Klangreise in die Unterwelt: Das Orchester „Les essences“ spielt ein Konzeptkonzert im Essener Katakomben-Theater

Das Kammerorchester „Les essences“ wird vom Kulturministerium des Landes NRW gefördert (Foto: eyedoit)

Wir steigen hinab, Stufe um Stufe, Stockwerk um Stockwerk. Aus der Hitze, der blendenden Helligkeit eines Spätsommertags in die dunklen Räume des Essener Katakomben-Theaters, die uns verschlucken wie ein Höhlensystem: eine fensterlose Gegenwelt mit schwarzen Wänden und verwinkelten Verbindungsgängen.

Schon bevor der erste Ton erklingt, sind wir mitten im Spiel des Kammerorchesters „Les essences“, das diesen Ort sehr bewusst für ein Konzeptkonzert zu den Themen Trauer und Tod ausgewählt hat. Wie Klang und Raum zusammenwirken, wird bei den Konzerten dieses jungen, international besetzten Orchesters besonders deutlich. Sein Gründer und Leiter, der deutsch-türkische Geiger Önder Baloglu, legt hohen Wert darauf, die Musik mit den Orten zu verbinden, für die sie ursprünglich geschrieben wurde. So spielt „Les essences“ Serenaden unter freiem Himmel, geistliche Werke in der Kirche und Kammermusik gerne mal im Salon.

Die Räumlichkeiten im Katakomben-Theater nutzt das Orchester für eine Art Wandelkonzert. Durch eine geöffnete Seitentür spielt es in den fast vollständig abgedunkelten Saal hinein, dessen Bühne lange leer bleibt. Nur für ein paar Streichquartettstücke wechseln vier Musikerinnen und Musiker vom Nebenraum auf die Hauptbühne, wo sie nahezu ohne Beleuchtung spielen. Die weißen Oberhemden der Musikerinnen und Musiker schimmern matt im Schein der iPads, die auf den Notenpulten stehen.

Für das Publikum gibt es fast nichts zu sehen, dafür aber viel zu hören. Wie der Klang der Streicher in den Zuschauerraum hinein sickert, sich dort flächig ausbreitet und Atmosphäre schafft, hat meditative Qualitäten. Zwischenapplaus gibt es nicht, denn alle Stücke werden nahtlos durch den Obertongesang des Bratschisten Gareth Lubbe verbunden, der singend und spielend durch die Räume schreitet, als sei er ein Wiedergänger des Orpheus aus der griechischen Sage.

Durch seine Zwischenspiele verschmilzt die Programmfolge zu einer Einheit, verbunden durch das kristallklare Flöten der Obertöne, die Gareth Lubbe mit großer Beherrschung aus seinem Kehlkopf zaubert. Selbst Triller sind ihm keine Unmöglichkeit. Exotisch und zugleich vertraut wirken die diversen „Om“-Laute und Vokale, die er anstimmt. Manchmal erinnern sie auch an den Klang des australischen Didgeridoos. Die Bratsche, dem Klang der menschlichen Stimme ebenfalls nahe, ergänzt dieses Spektrum passgenau.

Önder Baloglu ist Gründer und Leiter des Kammerorchesters „Les essences“ (Foto: Ulrike von Loeper)

Das Orchester schaut seinerseits über den Gartenzaun der Genregrenzen. Türkische Klage- und Volkslieder wie „Ich bin auf einem langen, schmalen Weg“ (Uzun ince bir yoldayim) von Asik Veysel stehen gleichberechtigt neben der Trauermusik von Paul Hindemith, Benjamin Brittens „Lachrymae“ und einem Stück des im Libanon geborenen Armeniers Tigran Mansurian, der seine Komposition „Testament“ zu einem Zeitpunkt schrieb, als seine Frau sehr krank war.

Einem so dicht konzipierten und durchdachten Programm tut es kaum Schaden an, wenn live nicht alles gelingt. Es bleibt eine Randnotiz, dass die Intonation der Geigen im Variationssatz von Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ hörbar auf die Probe gestellt wird. Dafür blühen Puccinis „Chrysanthemen“ in einer Luft auf, in der ein Hauch von Salon liegt: fein parfümiert, ohne übergroße Süße.

Samuel Barbers berühmtes „Adagio for Strings“ in einem einzigen, bruchlosen Crescendo zum Höhepunkt zu steigern, ist in der Kammermusikbesetzung weit schwerer als mit einem großen Sinfonieorchester. Aber die Musikerinnen und Musiker von „Les essences“ treffen die richtige Stimmung: Der resignierte Tonfall legt sich wie Mehltau über die weit geschwungenen Melodiebögen. Hätte dieses Programm im Rahmen der Ruhrtriennale stattgefunden, zu der es übrigens nahezu perfekt gepasst hätte, wäre es gewiss gefeiert worden.

