Selbst in der Liebeslust lauert Verzweiflung – Retrospektive zum Werk von Tomi Ungerer in Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Wenn der Zeichner und Cartoonist Tomi Ungerer von Liebesdingen erzählt, steht immer der Tod in der Nähe. Bizarre Körpermaschinen verbohren und verschrauben sich ineinander, daß es nicht nach Lust, sondern nach Verzweiflung aussieht. Vielleicht will er uns bedeuten, daß wir in diesen Zeiten zur Liebe gar nicht fähig sind?

Überhaupt ist der gebürtige Straßburger ein Pessimist von hohen Graden. Doch er kennt, wie jetzt eine umfangreiche Retrospektive mit 360 Exponaten im Schloß Oberhausen zeigt, auch idyllische kleine Fluchten vor dem Elend der Welt.

Nach Erfolgsjahren in New York hat sich Ungerer (inzwischen 64 Jahre alt) seit einiger Zeit auf die grüne Insel Irland zurückgezogen, wo er nebenher eine kleine Schafzucht betreibt. Auf manchen Bildern träumt er nun die Utopie von Frieden und Harmonie.

Verhaßte Technik macht sich breit

Doch auch in diesen entlegenen Winkel dringt allmählich der Moloch vor, den Ungerer offenbar abgrundtief haßt: die „verfluchte Technik“. So heißt denn auch eine der sieben Abteilungen des Oberhausener Überblicks. Auf einen schlichten Nenner gebracht: Von Menschen geschaffene Mechanik und Elektronik bringen die Erde um, man ist nirgendwo mehr sicher. Da schlagen sogar Bleistifte als Raketen ein, eine riesige Sprühdose vergiftet das All, und die Weltkugel trägt bereits einen wackligen Totenkopf, wenn sie sich mit einer Spritze den „goldenen Schuß“ setzt. Wichtig: Wenn man auf die Datierungen achtet, merkt man, daß Ungerer mit solchen schwarzen Visionen kein Nachbeter, sondern ein Vorläufer der Umwelt-Bewegung war.

Manchmal nimmt Ungerer gängige Begriffe allzu wörtlich oder greift zur einfachen Übertreibung. Es sind nicht seine besten Einfälle. Wäre ja auch ein Wunder, wenn er – bei einer Produktion von bislang rund 40 000 Blättern – immer ganz auf seiner Höhe bliebe. Überzeugend ist er dann, wenn Drastik und Verbitterung unmittelbar aus der Form erwachsen und nicht aufgesetzt sind. Dies gilt etwa für Ungerers Kriegs-Bilder mit schweinsköpfigen Faschisten, blutrünstigen Generälen und weinenden Gerippen. Derlei Szenarien erinnern gelegentlich an die Tradition eines George Grosz, John Heartfield oder Otto Dix. Freilich: Deren unerbittliche Schärfe erreicht Ungerer selten. Doch er zeigt das Obszöne am Krieg, das alle sexuellen Perversionen bei weitem übersteigt.

Die Zeichen der großen Misere schleichen sich auch ins Private ein, zumal auf den Kampfplatz der Geschlechter. Sexuelle Taten wirken in Ungerers Sicht oft wie plötzlicher Wahnsinn, der alle Gepflogenheiten außer Kraft setzt. Auf solche Verrenkungen könnte sogleich der Tod folgen. Es ist dies keine Pornographie zum leichten Konsum für Voyeure, wie manche Fundi-Feministinnen wähnen.

Der Teddybär ist erstochen worden

Selbst bei den Kindern, auf die Ungerer im wirklichen Leben noch vage Zukunftshoffnung setzt, scheint nicht alles in schönster Ordnung: Ein Teddybär ist brutal mit der Schere erstochen worden; ein kleiner Junge führt die Spielkameradin am Nasenring, als sei sie ein Tanzbär – und auf einem bösen Blatt vergnügen sich die Kleinen mit Fischebraten, wobei sie sich den Nachschub aus dem heimischen Aquarium angeln.

Sind wenigstens die Tiere brav? Auch nicht immer, denn sie nehmen sich die Menschen zum Vorbild: Der Kater, der sich seine Maus aus dem Münzautomaten zieht, ist gleichfalls der teuflischen Technik verfallen.

