Musikalisch lohnende Mozart-Rarität: „Ascanio in Alba“ an der Oper Frankfurt

Die künstliche Welt im Zentrum: „Ascanio in Alba“ mit Kateryna Kasper (Venus) und Cecelia Hall (Ascanio). (Foto: Monika Ritterhaus)

Glückliche Menschen, wenn das Sollen und das Wollen in so wunderbarer Übereinstimmung zueinander finden. Für die junge Silvia ist der vorher bestimmte Bräutigam zugleich der Mann ihrer Träume.

Ein Wunder ist das nicht, hat doch keine Geringere als die Göttin der Liebe, Venus höchstpersönlich, das Verhältnis für ihren Sohn Ascanio arrangiert und Amor losgeschickt, um die Träume des Mädchens zu manipulieren, das sich prompt in das Traumbild Ascanios verliebt.

Der Konflikt, der daraus in Wolfgang Amadeus Mozarts „Ascanio in Alba“ entsteht, ist ein milder. Nur kurz währt die Wehmut, als Silvia einen jungen Unbekannten kennenlernt, der dem Mann ihrer Träume gleicht. Aber sie ist ja „Ascanio“ versprochen, den sie nie gesehen hat. Dieser Verpflichtung bleibt sie, ihre Neigung unterdrückend, treu. Bald belohnt Göttin Venus die standhafte Braut und offenbart ihre sorgfältig eingefädelte Tugendprobe: Der Geliebte aus ihren Träumen ist niemand anderes als ihr Bräutigam! Silvia und Ascanio haben die Prüfung bestanden und werden verheiratet; Wonne und Jubel durchziehen das Ende der musikalisch erstaunlich avancierten Partitur des 15jährigen Mozart.

Eine Allegorie für die Gegenwart?

Bei der Frankfurter Erstaufführung der „festa teatrale“ (aus dem Jahr 1771) versucht Regisseurin Nina Barzier tapfer, die Allegorie auf die Hochzeit des Habsburgers Ferdinand Karl mit Maria Beatrice d’Este in die Gegenwart zu holen. Im Bockenheimer Depot baut Christoph Fischer dafür eine kugelförmige Bühne wie einen abgeschlossenen Globus, in dem alle gefangen sind. Eine Galerie bietet der Göttin Venus – im beziehungsreich ausgedachten Libretto von Giuseppe Parini ein Reflex auf die Mutter Ferdinands und Ehestifterin Kaiserin Maria Theresia – den passend erhobenen Auftrittsraum.

In Fenstern ist verschwommen eine Außenwelt zu ahnen, die aber keine Rolle spielen darf. Die Natur muss draußen bleiben. Auf einer halbierten Weltkugel rollt dagegen eine kristalline, magisch beleuchtete Skyline herein: Symbol der neuen Stadt Alba, die der mythische Gründer Ascanio errichten soll, aber auch eine Chiffre für die künstliche, selbst konstruierte Welt der Figuren. Denn Venus tritt bei Brazier auf wie eine coole Konzernchefin, die alles unter Kontrolle hat – eine mächtige Frau wie aus einem Science-fiction-Märchen, in dem es freien Willen oder wild wuchernde Emotionen nicht mehr gibt, die Menschen aber auch nicht mehr merken, wie sie manipuliert sind – oder es willig akzeptieren.

Ein Spiel mit komplementären Farben

Dieses luftige Spiel mit künstlichen Konflikten wird von einer raffinierten Farbwahl der Bühne Fischers und den Kostümen von Henriette Hübschmann sinnlich unterstützt. Jonathan Pickers flutet das Bühnen-Ei mit sattgelbem Licht, in dem das saftige Blau der Kostüme des Venus-Gefolges durch die komplementäre Farbwirkung umso kraftvoller wirkt. Die Pink-Schattierungen, in denen Ascanio und Silvia auftreten, beißen sich damit – aber wenn sich das Licht ins Lindgrüne verschiebt, ergibt sich auch mit dem Pink ein komplementärer Gegensatz. So spiegeln sich in den intensiven Farben die Beziehungen und die wirklichen Verhältnisse der Figuren wider. An so viel kluger Offensichtlichkeit hat man seine Freude.

Viel zu gewinnen für heute ist aus diesem Jugendwerk ansonsten nicht, auch wenn Nina Brazier versucht, die Problematik der arrangierten, politisch motivierten Ehe in die Gegenwart ´zu übertragen. Aber die klassische Konfliktsituation zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen findet sich in anderen Opern des 18. Jahrhunderts eindrücklicher und emotional-musikalisch bewegender gestaltet. Was über die Zeit hinaus spannend wäre, der Konflikt zwischen dem Traumbild eines Menschen und seiner realen Existenz, bleibt in Braziers Inszenierung ein Nebenthema. Da sich die Regie aber auf die Personen einlässt, ihnen Profil gibt und die Bezüge szenisch intensiv gestaltet, kommen keine Längen auf. Die knapp zweieinhalb Stunden ziehen sich nicht.

Souveräne Musik eines 15-Jährigen

Das ist auch Verdienst der Musik, die letztlich rechtfertigt, das aus der Zeit gefallene, stark an seinen Zweck gebundene Stück zu spielen. Mozarts formale Souveränität, seine melodische Erfindungskraft, seine Instrumentation – die Bläser sind markant, aber noch nicht so selbständig wie später – tragen den Abend. Alden Gatt, seit dieser Spielzeit Kapellmeister und Assistent des GMD an der Frankfurter Oper, leitet das Frankfurter Opern- und Museumsorchester zu straffen, aber nie überzogenen Tempi an, sucht einen eher strahlend kompakten statt transparenten Klang, lässt den Sängern Raum, sich zu entfalten…

…und die nutzen ihre Chance fabelhaft. Wieder einmal ist zu hören, wie erfolgreich sich Bernd Loebes beharrliche Ensemblepflege auswirkt. Die Rollen sind nach Typen besetzt, aber die jungen Leute auf der Bühne bringen auch technisch ungetrübt ausgebildete Stimmen mit und setzen ihr Potenzial erfrischend musikalisch gestaltend ein. Kateryna Kasper ist die erfahrenste unter den Solistinnen und bereits seit zehn Jahren im Ensemble. Ihre Venus changiert mit Autorität zwischen den mütterlichen und den herrscherlichen Zügen der Figur, die nach dem Vorbild Maria Theresias durchaus die umfassende Kontrollgewalt über ihre „Kinder“ beansprucht.

Cecelia Hall als Ascanio. (Foto: Monika Ritterhaus)

Karolina Bengtsson, seit dieser Spielzeit im festen Ensemble, hat das passende Timbre und die bezaubernde Finesse für die Rolle der jugendlichen Braut Silvia. Ascanio, mit sanftem Sentiment und runden Tönen gesungen von Mezzo Cecelia Hall, ist der wohlerzogene Bräutigam, ganz so fügsam wie das historische Vorbild, der zur Zeit seiner Hochzeit 17jährige Ferdinand. Ein formidabler Tenor aus dem Opernstudio, Andrew Kim, ist eigentlich als Priester Aceste ein williger Helfer der Venus auf Erden – in Braziers Deutung mutiert er zu einer Art Assistent. Kim singt mit unbekümmerter Verve, glänzendem Material und ein wenig zu jugendlich riskanter technischer Brillanz.

Ähnlich Anna Nekhames als Fauno mit dekorativen virtuosen Koloraturen und anspruchsvollen, mit technischen Kunststückchen gespickten Läufen: Die junge Sopranistin, 2022 dem Opernstudio entflattert und gleich zur „Königin der Nacht“ avanciert, lässt es nicht an der „geläufigen Gurgel“ mangeln, darf aber in der Kontrolle des Stimmsitzes noch zulegen, um ihre künftige Entwicklung gefährdungsfrei weiterzuführen. Auch Sekretärin (Aijan Ryskulova), Bodyguard (Stefan Biaesch) und die beiden als liebreizrosa Hostessen ausstaffierten Freundinnen Silvias (Valentina Ziegler, Isabel Casás Rama) fügen sich bruchlos in das visuelle und vokale Konzept der Aufführung ein. „Ascanio in Alba“ wird allein wegen seiner Thematik eine Mozart-Rarität auf der Bühne bleiben, musikalisch lohnt sich die Begegnung jedoch allemal.

Vorstellungen noch am 30. Dezember, 1. und 3. Januar. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/ascanio-in-alba/?id_datum=3576




Rudi Stephans einzige Oper „Die ersten Menschen“ in Frankfurt: Tobias Kratzer entdeckt ein aktuelles Endzeitstück

BegBegehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel)ehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). Foto: Matthias Baus.

Begehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). (Foto: Matthias Baus)

Die Frau steht am Fenster und schaut hinaus auf sanft geschwungene Hügel, grüne Hecken, blühende Rapsfelder unter blauem Himmel. Im Raum waltet werkelnd ein Mann, pflegt ein Beet unter einer UV-Lampe. Ein Stromaggregat ist zu erkennen, neben der Wohnküche eine Kammer mit Dosen und Einmachgläsern. Bis zu 200.000 Prepper bereiten sich Schätzungen zufolge in Deutschland auf einen Zivilisationskollaps vor; auf der Bühne der Oper Frankfurt blicken wir in Rudi Stephans Oper „Die ersten Menschen“ auf eine Familie, die in ihrem Bunker eine solche Katastrophe überlebt hat.

Nach draußen geht der Weg über einen Schacht, der nur mit Schutzmaske erklettert wird. Die Naturidylle in den Fenstern erlischt bei einem Stromausfall und erweist sich als bloße Projektion auf LED-Screens. Frau, Mann, zwei erwachsene Söhne: die letzten Menschen stehen vor uns.

Tobias Kratzer, ab 2025 Intendant der Hamburgischen Staatsoper und ein gesuchter Regisseur („Tannhäuser“ in Bayreuth), hat das Thema der Oper virtuos umgedeutet, ohne dem Sujet Gewalt anzutun. Denn eigentlich geht es um Adam und Eva, Kain und Abel – das ist das Personal von Rudi Stephans Oper aus dem Jahr 1914. Der höchst begabte Komponist blieb 1915 in der heutigen Ukraine auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs, eines von Millionen sinnlosen Opfern; einer, dessen Genius elend ausgelöscht wurde.

Passionierte, drängende Musik

Die Sehnsucht nach dem "wilden süßen Weib":

Die Sehnsucht nach dem „wilden süßen Weib“ führt zu einem ersten Gewaltausbruch: Iain MacNeil (Kajin) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm). (Foto: Matthias Baus)

Welches Potenzial in dem 28-Jährigen am Erwachen war, eröffnet Sebastian Weigle dem Ohr mit dem sinnlich-üppig aufblühenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester – die letzte von 38 Premieren mit ihm in 15 Jahren als Generalmusikdirektor in Frankfurt. Eine würdige Wahl: Die Epoche der in die Moderne hinüberklingenden Spätromantik liegt dem Dirigenten besonders nahe, das hat er mit Richard Strauss oder Franz Schreker bewiesen. Und der junge Rudi Stephan zeigt in jedem Moment seiner passionierten, drängenden Musik, dass er alle Mittel seiner Zeit verlegenheitslos beherrscht. Es gibt keine Durchhänger in den zweieinhalb Stunden.

Schon in der ersten Szene deckt Kratzer auf, welche psychischen Konstellationen die Beziehungen bestimmen. Auch dass die Figuren der Bühne mehr repräsentieren als ein individuelles Schicksal. Es geht um Lebenstriebkräfte, die den Zugang eines Menschen zu seiner Welt bestimmen: Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung (Eva), Arbeit und Weltgestaltung (Adam), sexuelles Begehren (Kain) und Erfahrung des Transzendenten, die sich im Begriff „Gott“ verdichtet (Abel). Das Libretto verwendet die hebräischen Namens-Umschriften Adahm, Chawa, Kajin und Chabel mit einem dialektischen Sinn: Die Personen werden näher an die jüdische Heilige Schrift gerückt, gleichzeitig markieren die Bezeichnungen eine Distanz zur christlich-lateinischen Überlieferung und zur biblischen Thematik des Sündenfalls und der gestörten Gottesbeziehung.

In diesem Setting entwickelt sich eine Familienkonstellation, die eher an Ibsen, Strindberg und Freud denken lässt als an die Bibel. Adahm ist der unermüdliche Gestalter, der auch nach der Katastrophe aus seinem Geiste die Welt „neu pflanzen“ will. Seine Emotionen sind „im Brunnen in der Brust“ tief verschüttet. Chawa formuliert nach einem an Wagners „Tristan“ erinnernden Englischhorn-Solo in großen erotisch geladenen Bögen ihre Sehnsucht nach Nähe, unverständlich für ihren Mann, der den Sinn des Lebens in Arbeit sucht, ein „höheres Eden“ schaffen will: Das „neue Kleid“ für seine Frau ist eine praktische Schürze. Explizit und von explosiver Musik drastisch unterstützt, formuliert das Libretto das Erwachen von Kajins jugendlich ungestümer Sexualität: Aus unbestimmtem Drängen – er „fühlt nicht, was es ist, und fühlt doch, es ist da“ – kristallisiert sich das Begehren, das sich auf die einzige Frau dieser hermetischen Welt, seine Mutter Chawa richtet.

Präziser Sprach-Expressionismus

Der heute völlig unbekannte Dramatiker Otto Borngräber (1874-1916) hat diese Entwicklung in der überspannt expressionistischen Sprache des Librettos ohne blumige Umschreibung ausgedrückt – so explizit, dass die Uraufführung seines Schauspiels 1912 in München zum Skandal geriet und das Stück verboten wurde. Bei aller möglichen Kritik am Pathos der Worte: Borngräber erfasst die menschlichen Triebkräfte ungeniert direkt, anders als etwa Hugo von Hofmannsthal im raunenden Ungefähr seiner allegorischen und symbolischen Verschlingungen.

Ambur Braid (Chawa) und Iain MacNeil (Kajin). Foto: Matthias Baus.

Wenn sich Kajins aggressive Suche nach der Erfüllung seines sexuellen Begehrens zuspitzt, wechselt der Schauplatz auf Rainer Sellmaiers Bühne. Im düsteren Licht (Joachim Klein) wird eine zerstörte Welt sichtbar. Baumstümpfe, ein hoch gemauerter Kamin, ein aschgrau ausgebranntes Auto. Die Gestelle von Kinderschaukeln und ein wunderhaft farbenfroh gebliebenes Aufblas-Schwimmbecken signalisieren: Hier könnte einst ein Garten Eden gewesen sein, ein Zauberland verlorener Kindheit, bevor die Schlange dem Menschen das Wissen um „Gut“ und „Böse“, die Distanz zu sich selbst und zu seiner Umwelt eröffnet hat. Hier legen Chabel und Chawa ihre Masken ab, hier kommt es in einer Mischung aus religiöser Ergriffenheit und zitterndem Begehren zum Sex. Kajin, der zu kurz gekommene Bruder, oft begleitet vom „schmutzigen“ Instrument Saxophon, erschlägt Chabel in einem urgewaltigen Ausbruch purer Verzweiflung, ohnmächtig seiner ausbrechenden Gewalt ausgeliefert. In solchen Momenten zeigt sich, wie genau Kratzer die Personen führen kann, wie gekonnt er die inneren Kräfte und Konflikte der Charaktere freilegt.

Das Ende umreißt noch einmal den ganzen Horizont des Geschehens – und Stephans Oper bezieht in ihre Dramatik Eckpunkte der Religionskritik ein, die bis heute gültige Fragen stellen. Es geht um den Begriff des Existenz Gottes: Ist „Gott“ eine grenzenlose Lüge, schaffen wir ihn uns selbst, um unserer durchs All taumelnden Welt einen Sinn zu geben? Hat alles Geschehen seinen Grund, aber der ist ein Fluch (Adahm)? Was bringt es dem Leben, wenn ich einen Begriff von Gott habe (Chawa)? Und vor allem: Ist Gott gerecht, sieht er das „blutenden Herz“ (Kajin)? Was in Borngräbers Text formuliert ist, macht Kratzer auf der Bühne erlebbar: Theaterkunst von ungeahnter Tiefe und hohem Können. Wenn am Schluss für den sich selbst kastrierenden Kajin und das Elternpaar ein „neuer Tag“ anbricht, kriechen lemurenhaft graue Gestalten aus den Trümmern der alten Welt. Einer Welt, deren Bedürftigkeit nach Erlösung aus jeder ihrer düsteren Klüfte klagt.

Entdeckungen beanspruchen Aktualität

Die Frankfurter Produktion der „ersten Menschen“ bestätigt die Erfahrung mit anderen Werken abseits des Repertoires: Eine früher gar nicht einmal erfolglose Oper, länger vergessen, erweist sich als aktuell in ihrer Korrespondenz mit drängenden Themen unserer Gegenwart. Dafür hat es in den vergangenen Spielzeiten einige überraschende Beispiele gegeben: Karol Rathaus‘ „Fremde Erde“ in Osnabrück, Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“ in Bonn, Walter Braunfels‘ „Die Vögel“ in Köln, Ernst Kreneks „Leben des Orest“ in Münster, Peter Tschaikowskys „Zauberin“ in Frankfurt, Gioachino Rossinis „Le Siege de Corinthe“ in Erfurt, Benjamin Godards „Dante“ in Braunschweig. Nicht zu vergessen eindrucksvolle Uraufführungen, von „Dog Days“ von David T. Little ebenfalls in Braunschweig über „Blühen“ von Vito Žuraj in Frankfurt bis „Dogville“ von Gordon Kampe in Essen. Keine Rede davon, dass die Kunstgattung Oper an ihr Ende gelange, was im Zusammenhang mit der eingebrochenen Kartennachfrage bei den Bayreuther Festspielen wieder herbeigeraunt wird.

Doch Frankfurt macht auch auf Rudi Stephans „eigene, neuartige Tonsprache“ – so der Kritiker Paul Bekker – aufmerksam, die sich zwischen Wagner-Erbe, Strauss-Innovation und Schreker-Sensualismus ihren Weg erkämpft. Sebastian Weigle schreitet den musikalischen Horizont ab, von Stephans Spektrum grell dissonanter Akzente bis zu smarten Akkordfolgen, wie sie zwanzig Jahre später Paul Abraham in seinen Operetten verwendet hat, von einer Klangfarbenpalette auf der Höhe der Zeit bis zu ausladenden melodischen Konstrukten für die Solisten.

Das Personenquartett ist szenisch gefordert und muss sich musikalisch im Wagner-Format bewähren. Ambur Braid als Chawa zeigt gestützte Präsenz, lässt aber auch die Anstrengung der großen Bögen in der Höhe merken. Andreas Bauer-Kanabas gibt den leidenschaftslosen Adahm präzis deklamierend, aber auch mit einer trockenen Verzweiflung, die sich hinter Pragmatismus verkriecht. Iain MacNeil hat als Kajin die komplexeste Figur zu verkörpern und realisiert sein wildes Aufbegehren, seinen verzweifelten Zynismus, aber auch das drängende Pathos der Figur mit einem in Farben und Klang imponierenden Bariton. Ian Koziara sichert die visionären Leuchtetöne des Chabel im Timbre seines Zentrums ab, die Passaggio-Übergänge und die Höhen wirken angefochten.