Damit der Abend nicht gar zu morbid endet, gibt es zum Ausklang einen Rembetiko: die Musik des griechischen Undergrounds, entstanden aus den Liedern rebellischer Außenseiter. Das Publikum regt sich, verlässt den Saal zu lebensfrohen Klängen. Draußen scheint die Sonne noch immer.

(Transparenzhinweis: Die Autorin ist freie Musikjournalistin, unterstützt das Orchester aber gelegentlich bei der Pressearbeit. Weitere Informationen zu „Les essences“ unter https://lesessences.net/)




10 Jahre Festival NOW! für neue Musik: Aufbruch in andere Klangwelten – jäh durch Corona gebremst

Ab Montag, 2. November 2020, fallen – wegen der aktuellen Corona-Lage –sämtliche Veranstaltungen des Festivals NOW! aus. Der folgende Vorbericht kann leider nur noch den vorherigen Stand der Planungen wiedergeben.

Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem die Corona-Pandemie das Reisen so gut wie unmöglich macht, hatte sich das Festival NOW! in Essen vorgenommen, musikalisch „von fremden Ländern und Menschen“ zu erzählen.

Wird beim Festival NOW! in einigen Konzerten gewürdigt: Komponistin Unsuk Chin. Foto: Eric Richmond/ArenaPAL

Hein Mulders, Intendant der Philharmonie mit seiner rechten Hand Marie Babette Nierenz und Folkwang-Professor Günter Steinke planten um, luden Künstler ein, die nicht in ihren fernen Heimatländern festsitzen, aber dennoch Klänge ihrer Herkunfts- oder ihrer Sehnsuchtsländer mitbringen. Das Ergebnis laut Planung: 16 Veranstaltungen zwischen 29. Oktober und 8. November, 22 Uraufführungen und ein Programm, so bunt wie die Farbschnipsel auf dem Cover des Begleithefts. Alles unter der Voraussetzung, dass der Kulturbereich nicht wieder einem Lockdown unterworfen werden würde. Dies ist aber jetzt der Fall.

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders zeigte sich zuvor „überglücklich“, das Fest neuer Klänge in einem so verflixten Jahr feiern zu können, auch wenn im Saal der Philharmonie – Stand vor ein paar Tagen – nur 250 Zuhörer zugelassen sind. Nur durch viele Partner ist es möglich, ein derart vielgestaltiges Ereignis auf die Beine zu stellen: Die Folkwang Universität der Künste und der Landesmusikrat NRW waren schon bei den ab 2007 laufenden Reihe „Entdeckungen“ dabei; seit der Überführung ins Festival NOW! vor nunmehr zehn Jahren sind einige andere dazugekommen, etwa von Anfang an die Kunststiftung NRW, die Stiftung Zollverein, PACT Zollverein und seit 2019 die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.

Das NOW!-Programm lässt ahnen, wie unbeschwert die „neue“ Musik in den letzten Jahrzehnten stilistische Limits und geografische Grenzen übersprungen hat. Längst sind es nicht mehr die Europäer, die sich an „exotischen“ Importen erfreuen, die sie wie weiland Gluck oder Mozart als fröhlich lärmende Janitscharenmusik in den europäischen Kontext zwängten. Längst sind es auch nicht mehr die bildungsbeflissenen Musiker aus dem fernen Osten, die ihre Begeisterung für europäische Kunstmusik in ihre Heimatländer brachten und dort im schlechten Fall imitierten, im besten Fall zu einer Symbiose mit eigenen Traditionen verschmolzen.

Passé sind auch die Zeiten, in denen es genügte, ein Sinfonieorchester mit etwas tempelhaftem Bling-Bling zu garnieren, um „Fremdes“ zu integrieren. Der Wandel, von dem NOW! auch zeugt, reicht tiefer: Menschen bewegen sich in vielfältigen kulturellen Kontexten, in denen sie nicht aufgewachsen sind. Andere sind in zwei Kulturen tief verwurzelt, wieder andere verlassen – manchmal auch unfreiwillig – ihre Heimat und suchen in der Fremde eine neue. Die Lebenssituationen sind so unterschiedlich wie die Herkünfte, Traditionen und Interessen. Und daraus erwächst zur Zeit unglaublich viel Spannendes, ereignen sich Aufbrüche, die das befürchtete „Ende der Musik“ doch ein gutes Stück hinausschieben.

