil), der sich auf der Neujahrsparty amüsiert hat und nicht mehr lange leben wird. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Auf charakterliche Ambivalenzen lässt sich diese Inszenierung nur begrenzt ein. Bülent Özdil gibt den lebenslustigen, gleichwohl, wie sich erweisen wird, todgeweihten Doktor Rank vorwiegend laut und lustig. Vesna Buljevic – etwas verhärmt, etwas vorgealtert – ist auf überzeugende Art die mittellose, arbeitsuchende Witwe Linde, eine Art mahnender Gegenentwurf zum freiheitsuchenden, unvernünftigen, skandalösen finalen Frauenbild Noras. Guido Thurk schließlich raunt sich als verzweifelt-verschlagener Rechtsanwalt Krogstad durch das Geschehen, und sie alle tragen mit streckenweise bewunderungswürdigem Körpereinsatz zum Gelingen dieser Inszenierung bei.

Das Publikum applaudierte beigeistert.

  • Termine:
  • 12.2., 25.2., 26.2., 28.2. Castrop-Rauxel, Studio
  • 1.3. Radevormwald, Bürgerhaus
  • 7.4. Versmold, Aula der Hauptschule
  • 2.10. Recklinghausen Ruhrfestspielhaus
  • 29.11. Castrop-Rauxel, Studio
  • www.westfaelisches-landestheater.de
  • Ticket Hotline Tel. 02305 9780 – 20



Das schrille Krähen der Apokalypse – Thomas Ostermeiers Berliner „Nora“-Inszenierung gastiert bei den Ruhrfestpielen

Von Bernd Berke

Marl. Brütende Hitze herrscht in der Marler Eisenlagerhalle Victoria 1/2, dieser industriellen Stätte der Ruhrfestspiele. Doch was soll’s. Hier sieht man ein gepriesenes Hauptereignis der Theaterspielzeit: Henrik Ibsens „Nora“ in Thomas Ostermeiers Berliner Schaubühnen-lnszenierung lohnt manchen Schweiß.

Der moderne Klassiker von 1879 ist ein heimliches Stück der Saison. Viele Bühnen, darunter Dortmund, haben das dramatische Prägemuster weiblichen Aufbegehrens ins Programm genommen. Doch die Berliner Fassung im kühlen Bauhaus-Ambiente, das vom vorläufig wachsenden (aber stets bedrohten) Wohlstand kündet, dürfte bei weitem unerreicht sein. Dem frisch ernannten Bankdirektor Helmer (Jörg Hartmann) geht die Karriere so sehr über alles eheliche Maß, dass er Nora jederzeit opfern würde.

Gewaltphantasien wie aus Horrorfilmen

Bei Ostermeier flackern allerlei jetzige, vorwiegend medial aufgepeitschte Krisen-Gespenster durchs Geschehen. Es ist wie ein schrilles Krähen der Apokalypse: Eingestreute Slapstick-Nummern beschwören krude Gewaltphantasien wie aus Video-Ballerspielen oder blutigen Horrorfilmen herauf. Die Machtfrage zwisehen den Geschlechtern wird zuweilen körperlich drastisch ausgetragen: Nicht nur ihr Besitz ergreifender Gatte, dieses Laptop- und Handy-Monster, sondern auch der erpresserische Krogstad und der todkranke Hausfreund Dr. Rank geben sich so unverfroren, als sei Noras Leib durchaus „verfügbar“ wie der eines sadomasochistischen Pornostars. Erschreckend: All das kommt einem ziemlich plausibel vor. Ostermeier webt das Stück vom Tod der Emotionen ins Heute hinein, er zerrt es nicht bloß herüber.

Die anfangs so sorglos-flatterhafte Nora (umwerfend präsent: Anne Tismer) wirkt zunächst wie ein Plappermäulchen vom Schlage einer Verona F.: atemlos konsumgierig, über alles hinweg trappelnd.

Der Weg führt nicht ins Freie

Unter steigendem Leidensdruck wirft sich Nora in (hilflose) Posen der Selbstbehauptung, als wolle sie wenigstens aufrecht durchs Martyrium staksen. Zugleich wachsen Hysterie und Selbstentfremdung: Entgeistert betrachtet sie ihre Hände, die ein seltsames Eigenleben führen. Bin ich das noch. die da handelt?

Schließlich handelt sie ungeheuer haltlos! Sie geht nicht einfach fort, sondern feuert kaltblütig ein Pistolenmagazin auf ihren Mann ab: ein grotesker, gurgelnder Tod im heimischen Aquarium. Als Nora die Haustür hinter sich schließt, führt der Weg nicht ins Freie, sondern in ein Niemandsland fortwährender Verzweiflung.