Die Oper Frankfurt hat mit Rudi Stephans singulärem Werk wieder einmal längst fällige Entdeckerarbeit geleistet und sich als wichtiges Kraftzentrum der Oper in Europa bewiesen. In der kommenden Spielzeit mit ihren elf Premieren setzt Intendant Bernd Loebe diese Linie fort. Während sich der Nachfolger von Sebastian Weigle als GMD, Thomas Guggeis, am 1.Oktober mit Mozarts „Le Nozze di Figaro“ vorstellt, verspricht der Spielplan mit „Le Grand Macabre“ des vor 100 Jahren geborenen György Ligeti, Mozarts Frühwerk „Ascanio in Alba“, Alexander Zemlinskys „Der Traumgörge“ und Wolfgang Fortners „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“ wieder erstrangige Befragungen jenseits des Mainstreams.

 




Auf Entdeckungstour: Die Oper Frankfurt präsentiert in Rossinis „Bianca e Falliero“ erlesenste Gesangskultur

Gefühle brechen Mauern – oder nicht? Karoly Riszs Bühne für Rossinis „Bianca e Falliero“ in Frankfurt, hier mit Heather Phillips (Bianca) und Beth Taylor (Falliero). Foto: Barbara Aumüller

Ein gewaltiger Kontinent liegt vor uns. Einige seiner zentralen Orte sind wohlbekannt und häufig frequentiert. Andere liegen abseits, kaum jemand weiß ihre Namen.

Zwar gibt es immer wieder – und immer häufiger – Expeditionen an solche entlegenen Stellen, denen aber kaum Neugierige folgen, obwohl ihre Schönheiten gerühmt werden. So bleiben diese Orte unbekannt, das Leben braust an ihnen vorüber.

Der Kontinent, es ist ein musikalischer, heißt Gioacchino Rossini. Außerhalb seiner Metropole namens „Il Barbiere di Siviglia“ wird der Verkehr schnell weniger. Es gibt ein paar beschaulichere Vororte, aber in die vielen weißen Flecken seiner Landkarte verirren sich nur Enthusiasten und Connaisseurs. Die Oper Frankfurt hat sich als eines der großen Repertoiretheater weltweit in den letzten Jahren des kaum erforschten Geländes angenommen und in mittlerweile vier Erkundungsgängen Werke vorgestellt, die sonst vornehmlich bei spezialisierten Festivals begegnen: Nach „La gazza ladra“ 2014 kam fünf Jahre später „Otello“ und kurz vor Ausbruch und als Opfer der Pandemie 2020 „La gazzetta“ – sämtliche in ambitionierten Inszenierungen, kundig dirigiert und fast durchweg auf der Höhe heutigen Rossini-Gesangs besetzt. Jetzt folgt die (vorläufig?) letzte Trouvaille dieser Serie, das 1819 für Mailand geschriebene Melodramma „Bianca e Falliero“.

Und wie im „Otello“ – vor kurzem auch am Musiktheater im Revier zu erleben – versetzt die Musik des „ernsten“ Rossini in Staunen. Da ist nichts zu hören von der angeblich so heiter-apollinischen Tändelei eines Genießers, der ansonsten als Verfasser (sämtlich verlorener) Gourmet-Rezepte in die Geschichte eingehen sollte. Da sucht man auch vergeblich die in polemischer älterer Literatur so angeprangerten Selbstzitate und leeren Wiederholungen. Nur das Schlussrondo der Sopranistin ist aus der zwei Monate vorher in Neapel uraufgeführten und in Mailand noch unbekannten „La Donna del Lago“ übertragen, und eine kurze Bläsersequenz erinnert an die Ouvertüre zu Rossinis letzter italienischer Oper „Semiramide“. Dafür hört man aber ausgefeilte Ensembleszenen, ein von Zeitgenossen und Nachfahren vielgerühmtes Quartett und einen dramatisch verdichteten virtuosen Koloraturgesang, dem man höchsten technischen Anspruch vorwerfen könnte, nicht aber sinnleeres Gezwitscher.

Beste Traditionen des Belcanto

Frankfurt hat für die vier tragenden Rollen dieses kammerspielartigen Dramas um familiäre Gewalt, gesellschaftliches Ansehen, starre Ehrbegriffe, erschreckende Übergriffigkeit und verstörende Lieblosigkeit eine Besetzung gefunden, die man sich passender kaum vorstellen kann. Die Europa-Debütantin Heather Phillips (Bianca) und die junge Schottin Beth Taylor (Falliero) knüpfen mit glanzvollem Material und unverkrampftem Timbre an die besten Traditionen des Belcanto der Rossini-Zeit an, verbinden den Stil des Ziergesangs mit modern gedachter Expressivität, ohne die Tugenden einer ausgeglichenen Tonbildung, einer durchweg auf dem Atem getragenen Emission, eines in allen Registern gleichmäßigen Klangs und einer stupenden, unforcierten Geläufigkeit zu missachten. Sicher: Diese Art zu singen setzt nicht auf rhetorische Überwältigung, auch nicht auf kräftig aufgetragene Farben. Aber in der Finesse, im Chiaroscuro der Dynamik, in der Bedeutung des gesungenen Wortes, in der flüssigen, im richtigen Moment akzentuierten Phrasierung eröffnet sie einen Ausdruckskosmos, der sich weit über den bloßen Wohllaut erhebt. Schlicht begeisternd.

Von links: Theo Lebow (Contareno), Heather Phillips (Bianca; kniend), Beth Taylor (Falliero) und Kihwan Sim (Capellio). Foto: Barbara Aumüller

Die beiden männlichen Stimmen stehen dem kaum nach. Vor allem Theo Lebow, in seinem übersteigerten Patriarchalismus eine seelisch verkrümmte, autoritäre Vaterfigur, kann mit seinem agilen, an die Herrscherfiguren der älteren Oper erinnernden Tenor den technischen und expressiven Anforderungen Rossinis gerecht werden. Contareno, der Vater, versucht mit allen Mitteln, eine Zweckheirat seiner Tochter mit dem venezianischen Patrizier Capellio durchzusetzen und greift dabei zu allen Mitteln psychischer Gewalt, die sich in einem Feuerwerk gesanglicher Raffinessen entäußern. Lebow erfüllt sie nicht nur bravourös, sondern gibt ihnen auch das nötige expressive Gewicht und macht damit die unbändige innere Wut seines Charakters greifbar.

Capellio lässt sich auf diesen Ehe-Deal ein. Kihwan Sim gibt der Rolle ohne Solonummer ein sattes, aber nicht zu breit geführtes Bass-Fundament mit und zeigt seine Tugenden als Ensemblesänger. Sim hat den wohl schwierigsten Charakter der Oper zu gestalten, obwohl Librettist Felice Romani über die Konfliktschablone von persönlicher Neigung und übergeordneter Pflicht hinaus alle vier Protagonisten differenziert zu charakterisieren weiß. Denn Capellio ist über beide Ohren verliebt, besinnt sich aber im entscheidenden Moment der Gerichtsverhandlung gegen seinen Rivalen Falliero auf die Ehre als Richter, der übergeordnetes Recht über persönliche Gefühle zu stellen hat.

Befreit aus patriarchalen Zwängen

Contareno, der Vater, will mit der Hochzeit den alten Glanz seines Namens wieder herstellen und verfolgt dieses Ziel mit einer verbissenen Wut, die seine inneren Zwänge und Nöte ahnen lassen. Im Finale des ersten Aktes, das unverkennbar an die Konstellationen in Donizettis „Lucia di Lammermoor“ erinnert, richtet sich die Aggression gegen den heimlichen Geliebten seiner Tochter Bianca, der bei der Unterzeichnung des Ehevertrags hereinplatzt. Dieser Falliero ist zwar als Kriegsführer erfolgreich, aber mittellos und daher keine angemessene Partie.

Heather Phillips als Bianca. Foto: Barbara Aumüller

Und Bianca, die Tochter? Heather Phillips gibt ihr nicht nur leuchtend freie Sopranklänge mit, sondern zeichnet auch ihre innere Zerrissenheit nach. Denn anders als heute sind gesellschaftliche Verantwortung und familiäre Bindung noch gewichtige Argumente, wenn es um die Frage nach einem selbstbestimmten Lebensweg geht. Tilmann Köhler baut darauf seine Regie-Idee auf: Er zeigt zunächst ein behütet-verspieltes Mädchen, das Susanne Uhl in rosa Chiffon und silberne Stiefeletten kleidet. Aber die Figur verharrt nicht in der Opferhaltung einer Lucia di Lammermoor, sondern wehrt sich, auch wenn sie die Gesellschaft der Männer ins konventionelle Brautkleid nebst Schleier und grauem Blazer steckt.

Am Ende tritt Bianca als Kämpferin von heute ins Rampenlicht. Die Erkenntnis, dass es nie um sie und ihre Liebe ging, sondern immer nur um die Befriedigung des männlichen Begehrens (Falliero/Capellio) und das gesellschaftlich-materielle Nutzbarmachen (Contareno) treibt Bianca in eine trotzige Selbständigkeit, die freilich auch Isolation bedeutet. Karoly Risz hat auf die Drehbühne eine Konstruktion aus vier Viertelkreis-Segmenten gestellt, die an Jean-Paul Sartres (im Programmheft zitierte) Beschreibung Venedigs als „Labyrinth aus Schnecken“ erinnert.

Die Teile lassen sich zu Halbkeisen verbinden, die sich ineinander drehen lassen und so eine abweisende, riesige Mauer, Durchgänge oder offene Räume für Szenen mit dem distanziert kommentierenden Chor bilden können: neutrale Schauplätze, die für alle möglichen Sujets geeignet wären, und auf die Bibi Abel ziemlich überflüssige Videos von Händen, Gesichtern und Hautlandschaften projiziert, wenn die Musik den Fluss der Zeit anhält und die Personen in sich selbst einkehren. Unter Giuliano Carella pflegt das Frankfurter Orchester eher einen warmen, sanft geschmeidigen als den „typisch“ spritzig-trockenen Rossini-Klang, dem lediglich hin und wieder Attacke und rhythmische Zuspitzung gut getan hätte.

Und wieder einmal ist aus dieser beeindruckenden Rossini-Exploration der Wunsch abzuleiten, es mögen doch auch andere Opernhäuser in die unbekannten Regionen des Schaffens Rossinis vordringen. Frankfurt rüstet sich derweil für eine andere Epochen-Entdeckung: Ab 3. April steht Umberto Giordanos Verismo-Thriller „Fedora“ in einer Inszenierung von Christof Loy im Spielplan.

Weitere Vorstellungen von Rossinis „Bianca e Falliero“ am 11., 17., 19. und 26. März 2022. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/bianca-e-falliero_2/?id_datum=2825




Selbsterlösung ins Ungewisse: Claus Guth inszeniert in Frankfurt Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“

Maria Bengtsson als Blanche in der Frankfurter Neuinszenierung von Francis Poulencs „Dialogues des Carmelites“. Foto: Barbara Aumüller

Als letzte Neuinszenierung in dieser so hoffnungsvoll verkündeten und so bitter ausgefallenen Pandemie-Spielzeit hat die Oper Frankfurt Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ angesetzt.

Intendant Bernd Loebe vertraut die aus zutiefst katholischem Urgrund erwachsenen „Gespräche der Karmeliterinnen“ mit Claus Guth einem Regisseur an, bei dem man sich, was immer er auch in die Hand nimmt, einer schlüssigen, zumindest aber auf hohem Niveau diskutierbaren Lösung sicher sein kann. In Frankfurt und im Falle der als Märtyrerinnen sterbenden Nonnen bleibt es bei der Diskussion.

Guth beginnt mit einem Bild: Martina Segnas abstrahierter Raum ist dunkel; ein Kubus mit geometrisch gegliederten und durchbrochenen Wänden erscheint ahnungsvoll im Hintergrund, in einem trüben Lichtband stehen gespenstische Schattengestalten. Poulencs Chormotette „Timor et tremor“ greift vor auf das Thema. Eine einsame Frau auf der Bühne wird zum musikalischen Beginn der Oper aus einer Pyramide gleich gekleideter Frauen herausgeschält: alle in Weiß und Gelb, als paraphrasierten die Kostüme Anna Sofie Tumas die Kirchenfarben Weiß und Gold. „Furcht und Schrecken kamen über mich“: Der Frauenchor setzt das Thema der Angst, den bestimmenden cantus firmus dieser Inszenierung.

Das ist nicht unberechtigt. Denn der emphatische, aber unorthodoxe Katholik Poulenc hat aus dem historische Stoff der Märtyrerinnen von Compiègne, wie ihn Gertrud von Le Fort in einer Novelle und Georges Bernanos in einem Filmdrehbuch adaptiert haben, keine katholische Erbauungsoper gemacht. Blanche de la Force, die einsame junge Frau, trägt die Stärke im Namen, flieht aber in die Stille des Klosters, streckt sich auf einem Podium mit der leuchtenden lateinischen Inschrift „Silentium“ aus. Ihre Angst ist nicht einfach die Angst eines Kindes vor Schreckgespenstern. Sie steckt tief: Ihr Bruder beschreibt sie als „Frost im Herzen eines Baumes“. Eine existenzielle Angst, die Blanche zur Vertreterin des Menschen schlechthin macht. Denn wer hat es nie erlebt, das namenlose Erschrecken vor dem Nichts, vor dem Fall in einen Abgrund, in dem nur noch bewusstloses Dunkel herrscht, in dem sich jeder Sinn und jeder Verstand auflöst?

Keine Politik, kein Christentum

Dass sie beim Eintritt in den Karmel den Namen „Schwester Blanche von der Todesangst Christi“ wählt, hat von daher seinen Sinn: Wir denken an die Nacht am Ölberg, als die Angst Jesus blutigen Schweiß auf die Stirne getrieben hat. An den Verlassens-Schrei am Kreuz. Das Kloster ist für Blanche der Raum des Glaubens, der Kraft, die dem Menschen Sicherheit geben kann. Dass auch dessen Gewissheit brüchig ist, macht der Tod der alten Priorin klar: Jahrzehnte lebte sie eine Existenz in Gebet und Gottsuche. Und nun spürt sie die entsetzliche Einsamkeit des Todes. Alle Zuversicht des Glaubens zerstiebt.

Für Claus Guth spielt wie für eine ganze Reihe von Regisseuren der letzten Jahre der Glaubens-Aspekt der Oper keine Rolle. Christliche Symbolik ist getilgt, Anspielungen auf eine Marienfigur oder ein Jesuskind sind religiös entleerte Chiffren psychischer Fremdbestimmung. Guth achtet auch nicht auf die möglichen politischen Konnotationen der Oper, wie sie etwa Andreas Baesler 2010/11 in Münster herausgearbeitet hat: Figuren wie der Diener Thierry, der die junge Adlige Blanche als riesiger Schatten im Schein einer Kerze zutiefst erschreckt, oder die Schergen der Revolution kommen als Funktionsfiguren unauffällig dunkel gewandet auf die Bühne.

Die Angst Blanches führt Guth auf ein „Urtrauma“ zurück: Ihre Mutter hat kurz vor ihrer Geburt in einem gewalttätigen Volksauflauf einen Schock erlitten und ist an der Frühgeburt gestorben. Die seelischen Last und die vergeblichen Fluchtversuche der jungen Frau macht Guth in eindrücklichen Bildchiffren sichtbar. Hochschwanger schreitet die Mutter stumm durch den Hintergrund, als Todesbotin kreuzt sie beim elenden Sterben der alten Priorin unübersehbar die Szene. Auch in der Mutter aller Gläubigen, Maria in blauem Gewand und goldenen Strahlen, verbirgt sich die alte Marquise de la Force mit ihrer Ancien-Régime-Robe – einen blutbefleckten Säugling im Arm, wie er vorher schon einer Sturzgeburt ähnlich vom Himmel geschwebt war. Bei der Aufhebung des Klosters werden die Funktionäre der Revolution die in einem Lichtband aufgebahrten Kindlein einsammeln und entsorgen – und Blanche lässt das letzte, den „kleinen König“ fallen und in tausend Scherben zerspringen, vielleicht ein erster Hinweis darauf, wie sich ihr Inneres von der Bedrückung der Angst zu lösen beginnt.

Ende einer Selbstfindungsreise

Guth geht so weit, das Kollektiv der Nonnen zu entpersonalisieren und zu einem Spiegel der unbewussten Seelenkräfte Blanches zu machen – etwa, wenn die Tänzerinnen in uniformem Blau in einem weißen Kasten – kein Schauplatz, sondern ein Innenraum – sich synchron bewegen, als wollten sie sich ein Messer in den Leib stoßen (Choreografie: Ramses Sigl). Auslöschungswunsch, Selbstbestrafung, Martyriumsbegehren? Alles spielt in solchen Bildern mit.

Ein Defizit dieser Konzeption ist, dass sie im dritten Akt den Konflikt mit der Revolution und die innere Auseinandersetzung des Konvents mit der Forderung nach dem Martyrium nicht sichtbar stringent einbinden kann. Umso überraschender dann das berühmte Finale, in dem die Schwestern eine nach der anderen zum „Salve Regina“ guillotiniert werden, die Stimmen immer weniger, der Gesang immer dünner wird, bis nur noch Blanche bleibt. Guth inszeniert die Szene als Ende einer „Selbstfindungsreise“: Die Frauen sind alle im gleichen Gelb-Weiß wie Blanche gekleidet, als seien sie Aspekte ihrer selbst. Eine nach der anderen stößt Blanche in eine Grube; das böse Zischen der Guillotine, von Poulenc in die Musik eingeschrieben, ersetzen Schläge des „Schicksals“-Hammers aus Mahlers Sechster Sinfonie. Blanche befreit sich von den Figurationen ihrer Angst; welchen Weg sie – allein und frei – weitergeht, bleibt offen.

Befreiung von den eigenen Schatten: Maria Bengtsson (Blanche de la Force) stößt eine der „Schwestern“ (Mirjam Motzke) in den Abgrund. Foto: Barbara Aumüller

Das ist eine beeindruckend entwickelte Konzeption, aber sie erschöpft sich in einem psychologischen Phänomen: Blanches existenzielle Angst ist auf ein Trauma zugespitzt und mit dieser Pathologisierung gleichzeitig relativiert. Der Sohn, der von den Toten auferstanden ist: In den letzten Worten Blanches bringt Poulenc das Hoffnungsprinzip zur Sprache, das den Nonnen die Kraft zur Selbstbehauptung, zum Widerstand und zum Sterben gibt. Für die Selbsterlösung ins Ungewisse braucht’s das nicht.

Hochkarätiges Sängerensemble

Mit Maria Bengtsson hat die Oper Frankfurt eine geradezu ideale Darstellerin der Blanche gewonnen: Sie strahlt die Mischung aus tiefer Verunsicherung und entschlossener Konsequenz aus, erfüllt die lyrischen Linien mit leuchtend satter Kraft, modelliert den Text deutlich und schwerelos. Elena Zilio hat als sterbende Priorin Madame de Croissy einen großen Moment, wenn sie in unbestechlicher Diktion ihre Verzweiflung hinausröchelt und von sich schreit. Ambur Braid zeichnet Madame Lidoine, die neue Priorin, mit ihrem locker strömenden Sopran als charakterstarke, reflektierte Frau. Claudia Mahnke, als langjähriges Ensemblemitglied der Frankfurter Oper nach der Premiere zur Kammersängerin ernannt, gibt der Mère Marie mit scharfer Bestimmtheit Züge einer innerlich gespaltenen, zum Fanatismus neigenden Persönlichkeit. Florina Ilie trägt in ihrem frischen Sopran die fröhliche Gewissheit und kindliche Weisheit der Sœur Constance.