Beispiele aus dem NOW!-Programm: Unsuk Chin, in Korea geboren, dort und bei György Ligeti in Hamburg ausgebildet, lehnt es strikt ab, ihre Musik einem bestimmten Kulturkreis zuzuordnen. Sie beschäftigt sich mit europäischer Moderne und mit Gamelanmusik aus Bali, mit koreanischen Instrumenten und mit mittelalterlichen Kompositionstechniken. „Cosmigimmicks“, ein Stück für Ensemble, 2013 bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik uraufgeführt, spielt im Titel mit diesem universalen Interesse, ironisiert den eigenen Anspruch zu „gimmicks“ und erinnert in seinen fragilen Klängen nach Aussage der Komponistin an Schattentheater, Pantomime oder Puppenspiel. Das Ensemble Musikfabrik bringt das Stück am 30. Oktober um 20 Uhr in der Philharmonie Essen, zusammen mit der Uraufführung von „fragments inside“ der persischen Komponistin Elnaz Seyedi, die ab 2020/21 Composer in Residence für die Bürger:innenOper der Oper Dortmund ist. Maliko Kishinos „Ochres II“ nimmt japanische Traditionen auf; die in Kyoto geborene Komponistin wuchs in einem Tempel auf.

Önder Baloglu. (Foto: Ulrike von Loeper)

Ganz aktuell auf die Corona-Pandemie gehen 24 Miniaturen ein, die am 31. Oktober, 17 Uhr in einem Konzert in der Neuen Aula der Folkwang Universität in Essen-Werden uraufgeführt werden: „Unvoiced Diaries“ des im türkischen Adana geborenen Konzertmeisters der Duisburger Philharmoniker, Önder Baloğlu, sind kaum eine Minute dauernde Stücke für Violine solo von 24 Komponisten, entstanden während der erzwungenen Untätigkeit ab März dieses Jahres. Uraufgeführt werden auch „Khronos“ des Brasilianers Celso Machado, ein Stück für das afrikanisch-brasilianische Berimbau, Gitarre und Elektronik; außerdem Werke von Levin Zimmermann und Po Chien Liu.

Der Komponist Mithatcan Öcal. (Foto: privat)

Für sein Konzert am 31. Oktober, 20 Uhr, in der Philharmonie Essen bringt das WDR Sinfonieorchester Köln eine „Klassikerin“ der Neuen Musik mit: Younghi Pagh-Paan und ihr Stück „Lebensbaum III“ von 2015. Die Koreanerin steht für die kreative Verbindung koreanischer Volksmusik mit europäischen kompositorischen Parametern. Außerdem erklingen „Yet“ des 1981 geborenen und 2010 tragisch verstorbenen Franzosen Christophe Bertrand, „Zipangu“ des 1983 in Paris ermordeten Kanadiers und Stockhausen-Schülers Claude Vivier, der asiatische und iranische Musik studiert hatte, und die Mini-Oper „Belt of Sympathies“ des 2019 von der Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichneten türkischen Komponisten Mithatcan Öcal.

Klang und Bewegung auf PACT Zollverein

Aus Syrien stammt die Komponistin Dima Orsho. (Foto: Martina Novak)

PACT Zollverein beteiligt sich am NOW!-Festival am 1. November mit dem Tanzprojekt „The Waves“ des Choreografen Noé Soulier. Sechs Tänzerinnen und Tänzer und die beiden Perkussionisten des Ictus Ensembles, Tom de Cock und Gerrit Nulens, untersuchen das Beziehungsgeflecht von Geste, Bewegung und Klang. In der Philharmonie Essen geht es am 1. November in den Nahen Osten: Hasti Molavian (Gesang) aus dem Iran und das E-MEX-Ensemble präsentieren unter anderem Werke der syrischen Komponisten Zaid Jabri und Dima Orsho. „Khorovod“, das Stück, das dem Konzert den Titel gibt, stammt von dem in London geborenen Julian Anderson und bezeichnet einen russischen Rundtanz.

Die Musik Afrikas vorzustellen, ist einer der diesmal nicht erfüllbaren Wünsche der Festival-Macher. Nicht nur, weil die Reisemöglichkeiten fehlen, sondern auch weil sich die Musik dieses Kontinents vornehmlich in Pop und Folk äußert. Das Ensemble Modern hätte am 7. November in der Philharmonie Essen seinen 40. Geburtstag mit einem Programm feiern sollen, zu dem ausschließlich Komponistinnen und Komponisten mit afrikanischem Background zu Klang gekommen wären: Daniel Kidane und Hannah Kendall (Großbritannien), Tania León (Kuba), Jessie Cox und Alvin Singleton (USA) sowie Andile Kumalo aus Südafrika.

Weitere Informationen: www.theater-essen.de