Termin: Heute, 31. Mai (19 Uhr). Karten: 02361/92 180.




In der Wahrheit liegt die Größe – Michael Gruner inszeniert Ibsens „Nora“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Die Garderobe der Schauspieler ist diesmal auf der Bühne sichtbar: Vor den Schminkspiegeln rauchen die Mimen noch, vollführen tänzelnd und plaudernd ihre Dehn- und Streck-Übungen. Gleich werden sie unter gleißenden Scheinwerfern ihren Auftritt haben im Theater des Lebens. Sie werden sich also verstellen und an ihren Lügen festhalten, so lange es nur irgend geht.

In den so ungeheuer folgerichtig gebauten Stücken des Henrik Ibsen verfolgen die Figuren dieses (selbst)zerstörerische Spiel bis zur Unerträglichkeit. Auch Dortmunds Schauspielchef Michael Gruner muss dies so empfunden haben, denn er treibt den dringlichen Ausruf „Schluss mit dem Theater!“ als Zentralsatz aus Ibsens Ehedrama „Nora“ hervor. Die Bühnenkunst auf der verzweifelten Suche nach der wahren und wirklichen Existenz. Einmal mehr. Paradoxe Fügung: Man müsste spielen, dass man nicht mehr spielt…

Ein durchaus korrumpierbarer Herr

Nora (Birgit Unterweger) ist das „Vögelchen“ im Ehe-Käfig; kindisch, naschhaft, geldgeil und verschwendungssüchtig flattert sie einher. Advokat Helmer (Bernhard Bauer), neuerdings Bankdirektor, hält sie sich zur niedlichen Zierde seines erfolgssatten Lebens. Doch zur Weihnacht kommt die bittere Wahrheit ans Licht: Einst hatNora eine Kredit-Unterschrift gefälscht, um eine lebensrettende Italienreise für ihren Mann zu bezahlen. Somit ist sie erpressbar.

Das kann Helmer in seiner angemaßten Strenge nicht dulden. Nicht etwa aus moralischen Erwägungen, sondern weil es seine Karriere ruinieren könnte. Erst verweigert er das „Wunder“ des Verzeihens, dann – als die Gefahr schwindet – will er weitermachen wie bisher. Ein durchaus korrumpierbarer Herr. Doch Nora ist schon entschlossen, Haus, Mann und die drei Kinder zu verlassen. Keine Lügen mehr.

Schminken auf der Bühne für das Theater des Lebens

Es gibt in diesem grandios haltbaren Stück etliche Szenen und Sätze, bei denen einem der Atem stocken sollte. Doch die Dortmunder Inszenierung scheint den Text über weite Strecken zu stutzen und eher als laue Pflichtübung zu absolvieren. Eine besondere Begeisterung für diesen Stoff will sich nicht so recht zeigen, Zugriff und Inspiration halten sich ebenso in Grenzen wie das Repertoire der Gesten. Meist schwebt nur ein etwas fahriger Geist über der Szenerie. Große Worte, in kleiner Münze ausgezahlt.

Vom Ende her gesehen, könnte dies allerdings pure Absicht sein. Etwa so: Solange sie einander etwas vorspielen, bleiben sie flache Aufsager. Sehen sie der Wahrheit ins Auge, so gewinnen sie menschliche Größe. Aber dieses Kalkül geht nur zum Teil auf: Wenn sie sich schließlich auf offener Bühne abschminkt, findet Nora auf einmal zur ernsthaften Statur, wie weggewischt ist all ihre Kinderei. Fast unvermittelt wächst nun auch die Darstellerin: Nun darf Birgit Unterweger endlich aufschließen zur abermals höchst präsenten Monika Bujinski, die als Noras Jugendfreundin zu einern ganz eigenen, hellwachen Ton findet, und zu Matthias Scheuring, der den todkranken Hausfreund Doktor Rank mit melancholischer Verhaltenheit konturiert.

Deutlich unter solchen Möglichkeiten bleibt freilich Bernhard Bauer, der den Helmer als abgeschmackten Yuppie gibt und sich hernach immer nur fassungslos an die Stirn greift. Auch Marcus Off als erpresserischer Krogstad kommt über die wohlfeilen Wonnen der Schmierigkeil nur in wenigen Momenten hinaus. Gleichwohl gab es wohlwollenden Beifall für alle Beteiligten.

Nächste Termine: 23., 30. Nov. Karten 0231/50 27 222