Die Rollen für die Herren sind in dieser Oper allesamt weniger gewichtig – mit Ausnahme des Bruders von Blanche, dem Chevalier de la Force: Jonathan Abernethy gibt dieser Rolle Profil, wenn er im Gespräch mit seinem Vater (vor allem großstimmig: Davide Damiani) ein erstes Psychogramm seiner Schwester skizziert; auch wenn er vokal sehr bewusst und mit klug detaillierter Diktion das Gespräch mit Blanche im Kloster führt, in dem die Regie in die Kindheit der beiden rückblendet und sie in einer stummen Familienaufstellung agieren lässt.

Corona hat’s verschuldet, dass die volle Pracht der Orchestersprache Poulencs auf ein Musikerensemble von rund 30 Köpfen reduziert werden musste. Der Frankfurter Studienleiter Takeshi Moriuchi hat eine Kammerfassung erstellt, die beim Zuhören überzeugt und wichtige Schlüsselmomente der Partitur nicht schwächt, aber die großen Aufschwünge, die samtene Lasur zärtlicher Intimität, aber auch die kalkuliert gestalteten kühlen Momente nur begrenzt vergegenwärtigt. Den Frankfurter Orchestermusikern ist eine klanglich ambitionierte, aber nicht immer faltenfreie Wiedergabe zu verdanken; ob einige allzu dissonante Bläserstellen tatsächlich so gemeint sind, wäre nur durch einen Blick in Moriuchis Notentext zu entscheiden.

Die junge litauische Dirigentin Giedrė Šlekytė für so manche politurfähige Finesse des Klangs verantwortlich zu machen, verbietet sich, weil der Einfluss der Fassung nicht abzuschätzen ist. Anders ist es mit manchen breiten Tempi oder mit unscharfen Akkorden und Akzenten. Šlekytė bleibt auf dem Weg zu einer klanglich aufgerauten, Spaltklänge und geschärfte Modellierung suchenden musikalischen Sprache auf halbem Weg in Richtung Arthur Honegger oder Darius Milhaud stehen. Mag sein, dass dieses Bemühen mit einem vollen Orchester besser gelingt, mag aber auch bedeuten, dass die Möglichkeiten der kleinen Besetzung nicht genügend ausgereizt wurden. Auf jeden Fall bereichert diese Frankfurter Erstaufführung der 1957 uraufgeführten Oper das Repertoire des Hauses um eine wichtige Farbe und stellt in der Lesart von Claus Guth die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Glaube, konsequenter Immanenz und weiterführender Transzendenz wieder neu.

Letzte Vorstellung bereits am 14. Juli; 2021/22 keine Wiederaufnahme geplant: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/dialogues-des-carmelites/

 




Orte der Ödnis: Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ überzeugt an der Oper Frankfurt nur musikalisch

Als Katerina Ismailowa aus unruhigen Träumen erwacht, liegt sie auf einer Rollbahre, wie man sie in der Anatomie für tote Körper verwendet. Um sie herum ist nichts, außer einer speckig glänzenden, riesenhaften Mauer, deren grün-blau-grau-braun schillernder Rund alles hermetisch abschließt. Ein Ort der Ödnis, ohne Hauch von Schönheit, Freundlichkeit, Hoffnung.

Anja Kampe als Katerina Ismailowa in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Anja Kampe als Katerina Ismailowa in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Kaspar Glarner hat für Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ in Frankfurt eine Dystopie geschaffen, die keinen Ausweg zulässt. Es ist ein Ort der seelischen Gefangenschaft, der Unterdrückung aller Lebenstriebe: Katerinas künstlich weiße Haare sind zwar im Chic der zwanziger Jahre geschnitten, zeugen aber von ihrer erloschenen Seele. Eine VR-Brille muss helfen: Doch der Ausweg ist nur virtuell; Bibi Abel lässt in ihren Videos kitschige Blumen aufploppen. Eine Perspektive hat diese Frau nicht.

Giftige Pilze, serviert ohne innere Regung

Anja Kampes neutral gefärbte, anfangs technisch zweifelhaft in seifig-enge Höhe gezogene Stimme passt zu dieser abgestumpften Frau: Ungerührt geht sie in die Knie, als ihr sadistischer Schwiegervater Boris Ismailow einen grotesken „Liebesbeweis“ fordert. Ohne eine Spur von Mitgefühl befreit sie die Hausangestellte Axinja (einigermaßen zahm: Julia Dawson) aus den Händen ihrer Peiniger. Dem brutalen Boris – Dmitry Belosselskiy singt ihn großartig mit satt strömender Stimme – reicht sie ohne Regung die vergifteten Pilze. Ihren Mann Sinowi – Evgeny Akimov als eitler, profilloser Protz mit genau ausgearbeiteter Blässe – hilft sie umzubringen, als sei Mord ein Alltagsgeschäft. Ihre abstoßende Umgebung hat sie vereist. „Kalt wie ein Fisch“, sagt Boris, als er ihr, um ihre sexuellen Trieb anzufachen, violette Unterwäsche entgegenwirft.

Dmitry Golovnin (Sergei) und Anja Kampe (Katerina Ismailowa). Foto: Barbara Aumüller

Dmitry Golovnin (Sergei) und Anja Kampe (Katerina Ismailowa). Foto: Barbara Aumüller

Dass unter all den Demütigungen die innere Energie, die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die seelische Empfindung nicht abgestorben ist, offenbart sich in der Begegnung mit dem neu eingestellten Arbeiter Sergei: Dmitry Golovnin porträtiert ihn mit funkelnd präsentem, schneidend und schmeichelnd agierenden Tenor als Schlange in einem athletischen Körper, viril, aggressiv und potent. Die Schwachstellen in Katerinas öder Existenz erfasst er sofort und nutzt sie zielstrebig für sich. Und Anja Kampe zeigt genau wie beabsichtigt die Gier der ausgehungerten Frau auf die körperliche Berührung, den Kuss, die Vereinigung.

In solchen Momenten kommt die Regie Anselm Webers zu eindrücklicher Intensität, die man in anderen Szenen vermisst. Seine Stärke zeigt der frühere Essener und Bochumer Schauspielchef, der seit 2017 das Sprechtheater in Frankfurt leitet, wenn es um die Begegnung von Personen geht, wenn viel Unausgesprochenes im Raum steht, wenn er detailliert aussagekräftige Gesten und Gänge einsetzt.

Die Konzeption von Ensembles dagegen bleibt blass und unscharf: Die Quälerei und versuchte Vergewaltigung der Axinja in einem Ölfass ist unentschlossen, weil die gespielte Brutalität nicht bedrohend wirkt. Die erste Begegnung Katerinas mit ihrem späteren „Serjoscha“ lässt keine Spannung zwischen den beiden entstehen. Die böse Ironie der Polizei-Szene im dritten Akt ist nicht überzeugend ersetzt durch die Langeweile einer Schlägerbande in einem abgewetzten Wohnzimmer. Die detailliert durchgestaltete Travestie des Popen (Alfred Reiter) lenkt lediglich von der zupackenden Dramatik der Ereignisse ab, als bei der Hochzeit der Keller mit der Leiche des ermordeten Sinowi geöffnet wird.

Das Glück des Abends kommt aus dem Graben

Tödliche Pilze: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow). Foto: Barbara Aumüller

Tödliche Pilze: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow). Foto: Barbara Aumüller

Und der vierte Akt mit einer vordergründig schmierigen Sonjetka – der ansprechend singenden Zanda Švēde – bleibt in seinem spannungslosen Bildaufbau und seiner fadenscheinigen Gegenständlichkeit ohne die schicksalhafte Hoffnungslosigkeit, die sich in der Weite der Landschaft und der Öde des ewigen Marschierens symbolisch manifestiert.

Auch Anja Kampe drückt die ultimative Demütigung Katerinas und das Entsetzen angesichts ihrer aufkeimenden Selbsterkenntnis eines verpfuschten Lebens mit ihrem lapidaren Timbre nicht aus. Empathie fühlt man mit dieser neutral sich selbst besingenden Katerina nicht. So rettet auch das szenische Ausrufezeichen nichts, den – während des ganzen Abends glänzend intonierenden und präsent agierenden – Chor aus dem Zuschauerraum singen zu lassen. Der „finster-satirische“ Charakter, den Schostakowitsch selbst seiner Oper zugesprochen hat, ist mit dieser Kolportage nicht erfasst.

Das Glück des Abends liegt im Graben: Sebastian Weigle und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester intensivieren Schostakowitschs illustrative und unmittelbar kommentierende Musik so grandios, dass sich das Drama in den Noten ereignet. In der Musik ist die innere Sehnsucht zu vernehmen, die auf der Szene kaum durch die verschlossenen Körperhüllen scheint. In der von Weigle zärtlich ausgeformten Wehmut ist die Hoffnung Katerinas zu spüren, in der Begegnung mit Serjoscha die lang vermisste innere Geborgenheit und Befriedigung zu finden. Aber auch die bissigen, grellen, brutalen Momente mit ihren gellenden Bläsern, den schäumenden Streichern und den böse meckernden oder atemlos hechelnden Holzbläsern kommen nicht zu kurz. Dabei lässt Weigle aber nie grob oder unkontrolliert spielen; er achtet auf Form und Rundung des Tons. Das gibt der Musik Schostakowitschs eine gewisse distanzierte Noblesse, die sich von krudem Naturalismus fernhält.

Musikalisch ist diese Premiere ein Triumph, szenisch rettet man sich so eben über die Runden.

Vorstellungen am 29. November, 8. und 12. Dezember.
Info: www.oper-frankfurt.de




Händels „Rodelinda“ als Trauma eines Kindes – und ein Ausblick auf die Frankfurter Spielzeit 2019/20

Unheimliche Bilder kindlicher Alpträume: Szene aus Händels "Rodelinda" an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Unheimliche Bilder kindlicher Alpträume: Szene aus Händels „Rodelinda“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Wer sich in der internationalen Opernwelt umsieht, kann nur feststellen: Du, glückliches Frankfurt, juble! Es gibt weltweit höchstens eine Handvoll Städte, deren Opernhaus eine so abwechslungsreiche, ausgiebige und kontinuierliche Pflege von Repertoire und Raritäten gleichzeitig betreibt. Dazu noch auf einem stets enttäuschungsfreien Niveau, verbunden mit vorbildlicher Ensemblearbeit.

Bernd Loebe und seine Teams erwirken diese Erfolgsgeschichte uneitel und ohne das Glamour-Getue, das sich um jede Premiere etwa in Wien oder München entwickelt. Und die Spielzeit 2019/20 verspricht eine bruchlose Fortsetzung dieser im Künstlerischen wie in der Publikumsresonanz erfolgreichen Arbeit.

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Elf szenische, eine konzertante Premiere, davon drei jenseits des Guckkastentheaters im intimeren Bockenheimer Depot, wieder eine Uraufführung und vier ausgesprochene Raritäten, davon drei von Gioachino Rossini: Allein die pure Quantität lässt es zu, einen Spielplan flexibel und abwechslungsreich zu gestalten und auch einmal ein Risiko einzugehen.

Zum Vergleich: Das Essener Aalto-Theater ist froh, wenn es die Hälfte der Premieren realisieren kann. Loebe bindet zudem Kreativität an sein Haus und bedient sich selten aus dem inzwischen europaweit kreisenden Topf von Austausch-Inszenierungen und Koproduktionen: Nur eine, Gioachino Rossinis „Otello“ zur Eröffnung der Spielzeit, ist eine Übernahme, in diesem Fall einer Inszenierung von Damiano Michieletto aus dem Theater an der Wien.

Puccini, Wagner und Strauss erweitern das gängige Repertoire

Natürlich bedient Frankfurt auch das gängige Repertoire: Àlex Ollé setzt Puccinis „Manon Lescaut“ in Szene. Er ist einer der Protagonisten der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus, die in den letzten Jahren mit virtuosen, verspielten, bildmächtig-kulinarischen Inszenierungen Furore gemacht haben. „Tristan und Isolde“ hat mit Frankfurts nun im zwölften Jahr amtierenden GMD Sebastian Weigle, Katharina Thoma (Inszenierung) und Johannes Leiacker (Bühne) ein hochkarätiges Team zu bieten. Mit Strauss‘ „Salome“ bringt Barrie Kosky nach „Carmen“ eine zweite „femme fatale“ auf die Frankfurter Bühne; am Pult steht Joana Mallwitz, die ihre Grenzen als Orchesterchefin in Nürnberg inzwischen von Oslo bis München erweitert hat.

Die Oper Frankfurt pflegt eine weltweit kaum vergleichbare Vielfalt des Repertoires. Foto: Werner Häußner

Die Oper Frankfurt pflegt eine weltweit kaum vergleichbare Vielfalt des Repertoires. Foto: Werner Häußner

Zeitgenössisches kommt in Frankfurt nicht zu kurz: Wie in den vergangenen Jahren gibt es auch 2020 wieder eine Uraufführung. Die 1963 geborene Lucia Ronchetti beschäftigte sich im Auftrag der Oper Frankfurt mit Dantes „Divina commedia“ und schuf einen Zwitter aus Oper und Schauspiel, ein „Roadmovie“, das musikalische Klanglandschaften durchkreuzt. Regie führt gemeinsam mit Marcus Lobbes der scheidende Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges. Zwei Klassiker der Moderne sind Dmitri Schostakowitsch und Hans Werner Henze: In „Lady Macbeth von Mzensk“ verkörpert Anja Kampe die verzweifelte Mörderin in einer Regie von Anselm Weber; mit „Prinz Friedrich von Homburg“ hält Frankfurt die Erinnerung an Henze wach. Der frühere Duisburger Orchesterchef Jonathan Darlington steht am Pult; über die Szene wacht der Ex-Dortmunder Jens-Daniel Herzog.

Drei Mal Rossini

Eine zwischen Mythos, Symbolismus und Wagnerismus changierende Oper richtet einen fin-de-siècle-Blick auf eine der großen Frauengestalten der Literatur: Gabriel Faurés „Pénélope“ von 1913 ist ein seltenes, kostbares Juwel für Liebhaber, dessen Relevanz für das 21. Jahrhundert Corinna Tetzel in ihrer Regie erweisen soll.

Schutzlos unbehauste Menschen in Christian Schmidts Herrenhaus für Händels "Rodelinda". Foto: Monika Rittershaus

Schutzlos unbehauste Menschen in Christian Schmidts Herrenhaus für Händels „Rodelinda“. Foto: Monika Rittershaus

In Sachen Rossini wagt sich Frankfurt weit vor in ein bisher fast nur von Festivals erkundetes Terrain: „Otello“ war einst populär, bis die Oper mit den drei schwindelerregend virtuosen Tenorpartien von einer veränderten Gesangskultur und vom moderneren Drama Giuseppe Verdis und Arrigo Boitos verdrängt wurde; „Bianca e Falliero“, ebenfalls gesanglich exorbitant anspruchsvoll, verbindet politische Ranküne mit einer bedrückenden Familienfehde; „La Gazzetta“, eine neapolitanische opera buffa aus Rossinis erfolgreichem Jahr 1816, erweitert das in Frankfurt nicht eben üppige Repertoire komischer Opern.

Fortgeführt wird in Frankfurt auch eine Händel-Tradition, die seit 2012 kontinuierlich aufgebaut wird: Für „Tamerlano“ holt Frankfurt einen jüngeren amerikanischen Opernregisseur ans Haus, der bisher – außer in Spanien und England – fast ausschließlich in den USA tätig ist und dort von der New York Times bis zum Wall Street Journal mit Lobeshymnen überhäuft wird. Georg Friedrich Händels düstere, kompositorisch kühne und emotional bewegende Geschichte auswegloser Exzesse von Macht, Begehren und Verblendung ist die inzwischen achte Händel-Produktion, seit Johannes Erath 2012 einen „Teseo“ im Bockenheimer Depot realisierte. Die Folge der Opern seither, darunter „Radamisto“ (wird am 25. August 2019 wieder aufgenommen), „Xerxes“ und „Rinaldo“, machten Frankfurt in den letzten Jahren neben Göttingen, Halle und Karlsruhe zu einem Zentrum der Beschäftigung mit Händels Bühnenwerken.

Unheimlich moderne Sogwirkung

Dafür steht auch „Rodelinda“: Seit sie 1920 die Göttinger Händel-Festspiele eröffnet hatte, wurde die Händel-Oper vor allem in den Zwanziger und Dreißiger Jahren häufig und auch an kleinerer Stadttheatern gespielt – eine Serie, die erst Ende der Fünfziger Jahre endete. In Frankfurt zeigt Claus Guth in einer minutiös ausgefeilten Personenregie, wie Händels Dramen um Macht, Beziehungen und Begehren, verbunden mit dem Motiv der Wiederkehr eines Totgeglaubten eine unheimlich moderne Sogwirkung entwickeln können. Guth wertet die stumme Figur des Flavio auf: Aus der Sicht des Kindes, Sohn des verschwundenen Herrschers Bertarido und seiner zurückgelassenen, unter Druck gesetzten Frau Rodelinda, werden die Intrigen zu monströsen Alpträumen, die es mit Zeichnungen (die beeindruckenden, mit dem Medium Video virtuos spielenden Projektionen sind von Andi A. Müller) zu bewältigen versucht.

Fabián Augusto Gómez Bohórquez (Flavio) ist in seiner sprachlosen Präsenz der Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Er zeigt das namenlose Entsetzen über das für das Kind unbegreifliche Geflecht der Ereignisse, die schutzlose Verlorenheit in einem unheimlichen Geisterhaus. Christian Schmidt hat in das weite Schwarz des Bühnenraums ein klinisch weißes Herrenhaus im „Georgian Style“ der Händel-Zeit gebaut, dessen Fassade repräsentativ intakt wirkt.

Kulinarische Anmutung und Irritation

Aber die kulinarische Anmutung löst sich in Irritation auf, wenn sich der Bau dreht und ein gefährlich offenes Treppenhaus, angeschnittene Gänge und Zimmer offenbart. In diesem Bau bleiben die Menschen unbehaust; an schummrig erleuchteten Fenstern wandeln immer wieder geheimnisvolle Gestalten vorbei: Edgar Allan Poe und Alfred Hitchcock, die englische „gothic novel“ und Ambrose Bierces sinistre Kurzgeschichten lassen grüßen. Zeitweise verwandeln sich die Personen im Umfeld des Kindes in bedrohliche Spukgestalten mit riesigen Köpfen, Entsetzen bringende Vogelscheuchen, die auch das „glückliche“ Ende vergiften: Für Flavio ist das Trauma nicht zu Ende.

Auch musikalisch kann sich die Frankfurter Aufführung mit den Zentren der Händel-Pflege messen. Andrea Marcon dirigiert das vorzüglich konzentrierte, auf modernen Instrumenten spielende Frankfurter Orchester, bringt Elemente der historisch informierten Aufführungspraxis mit ein, lässt farbenreich, vor allem im Lyrischen mit viel Gespür für Phrasierung, Linie und Atem musizieren, könnte aber die dramatischen Akzente durchaus geschärfter betonen.