Tomi Ungerer: „Das Spiel ist aus“ – Werkschau 1956-1995. Städt. Galerie Schloß Oberhau. sen. Konrad-Adenauer-Allee 46 Tel. 0208/825-27 23) Vom 3. September bis 29. Oktober, tägl. 10-18 Uhr. Donnerstag 10-20 Uhr, Montag geschlossen. Eintritt 6 DM, Katalog 38 DM.




Mit Lust und Leid gegen die starre Moral der Samurai – „Bilder der fließenden Welt“: Holzschnitte aus Japan in Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Wogende Leiber, stürzende Linien, wilde Begattung, gewaltsame Akte. Was die Hersteller japanischer Farbholzschnitte Im 19. Jahrhundert druckten, ist nichts für zarte und prüde Gemüter. Doch die Oberhausener Ausstellung dieser Blätter bietet mehr als Sex und Crime mit historisch-exotischer Note.

Der Sog solcher Darstellungen gleicht fast der betäubenden, sinnesraubenden Wirkung neuester Comics oder Videos. Zuweilen ist alles in gegenläufiger, expressiver Bewegung begriffen, man weiß nicht, wohin man zuerst schauen soll, der Blick wird hin- und hergerissen. Grelle Farbigkeit verstärkt die Effekte.

Drastisches Beispiel: Ein Herr scheint – sehr züchtig ausgedrückt – von verschiedenen Seiten zugleich die Dame zu bestürmen, und die biegt ihren Körper, als bestehe sie aus flüssigem Stoff. Pornographie? Nicht nur. Diese verwirrende Mehrfach-Ansicht geschlechtlicher Begegnung ist ein mit genuin künstlerischen Mitteln gesteigerter Ausdruck höchster Lust. Ein bloßes Abkupfern sexueller Wirklichkeit wäre nicht halb so aussagekräftig.

Und natürlich wollen uns die Ausstellungsmacher mit ihrer Schau (einem Seitenstück zu den Oberhausener Kurzfilmtagen mit deren Japan-Schwerpunkt) nicht nur in sündige Erregung versetzen, sondern möglichst auch zum Nachdenken bringen. Besagte Szene stammt nämlich aus einem Lehrbuch der Liebeskunst und müßte im Zusammenhang betrachtet werden. Da geht es nämlich nicht nur um „das Eine“, sondern ums ganze Drum und Dran zwischen Mann und Frau.

Die Gier des fremden Blicks

Doch was taten die Europäer, als sie solche Bilder in die Finger bekamen? Sie rissen sie gierig aus dem Zusammenhang und begafften sie einzeln. Erst so wurden wirklich Ferkeleien daraus.

Ganz abgesehen davon, daß zahlreiche meditative Landschaften oder poetische Schilderungen (z. B. „Die 32 Schönheiten der Frau“) zur Ausstellung gehören, haben auch gröber gestrickte Darstellungen ihren politisch-kulturellen Hintergrund. Es waren nämlich bildliche Selbstaussagen eines aufstrebenden Bürgertums, das gegen die starren Kunst- und Lebens-Regeln des herrschenden Samurai-Adels seine „Bilder der fließenden Welt“ (Ausstellungstitel) setzte. Pralle Darstellungen von Eros, Leben und Tod sollten die verkarsteten Verhältnisse zum Tanzen bringen.

Ähnliche Zwecke verfolgte das Kabuki-Theater, dem eine ganze Bilderabteilung gewidmet ist. Hier spielten ausschließlich Männer, und am liebsten spielten sie Phantasien über ihre Wunschfrauen, nämlich dienstbare Kurtisane – wie denn überhaupt die ganze Welt dieser Bilder eine Beschwörung der (un)frommen Wünsche ist; vom männlichen Gemächt in Übergröße bis zur allzu schönen Landschaft.

Die Fremdheit der Erscheinung und die bildnerischen Mittel mildern indes für unsere Augen den Eindruck des Trivialen. Der expressive, vom bloßen Abbild gelöste Einsatz von Farbe und Linie faszinierte ja schon Europas Heroen der Moderne: Van Gogh, Munch, Schiele und Toulouse-Lautrec, um nur einige zu nennen, bezogen hier Anregungen. Und in der Tat läßt sich die Entwicklungslinie verlängern bis hin zur Ästhetik von Comic-Strips und Video-Clips.