Lucy Crowe bleibt als Rodelinda eine starke Frau mit berührenden Momenten der Krise. Katharina Magiera und Martin Mitterrutzner demonstrieren mit disziplinierter Tongebung, dass es keiner „barocken“ Gesangstechnik bedarf, um sich Händels Stil erfolgreich anzunähern. Andreas Scholl beeindruckt mit seiner gestalterischen Erfahrung und einem stets frischem Timbre. Der Countertenor Jakub Józef Orliński singt die Rolle des Unulfo spannungsfrei und ausgeglichen. Božidar Smiljanić (Garibaldo) setzt zu sehr auf geradlinige Durchschlagskraft statt auf subtil kontrollierte stimmliche Feinarbeit. Ausverkaufte Vorstellungen und Begeisterung im Publikum.

Info: www.oper-frankfurt.de




Vorbildhafte Entdeckerfreude: Drei Einakter von Ernst Krenek an der Oper Frankfurt

Der Diktator (Davide Damiani) vor der stummen Prozession der Opfer des von ihm entfesselten Krieges. Foto: Barbara Aumüller

Der Diktator (Davide Damiani) vor der stummen Prozession der Opfer des von ihm entfesselten Krieges. (Foto: Barbara Aumüller)

Drei kurze Opern, die zunächst einmal nichts miteinander zu tun haben, zusammengespannt zu einem Abend: Ernst Krenek schrieb unmittelbar nach seinem Welterfolg „Jonny spielt auf“ ein Triptychon und gab es nach Wiesbaden zur Uraufführung (1928). Die Gegenwart ist solchen Experimenten nicht geneigt; Kurzopern sind unbeliebt und außer Puccinis „Il Trittico“ und ein paar Ausnahmen wie Mascagnis „Cavalleria rusticana“ oder Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ hat sich kaum eine im Repertoire gehalten. Auch Kreneks drei Einakter werden kaum einmal einzeln, aber noch seltener als Einheit aufgeführt. Frankfurt hat es nun gewagt und den Abend sogar ins Große Haus gelegt.

Dabei bietet Ernst Krenek zwischen Symbolismus und Satire genug Stoff für Reflexion. David Hermanns Regie nutzt das Potenzial, ohne es lehrhaft zu überzeichnen oder szenisch allzu eindeutig auszuführen. Den „Diktator“, auch im letzten Jahr beim Kurt Weill Fest in Dessau zu sehen, nennt Krenek eine „tragische Oper“ – eine Tragik allerdings, die sich erst auf den zweiten Blick erschließt und weniger mit der Frau zwischen zwei Männern als mit politischer Psychologie zu tun hat. Eine Frau, deren Mann in einer Schlacht durch Giftgas erblindet ist, beschließt, den Diktator als den Urheber des Kriegs zu töten. Sie erliegt aber dem Charisma des mächtigen Mannes und wird von der Kugel getroffen, die seine Geliebte aus Eifersucht auf ihn feuert.

Wie kommen Menschen dazu, Machthaber zu verehren?

Was im Libretto Kreneks psychologisch ziemlich schwach motiviert erscheint, kann als Parabel gelesen werden, erdacht von einem politisch wachen Kopf, der sich fragt, wie Menschen dazu kommen, Machthaber zu verehren und sich für sie zu opfern, die eigentlich Ursache ihres Leidens am Leben sind. Auch dabei spielt „Unwahrscheinliches“ eine Rolle, Rätsel, die sich nicht ohne weiteres erklären lassen.

Szene aus "Das geheime Königreich" von Ernst Krenek an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Szene aus „Das geheime Königreich“ von Ernst Krenek an der Oper Frankfurt. (Foto: Barbara Aumüller)

Die Psyche des Menschen als unergründliches Terrain also. Das sehen wir in „Das geheime Königreich“ wieder, das in seiner Märchendiktion das Thema der Macht ins Romantische erweitert – und damit ein typisch deutsches Phänomen thematisiert, eine politisch mittelbar brisante Innerlichkeit und Weltflucht. „Die Schönheit des ewigen Lebens“ werde sein Königreich sein, sagt der an sich selbst zweifelnde Herrscher, und entdeckt „das Wesentliche“ im Auge eines Tieres. Ein Narr, der an Shakespeare erinnert, ein gebrochener, ratloser König, eine machtgierige Königin, ein entflammter Rebell und singende Revolutionäre: das ist das Personal in diesem erotisch durchwebten Kampf um die Krone.

Zwischen Max Schmeling und Sigmund Freud

"Schwergewicht oder Die Ehre der Nation": Simon Bailey als Boxer Adam Ochsenschwanz. Foto: Barbara Aumüller

„Schwergewicht oder Die Ehre der Nation“: Simon Bailey als Boxer Adam Ochsenschwanz. (Foto: Barbara Aumüller)

Das dritte Stück, eine heitere Burleske, steht nicht wie ursprünglich konzipiert, am Ende, sondern in der Mitte des Abends: „Schwergewicht oder Die Ehre der Nation“ greift satirisch Zeitströmungen auf wie die Vergötterung des Sports oder den Glauben an die Psychoanalyse. Zwischen Max Schmeling und Sigmund Freud lässt Krenek den einfach strukturierten Kraftprotz auf eine hochverstiegene Medizinstudentin („Mein Unterbewusstsein ist zu stark“) treffen, die sich willig als Punching-Puppe niederschlagen lässt – um dem gesellschaftlichen Skandal zu entgehen oder einen sexuell antörnenden Masochismus zu genießen? Schon die Namen „Adam Ochsenschwanz“ und „Anna Maria Himmelhuber“ verraten genug.

Jo Schramm hat für David Herrmann eine flexibel veränderbare Bühne gebaut, deren klarer, steriler Raum für den „Diktator“ dem Willen der Regie entgegenkommt, Realismus zu brechen und ins Parabelhafte mit absurden Zügen zu driften. Der blinde Mann ist nur einer unter vielen, die im ergrauten Hintergrund steif vorbeidefilieren – eine beklemmende Prozession, die den Diktator stumm anklagt. Wenn Maria, die Frau des Versehrten, drei Mal auf den Machthaber schießt, zeigt sich rotes Blut auf weißer Weste, aber er fällt nicht. Er reißt sich die Hemdbrust vom Leib: Der Diktator ist eine Figur, die nicht durch Schüsse umzubringen ist, ein immer wiederkehrendes Phänomen der Geschichte.

Wundervolles Bild für ein inneres Reich

Für das „Schwergewicht“ öffnet sich der Raum zu einem sinistren Varieté irgendwo zwischen „Cabaret“ und Hermann Hesses „Steppenwolf“. Die Kostüme Katharina Taschs werden grell und bunt. Die Welt, der die „Ehre der Nation“ zugesprochen wird, ist kreischend kitschig. Ein phantastischer Bild-Einfall kennzeichnet „Das geheime Königreich“: In einem immateriell wirkenden, spiegelnden Hintergrund verfließen die Formen, lösen sich die individuellen Gestalten auf, verschwimmt die Eindeutigkeit der Welt in einem Ozean aus Licht (Olaf Winter) und weich changierende Farben. Ein wundervolles Bild für das uneindeutige, sich jeder Definition entziehende „innere Reich“, in das sich der König zurückzieht.

Ernst Krenek im Jahr 1927 - damals schon ein gemachter Mann. Foto: Kurt Weill FestErnst Krenek im Jahr 1927 - damals schon ein gemachter Mann. Foto: Kurt Weill Fest

Ernst Krenek im Jahr 1927 – damals schon ein gemachter Mann. (Foto: Kurt Weill Fest)

Kreneks Musik wurde oft vorgeworfen, eklektisch zu sein, keinen eigenen Stil, zu wenig persönliche Farbe zu entwickeln. Genau das ist ihre Stärke und ihre Modernität: Krenek ahmt im „Diktator“ ungeniert die Melodiebögen Puccinis nach, greift vorbehaltlos auf die Diktion des Verismo zurück, aber schafft alles andere als eine bloße Stilkopie, sondern eher ein raffiniertes Amalgam aus Vorbildern in kalkulierter, individueller Prägung. „Schwergewicht oder Die Ehre der Nation“ dreht und swingt sich durch die reizenden Plattitüden der Tänze der Zwanziger, ob Pasodoble oder Tango, entzückt mit federleichter Instrumentierung und leiser Ironie.

Form und Rausch, Sinnlichkeit und Technik

„Das geheime Königreich“, die komplexeste der Partituren, geht harmonisch in die Tiefe, schreitet die Tonalität weit aus, verbindet Strauss und Schreker, Zemlinsky und Wagner zu einem Neuen, in dem sich Form und Rausch, Sinnlichkeit und Technik nicht ausschließen. Lothar Zagrosek setzt mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester den Zauber der Musik in Klang: die verführerisch sinnlichen Qualitäten, die in sich hineinlächelnden Stil- und Motivzitate, den spritzigen Rhythmus und die polyphonen Verästelungen. Krenek erweist sich wiederum als einer, der im vielstimmigen Konzert der unglaublich vielfältigen Zwanziger Jahre eine gewichtige Stimme beizutragen hat.

Wie stets, überzeugt das Frankfurter Sänger-Ensemble. Man mag mit dem einen oder anderen Detail nicht glücklich sein – Sara Jakubiak singt die schwellenden Bögen am Anfang nicht frei, Juanita Lascarro bleibt als Frau des Diktators eine Dulderin mit gedeckelt-mattem Ton –, aber die glänzend aufeinander eingestellten Darsteller lassen die drei Stücke musikalisch aus einem Guss erscheinen: Davide Damiani als Diktator und König der Mann der Macht, Barbara Zechmeister als quicke Evelyne, die Frau des Boxers, Simon Bailey als angemessen grobschlächtiger Athlet, Ambur Braid als koloratursprühend überdrehte Königin und Sebastian Geyer als weiser Narr. Dazu kommen Ludwig Mittelhammer, der in seinem kurzen Auftritt als Professor Himmelhuber eine angenehm gefärbte, frei geführte Stimme zeigt, und Nina Tarandek als seine psychoanalytisch vorgebildete Tochter.

Eine vorbildhafte Spielplan-Politik führt zu einer Entdeckung, für die sich der Weg nach Frankfurt gelohnt hat. Leider war das Triptychon nur kurz im Programm – auf eine Wiederaufnahme ist zu hoffen.

Am Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr befasst sich unter dem Titel „Happy New Ears“ ein Werkstatt-Konzert im Opernhaus Frankfurt mit dem Ensemble Modern mit dem Komponisten Ernst Krenek.

www.oper-frankfurt.de




Mut zur Vielfalt: Die Oper Frankfurt geht mit ehrgeizigem Programm in die Spielzeit 2017/18

Die Frankfurter Oper ist auch 2017/18 ein lohnendes Ziel für Opernfreunde. Foto: Werner Häußner

Die Frankfurter Oper ist auch 2017/18 ein lohnendes Ziel für Opernfreunde. (Foto: Werner Häußner)

Ein abwechslungsreiches Potpourri, das verschiedenste Perspektiven auf das Musiktheater eröffnet: Das Programm der Spielzeit 2017/18 an der Oper Frankfurt ist mit diesen Worten von Intendant Bernd Loebe wohl am treffendsten beschrieben. Kein verbindendes Motto überspannt die zwölf Premieren und 15 Wiederaufnahmen: Der Mut zur Vielfalt ist unübersehbar und entführt in die weite Wert der Oper, von Henry Purcells „Dido und Aeneas“ bis zur Uraufführung der Oper „Der Mieter“ des 1968 geborenen Arnulf Herrmann.

Drei Jahrhunderte Musiktheater also, beginnend mit einem unsterblichen Schlager des Repertoires: Giuseppe Verdis „Il Trovatore“, koproduziert mit Covent Garden in London und erarbeitet von David Bösch. Eine Inszenierung des Regisseurs mit Ruhrgebiets-Wurzeln, künstlerisch herangewachsen im Schauspiel in Bochum und Essen, die von der englischen Presse zwiespältig bewertet wurde. Böschs Bilder eines nicht näher bestimmbaren Kriegsschauplatzes sind nach Auffassung der Financial Times pittoresk, aber es sei nicht immer einfach zu erkennen, was sie mit Verdis Oper zu tun haben – eine „schwache Antwort“ auf das Problem der Oper, die eher durch krude Emotionen als durch dramatische Logik wirke.

Wie auch immer – in Frankfurt dirigiert ab 10. September der vielversprechende Jader Bignamini ein erlesenes Ensemble, unter anderem mit Elza van den Heever (Leonora) und Tanja Ariane Baumgartner (Azucena). Van den Heever gestaltet auch die Titelrolle in „Norma“, die am Ende der Spielzeit am 10. Juni 2018 herauskommt. Sigrid Strøm Reibo, Hausregisseurin an der Norwegischen Nationaloper Oslo, inszeniert Bellinis Belcanto-Hauptwerk. Den Vergleich mit der dekorativen Essener „Norma“ von Tobias Hoheisel und Imogen Kogge, die 2017/18 wieder aufgenommen wird, dürfte die Deutschland-Regiedebütantin mühelos bestehen.

Eine konzertante Aufführung von Gaetano Donizettis „Roberto Devereux“ mit der aus Düsseldorf „importierten“ Adela Zaharia als Elisabetta und die Wiederaufnahmen von Verdis „Les Vȇpres siciliennes“ mit Stefan Soltesz am Pult, Bellinis „La Sonnambula“ mit Brenda Rae als Amina und Francesco Cileas „Adriana Lecouvreur“ mit Angela Meade in der Titelrolle decken das Spektrum der italienischen Oper auch jenseits des Üblichen ab.

Zwei Uraufführungen

Mit zwei Uraufführungen positioniert sich Frankfurt – wie in den Jahren zuvor – wieder als ein Haus, das sich im deutschen wie internationalen Vergleich für den Einsatz für zeitgenössische Musik nicht verstecken muss: Die erste stammt von Arnulf Herrmann, der in Saarbrücken lehrt und in der internationalen Musikszene gut vernetzt ist. Seine neue Oper „Der Mieter“ basiert auf einem Roman von Roland Topor, der als „The Tenant“ von Roman Polanski verfilmt wurde. Wie Andrea Lorenzo Scartazzinis „Der Sandmann“ in dieser Spielzeit dreht sich die Story um den zunehmenden Realitäts- und Identitätsverlust eines jungen Mannes, eine immer mehr ins Unwirkliche abdriftende Entwicklung mit einem katastrophalen Ende. Am 12. November 2017 ist die Premiere, Johannes Erath inszeniert und Kazushi Ȯno dirigiert; Björn Bürger singt die Hauptpartie des Georg.

„A Wintery Spring“ von Saed Haddad kommt am 22. Februar 2018 erstmals auf die Bühne, laut Intendant Loebe ein „elegisches Werk über falsche Hoffnungen und die Trauer um den Verlust des arabischen Frühlings“. Der Komponist wurde in Jordanien geboren, seine Werke werden international gespielt. Den zweiten Teil des Abends im Bockenheimer Depot bildet die szenische Erstaufführung von Jan Dismas Zelenkas, „Il serpente di bronzo“. Corinna Tetzel inszeniert, das Ensemble Modern spielt unter Franck Ollo. Mit Manfred Trojahns „Enrico“ setzt die Oper Frankfurt ihre Befragung von Opern fort, die vor längerer Zeit uraufgeführt wurden. Die „Dramatische Komödie“ entstand für die Schwetzinger Festspiele 1991.

Meyerbeer-Erkundung

Mit „L‘ Africaine“ reiht sich nun auch Frankfurt bei den Häusern ein, die Giacomo Meyerbeers große Opern nach Jahrzehnten der Vernachlässigung auf ihre aktuelle Relevanz prüfen. Tobias Kratzer, der bereits „Le Prophète“ in Karlsruhe und „Les Huguenots“ in Nürnberg inszeniert hat, stellt Meyerbeers letztes, unvollendet gebliebenes Werk mit einem – so Loebe – „für Frankfurt völlig neuem Ansatz“ vor. Premiere ist am 25. Februar 2018.

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Werner Häußner

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. (Foto: Werner Häußner)

Die weiteren Neuproduktionen: Mit „Rinaldo“ wird die Serie der Händel-Opern in Frankfurt weitergeführt (16. September 2017), Benjamin Brittens meistgespielte Oper „Peter Grimes“ kommt nach zehn Jahren in einer Regie von Keith Warner wieder (8. Oktober), Brigitte Fassbaender fügt der Befassung mit Richard Strauss mit „Capriccio“, dirigiert von Sebastian Weigle, ein weiteres Juwel bei (14. Januar 2018). Leoš Janačeks letztes Werk, „Aus einem Totenhaus“ hat in einer Regie von David Hermann am 1. April 2018 Premiere. Und endlich kehrt ab 13. Mai 2018 auch die Operette auf die Frankfurter Bühne zurück – mit Franz Lehárs „Die lustige Witwe“, ein Lieblingsstück all jener, die das reiche Repertoire in dieser Gattung inzwischen weitgehend vergessen haben. Claus Guth inszeniert, die aufstrebende Erfurter Chefdirigentin Joana Mallwitz dirigiert.

Unter den Wiederaufnahmen beansprucht Samuel Barbers „Vanessa“ überregionale Aufmerksamkeit, auch Richard Jones‘ bild- und sinnstarke Inszenierung von Britten „Billy Budd“ kommt ab 19. Mai 2018 für fünf Vorstellungen wieder. Und Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ stellt ab 3. Mai 2018 erneut die brennende Frage nach Schuld und Verantwortung – in Anselm Webers großartiger Bühnen-Umsetzung, die ab 24. Juni, an die Semperoper Dresden ausgeliehen, dort auch ein Ausrufezeichen gegen rechte Umtriebe setzen soll. Trotz eines Spielplans, der Seltenes, Unbekanntes und Zeitgenössisches enthält, kommt die Frankfurter Oper auf eine Auslastung von 88 Prozent – ein Beleg dafür, dass Bernd Loebes Konzept aufgeht und sich das Frankfurter Publikum auf neue Erfahrungen einlässt.

Info: http://www.oper-frankfurt.de/de/premieren/




Wunderbare Vielfalt in Frankfurt: Aspekte der Romantik bei Scartazzini, Britten und Flotow

Vor der Bücherwand: Nathanael (Daniel Schmutzhard) und seine unheimlichen Gäste, der Vater (Thomas Piffka) und sein Kumpel Coppelius (Hans Jürgen Schöpflin). Foto: Monika Rittershaus

Vor der Bücherwand: Nathanael (Daniel Schmutzhard) und seine unheimlichen Gäste, der Vater (Thomas Piffka) und sein Kumpel Coppelius (Hans Jürgen Schöpflin). Foto: Monika Rittershaus

Was für eine Vielfalt! An der Oper Frankfurt lässt sich in den ersten Wochen der neuen Spielzeit nicht nur die ungewöhnliche „Carmen“ Barrie Koskys und demnächst die Verdi-Rarität „Stiffelio“ besichtigen. Im Bockenheimer Depot, einer gründerzeit-lichen Straßenbahn-Remise, wurde Benjamin Brittens selten aufgeführte amerikanische Operette „Paul Bunyan“ neu inszeniert. Und das Große Haus eröffnete den Premierenreigen mit einer Deutschen Erstaufführung, Andrea Lorenzo Scartazzinis „Der Sandmann“ – vor vier Jahren in Basel uraufgeführt.

Dazu kommt noch Friedrich von Flotows „Martha“, nicht als verlegener Tribut ans naiv-komische Genre, sondern als Chefstück prominent gewürdigt: GMD Sebastian Weigle selbst dirigiert und fügt damit seiner Beschäftigung mit der deutschen romantischen Oper einen weiteren wichtigen Aspekt hinzu.