Folglich zeigt man in Oberhausen auch Beispiele heutiger japanischer Vidcokunst, die mit der Holzschnitt.Tradition konfrontiert werden. Mal aggressiv, mal ironisch, mal übersteigcrnd, mal die Bilderflut bremsend – so vielfältig setzen sich die Künstler mit den trivialen Vorläufern auseinander. Eine durchaus produktive Reibung zweier Massenkünste aus verschiedenen Zeiten.

Kleine Kunst am Gürtel

Am Schluß kann man eine Kollektion von Netsuke sehen, aus Elfenbein und Holz geschnitzte Gürtelschmuck-Plastik. Hier findet sich das Universum der gewalttätigen Helden und schönen Frauen, der Mythen, Hexen, Drachen und Dämonen im Kleinstformat wieder. Niedlicher Alltagskitsch ist dies, sozusagen Gartenzwerge für den Gürtel.

„Bilder der fließenden Welt“. Japanische Farbholzschnitte und Videokunst. Städtische Galerie Schloß Oberhausen (Konrad. Adenauer-Allee 46 / Tel.: 0208/825.2723). Bis 5. Juni (di-so 10-18 Uhr, do 10-20 Uhr). Eintrittt frei, Katalogheft 8 DM.




„Biennale an der Ruhr“: Jenseits der Klischees

Von Bernd Berke

Eine öde Mauer mit zerschlagener Scheibe – dieses Foto „ziert“ den Katalog der dritten „Biennale an der Ruhr“. Es ist exakt dasselbe Bild wie auf dem Begleitband zur ersten Revier-BiennaIe (1984). Dauerhaft nachwirkende Resignation? Im Gegenteil: ironische Anspielung auf gängige Revier-Klischees. Vom rußigen Revier-Image wollte sich die Experten-Jury mit ihrer Auswahl bewußt weit entfernen.

Die nur 18 Künstler, die nun einige Aspekte der regionalen Szene in der Städtischen Galerie Oberhausen repräsentieren (bis 27. 11.), haben allesamt mit Bergbau oder Stahlkochen kaum etwas im Sinn. Wenn überhaupt Anklänge an diese Industrien auftauchen, dann in verrätselten Material-„Bruchstücken“.

Es gab diesmal keine Ausschreibung, sondern die Jury wählte nach eigenem Gusto und Konzept, das da etwas vage auf „Realismen im Revier“ hinauslief. Das wiederum bedeutet, wie Oberhausens Stadtgalerieleiter Bernhard Mensch klarstellt, keinesfalls Gegenständlichkeit, sondern reflektierte Haltungen zur Wirklichkeit – und die schließen verstörende Imagination keineswegs aus.

In der Ausstellung dominieren Objekte und Installationen, Malerei und Graphik spielen eine Nebenrolle. Um den hohen Standard nicht zu gefährden, hat man das Revier weitherzig definiert. Mehrere Künstler wohnen in Berlin und nur gelegentlich im Revier (Marktzwänge treiben sie in etablierte Kunstmetropolen). Auch ein gebürtiger Togolese, der in Duisburg heimisch gewordene El Loko, ist vertreten: Sein schwarz-rot-goldener Stuhl wird mit Kreuz und Kugelkette zum Sinnbild der Einengung. Deutschland – eine schwierige Heimat.

EI Loko und Peter Freese mit seinen Schablonenmenschen bedienen sich der zugänglichsten „Sprachen“. Ansonsten geht es hermetischer zu, der Betrachter wird mehr gefordert. Beispiele: Holger Leistner (Essen) versucht, mit einem strengen Piktogramm- und Schrift-Code den unfaßbaren Mord an sechs Millionen Juden zu thematisieren. Jochen Fischer (Duisburg) stellt die massiven Stücke seiner „Raumbesetzung“ – gleichsam wie eine Verteidigungslinie der Kunst – gegen den Besucher; Monika Günther (Essen) entwirft Bilder einer verschwindenden Wirklichkeit, die zugleich die Anstrengung spürbar werden lassen, Realität durch immense Schärfung der Wahrnehmung zu retten.