Wenn man so will, lassen sich aus den drei Frankfurter Inszenierungen unterschiedliche Aspekte der Romantik herauslesen: Flotows unterhaltsames Werk steht für die Verniedlichung des Romantischen, wie es sich bis heute in Herzchenkitsch und Liebesschnulzen gehalten hat – ungeachtet der stillen Ironie, die man in „Martha“ hinter biedermeierlicher Camouflage entdecken kann.

Brittens „Paul Bunyan“ thematisiert einen spezifischen Aspekt eines „american dream“, einen riesenhaften Holzfäller, zu Beginn des 20. Jahrhunderts popularisiert durch einen Journalisten und eine Werbekampagne. Scartazzinis „Der Sandmann“ dagegen baut auf E.T.A. Hoffmanns vor 200 Jahren erschienener Erzählung, kreist um krankhafte wie metaphysische Aspekte der deutschen Romantik und stellt letztlich die Frage, wie zuverlässig unsere Erkenntnis von Wirklichkeit ist.

Christof Loys Inszenierung – die Übernahme der Uraufführungsproduktion aus Basel – hält den Sandmann-Stoff in der Schwebe: Der Lichtrahmen der Bühne von Barbara Pral lässt das Innere des Raum-Kastens von Anfang an diffus erscheinen; das Licht von Stefan Bolliger changiert zwischen den unheimlichen Lichteffekten des film noir, schemenhaft ausgeleuchteten Stimmungsbildern und hartkantiger Helle.

Scartazzinis Librettist Thomas Jonigk kombiniert einige Motive aus Hoffmanns „Sandmann“, um zu schildern, wie der Schriftsteller Nathanael jegliche Gewissheit von „Realität“ verliert. Tote erscheinen, Getötete stehen wieder auf. Ob Nathanael sein Werk je vollendet hat oder nicht über ein paar Zeilen hinausgekommen ist, bleibt unklar. Er ist jedenfalls von gestapelten Büchern umgeben.

Barbara Prals Bühne für Scartazzinis "Der Sandmann" gibt dem Unheimlichen und Uneindeutigen Raum. Foto: Monika Rittershaus

Barbara Prals Bühne für Scartazzinis „Der Sandmann“ gibt dem Unheimlichen und Uneindeutigen Raum. Foto: Monika Rittershaus

Ob seine hellsichtig argumentierende Partnerin Clara real ist oder sein gespaltenes Bewusstsein repräsentiert, bleibt ebenso ungreifbar wie die Existenz der automatenhaften Clarissa, die am Ende mit Claras Erscheinung verschmilzt und sich vervielfältigt. Der Begriff des „Realen“ verschwimmt auch bei den beiden sinistren Gespenstern, dem Vater (Thomas Piffka) und seinem Kumpel Coppelius (Hans Jürgen Schöpflin), die es in Nathanaels Kindheit bei alchemistischen Experimenten in einer Explosion zerrissen hat. Sind die halb komödiantischen, halb unheimlichen Figuren materialisierte Traumata, sind sie Boten aus einer dunklen Anderswelt?

Agneta Eichenholz (Clara) und Daniel Schmutzhard (Nathanael) in der E.T.A.-Hoffmann-Oper "Der Sandmann" von Andrea Lorenzo Scartazzini an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Agneta Eichenholz (Clara) und Daniel Schmutzhard (Nathanael) in der E.T.A.-Hoffmann-Oper „Der Sandmann“ von Andrea Lorenzo Scartazzini an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Der Zuschauer kann sich genauso wenig wie Nathanael selbst orientieren, die Ebenen überlagern sich, der Spuk mag eine transzendente Wirklichkeit haben oder sich aus einem wahnbefallenen Geist gebären. Loys Regiekunst transzendiert den scheinbaren Realismus in eine albtraumhafte Sphäre, in der das Groteske selbstverständlich und das Alltägliche absurd wirkt. Er hat mit Daniel Schmutzhard einen ausdrucksstark singenden und überzeugend agierenden Darsteller des Nathanael; Agneta Eichenholz wandelt als Clara und Clarissa virtuos auf der Trennlinie zwischen der besorgten, bestürzten Frau und der automatenhaften Kunstfigur.

Hartmut Keil und das Orchester leuchten die Facetten von Scartazzinis vielgestaltiger Musik mit der in Frankfurt üblichen Sorgfalt aus. Die Modernität der Romantik – hier wird sie nachvollziehbar. Das ist Oper von heute, packend, überzeugend, relevant. Zum Nachspielen empfohlen!

Im Falle von Benjamin Brittens „Paul Bunyan“ dürfte es schwieriger sein, die „Operette“ ohne Weiteres fürs Repertoire zu empfehlen. Das liegt nicht so sehr an dem 1941 uraufgeführten und von Britten erst 1975 in einer überarbeiteten Version wieder aus der Schublade geholten Stück. Sondern eher an den Bedingungen der Rezeption: Der Zuschauer muss schon sehr vertraut sein mit der säkularen amerikanische Mythologie des Super-Helden, mit dem Kolonisten-Optimismus der Gesellschaft und mit Klischees amerikanischer Populärerzählungen, um die Geschichte um den gigantischen Holzfäller – und die leise Ironie des Librettos von Wystan Hugh Auden – attraktiv zu finden.

Brigitte Fassbaender hat in ihrer Regie kluge Brücken gebaut und das Stück damit kurzweilig und vielschichtig erzählt. Ein riesiger, schrundiger Baum verdeckt zunächst die Bühne, bis das Licht die Spielfläche von Johannes Leiacker freigibt: ein Haufen löcheriger, zerbeulter Campbell’s Konservendosen (ein amerikanischer Konsum- und seit Andy Warhol auch ein Kunst-Mythos).

Paul Bunyan selbst bleibt körperlos; er manifestiert sich wie eine quasi-göttliche Stimme aus dem Irgendwo, mit wissender Ironie gesprochen von Nathaniel Webster. Zu sehen ist nur ein Mund, auf den Riesenstamm projiziert, mit blendend weißem Trump-Gebiss.

In den Kostümen Bettina Münzers wird das amerikanische Cowboy-Klischee ebenso zitiert wie Bunnies aus der Show oder Tiere aus dem Comic. Zwei unverfrorene Katzen – Julia Dawson und Cecelia Hall – tragen Mäusebälger als Handtaschen und singen lapidar-frivole Duette, aber ihre Kleidchen erinnern an Hausfrauen-Kittelschürzen. Sebastian Geyer verkörpert mit der Figur des Hel Henson den wortkargen Macho, dem man gerne abnimmt, dass er erst schießt und dann denkt.

Tiere auf der Bühne kommen immer gut: Julia Dawson (Moppet), Sydney Mancasola (Fido) und Cecelia Hall (Poppet) in Brittens "Paul Bunyan". Foto: Barbara Aumüller

Tiere auf der Bühne kommen immer gut: Julia Dawson (Moppet), Sydney Mancasola (Fido) und Cecelia Hall (Poppet) in Brittens „Paul Bunyan“. Foto: Barbara Aumüller

Die vielleicht spannendste Person aus Brittens groß besetztem Werk ist Johnny Inkslinger: ein Intellektueller, der sich zunächst um Geld und materielle Absicherung nicht schert. Doch auch er muss essen, und die pure Notwendigkeit macht ihn von Paul Bunyan abhängig: Er muss sich als Buchhalter verdingen und wird schließlich, als er den geisttötenden Job hinter sich lassen will, nach „Hollywood“ gelockt. Michael McCown macht deutlich, wie ein unabhängiger Geist seine Autonomie verliert. In der Unterhaltungsindustrie wirkt der frei sich wähnende Geist effektiv im Dienst kapitalistischer Verwertung. Brittens Blick auf das Amerika der Weltkriegszeit dürfte nicht zuletzt seinem eigenen und dem Schicksal anderer europäischer Komponistenkollegen geschuldet sein.

Einer dieser Kollege war Kurt Weill – und Brittens „Paul Bunyan“ erinnert streckenweise an die lehrstückhaften Werke aus Weills amerikanischer Zeit, etwa den „braven Soldaten“ Johnny Johnson. Britten setzt als Zwischenspiele Balladen im Country-Stil ein, in Frankfurt stilsicher vorgetragen und selbst auf der Gitarre begleitet von Biber Herrmann, einem Folk- und Blues-Sänger und Songwriter aus dem Rhein-Main-Gebiet.Tanz

Tanz auf der Dose: Johannes Leiackers attraktive Bühne für Brigitte Fassbaenders kluge Regie, hier eine Szene mit Michael McCown (Inkslinger) und Ensemble. Foto: Barbara Aumüller

Tanz auf der Dose: Johannes Leiackers attraktive Bühne für Brigitte Fassbaenders kluge Regie, hier eine Szene mit Michael McCown (Inkslinger) und Ensemble. Foto: Barbara Aumüller

Brittens Musik, vom Orchester beweglich, rhythmisch sensibel und mit Sinn für die leuchtkräftigen Farben und subtilen Zwischentöne gespielt, hat in Dirigent Nikolai Petersen einen aufmerksamen Anwalt gefunden. Sie erinnert an Weill, Gershwin und Cole Porter, an anglikanische Kirchenhymnen und Gilbert-and-Sullivan-Couplets, an melancholische Blues-Balladen und kernigen Folk. Vor allem aber behält sie in ihrer ironischen Zuspitzung und ihrem humorvoll gebrochenen Blick auf die Vorbilder ihren unverwechselbaren Britten-Charakter. „Getriebe, die knirschen“, nannte Leonard Bernstein diesen vertraut-verfremdeten Stil – und „Paul Bunyan“ ist reich an gekonnten Beispielen dafür.

Von daher gehörte diese amerikanische Operette dann doch hin und wieder in die Spielpläne, vor allem dann, wenn sich das eine oder andere Haus auf seine Britten-„Zyklen“ oder die „Pflege“ seines Werkes etwas einbildet.

Abgelegene Opern wie „Gloriana“ (vor Jahren in Gelsenkirchen), „Owen Wingrave“ (eindrucksvoll in Frankfurt und höchst gelungen am Theater Osnabrück) oder eben „Paul Bunyan“ eröffnen aufschlussreiche Blicke auf Brittens musikalische Kosmos und lassen sich, werden sie so wissend und bildmächtig inszeniert wie durch Brigitte Fassbaender in Frankfurt, auch dann verstehen, wenn der historische oder gesellschaftliche Background nicht mehr so unmittelbar einleuchtet wie etwa in „Peter Grimes“. Frankfurt erweitert damit seine Befassung mit Brittens Werk um eine faszinierende Facette.

Information und Aufführungstermine: www.oper-frankfurt.de




Lohnende Begegnung: Verdis Erstling „Oberto“

Das Ensemble: Vorne (von links) Karen Vuong (Imelda), Claudia Mahnke (Cuniza), Sergio Escobar (Riccardo), Maria Agresta (Leonora), Kihwan Sim (Oberto) und Jader Bignamini (Musikalischer Leiter) sowie im Hintergrund das Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Foto: Wolfgang Runkel

Das Ensemble: Vorne (von links) Karen Vuong (Imelda), Claudia Mahnke (Cuniza), Sergio Escobar (Riccardo), Maria Agresta (Leonora), Kihwan Sim (Oberto) und Jader Bignamini (Musikalischer Leiter) sowie im Hintergrund das Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Foto: Wolfgang Runkel

Flankierend zur gewichtigen Inszenierung von Giuseppe Verdis „Stiffelio“ widmet sich die Frankfurter Oper in zwei konzertanten Aufführungen dem 1839 an der Scala uraufgeführten Erstling des Meisters aus Sant’Agata. „Oberto, Conte di San Bonifacio“ war damals durchaus ein Erfolg, schaffte es aber nicht, über die Alpen vorzudringen. Das gelang Verdi erst mit seinem „Nabucco“. Erst 1999 erlebte die Oper in Passau ihre deutsche Erstaufführung, steht aber seither nur gelegentlich irgendwo auf einem Spielplan.

Die Mühe ist es wert, sich Verdis Einstand in der Welt der Oper mit erstrangigen Kräften und optimaler musikalischer Sorgfalt zu widmen. Denn der damals 26-Jährige verschafft sich als fertiger Komponist Zugang zu unseren Ohren. Sicher: Verdi erreicht noch nicht die psychologische Tiefe der Charakterstudien von „I Masnadieri“, noch nicht die Ensemblekunst späterer Finali. Aber der dramatische Instinkt, mit dem er das Libretto des Gelegenheitsdichters Antonio Piazza – eine vorlagenlos erfundene Ritterstory aus der Zeit Ezzelino da Romanos – vertont, packt treffsicher zu.

Ohne die wehmütigen Subtilitäten Donizettis, ohne die passionierten Melodielinien Bellinis, ohne die versierte, auch erfindungsreiche Routine eines Mercadante zieht Verdis Musik dennoch in ihren Bann: Der Rhythmus ist schlagkräftig ausgebildet, die Melodien langweilen nicht, und in Chören und Ensembles blitzt auf, was Verdi später, etwa in „La Traviata“, veredelt durch schmeichelnde Ohrwurm-Melodien, perfektioniert hat.

Milano, Teatro alla Scala: Ort des Debüts von Giuseppe Verdi als Opernkomponist im Jahr 1839.  Der Stich stammt von etwa 1790.

Milano, Teatro alla Scala: Ort des Debüts von Giuseppe Verdi als Opernkomponist im Jahr 1839. Der Stich stammt von etwa 1790.

Wer den „Oberto“ nicht aus der Perspektive des „Otello“, sondern vor dem Panorama der italienischen Oper der 1840er Jahre liest, wird verstehen, warum das verwöhnte Mailänder Publikum damals dem Provinzler aus Busseto zugejubelt hat. Keine Geringere als Verdis spätere Frau, die Sängerin Giuseppina Strepponi, soll auf Impresario Bartolomeo Merelli eingewirkt haben, das Werk aufzuführen, wie Verdi-Spezialist Anselm Gerhard im Programmheft mitteilt.

In Frankfurt erfährt Verdis Partitur dank des jungen Italieners Jader Bignamini am Pult des zu großem Engagement aufgelegten Orchesters eine erstklassige Behandlung. Endlich wieder einmal ein junger Verdi-Dirigent, der weiß, wie’s geht. Bignamini verhetzt kein Tempo, sperrt kein Metrum in den Käfig trockener Exaktheit, spannt melodische Bögen herrlich weit auf, hält den Rhythmus weit entfernt von der kruden Leierkasten-Eintönigkeit, mit der angeblich Verdis „hm-ta-ta“ dem wälschen Primitivismus huldigt.

Wie die Cellisten des Frankfurter Orchesters ihre Pizzicati zupfen, wie die Streicher ihre „eintönigen“ Begleitfiguren modellieren, wie die Bläser ihre Akzente setzen oder ihre Tongirlanden um Melodien winden, hat Vorbildcharakter. Verdi, erlöst aus despektierlicher Routine; das Einfache in seiner Musik zu duftiger Schönheit stilisiert.

Optimal besetzte Solopartien

Frankfurt hat keinen Aufwand gescheut, um die fünf Solopartien optimal zu besetzen. Ihr Debüt am Haus gab Maria Agresta – Odabella in Parma, Spontinis Vestalin in Dresden, Desdemona in Zürich, Norma in Paris und Mimí in Wien und an der Metropolitan Opera. Ein italienischer Sopran, wie man ihn heute selten hört, unangestrengt strömend, mit einem kontrollierten, den Ton bereicherndem Vibrato, einem hinreißenden Piano und einer flexiblen, am Ausdruck orientierten Dynamik. Ihr zur Seite als ihre großherzige, aber unglückliche Konkurrentin um die Hand von Riccardo, Conte di Salinguerra, zeigt das langjährige Frankfurter Ensemblemitglied Claudia Mahnke, dass ihr trotz der Bayreuther Heldinnenrollen und trotz eines ausgeprägten Vibratos nach wie vor gepflegte Piani und lyrische Intensität gelingen. Karen Vuong – im Juni die Micaela in der neuen Frankfurter „Carmen“ – zeigt als Imelda einen leichten, gut fokussierten, brillanten Ton.

Der alte Graf Oberto ist sozusagen das Urbild aller Verdi-Väterrollen: Er ist einer der halsstarrigen, dem Glück ihrer Kinder entsetzlich im Wege stehenden Figuren, hätte alle Wege zu Friede und Versöhnung offen, opfert sie aber seinem brachialen Ehrbegriff. Kihwan Sim, 2012 aus dem Frankfurter Opernstudio hervorgegangen, gibt dieser verstörenden Figur mit seinem schön geführten Bassbariton nobel-entrückte Züge und hält ihn von veristischer Brutalität zurück.

Mit den Tenören Glück zu haben, ist bei Verdi schwierig. Sergio Escobar bemüht der sich spürbar um einen differenzierten Vortrag, versingt sich aber in seiner ersten Cabaletta unglücklich und rettet sich in der Höhe mit bloßer Kraft. Auch wenn ihm im zweiten Akt der Zugriff auf Mezzoforte- und Piano-Regionen eher gelingen sollte – ein Tenor mit Schmelz und einer entspannt-noblen Phrasierung ist er nicht. Tilman Michaels Chor kommentiert die Handlung mit lyrischen Erwägungen; die Sängerinnen und Sänger fassen Licht und Schatten, Hoffnung und Unheil in klangliches Ebenmaß. Eine lohnende Begegnung!

Weitere Aufführung am 20. Februar.
Info. http://www.oper-frankfurt.de/de/page1019.cfm?stueck=727




Elementare Eifersucht: Giuseppe Verdis „Stiffelio“ an der Oper Frankfurt

Kein Raum für Intimität: die gläserne Kirche in Johannes Schütz' Bühnenbild für den Frankfurter "Stiffelio". Foto: Monika Rittershaus

Kein Raum für Intimität: die gläserne Kirche in Johannes Schütz‘ Bühnenbild für den Frankfurter „Stiffelio“. Foto: Monika Rittershaus

Dieser Kirchenbau ist gläsern. Alles ist sichtbar. Es gibt keinen Raum für das Intime zwischen den Menschen. Eine Frau steht abseits. Ihr hüftlanges Haar ist ein Signal: Es verrät sexuelle Attraktivität – ein Fetisch für Männer. Und es zeichnet sie als Sünderin. Denn in der christlichen Gemeinde, zu der Lina gehört, ist die Ehe heilig. Und ihr sexuelles Vergehen ein unaussprechliches Verbrechen.

In seiner Frankfurter Inszenierung von Giuseppe Verdis immer noch selten gespieltem Meisterwerk „Stiffelio“ hat der australische Regisseur Benedict Andrews das von Bühnenbildner Johannes Schütz geschaffene Symbol sinnstiftend eingesetzt. Zunächst ein bescheidenes, kreuzförmiges Kirchlein ohne Turm, wie es in vielen angelsächsischen Ländern auf dem Land anzutreffen ist, rückt es im ersten Gebet Linas als schwarzer, bedrohlicher Schattenbau in den Hintergrund, hebt sich im zweiten Akt zu einem wuchtig aufragenden Kreuz, gerät aus dem Lot, als sich der Konflikt um den Ehebruch Linas zuspitzt und strahlt am Ende, brüchig erleuchtet, über der Szene, in der Stiffelio, ihr Ehemann und gleichzeitig Pastor der protestantischen Gemeinde, ein Bibelwort aus dem Johannes-Evangelium in die Tat umsetzt: Wie Jesus der Ehebrecherin, so verzeiht Stiffelio seiner Gattin.