Von Veronika Pögel (Dortmund) sind u.a. Objekte in der spannungsreichen Materialkombination Weißblech – Haselnußgerten zu sehen. Eine der rätselhaftesten und zugleich interessantesten Arbeiten ist Hermann EsRichters „Melancholia“. Dabei besteht diese Installation aus relativ „handfesten“ Dingen: Neonröhre, Landvermesser-Stab, Kohleblock, Flügel eines Vogels. In der Zusammenstellung des Künstlers entfalten diese Dinge jedoch eine ganz eigene Magie.




Kunst-Geschenk für Oberhausen – die Sammlung Jäger

Von Bernd Berke

Oberhausen. Die Stadt Oberhausen und ihre Schloßgalerie scheinen eine geradezu magische Anziehungskraft auf Stifter und Förderer auszuüben.

Nachdem der Hansdampf-Mäzen Peter Ludwig dort vor einigen Jahren die „Ludwig-Stiftung für Kunst der DDR“ ermöglicht hatte, tritt nun mit mit dem früheren Theatermann und ÖTV-Gewerkschafter Rolf Jäger (68) ein völlig anderer Sammler-Typus als Gebender auf den Plan. Jäger, lange Jahre Justizangestellter in Duisburg, pflegte – fernab von eitlen Kunstmärkten und hehrer Kunstwissenschaft – persönliche Kontakte zu Künstlern; vor allem zu solchen, die entschieden Position gegen den NS-Staat bezogen.

Über 270 Arbeiten, vorwiegend Graphik, hat Jäger im Laufe seines Lebens zusammentragen können, rund 200 sind jetzt erstmals in Oberhausen zu sehen: „Kunst für eine Arbeiterstadt – Schenkung Rolf Jäger“ (Städt. Galerie, Sterkrader Str. 46 — bis 21. August; Katalog 15 DM).

Jäger, der die Kollektion mit bescheidenen Mitteln aufbaute, sie bislang daheim zumeist in Schränken aufbewahrte und nun über den Gesamteindruck in der Stadtgalerie staunte, sammelte nie bewußt systematisch. Ein innerer Zusammenhang stellte sich dennoch her: Jäger kam immer wieder mit Künstlern zusammen, die sich als „Verbündete der Arbeiterschaft“, der Unterdrückten überhaupt, verstanden.

Eindeutiger Schwerpunkt der Jägerschen Schenkung sind graphische Arbeiten von Otto Pankok. In der zwar nicht mit Spitzenstücken glänzenden, gleichwohl aber qualitätvollen Sammlung finden sich u. a. auch Blätter von Fritz Cremer, Gertrude Degenhardt, Günter Grass, Erich Heckel, Alfred Hrdlicka, Otto Nagel, Rudolf Rothe, Karl Schwesig, A. Paul Weber und Heinrich Zille.

Kennzeichnend für die zurückhaltende Art Rolf Jägers: Er hat der Stadt keine Übernahme-Bedingungen gestellt, außer der, die 270 Stücke nicht weiterzuverkaufen. Stadtgalerie-Leiter Bernhard Mensch: „Eine hochwillkommene Ergänzung zum Oberhausener Graphik-Bestand“.




Verwüstung der Welt und der Erinnerung – Eröffnungsprogramm der Oberhausener Kurzfilmtage

Von Bernd Berke

Oberhausen. Das Eröffnungsprogramm der 34. Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen (heute bis 23. April; 94 Filme aus 37 Ländem) weckt keine Zuversicht. Die Auftaktbeiträge des Festivals zeigen je auf ihre Weise, wie verwüstet die Welt ist – und mit ihr unser Gedächtnis. Auch unsere Hoffnung?

Eine Erinnerungs-Wüste droht sich in der Sowjetunion auszubreiten, folgt man der Aussage des Films „Das Abendopfer“ (UdSSR, 1987; Regie: Alexander Sokurow). Szenen aus dem Zweiten Weltkrieg (Kanoniere bei ihrer auf Nachlade-Mechanik reduzierten Tätigkeit) werden – gleicher Ort, andere Zeit – mit einem Massenereignis von heute kontrastiert. Tausende von Menschen strömen daher, wie ein endloser Zug nach Nirgendwo, jeder für sich isoliert in der Menge. Dazu, Zeichen von „Verwestlichung“, Rock-Fetzen auf der Tonspur. Schließlich die nächtliche Einsamkeits-Spiegelung eines Gesichts in einer Straßenbahnscheibe und rauchend herabfallende Munitionshülsen der Weltkriegskanonen. Was bleibt, sind (auch im übertragenen Sinne) nur leere Hülsen. Der Krieg liegt weit zurück, man hat nichts mehr damit zu tun. Und miteinander auch nicht mehr.