Andrews hat sich in Deutschland unter anderem mit Regiearbeiten an der Berliner Schaubühne, mit einer preisgekrönten Inszenierung von Botho Strauß` „Groß und klein“ – sie wurde auch bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen gezeigt – und mit Sergej Prokofjews mystischer Oper „Der feurige Engel“ an der Komischen Oper Berlin empfohlen. Bernd Loebe hat ihn, stets auf der Suche nach interessanten neuen Namen, an die Frankfurter Oper geholt.

Seine Handschrift ist nicht plakativ, bedient sich keiner privatistischen Chiffren. Andrews setzt darauf, das Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen spürbar zu machen, kann auf der Bühne schmerzhafte Spannung erzeugen. In dem Moment, in dem die scheinbar geordnete Welt der kleinen Gemeinschaft auseinanderbricht, beginnt die Drehbühne zu rotieren: Die Figuren verlieren den Boden unter den Füßen, sind gezwungen, sich zu orientieren, können sich nicht mehr in einem stabilen Koordinatensystem halten. Die Bewegung mag nervig sein – konsequent ist sie.

Dominanz und Bedrohung: das Kreuz ist ein ambivalentes Symbol in der Inszenierung von Giuseppe Verdis "Stiffelio". Foto: Monika Rittershaus

Dominanz und Bedrohung: das Kreuz ist ein ambivalentes Symbol in der Inszenierung von Giuseppe Verdis „Stiffelio“. Foto: Monika Rittershaus

Wie gezielt Andrews szenische Zeichen einsetzt, zeigt ein anderes Detail: Stiffelio, von einer Dienstreise zurückgekehrt, predigt seiner Gemeinde über die Schlechtigkeit der Welt. Er steht dabei innerhalb des Kirchleins an einem Fenster, durch das er die Zuschauer adressiert. Es ist der Blick von innen nach außen – aus der geschlossenen, moralisch eindeutig georteten Gemeinde, hinaus auf die Außenwelt. Aber die Predigt wird so auch als „Fensterrede“ qualifiziert: Als Stiffelio entdeckt, dass seine Frau keinen Ehering mehr trägt, gerät er außer sich. Verdi greift musikalisch zu entfesselter Dramatik, die den 37 Jahre später uraufgeführten „Otello“ ahnen lässt.

Stiffelios Eifersucht bricht im zweiten Akt noch elementarer aus: Er vergisst sogar den „heiligen Ort“, den er vorher eingeklagt hat, und schwört dem Sexpartner Linas furchtbare Rache mit der Waffe in der Hand. Verdi zeigt sich in dieser Szene auf dem Höhepunkt seiner musikalischen Charakterisierungskunst. Das „Miserere“ aus dem Hintergrund ist wie eine innere Stimme, die Stiffelio erinnert, dass Jesus selbst am Kreuz noch dem Verbrecher vergeben hat. Auch für das damals unerhörte Ende – ein Gottesdienst auf offener Szene mit langem Orgelsolo – findet Verdi eine lapidare, aber durch ihre schroffe Kürze so anrührende wie dramaturgisch packende Sprache.

So man in einer Oper davon sprechen kann, ist Verdis Theologie in „Stiffelio“ beachtlich. Gemeinsam mit seinem Librettisten Francesco Maria Piave charakterisiert er in gewohnter, skizzenhaft anmutender Kürze die ambivalente Atmosphäre solcher verschworener religiöser Gemeinschaften, geprägt von einem hohen Ideal, von Eifer und Entschiedenheit; auf der anderen Seite aber auch bedroht von Rigorismus, Sozialkontrolle und moralischer Überstrenge. Dafür stehen bei Verdi der alte Geistliche Jorg, ein unermüdlicher Mahner an die religiösen Pflichten, und Linas Vater Stankar. Der Offizier versucht mit allen Mitteln, den Ehebruch seiner Tochter zu kaschieren, um die Familienehre zu retten und die Stabilität der Gemeinde zu sichern. Dafür schreckt er auch vor einem Mord nicht zurück, den er schließlich an Linas Verführer Raffaele vollzieht. Der wiederum ist einer der schwachen Verdi’schen Liebhaber, eine Person ohne Profil.

In „Stiffelio“ erkennen wir Themen wieder, die Verdi ein Leben lang beschäftigt haben. Die verblendeten Väter – Stankars Duett mit Lina erinnert an Vater Germont in „La Traviata“ – und die rigorosen Systeme, gestützt von Geistlichen, denen jeder Anflug von Barmherzigkeit fremd ist, wie dem Inquisitor in „Don Carlo“. Es mag auch sein, dass die Ehebruch-Thematik des „Stiffelio“ Verdi besonders berührt hat: Er lebte zu der Zeit mit seiner späteren Frau Giuseppina Strepponi zusammen, ohne verheiratet zu sein, und hat die moralische Missbilligung in seiner Heimat schmerzlich erfahren.

Das Kreuz leuchtet im Finale. Vergebung eröffnet eine Perspektive. Foto: Monika Rittershaus

Das Kreuz leuchtet im Finale. Vergebung eröffnet eine Perspektive. Foto: Monika Rittershaus

Auch die Gemeinde in Andrews‘ Frankfurter Regiearbeit findet die verzeihende Reaktion Stiffelios nicht gut: Die Damen in ihren bunt gemusterten, züchtig übers Knie reichenden Kleidern, die Männer in ihren korrekten Hemden, Krawatten und Blousons – Victoria Behr hat sich von Fotos einer mennonitischen Gemeinde in Südamerika anregen lassen – nehmen ihre Stühle und gehen. Aber der Raum ist geöffnet, die Frau, der Prediger, das Evangelienbuch stehen im Licht des Kreuzes. Andrews legt nahe: Eine Perspektive hat sich eröffnet.

Die musikalischen Perspektiven, die Verdi mit der 1850 in Triest schon dank der Zensur verstümmelt uraufgeführten Oper eröffnete, können erst gewürdigt werden, seit 1968 Abschriften des verloren geglaubten Werks im Konservatorium von Neapel entdeckt wurden. In Köln gab es 1972 einen ersten Versuch in Deutschland, sich dem „Stiffelio“ zu nähern. Erst seit 1993 eine kritische Edition auf der Basis der in Verdis Villa S. Agata aufbewahrten Teile des Autographs erschien, waren gültige Aufführungen möglich. Doch trotz seiner unverkennbaren Qualitäten blieb „Stiffelio“ eine Rarität. Man arbeitet sich lieber zum hundertsten Mal am unmittelbar danach entstandenen „Rigoletto“ ab. Erst in jüngster Zeit rückt das Werk dank der Inszenierungen in Wien, Mannheim, Krefeld und jetzt Frankfurt stärker in den Blick der deutschen Opernlandschaft.

Sorgfältig ausdifferenzierte Vielfalt in der Musik

Für die Musik zeichnet in Frankfurt Jérémie Rhorer verantwortlich, ein seit einigen Jahren vor allem mit Mozart-Opern erfolgreicher Dirigent, der nun mit „Stiffelio“ seinen ersten Verdi dirigiert. Man spürt seine Herkunft aus der historisch informierten Praxis – Mark Minkowski etwa ist einer seiner Mentoren – in der sorgfältig ausdifferenzierten Vielfalt, mit der er Dynamik und Akzentuierung lebendig macht. Phrasen einfach so durchziehen – das gibt es bei Rhorer genau so wenig wie den bedenkenlosen Lärm, den man etwa vor kurzem in einer „Stiffelio“-Neuinszenierung am venezianischen Teatro La Fenice von dem jungen Italiener Daniele Rustioni zu hören bekam.

Aber Rhorers Zugang hat auch seine Tücken, etwa wenn er das eingängige dritte Thema der Ouvertüre zu eilig nimmt und das Tempo steif formt. So wird Verdi zur geschmähten „Leierkasten“-Musik. Und ein Crescendo ist bei ihm eben etwas Anderes als bei Rossini mit seinem lustvollen mechanistischen Spiel. Auch die Ensembles dirigiert Rhorer bisweilen zu quadratisch, ohne mit den Sängern zu atmen. Niemand hat – auch in der „alten“ Musik – ein Verbot flexibler Phrasierung aufgestellt, wie sie für Verdis expressive Melodik essentiell ist.

Sara Jakubiak als Lina (links) und Russell Thomas als Stiffelio. Foto: Monika Rittershaus

Sara Jakubiak als Lina (links) und Russell Thomas als Stiffelio. Foto: Monika Rittershaus

Auch bei den Sängern bleibt die Frage nach stilistisch adäquatem Verdi-Gesang ein bisweilen schmerzliches Thema. Russell Thomas, der laut Libretto „ahasverianische“ Pastor Stiffelio, hat die stimmliche Statur eines Otello, projiziert strahlende Tenorattacken in den Raum, überzeugt durch eine unverspannte, glänzend fundierte Tongebung. Zumindest, solange es dramatisch bleibt. Die leisen Töne, die „erstickte“ Stimme, die halblaute Farbe des Entsetzens, der Verzweiflung oder der Drohung sind dagegen technisch zweifelhaft mit einer Art Falsett dünn und hauchig gebildet.

Sara Jakubiak kann für die Lina einen großen, zur Passion und zu seelenvollem Lyrismus fähigen Sopran einsetzen, aber ihr Ton spricht nicht leicht genug an, um die Kantilene der Sehnsucht, die herbe Süße der Trauer, das verlöschende Licht gebrochener Lebenskraft in der Lasur eines souveränen Verdi-Soprans schimmern zu lassen. Dario Solari präsentiert als Stankar, was man sich gemeinhin unter italienischem Gesang vorstellt: einen großen, lauten, rauen Bariton.

Alfred Reiter gibt dem Jorg einen öligen, in den Ensembles reibungsvollen Bass. Vincent Wolfsteiner, als Raffaele der Auslöser aller Konflikte, hatte einen schlechten Abend – von seiner bisherigen Wirkungsstätte Nürnberg hat man von dem Tenor weit bessere Eindrücke mitgenommen. Der Chor Tilman Michaels zeigt sich präsent und bewegungsfreudig; das Frankfurter Orchester beherrscht Verdis Leichtigkeit ebenso wie das zupackende Fortissimo, ohne in Lärm zu verfallen oder die Sonorität des Tons zu dünn und luftig zu fassen.

Für die Rezeptionsgeschichte dieser Oper ist Frankfurt – nach Helen Malkowskys überzeugender Inszenierung in Krefeld/Mönchengladbach zum Verdi-Jahr 2013 – ein Meilenstein und hoffentlich ein Impuls.

Aufführungen in Frankfurt: 25., 28. Februar; 3., 5. und 12. März. Info: www.oper-frankfurt.de




Rossini-Rarität am „Opernhaus des Jahres“: Nationaltheater Mannheim zeigt „Tancredi“

Herrscher im inneren Konflikt: Filipo Adami als Argirio in der Mannheimer Neuinszenierung von Rossinis "Tancredi". Foto: Hans Jörg Michel

Herrscher im inneren Konflikt: Filipo Adami als Argirio in der Mannheimer Neuinszenierung von Rossinis „Tancredi“. Foto: Hans Jörg Michel

Das Nationaltheater Mannheim – gemeinsam mit Frankfurt „Opernhaus des Jahres“ 2015 – hat in dieser Saison einen Spielplan, der jedem auf Auslastung und Publikumsbedienung fixierten Theaterchef den Sorgenschweiß auf die Direktorenstirn treiben würde: Noch wehte Franz Schrekers „Der ferne Klang“ durch die mächtige Schachtel des Zuschauerraums, da kündigten sich schon Hans Werner Henzes „Die Bassariden“ an, gefolgt von Gioacchino Rossinis „Tancredi“.

Und so geht es weiter im Hause von Klaus-Peter Kehr: Am 10. Januar hat Jacques Fromental Halévys „Die Jüdin“ Premiere, sieben Wochen später Sergej Prokofjews „Der Spieler“. Und danach als Uraufführung Bernhard Langs „Der Golem“. Selbst der Mozart-Abschluss im Juli meidet Populäres, widmet sich dem „Idomeneo“. Zum Vergleich: In Essen mokieren sich bestimmte Kreise schon, weil einmal nicht die Braut verkauft, sondern aus dem slawischen Repertoire eine Kostbarkeit wie Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“ die spärliche Zahl der Neuinszenierungen eröffnete.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Rossinis erster Welterfolg „Tancredi“ von 1813 ist längst auf die internationale Opernszene zurückgekehrt – nur in Deutschland nicht. Schon in den siebziger Jahren tourte Marilyn Horne mit dieser Partie durch die Welt, und die kritische Edition (1977/1984) ermöglichte verantwortungsvolle Aufführungen. Die gab es in germanischen Gefilden auch, aber nur an speziellen Orten, bei den Schwetzinger Festspielen etwa (1992) oder beim Rossini Festival in Bad Wildbad (2001).

Mit der Mannheimer Inszenierung durch Cordula Däuper wagt es nun ein großes Opernhaus, „Tancredi“ ins Repertoire aufzunehmen. Zeit dazu wird’s, denn inzwischen stehen auch Sänger bereit, die Rossinis anspruchsvolle Partien stilistisch adäquat bewältigen und gestalten können. Und obwohl Librettist Gaetano Rossi das subtile Geflecht der Begründungen für den Verlauf der Tragödie – Vorlage ist Voltaires „Tancrède“ – radikal zerrissen hat, bleibt noch genug inhaltliche Substanz, um sich auch ohne Vorwissen auf die unglücklichen Figuren einlassen zu können.

Der Ritter Tancredi ist, weil Feind der herrschenden Familie, aus dem Syrakus des 11. Jahrhunderts verbannt, kehrt aber voll Sehnsucht nach der Heimat und seiner Geliebten Amenaide heimlich zurück. Er muss erfahren, dass sich die rivalisierenden Familien von Argirio – dem Vater Amenaides – und Orbazzano verständigt haben, weil die Stadt von Sarazenen bedroht wird. Unterpfand der Allianz ist Amenaide: Die heftig widerstrebende jungen Frau soll eine politisch alternativlose Ehe mit Orbazzano eingehen. Ihr Brief an Tancredi wird abgefangen und fälschlich als Schreiben an den Anführer der Sarazenen interpretiert. Amenaide droht nun als Verräterin der Tod – und auch Tancredi vertraut ihr nicht mehr. Er rettet sie zwar im ritterlichen Zweikampf mit Orbazzano vor der Hinrichtung, sucht aber dann aus enttäuschter Liebe den Tod in der Schlacht.

Die Musik wendet sich den Menschen zu

Rossis Libretto verweigert den stringenten dramaturgischen Zusammenhang. Die Aufklärung der Missverständnisse wäre – ähnlich wie in Webers „Euryanthe“ – problemlos möglich. Doch darauf kam es den mit Voltaire vertrauten Zuschauern der Entstehungszeit nicht an. Und die Ängste, Sehnsüchte und Träume, die Wut, Verzweiflung und Depression der handelnden Figuren, auf die Rossini sein Augenmerk richtet, vermitteln sich, von dramentheoretischen Einwänden unverstellt, heute wieder direkt und berührend.

Amenaide (auf dem Foto die Alternativbesetzung Tamara Banjesevic) ist das Opfer einer politisch geplanten Zweckheirat mit Orbazzano (Sun Ha). Foto: Hans Jörg Michel

Amenaide (auf dem Foto die Alternativbesetzung Tamara Banjesevic) ist das Opfer einer politisch geplanten Zweckheirat mit Orbazzano (Sun Ha). Foto: Hans Jörg Michel

Der Vater Argirio etwa ist kein standardisierter Bösewicht, kein unbeugsamer Politiker. Seine große Szene im zweiten Akt mit der bedeutsamen Arie „Ah! Segnar invano io tento“ zeigt ihn als zerrissenen Menschen. In seinem Inneren bringt der politische Druck die Stimme der Natur – die um Gnade für die Tochter wirbt – zum Schweigen. Das lässt ihn seelisch zerbrechen. Für diesen Moment wie auch für die Klagen Amenaides verliert Rossinis Musik ihre klassizistische Ausgewogenheit nicht, aber ihr sozusagen aus olympischen Höhen schweifender Blick wendet sich dem Menschen ganz nah und empfindsam zu. Nicht nur die kostbare Miniatur des Sicilianos der Einleitung zu „Di tanti palpiti“, dem „Schlager“ der Oper, weist voraus auf den Rossini der Experimente in Neapel, in denen er das romantische Gefühl in die Musik einsickern lässt, ohne ihre objektivierende Distanz aufzugeben.

Rubén Dubrovsky und das klein besetzte Orchester des Nationaltheaters nähern sich diesen Momenten seelenvoller Schönheit behutsam, mit sanfter Artikulation und drucklosem Klang. Dubrovsky achtet darauf, den Rhythmus federn zu lassen, die Bläser leuchtend und leicht zu halten, den Streicherapparat nicht in die Falle der Simplizität laufen zu lassen. Denn oft verleitet Rossinis kinderleicht anmutende Musik dazu, sie langweilig abzuspielen statt mit lebensvollen Nuancen zu formen. Nicht immer gelingt das: Die Ouvertüre gerät steif und mit zu massiven Tutti; das erwähnte Siciliano läuft im Metrum zu wenig flexibel ab. Da fehlt der Musik der Duft.

Das Heil der Inszenierung in der Reduktion gesucht

Unter den Sängern überzeugt ausgerechnet der als Rossini-Spezialist ausgewiesene Filipo Adami als Argirio am wenigsten: ein enger, nasig in die Höhe getriebener Ton, manchmal ein brüchiges Vibrato, eine kaum flexible Gestaltung der Linien. Eunju Kwon als Amenaide macht vor, wie’s gehen könnte. Sie hat die Leichtigkeit und den süßen Ton, die einwandfrei gebildeten Verzierungen und die verschatteten Farben für die Stellen der Resignation, der Trauer, der Depression. Im Duett mit dem Tancredi von Marie-Belle Sandis harmonieren die Stimmen delikat; im Duett mit Adamis Argirio laufen sie nebeneinander her.

Schutz, Rückzug, Verdrängung: Der Pappkarton ist in der Regie Cordula Däupers eine mehrdeutige Chiffre. Foto: Hans Jörg Michel

Schutz, Rückzug, Verdrängung: Der Pappkarton ist in der Regie Cordula Däupers eine mehrdeutige Chiffre. Foto: Hans Jörg Michel

Sandis singt ihre weltberühmte Auftritts-Cavatina nicht als Virtuosen-Demonstration, sondern verinnerlicht und mit viel Gefühl; als auffahrender Krieger fehlt ihr der Aplomb des Heroen, wie ihn Marilyn Horne unvergleichlich auf die Bühne gebracht hat. Aber Sandis weiß durch klugen Stimmeinsatz diese natürliche Begrenzung ihres Contralto wettzumachen. Reizend macht Ji Yoon mit der Arie des Roggiero auf sich aufmerksam. Sung Ha als Orbazzano gibt auch stimmlich den groben Militär, Julia Faylenbogen hat als Isaura keine Chance, sich zu profilieren,

Cordula Däuper und ihr Bühnenteam Ralph Zeger und Sophie du Vinage suchen ihr Heil in der Reduktion – nicht ohne Überzeugungskraft: ein Spielpodest in schwarzer Bühne, eine Brücke nach hinten zu einer Tür, wenige Requisiten, Kostüme, die Militärisches des 20. Jahrhunderts mit Elementen der napoleonischen Zeit der Entstehung der Oper reflektieren. Däuper interessiert sich für die Konstellationen von Seelenzuständen, versucht nicht, die antirealistische, kunstvolle Stilhöhe des Dramas mit quasi naturalistischer Aktion aufzufüttern.