Mit kargen, etwas holzschnitthaft-überdeutlichen Mitteln, operiert der Eröffnungsbeitrag aus der Dritten Welt: In „Der Baum des Lebens“ (Somalia, 1987; Regie: Abdulkadir Ahmed Said) geht ein Mann mit geschulterter Axt durch sein Dorf – vorbei an den einfachen Dingen des Lebens. Am Wegrand sieht man Frauen bei der traditionellen Nahrungszubereitung, fröhlich spielende Kinder. Doch der Mann zieht weiter bis in ein Waldstück. Dort fällt er einen Baum, von den Hieben hallt die ganze Gegend wider. Als der Baum stürzt, erhebt sich ein Aufschrei in der ganzen Natur. Die anfangs aus Safari-Perspektive gezeigten Tiere laufen nun panisch davon, ein schreckliches Unwetter bricht los. Gipfel des Alptraums von der Umweltzerstörung: Der verzweifelte Mann findet sich in einer leblosen Wüste wieder. Am Ende freut er sich wie ein kleines Kind über einen winzigen Pflanzensproß im Sand.

Umweltzerstörung ist auch das Thema des Films „Die Ölfresser“ (CSSR, 1988; Regie: Jan Sverák). Hier nähert man sich der Sache mit Sarkasmus. Ein fiktives Wissenschaftler-Team, reportagehaft eingefangen mit wackliger Handkamera, begibt sich auf eine Expedition ins nordböhmische Braunkohlebecken, eine Industrie-Wüste sondergleichen. Dort will man die mysteriösen „Ölfresser“ aufstöbern, eine neue Tierart, die nur im übelsten Dreck gedeiht. Tatsächlich (den tschechischen Effekt-Spezialisten sei Dank) tauchen die echsenartigen Wesen bald auf. Bringt man sie an die frische Luft. röcheln sie nur noch. Preßt man ihre Mäuler an den Autoauspuff und gibt ihnen Öl oder Benzin zu saufen, leben sie auf.

Mit Samba-Musik täuscht der Streifen „Straßenkinder“ (Brasilien, 1987; Regie: Marlene Franca) zunächst eine touristische Sicht vor. Doch Franca hat in der Stadtwüste von Sao Paulo einige der 36 Millionen brasilianischen Kinder vor die Kamera geholt, die sich auf der Straße durchschlagen. Sie geben erschütternde Auskunft über Praktiken der Militärpolizei, die die schutzlosen Kinder immer wieder willkürlich aufgreift, foltert oder ermordet.




Krise bei Kohle und Stahl beschäftigt auch die Kurzfilmtage

Von Bernd Berke

Oberhausen. Die Krise im Kohle- und Stahlbereich beschäftigt auch die Oberhausener Kurzfilmtage, die gestern Abend begonnen haben.

Festivalleiterin Karola Gramann hat bewußt zwei „filmische Kommentare“ für das – wegen einer Diskussion über „25 Jahre Oberhausener Manifest“ („Papas Kino ist tot“!) – arg gestutzte Eröffnungsprogramm ausgewählt, die sich auf ganz verschiedene Weise auf die genannten Industrien beziehen: Maxim Fords „North“/Norden (Großbritannien, 1986) und Rainer Ackermanns „Aus dem Familienschacht“ (DDR, 1986).