Chiffren wie das Brautkleid oder ein in die Erde gepflanzter, nach dem Scheitern des Hochzeits-Deals wieder ausgerissenes Bäumchen spielen eine Rolle, ebenso ein Kinderpaar. Die beiden fegen über die Bühne, als Amenaide sich an ihren Geliebten erinnert; später wird ihr Vater das kleine Mädchen in einen Geschenkkarton stecken, so als wolle er sein Idealbild seiner Tochter konservieren. Die Elemente spielen eine Rolle – Erde auf dem Podest, Wasser als Regen, Luft und das finale Feuer, in dem Tancredi sein Ende findet. Man spielt in Mannheim den tragischen Schluss, den Rossini anstelle des „lieto fine“, des glücklichen Endes der venezianischen Uraufführung, wenige Wochen später für Ferrara konzipiert hat.

Rossini-Rarität auch in Frankfurt

Auch das andere „Opernhaus des Jahres“ hat eine Rossini-Rarität im Repertoire: Seit Dezember spielt Frankfurt wieder seine düster-überzeugende Version der „diebischen Elster“, eine kafkaeske Kleine-Leute-Geschichte mit einer rundum überzeugenden Ensemble-Leistung. Das Konzept, auch wenig Bekanntes in qualitätvollen Inszenierungen vorzustellen, durchzieht Bernd Loebes Intendanz bisher und wird sich auch fortsetzen: Im Herbst zeigte die Oper Michail Glinkas „Iwan Sussanin“ in einer musikalisch eindrücklichen, szenisch von Altmeister Harry Kupfer überraschend bieder arrangierten Aufführung. Am 23. Januar folgt die Neuinszenierung einer einst beliebten, aber seit Jahren nicht mehr aufgetauchten italienischen komischen Oper: „Le cantatrici villane“ („Die Dorfsängerinnen“) von Valentino Fioravanti. Und kurze Zeit später, am 31. Januar, erlebt Giuseppe Verdis verkanntes Meisterwerk „Stiffelio“ seine Frankfurter Erstaufführung. Dazu im April mit „Radamisto“ noch eine Händel-Rarität. Und das alles bei glänzenden Besucherzahlen. So geht Oper: lustvoll, originell, neugierig.

Rossinis „Tancredi“ in Mannheim am 16.01., 17. und 24.03. und 15.04.2016. Karten: (0621) 1680 150, www. nationaltheater-mannheim.de

Rossinis „La gazza ladra“ in Frankfurt zum letzten Mal in dieser Spielzeit am 08.01.2016. Karten: (069) 212 49 49 4, www.oper-frankfurt.de




Der Triumph des Absurden: Bohuslav Martinůs „Julietta“ an der Oper Frankfurt

Der Dschungel als Bild für die undurchdringlich überwucherte Grenze von Sein und Schein. Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Neuinszenierung von Bohuslav Martinus "Julietta". Foto: Barbara Aumüller

Der Dschungel als Bild für die undurchdringlich überwucherte Grenze von Sein und Schein. Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Neuinszenierung von Bohuslav Martinus „Julietta“. Foto: Barbara Aumüller

Traum oder Realität? Erinnerung oder Fiktion? Tatsache oder Vorstellung? Fragen, die nicht so einfach zu beantworten sind, wenn man in eine Stadt kommt, in der alle Bewohner ihre Erinnerung verloren haben. In der Vergangenheit nicht existiert. In der Geschichte synthetisch wird, nicht zu unterscheiden von bloßer Erfindung oder gar verkaufter Erinnerung. Bohuslav Martinůs Oper „Juliette ou La Clé des songes“ greift im Gewand des Surrealen, des Traumes, ein erkenntnistheoretisches Problem auf, über das wohl schon jeder einmal nachgedacht hat.

Ist das, was wir sehen und erleben, eigentlich „real“? Oder spielt uns der „Lügengeist“ René Descartes‘ eine Realität vor, die der Wirklichkeit nicht entspricht? Ist unser Leben ein Traum in einem Traum, wie Edgar Allan Poe sinnierte? Für den Skeptiker Descartes war die untrügliche Wahrheit, die des Menschen Vernunft erst möglich macht, die Voraussetzung der menschlichen Freiheit. Und die Evidenz Gottes die Voraussetzung dafür, der eigenen Vernunft zu vertrauen und damit in die Lage zu kommen, defizitäre Systeme und die eigene Begrenztheit zu kritisieren. Doch unsere Weltsicht schwankt zwischen naiver Vergötterung der Empirie („Ich glaube nur, was ich sehe“) und ratloser Auflösung jeglicher Gewissheit. Im Zeitalter eines radikalen Skeptizismus sticht der Gottes-Trumpf nicht mehr.

Die Frage nach Fiktion oder Realität stellt sich mit neuer Schärfe, angefacht noch durch eine populäres Denken durchziehende Form der Dekonstruktion, die keinen (Erkenntnis-)Stein mehr auf dem anderen lassen will. Für Jacques Derrida waren selbst Tod und Leben nicht unabänderlich – aus der Dekonstruktion ihres Gegensatzes entsteht das Gespenstische als neues Modell des Werdens der Welt. Da kommen uns Romantik und Surrealismus Hand in Hand entgegen und grinsen uns an ob unserer verzweifelten Versuche, beständige Ordnungen in der Welt zu finden, die wir – als letzten Ausweg – vielleicht noch im Hedonismus, Narzissmus oder der universalen Geltung des Ökonomischen entdecken.

Plötzlich stößt eine vergessene Oper auf gesteigertes Interesse

Kein Wunder also, dass Martinůs 1938 uraufgeführte und danach für zwei Jahrzehnte verschwundene Oper plötzlich ins Zentrum des Interesses rückt. 1959, nach der Wiesbadener deutschen Erstaufführung, war die Zeit dafür noch nicht reif; auch 2002 blieb die vorzügliche Wiederentdeckung in Bregenz ohne nennenswertes Echo, obwohl die Produktion auch in Paris gezeigt wurde. Jetzt, auf einmal, explodieren die Neuinszenierungen: Bremen, Zürich, Frankfurt; in der nächsten Spielzeit verlässt gar Daniel Barenboim sein wagnerisches Elysium, um in Berlin für Martinůs Werk zum Taktstock zu greifen.

Den Menschen fehlt das Gedächtnis: Geschichte schrumpft für sie auf einen Augenblick; dennoch gieren sie nach Erinnerungen. Szene aus der Frankfurter "Julietta"-Inszenierung Florentine Kleppers. Foto: Barbara Aumüller

Den Menschen fehlt das Gedächtnis: Geschichte schrumpft für sie auf einen Augenblick; dennoch gieren sie nach Erinnerungen. Szene aus der Frankfurter „Julietta“-Inszenierung Florentine Kleppers. Foto: Barbara Aumüller

Offenbar fasziniert die feine Grenze zwischen Illusion und Realität, auf der „alles Reale fiktiv erscheint und alle Fiktionen die Gestalt von Realität haben“, wie Martinů im Vorwort seines Klavierauszugs zu „Julietta“ (1947) formuliert. Ein weiteres Beispiel dafür, dass lange vergessene Opern plötzlich unglaubliche aktuelle Relevanz erhalten und mit Macht ins Repertoire drängen. In ihrer Frankfurter Inszenierung spitzt Florentine Klepper diesen Gegensatz zu – nicht zuletzt mit Hilfe des grellen, aber irgendwie künstlich wirkenden Realismus der Bühne von Boris Kudlička und der Kostüme Adriane Westerbarkeys.

In einer Hotelhalle – Beherbergungsbetriebe und fünfziger Jahre scheinen momentan bei Bühnenbildnern hoch im Kurs – bewegt sich eine quirlig bunte Gesellschaft. Dem Buchhändler Michel, der in die „kleine Stadt am Meer“ hineinstolpert, fallen die merkwürdigen Kleinigkeiten zunächst ebenso wenig auf wie dem mit dem detailreichen Realismus der Figuren beschäftigten Betrachter. Erst als ein kleiner Araber (die quirlige Nina Tarandek) behauptet, das gesuchte Hotel „du Navigateur“ existiere überhaupt nicht, erst als ein Mann mit Hut bekräftigt, er besitze einen Dampfer und ihn als Modell in einer wassergefüllten Plastiktüte vorweist, dämmert die Erkenntnis, in dieser Stadt könne es nicht mit rechten Dingen zugehen.

Michel, auf der Suche nach einer jungen Frau mit einer bezaubernden Stimme namens Julietta, muss erkennen: Die Menschen können sich an nichts erinnern, was länger als zehn Minuten zurückliegt. Es ist der Beginn einer Serie skurriler Begegnungen und Situationen. Was nie geschehen scheint, wird wiedererkannt, was soeben geschehen scheint, ist vergessen. Michel gelingt es nicht, aus der realen Irrealität dieses Welt-Gespinstes zu entkommen: Ob der Schuss, den er auf Julietta abfeuert, getroffen hat, werden er und wir nie erfahren …

Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Erstaufführung von Bohuslav Martinus "Julietta". Foto: Barbara Aumüller

Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Erstaufführung von Bohuslav Martinus „Julietta“. Foto: Barbara Aumüller

Im dritten Akt finden wir einen Bürokraten am Amte, der Träume verwaltet und zuteilt. Aber Martinůs Libretto setzt noch eins drauf, zieht noch eine Ebene des Surrealen ein: Alle auftretenden Personen – ein vom Wilden Westen schwärmender Hotelboy, ein trauriger Obdachloser, ein begehrlicher Sträfling – sprechen von „Julietta“: Aus der einen Geliebten wird die Frau in vielen Facetten. Ihre Stimme aus der Ferne führt Michel wieder auf die Reise. Er entkommt, genau wie der Traumverwalter – Michael McCown als vertrocknetes Subjekt – vorhergesagt hat, der geschlossenen Anstalt der Träume nicht.

Während in der letzten Spielzeit in Bremen Johanna Pfau und John Fulljames von Anfang an eine unbehaglich surreale Atmosphäre präsent setzten und zunehmend verdichteten, spielen Klepper und Kudlička mit dem zum Schein mutierenden realistischen Sein. Was logisch und stringent wirkt, verkrümmt sich allmählich in die aufgehobene Logik einer bedrohlichen Welt jenseits selbstverständlicher Kausalgesetze.

Was anfangs nur skurril wirkt, wird beängstigend, spätestens, wenn auf einer zweiten Ebene der Bühne graue, gesichtslose Gestalten wie Schlafwandler unfasslichen Zielen entgegenschwanken. In dem Moment, in dem sich die adrette exotische Bepflanzung eines Lichthofs als Dschungel in die Halle hineinschiebt, bricht die Illusion von Realität endgültig im Licht ungeheuerer Verrückung.

Zwischen rezitierendem Deklamieren und arioser Entfaltung

Für die Darsteller ist „Julietta“ eine doppelte Herausforderung: Sie müssen szenisch die skurrile Aktion in naturalistischen Habitus kleiden, der im Detail ständig Elemente eines bizarren Traums streift. Und sie sind in Martinůs Musik mit einem Spektrum zwischen Sprechen, musikalischem Rezitieren, Sprechgesang und arioser Entfaltung konfrontiert. In diesen Momenten bewährt sich wieder einmal die Frankfurter Ensemblepflege: Beau Gibson, Boris Grappe, Andreas Bauer, Magnus Baldvinsson, Judita Nagyová, Marta Herman und Maria Pantiukhova aus dem Opernstudio füllen in mehreren Rollen selbst peripher auftauchende Gestalten mit intensiver Präsenz.

Kurt Streit in der fordernden Partie des Michel agiert szenisch zu steif, um die zunehmende Verstörung deutlich zu machen. Stimmlich ist Streits ausgezeichnete Artikulation hervorzuheben, im Klang bleibt der Tenor allerdings oft fest und grell. Juanita Lascarro konkretisiert sich als Julietta aus der Erinnerung zum idealtypischen Weib mit warm-verführerischem Ton, um zum Schluss nur noch als – von Vibrato gefährdete – Stimme verortbar zu sein.

Frankfurts GMD Sebastian Weigle. Foto Monika Rittershaus

Frankfurts GMD Sebastian Weigle. Foto Monika Rittershaus

Das Wunder von Frankfurt ereignet sich im Orchester: Sebastian Weigle poliert Martinůs vielgestaltige Partitur zu einem funkelnden Edelstein erlesenster Klänge. Dem Hörer geht es wie der Figuren auf der Bühne: Er meint sich ständig, an etwas zu erinnern, was im nächsten Moment verflogen ist: die süffige Melodik Puccinis oder die perkussiven, querständigen Akkorde Strawinskys, die schwebende Lyrik Debussys oder die schwerblütigen Knalleffekte Skrjabins, der freche Ton des Schlagers oder die Melancholie eines Akkordeon-Chansons. Böhmischer Glanz oder Reibungen á la Erik Satie, trockener Humor á la Darius Milhaud oder die exotische Raffinesse eines Vincent d’Indy – das alles amalgamiert Martinů in einem elaborierten Reichtum, dessen facettenreicher Klang unter den Händen Weigles im Frankfurter Orchester blüht und hämmert, schwärmt und tanzt, raunt und fließt.

Es gab viele großartige Abende mit Sebastian Weigle, von Wagner bis Humperdinck und Strauss, aber die makellose Martinů-Premiere ragt heraus. Ein Glück, dass man von der Produktion eine CD erwarten darf. Und ein Glück, dass Martinůs Oper mit diesem Frankfurter Ereignis – hoffentlich – endgültig im Repertoire angekommen ist. Jetzt wäre es angebracht, den Komponisten nicht nur über „Julietta“ und seine bekanntere „Griechische Passion“ – in der nächsten Spielzeit am Essener Aalto-Theater – zu definieren, sondern sich auf Entdeckungstour zu begeben. Tipp für Spielplan-Macher: Die Filmoper „Die drei Wünsche“, 2002 in Augsburg vorzüglich, aber folgenlos inszeniert, harrt einer Wieder-Entdeckung.

Aufführungen von „Julietta“ in dieser Spielzeit an der Oper Frankfurt noch am 8. und 13. Juli.

Im „Bockenheimer Depot“ sind gleichzeitig drei Einakter Martinůs zu sehen: „Messertränen“, „Zweimal Alexander“ und „Komödie auf der Brücke“. Termine am 6., 9., 10., 12., 15., 16. und 17. Juli.

Info: www.oper-frankfurt.de




Versuchung und Glorie des Martyriums: „Mord in der Kathedrale“ von Pizzetti in Frankfurt

Eine Paraderolle für einen großen Darsteller: Thomas Becket in Ildebrando Pizzettis "Murder in the Cathedral" ist in Frankfurt der Bass John Tomlinson. Als Iwan Sussanin und Daland kehrt er 2015/16 nach Frankfurt zurück. Foto: Monika Rittershaus

Eine Paraderolle für einen großen Darsteller: Thomas Becket in Ildebrando Pizzettis „Murder in the Cathedral“ ist in Frankfurt der Bass John Tomlinson. Als Iwan Sussanin und Daland kehrt er 2015/16 nach Frankfurt zurück. Foto: Monika Rittershaus

„Murder in the Cathedral“ des heute kaum mehr bekannten italienischen Komponisten Ildebrando Pizzetti ist eines der ehrgeizigen Projekte, die unter der Intendanz von Bernd Loebe die Frankfurter Oper auszeichnen.

In dieser Spielzeit etwa gehörten dazu die glänzend durchdachte Inszenierung von Carl Maria von Webers „Euryanthe“ durch Johannes Erath oder die tief bewegende Aufführung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“. Nun hat Frankfurt das eklektische Werk um die Ermordung des Erzbischofs Thomas Becket, einer der Höhepunkte der Spielzeit 2010/11, wieder aufgenommen – und wieder mit John Tomlinson in der Hauptrolle.

Pizzettis neunzigminütige Oper nach dem gleichnamigen Drama von T.S. Eliot, 1958 am Teatro alla Scala in Mailand uraufgeführt, verschwand schnell aus den Spielplänen, ungeachtet gelegentlicher Aufführungen in Italien.

Für das zum Ideendrama und Mysterienspiel neigende Werk Pizzettis hat Regisseur Keith Warner im Bühnenbild von Tilo Steffens auf jeglichen Historismus verzichtet. Ein düsterer, in den Hintergrund gestreckter Raum erinnert an eine muffige Lagerhalle. Die Kostüme Julia Müers sind im Zweiten Weltkrieg verortet: Knickerbocker für die Ritter, Uniformen für die Chorführerinnen. Thomas Becket, der sich eine die Bühne diagonal durchschneidende Gangway heruntertastet, wirkt wie ein Flüchtling: Hut und schwarzer Mantel, Köfferchen, weißer Vollbart. Niemand außer ihm trägt einen Namen – das zeigt schon, dass es in diesem Stück ausschließlich um ihn geht.

Der Außenseiter, der aus dem Exil zurückkehrt und der herrschenden Macht im Wege steht: Warner säkularisiert die Figur Beckets, zeigt nicht den Erzbischof von Canterbury im Konflikt mit dem König, sondern einen Reisenden, der ein Jude im Zweiten Weltkrieg sein könnte – oder einer der Millionen, die heute zur Flucht gezwungen werden.

Die Regie konzentriert sich auf den geistigen Konflikt, den Becket durchstehen muss, und der schließlich im Martyrium endet. Auf ihn bezogen ist die bilder- und bewegungsreich gefüllte Bühne, bei der Warner und Steffens nicht vor einem symbolgeladenen Realismus zurückschrecken, wie er etwa der neuesten gegenständlichen Malerei eigen ist: Ein gewaltiger Corpus des Gekreuzigten löst sich vom Kreuz und wird in Teile zerschlagen.

Der Versucher, der Becket den Traum vom Ruhm des Märtyrers eingibt, kommt als Antichrist, wirft ihm das Kreuz zu: „Geh‘ vorwärts bis ans Ende“. Zwischen Realität, Wahn und Traum sieht der Erzbischof seinen Doppelgänger, sein eigenes Grab, seine Beerdigung. Im Hintergrund schlägt ein riesiges, blutiges Herz, als der „Dies irae“ eintritt und Becket von den vier Rittern ermordet wird.

Magischer Realismus: Szene aus der Inszenierung von Keith Warner. Foto: Monika Rittershaus

Magischer Realismus: Szene aus der Inszenierung von Keith Warner. Foto: Monika Rittershaus

Dass aus dem Stück keine platte Märtyrerstory wird, ist Geoffrey Dunns Adaption des Eliot-Textes geschuldet: Thomas Becket, ehemaliger Freund und Lordkanzler König Heinrichs II., ist hier kein lauterer Kämpfer für das Gute. Er ist stolz auf seine Tugend, hochfahrend, kompromisslos, hart und unnahbar. Weltlichen Verlockungen trotzt er ohne Probleme. Doch als der Verführer ihn an die „Glorie nach dem Tode“ erinnert, wird er sich der ausweglosen inneren Verfahrenheit bewusst: Gibt es überhaupt einen Weg, der nicht zur Verdammnis im Hochmut führt? Hätte er als Märtyrer wirklich „alles Wollen von sich geworfen“?