„North“ zeigt eine sterbende Schwerindustrie-Region im Nordosten Englands. Ästhetischer Ehrgeiz wird in jeder Einstellung spürbar, zuweilen allzu spürbar. Musikalisch strukturiert, gefällt sich der 37-Minuten-Beitrag im überaus häufigen Einsatz extremer Zeifraffer-Sequenzen (rasende Wolken, pfeilschneller Straßenverkehr usw.). Während man noch rätselt, ob solche Bewegungen etwa ein Äquivalent zur rücksichtslosen Zirkulation von Kapital darstellen sollen, werden die schuldigen Mächte ziemlich direkt benannt: Da vergammeln Fahrzeuge britischer Fabrikation massenweise auf dem Schrottplatz, während – Kontrast in raschen Schnitt-Gegenschnitt-Folgen – die Niederlassung einer japanischen Autofirma ersichtlich floriert. Bootsfahrten und andere betuliche Vergnügungen einer abgelebten Oberschicht werden in Bildern eingefangen, die von Auguste Renoir stammen könnten. Auch durch die Börse bewegt sich die Kamera und zeigt Handbewegungen der Finanzmakler. Die geschmeidigen Gesten bedeuten, so die eindringliche Suggestion, Todesurteile für die Region.

„Auf dem Familienschacht“ kommt ohne solche Kunstanstrengung aus. Das dokumentarische Gruppenporträt einer Bergarbeiterbrigade aus dem Mansfelder Land (DDR) enthält sich des Kommentars, es läßt die Arbeiter selbst zu Wort kommen, beobachtet sie unter und über Tage. Kein „sozialistischerRealismus“ kommt dabei zum Vorschein, sondern sozusagen realistischer Sozialismus, will heißen: die Wirklichkeit der Arbeit ohne Heroisierung. Und dann die Szene, die bei Vorführungen in der DDR Lachsalven auslöste: Eine Bergmannsfrau zeigt ihr Hochzeitbild und erläutert, vor dem Schritt zum Traualtar habe man einander die Sünden gestanden – er hatte mal eine Dummheit gemacht und „gesessen“; sie beichtete, Parteimitglied zu sein. Die beiden „verziehen“ einander.

Auch wenn manche, die stets nach neuen Trends Ausschau halten, das Wort „Glasnost“ schon nicht mehr hören können (man sollte es in der Tat nicht zerreden) – nach dem sowjetischen Schwerpunkt bei der Berlinale war ein Pendant in Oberhausen wohl unvermeidlich.

Das sowjetische Kurzfilmprogramm wird heute um 20 Uhr im Auditorium der Luise-Albertz-Halle gezeigt, es umfaßt neun von insgesamt 80 Filmen des Wettbewerbs. Bemerkenswert etwa Nana Dzhordzhadzes grusinische Gaunerkomödie „Reise nach Zoppot“, schon 1980 gedreht und seinerzeit auf Widerstände gestoßen. Zwei Aussteiger verhökern – natürlich illegal – Sexfotos an Zugreisende und befinden sich ständig auf.der Flucht vor Ordnungshütern, die höchst unsympathisch gezeichnet werden. Natalia Schorinas Animations-Beitrag „Die Tür“ (1986) handelt von einem Wohnhaus, dessen Tür klemmt – ein Hindernis, das man auf jede nur erdenkliche Weise zu umgehen sucht. Man kann darin Metaphern auf das nötige Improvisationstalent im sozialistischen Alltag sehen oder einfach den Einfallsreichtum genießen.




Oberhausen: Schwimmbad soll Kulturzentrum mit Theater und Kino werden – Privater Verein treibt einmaliges Projekt voran

Von Bernd Berke

Oberhausen. Fast 400 Zuschauer sitzen im Schwimmbecken und schauen gespannt aufwärts. Droben, im Bereich der Startblöcke, wird nämlich Theater gespielt.

So oder ähnlich könnte es bald aussehen, wenn es nach einem privaten Verein geht, der in Oberhausen etwas Einmaliges vorantreiben will: Das stillgelegte Ebertbad (Baujahr 1896) soll zum Kulturpalast mit festen Spielstätten furs Theater (TIP) und Stadtkino sowie Zentrum für zahlreiche weitere Aktivitäten werden.

Die Kultur soll also keinesfalls „baden gehen“ – im Gegenteil. Und: Das Riesenprojekt soll die finanzschwache Stadt keinen Pfennig kosten. Durch Teilverkauf des Grundstücks bei Erhalt des Schwimmbads käme die Kommune gar zu Geld.

Der Verein, erst im Dezember ’85 gegründet, hat bereits ein vorläufiges Nutzungskonzept entworfen. Man will unbedingt verhindern, daß kommerzielle Interessenten das Schwimmbad erwerben und dann eventuell sogar abreißen. Beim „Verein Ebertbad e. V.“ rechnet man sich gute Chancen aus, sitzen doch (u. a. neben renommierten Architekten) Angehörige aller Ratsfraktionen (SPD, CDU, „Bunte Liste“) in seinen Reihen. Vereinsvorsitzender Michael Groschek, Mitglied der SPD-Ratsfraktion, nennt drei Möglichkeiten:

• Die optimale Lösung würde voraussetzen, daß für den theatertauglichen Umbau des Schwimmbades Mittel aus dem NRW-Städtebauministerium (Minister: Christoph Zöpel) fließen. Mindestbedarf: 120 000 DM. In der Tat existiert ein 40-Millionen-Topf „für beispielhafte Umnutzungen“ im Kultur- und Freizeitbereich. Heute sollen erste Vorgespräche mit einem Zöpel-Referenten beginnen.

• Die Normal-Lösung sieht vor, daß sich das TIP (Theater im Pott) mit seinem eigenen Etat sowie der Gastronomie- und Saunabereich mit ihren Erlösen jeweils selbst „tragen“, so daß auch keine Folgekosten auf die Stadt zukämen. Neueste Variante: Eine große Mülheimer Tanzschule bekundet ernsthaftes Interesse, einen Trakt zu kaufen.

• Bei einer „Notlösung“ (an eine „Null-Lösung“ mag man gar nicht denken) würde man zähneknirschend mit kommerziellen Nutzern kooperieren müssen.

Bis zum 15. Februar will jedenfalls der Verein der Oberhausener Stadtverwaltung ein ausgefeiltes Konzept samt Wirtschaftlichkeitsberechnung vorlegen. Vorüberlegun— gen lassen ein wahrhaft buntes Treiben erwarten. Prof. Roland Günther („Bunte-Liste“) vom Vereinsvorstand glaubt, daß man zahlreiche Kulturformen „durcheinanderwirbeln“ müsse, um dem Kulturgetto zu entrinnen. Neben Kino, Theater und Tanz schweben ihm und seinen Mitstreitem u. a. vor: eine „Traumgrotten“-Landschaft im Gewölbe unter dem Schwimmbecken, ein Miniatur-Theatermuseum (in den früheren Umkleidekabinen!), eine Theaterschule, eine Buchhandlung, Studios für lokalen Rundfunk (Voraussetzung: Neues Landesmediengesetz) und für Sprühfans sogar eine „Sprayer“-Wand im Hof. Kurz: Oberhausen soll eine „Theater-Vision“ (Günther) selten gekannten Ausmaßes erleben.

Was das Projekt für eine Revierstadt außerdem bedeuten könnte, erläutert Michael Groschek: Da Arbeitslosigkeit oft soziale Isolation und somit kulturelle Verarmung nach sich ziehe, könne hier ein Gegenzeichen gesetzt werden, auf daß „die ökonomische Krise nicht noch auf weitere Bereiche übergreift“. Drängt Roland Günther: „Im April sollten wir anfangen.“




Ganovenjagd geht rund um Hochöfen – Hansjörg Felmy als neuer „Tatort“-Kommissar

Von Rudolf Horsmann (alias Bernd Berke)

Das könnte der Krimi-Hit des Jahres werden. Nachdem schon die Wiederholungen aus der „Tatort“-Serie von mehr Zuschauern gesehen wurden als fast alle Erstsendungen, jagt ab April Hansjörg Felmy als neuer „Tatort“-Kommissar Haferkamp die Verbrecher durchs Ruhrgebiet. Ständige Kulisse: die Industrielandschaft.

Titelseite der WR-Wochenendbeilage vom 23./24. Februar 1974 (Fotos: Hüneke)

Hochofen A dröhnt: Abstich. Rotglühender flüssiger Stahl fließt aus der Öffnung in schmale Abflußkanäle. Da kommt ein Mann gerannt, setzt zum Sprung über die heiße Stahlmasse an, ist hinüber und sprintet um den Hochofen herum.

,,Das ganze noch einmal“, pfeift Regisseur Wolfgang Becker seinen Star Hansjörg Felmy zurück. Der ist ein bißchen aus der Puste und friert – trotz Hochofen, denn es bläst ein kalter Wind auf dem Gelände der Oberhausener Thyssen-Werke.

Kurz darauf ist die Szene „im Kasten“. Das Münchner Bavaria-Filmteam ist mit der Dreharbeit für die neue „Tatort“-Folge einen Schritt vorangekommen. „Acht Jahre später“, so heißt die Episode, wird – nach den „Tatort“-Wiederholungen der letzten Wochen – den Neuanfang der Krimireihe bilden. Vermutlicher Sendetermin: 28. April (ARD, 1. Programm).

Die Bavaria-Leute, die die Serie im Auftrag des WDR Köln herstellen, wollen mit ihrem neuen „Tatort“-Kommissar Haferkamp (Hansjörg Felmy) einen Typ auf die Mattscheiben bringen, der sich deutlich von Kollegen wie ZDF-Renner Erik Ode („Der Kommissar“) unterscheidet.

Melancholisch und geschieden

Erste Besonderheit: Haferkamp arbeitet nicht in einer „schicken“ Stadt wie München oder Berlin, sondern in der Ruhrmetropole Essen. Weitere, zum Teil ungewöhnliche Eigenschaften:

  • Der Kommissar ist ein melancholischer Mann,
  • der Kommissar ist geschieden,
  • der Kommissar trinkt gern und hat eine umfangreiche Jazz-Plattensammlung.

Fragt sich, ob Hansjörg Felmy, der früher mit Vorliebe jugendliche Helden und Naturburschen spielte (,,Wir Wunderkinder“, ,,Und ewig singen die Wälder“, „Haie und kleine Fische“), der richtige Mann für diese Rolle ist. Die WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU sprach in einer Drehpause mit dem 43jährigen Schauspieler.

Hat Felmy Erfahrung im Kommisisar-Spielen? „Ja vor zehn Jahren habe ich in ,Der Nebelmörder‘ ein Verbrechen aufgeklärt. Außerdem war ich in einem Edgar-Wallace-Film dabei.“

Glühender Stahl mildert klirrende Kälte beim Dreh

Macht ihm die Rolle des Kommissars Haferkamp Spaß? ,,Ich finde das Drehbuch sehr interessant Die Folge, die wir jetzt drehen, geht zum Beispiel völlig überraschend aus. Ganz anders als in anderen Krimis.“

Wie denkt Felmy über die Ruhrpott-Kulissen in Oberhausen und Essen? „Ich stamme aus Berlin. Und da finde ich das alles erstaunlich. Einen Hochofenabstich sehe ich heute zum ersten Male in meinem Leben.“

Angst vor dem Sprung über den flüssigen Stahl hat er nach eigenem Bekunden trotzdem nicht gehabt „Tat bei der Kälte sogar ganz gut“, meint er. Wie seine Verfolgungsjagd am Hochofen endet, möchte er natürlich nicht verraten.

Eines ist sicher: Haferkamp alias Felmy ist dem Täter sehr dicht auf der Spur. In Oberhausen wurde nämlich auch eine Szene abgedreht, in der der flüchtige ,,Schurke“ auf dem Gelände des Stahlwerks in einen fahrenden Bahnwaggon springt.

Ein Assistent mit miesem Charakter

Bei den Außenaufnahmen in Oberhausen und Essen und den Innenaufnahmen in München (wo im Atelier ein Kommissariat nachgebaut wurde) wirken außer Felmy andere bewährte Schauspieler mit: Willy Semmelrogge, Ulrich von Dobschütz (die beiden Assistenten des Kommissars). Etwas, was es bei Krimis selten gibt: Einer der beiden Assistenten, Kaslik (von Dobschütz), hat laut Drehbuch einen miesen Charakter. Er glaubt, er könne alles besser als sein Chef. Karin Eickelbaum spielt die ehemalige Frau des Kommissars. Als Gastkommissar schließlich ist bei dieser Folge ein alter „Tatort“-Bekannter dabei: Klaus Schwarzkopf.

Bis auf Hansjörg Felmy und den Darsteller, der den „Bösewicht“ mimt, war allerdings in Oberhausen kein Schauspieler dabei. Auch das ist drehbuchgerecht. Wenn es nämlich ernst wird, dann kommt eine weitere Eigenschaft des Kommissars Haferkamp zum Tragen: Er ist ein Einzelgänger.

_____________________

Rundschau-Wochenendbeilage