Der Konflikt löst sich nicht restlos. Als Becket gegen dringenden Rat die Tore der Kirche öffnen lässt, weil diese auch ihren Feinden offen stehen müssen, ermöglicht er den Mördern den Zutritt. Nimmt er den Tod in Kauf um des Ruhmes des Martyriums willen? Sieht er darin das letzte politische Instrument, das ihm bleibt, um gegen den anmaßenden Einfluss der weltlichen Macht auf die Kirche zu kämpfen? Oder überlässt er sich und sein Schicksal ganz dem Willen und der Lenkung Gottes?

Einsamer Flüchtling: John Tomlinson in der Oper "Murder in the Cathedral" in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Einsamer Flüchtling: John Tomlinson in der Oper „Murder in the Cathedral“ in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Mit John Tomlinson, dem einst viel gerühmten Bayreuther Wotan, hat Frankfurt die Reihe der großen Bässe weitergeführt, die den Thomas Becket verkörperten: Hans Hotter in Wien, Nicola Rossi-Lemeni in Mailand. Tomlinson durchdringt die Rolle als Schauspieler vollkommen, als Sänger mit vibratoreicher Mühe, rauen Stellen und gefährdeten Höhen.

Die Chorführerinnen Britta Stallmeister und Katharina Magiera werden mit den dramatischen Momenten an ihre Grenzen geführt und retten sich mit einer Tour de force. Wieder glänzend studiert und präsent auch im Spiel: der Chor und Kinderchor der Frankfurter Oper unter Tilman Michael und Markus Ehmann.

Das Orchester leitet Karsten Januschke mit viel Einsatz. Die dunklen Farben, archaisierenden Harmonien, lastenden Klangflächen und grellen Entladungen rückt er eher in Richtung eines süffigen Verismus‘, der die spröden Reibungen in Pizzettis Musik nicht betont. Das Ende zieht eine Moral fast wie im „Don Giovanni“, nur ist sie hier an Zynismus kaum zu übertreffen: Die Täter rechtfertigen sich. Schuld am Tode Beckets sei dieser selbst, hätte er doch seinen Mördern aus dem Weg gehen können. Außerdem habe man aus Liebe zu Vaterland und König gehandelt. Wer da etwa an Putins schwurbelige Ukraine-Erklärungen denkt, dürfte so falsch nicht assoziieren.

Nur noch eine Vorstellung am Freitag, 8. Mai; an zwei weiteren ursprünglich geplanten Terminen wird der Nachfrage wegen nun „La Bohème“ gespielt: www.oper-frankfurt.de

 




Einzigartige Vielfalt: Frankfurt stellt die Opern-Spielzeit 2015/16 vor

Die Frankfurter Oper. Foto: Werner Häußner

Die Frankfurter Oper. Foto: Werner Häußner

Ehrgeizige Projekte, eine umsichtige Ensemblepolitik und ein einzigartig vielfältiger Spielplan zeichnen die Oper Frankfurt unter der Intendanz von Bernd Loebe aus. In dieser Spielzeit etwa gehören dazu die glänzend durchdachte Inszenierung von Carl Maria von Webers „Euryanthe“ durch Johannes Erath oder die tief bewegende Aufführung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“. Loebe hat nun die Spielzeit 2015/16 vorgestellt und ein Programm präsentiert, das Maßstäbe setzt und in punkto Qualität – aber auch Quantität – weltweit einen Spitzenplatz beanspruchen darf.

Dreizehn Premieren kündigt das Haus an, davon zwei konzertant und drei in der Spielstätte „Bockenheimer Depot“. Ein zeitgenössisches Werk eröffnet wie schon in den letzten Jahren die Spielzeit: Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wird von Benedikt von Peter (Bremen) szenisch realisiert und von Erik Nielsen musikalisch geleitet. Von Peter hat in den letzten Jahren durch mehrere, umstrittene und eigenwillige Inszenierungen auf sich aufmerksam gemacht. Am 18. September ist die Premiere; das Stück wird wegen der räumlichen Ausdehnung ins gesamte Haus sieben Mal en suite gespielt. Der Komponist, der am 27. November 80 Jahre alt wird, ist als Sprecher mit dabei. Als Chor fungiert – wie bei der Aufführung der Ruhr-Triennale 2013 – das ChorWerk Ruhr.

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Die zweite Premiere am 25. Oktober ist keines der typischen „Chefstücke“, dennoch steht Generalmusikdirektor Sebastian Weigle am Pult: Michail Glinkas „Iwan Sussanin“ ist ein Schlüsselwerk der russischen Operngeschichte, aber hierzulande kaum bekannt. Damit erfüllt sich der 80jährige Harry Kupfer einen Regiewunsch; er erstellt auch gemeinsam mit Chefdramaturg Norbert Abels aus den zahlreichen Fassungen eine für Frankfurt.

Im „Bockenheimer Depot“, einer ehemaligen Remise für die Straßenbahn, erklingt ab 23. Januar 2016 eine weitere Besonderheit: Valentino Fioravantis „Le cantatrici villane“. Die Komödie um Sitten und Unsitten der Belcanto-Oper des Mozart-Zeitgenossen war früher unter dem Namen „Die Dorfsängerinnen“ beliebt, ist aber seit Jahrzehnten aus dem Repertoire verdrängt. Fioravanti (1764-1837), zu seiner Zeit häufiger gespielt als Mozart, hat über 70 Opern geschrieben, bevor er 1816 in Rom in päpstlichen Diensten sich der Kirchenmusik zuwandte. Die 1799 uraufgeführte Buffa gehört zu seinen international beliebtesten Werken und ist ein Musterbeispiel des aus Neapel kommenden Unterhaltungsgenres der Zeit.

Eine Rarität, die erst in den letzten Jahrzehnten zögerlich neu gewürdigt wird, ist Giuseppe Verdis „Stiffelio“. Die Geschichte um einen protestantischen Prediger und seine zwischen Liebe und Leidenschaft zerrissene Gattin kommt ab 31. Januar 2016 in einer Inszenierung von Benedict Andrews auf die Bühne. Der australische Regisseur, der in Frankfurt debütiert, hat schon an der Berliner Schaubühnen am Lehniner Platz und der Komischen Oper gearbeitet. Andrews ist einer der jungen Regie-Hoffnungsträger Loebes. Händels „Radamisto“ erscheint ebenfalls ins „Bockenheimer Depot“, wo die Regie-Debütantin Dorothea Kirschbaum zudem Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“ und der langjährige Regieassistent Hans Walter Richter die Uraufführung von Michael Langemanns „Anna Toll“ für einen Doppelabend inszenieren. Richter hat vor kurzem in Gießen die selten gespielte Donizetti-Oper „Linda di Chamounix“ wohlüberlegt aus dem Ruch des „Primadonnen-Vehikels“ befreit.

Das Kernrepertoire wird durch Neuinszenierungen von „Der Fliegende Holländer“, „Das schlaue Füchslein“, „Carmen“ und „Wozzeck“ ergänzt. Unter den 13 Wiederaufnahmen rangieren David McVicars gerühmter „Don Carlo“, Claus Guths „Rosenkavalier“ – der erst am 24. Mai Premiere hat – und sein Puccini-„Trittico“, Janáčeks „Sache Makropoulos“ mit Jonathan Darlington am Pult und Händels „Giulio Cesare“. Der „Ring“ Vera Nemirovas wird für zwei Zyklen wieder aufgenommen; hierfür beginnt der Vorverkauf schon am 1. Juni. Rasmus Baumann, Chef der Neuen Philharmonie Westfalen und früher Kapellmeister in Essen, dirigiert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Giacomo Sagripanti, mehrfach am Aalto-Theater zu Gast, leitet die Wiederaufnahme von Rossinis „Diebischer Elster“. Wiederkommen wird auch die von Anselm Weber (von Bochum kommender Schauspielchef in Frankfurt ab 2017) inszenierte „Tote Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold, bei der Sebastian Weigle dirigiert.

Info: www.oper-frankfurt.de/de/page1019.cfm

Dirigiert in Frankfurt den "Ring", aber auch Glinkas "Iwan Sussanin": Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Dirigiert in Frankfurt den „Ring“, aber auch Glinkas „Iwan Sussanin“: Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel




Holocaust als Opernstoff: Bochums Intendant Anselm Weber inszeniert „Die Passagierin“ in Frankfurt

Ein Totenschiff: Katja Haß hat für Mieczysław Weinbergs Oper "Die Passagierin" in Frankfurt ein großartig metaphorisches Bühnenbild geschaffen. Foto: Barbara Aumüller

Ein Totenschiff: Katja Haß hat für Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ in Frankfurt ein großartig metaphorisches Bühnenbild geschaffen. Foto: Barbara Aumüller

Zeit, sich zu erinnern, ist immer. Aber manchmal verdichtet sich Erinnerung, behauptet sich im Präsens und drängt sich in den gleichgültigen Lauf des Alltags. Momentan liegt es nahe, Vergangenes in die Gegenwart zu holen, auf dass es nicht vergessen werde: Vor 100 Jahren tobte der Erste Weltkrieg, vor 70 Jahren rissen die letzten Zuckungen des Nazi-Systems noch einmal Zehntausende in einen sinnlosen Tod. Aber vor 70 Jahren gab es auch Aufatmen: Die Alliierten erreichten die Tore der Vernichtungslager, gaben denen die Freiheit, die der Tötungsmaschinerie noch nicht zum Opfer gefallen waren.

Wie sich erinnern? Darüber gibt es zu Recht gesellschaftliche Debatten. Die Zeitzeugen sterben aus; das unmittelbar Erlebte ist auf geschichtliche Vermittlung angewiesen. Wie diese missbraucht wird, ist in diesen Tagen zu erleben, wenn die neue Banalität marschiert, den Bombenterror der letzten Kriegswochen gegen die deutschen Städte verzweckt, um ihre fragwürdigen Botschaften zu transportieren.

Erinnern ist auch eine Frage des kulturellen Gedächtnisses. Die deutsche Theaterlandschaft nimmt daran teil. Aber: Wie erinnert man sich auf der Bühne an den industriellen Vernichtungskrieg? An Schützengräben und Feuerstürme? Wie an die unvorstellbaren Gräuel der Lager? Wie an Gaskammern, Todeswände, Stehbunker und Verbrennungsöfen? Lange schien es undenkbar, das Furchtbare künstlerisch vermittelt auf einer Bühne zu thematisieren.

Adornos Diktum von 1949, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, wirkte praktisch wie ein Darstellungsverbot. Erst in den achtziger Jahren begannen vorsichtige Versuche, dem unsagbaren Leid den Ausdruck nicht mehr zu verweigern: Götz Friedrichs erschütternde Inszenierung von Leos Janaceks „Aus einem Totenhaus“ in Berlin war ein solches Beispiel. Peter Ruzickas „Celan“ thematisierte 1998 im reflexiven Rückbezug das Grauen des Holocausts in einem sperrig-komplexen Musiktheater. Aber von einer ausdrücklichen Thematisierung wie in Joshua Sobols Schauspiel „Ghetto“ von 1984 war die Opernbühne noch weit entfernt.

Erst Stefan Heuckes „Das Frauenorchester von Auschwitz“ – uraufgeführt 2006 am Theater Krefeld/Mönchengladbach – machte das Leben im KZ zum Gegenstand einer Oper. Im selben Jahr erklang in einer konzertanten Aufführung in Moskau zum ersten Mal eine Oper, von der die musikalische Welt bis dahin keinerlei Kenntnis hatte: „Pasażerka“ („Die Passagierin“) des 1919 in Polen geborenen jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg. Der Komponist, enger Vertrauter von Dmitri Schostakowitsch, hat sein Werk selbst nie gehört: Er verstarb 1996. Die szenische Uraufführung der „Passagierin“ fand erst 2010 in Bregenz statt und war ein Ereignis mit weltweiter Ausstrahlung.

Perfide Gewalt: Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak als Marta. Foto: Barbara Aumüller

Perfide Gewalt: Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak als Marta. Foto: Barbara Aumüller

Nach einer Novelle von Zofia Posmysz, die selbst das KZ überlebt hatte, schildert Weinberg eine Begegnung: Auf einem Schiff meint die frühere KZ-Aufseherin Lisa in einer Mitreisenden eine Lagerinsassin, Marta, erkannt zu haben. Sie versucht, die Identität der Passagierin zu erkunden. Gegenwart und Erinnerung verschränken sich, bis sich – ausgerechnet durch Musik – die Gewissheit verdichtet: Die Passagierin lässt die Bordkapelle den Lieblingswalzer des einstigen Lagerkommandanten spielen.

Schostakowitsch bezeichnete Weinbergs Oper als „Hymne an den Menschen, an ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat“. So sieht sie auch Regisseur Anselm Weber in der Frankfurter Neuinszenierung – rechtzeitig zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Die Bestialität des Lagerlebens, die nackte, menschenverachtende Brutalität lässt der Intendant des Bochumer Schauspiels nicht zu: Gewalt auf der Bühne droht immer ins Malerische abzugleiten.

In sorgfältigen Menschenstudien thematisiert Weber, wie die Gefangenen mit dem Horror leben: gebrochen bis zum Verlust des Gedächtnisses, getröstet von Gebet und winzigen Inseln gelebter Menschlichkeit, entschlossen bis zur Hingabe des eigenen Lebens, um sich und sein Gewissen nicht brechen zu lassen.

Katja Haß, die Bühnenbildnerin, hat für die Gleichzeitigkeit von Schiff und Lager, für das Verschmelzen von Realität und Erinnerung eine überzeugende Bühnenlösung gefunden. Vor einer riesigen Schiffswand sehen wir auf einer Gangway Walter, einen deutschen Diplomaten, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere 1960 nach Brasilien reist. Seine junge Frau Lisa im modischen Petticoat, die blonden Haare in Wellen gelegt: Man ahnt das „arische“ Weib von damals. Marta, die „Passagierin“: eine schlanke, elegante Frau in Schwarz. Sie zündet den Impuls des Erinnerns – da öffnen sich die Türen und aus dem Dunkel schälen sich drei Menschen in gestreifter Häftlingskleidung.

Anna-Lisa Franz, die ehemalige SS-Aufseherin, beharrt auf dem Recht auf Vergessen – aber es ist selbst für sie eine Illusion. Die Toten kommen wieder – die Schreckvision aller Gewaltmenschen bis hin zu de Schlächter Macbeth in Verdis Oper – und lassen sich nicht bannen: Die schwarze Frau zieht Lisa hinein in die Erinnerung; die Schiffwand dreht sich und öffnet sich zu einem Raum mit kalten Wänden.

Die Reling wird zum Wachtturm, die Schotten zum Lagertor. Wie es im Leben der Anna-Lisa Franz ein „Außen“ und „Innen“ gibt, so auch auf diesem Schiff: Das Äußere ist weiß, realistisch, gegenständlich. Das Innere ist der schmutziggraue Alptraum, die brutale Realität der Opfer. Das „Lieschen“ der Wirtschaftswunderzeit wandelt sich zur blonden Uniformierten. Die Frankfurter Inszenierung der „Passagierin“ hat also nicht – wie Holger Müller-Brandes (Regie) und Philipp Fürhofer (Bühne) in der deutschen Erstaufführung 2013 in Karlsruhe – auf realistische Elemente verzichtet, sie aber immer wieder in der Tiefe eines metaphorischen Raums gebrochen.

Weinbergs Oper klagt nicht an durch brutale, ungeschönte Szenen aus der Lagerqual. Aber das Libretto von Alexander Medwedew zitiert geradezu jene wohlbekannten Sätze, mit denen die Täter ihre Schuld relativierten: Befehl und Gehorsam, Pflicht und Korrektheit. Monströs ist die Verwunderung Lisas über den Hass, den ihr die Gefangenen entgegengebracht haben.

Für den Regisseur Anselm Weber (Intendant des Bochumer Schauspielhauses) ist Fräulein Franz keine „blutige Stute“, die prügelt oder tötet. Ihre Mittel sind subtiler, perfider: Sie gewährt scheinbar Momente der Menschlichkeit, etwa, wenn sie Marta und ihrem Geliebten Tadeusz ein heimliches Treffen ermöglicht. Aber ihr Ziel dabei ist die innere Demütigung der Gefangenen, wenn sie sich selbst verraten, um aus ihren Händen die Gunst zu empfangen. Marta spielte nicht mit – und Tadeusz auch nicht: Der Geiger, der den Lieblingswalzer des Kommandanten einüben soll, bevor er sich „in Rauch auflöst“, lehnt die Chance ab, Marta noch einmal zu sehen. Das Ende der Oper – und des Selbstbetrugs Lisas – kommt mit dem dämonisch verzerrten Walzer der Bordkapelle und einem träumerischen Lied Martas: Sie nennt die Namen ihrer Mithäftlinge, die nicht vergessen werden sollten – ein bezeichnender Kontrast zu der Szene im Lager, in der die Menschen mit bloßen Nummern aufgerufen wurden.

Die kalten Zahlen, die auch auf dem Zwischenvorhang die Namen zu verdrängen suchen, triumphieren nur in der Ideologie der Peiniger: Die Menschen im Lager lassen sich nicht enthumanisieren – auch wenn Weber mit den „Kapos“ in gestreifter Kluft mit Schlagstock ein Stück Realität zeigt. Mit bewegendem Spiel machen die Sängerinnen des Frankfurter Ensembles deutlich, wie Menschlichkeit im Verborgenen weiterlebt: Anna Ryberg, Maria Pantiukhova, Jenny Carlstedt, Judita Nagyova, Nora Friedrichs, Barbara Zechmeister und die beeindruckende Bronka von Joanna Krasuska-Motulewicz stehen für intensive Momente – und die hohe Ensemblekultur der Frankfurter Bühne.

Peter Marsh als Tadeusz in Weinbergs "Die Passagierin" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Brian Mulligan als Tadeusz in Weinbergs „Die Passagierin“ an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Tanja Ariane Baumgartner fügt mit der Lisa ihren stets reflektierten Rollenporträts ein weiteres, höchst gelungenes hinzu: Der Wechsel vom putzigen Fräulein zum camouflierten, schließlich hohnvoll ausbrechenden Sadismus der Aufseherin gelingt ihr szenisch wie stimmlich. Sara Jakubiak konkretisiert die „Passagierin“ Marta von einer fast schemenhaften Erscheinung zu einer starken, mutigen Frau im Lager; ihr poetisches Erinnerungslied am Ende der Oper singt sie mit feinen lyrischen Lasuren als einen sanften Appell, nicht zu vergessen.

Die Männer im Ensemble halten mit: Peter Marsh setzt seinen unverwechselbaren Charaktertenor für den konsternierten, um seine Karriere besorgten Diplomaten ein; Brian Mulligan verinnerlicht den Geiger Tadeusz, der als letztes Fanal des inneren Widerstands statt des geforderten Walzers vor dem Lagerchef die Chaconne Johann Sebastian Bachs spielt.

Der Frankfurter Chor war selten so glaubwürdig wie in dieser Produktion. Unter Leo Hussain brilliert das Orchester in den vielen kammermusikalischen Momenten ebenso wie in den schneidend harten Schlägen der Perkussionsgruppe oder in den verzerrten, in Mahler- und Schostakowitsch-Tradition stehenden parodistischen Zitaten aus der Unterhaltungsmusik. Um noch einmal Adorno zu zitiere: Hier hat das „perennierende Leiden“ sein Recht auf Ausdruck gefunden.

Weitere Aufführungen: 14., 20., 22., 28. März; www.oper-frankfurt.de

 




Barocke Burleske: Antonio Cestis Karnevalsoper „L’Orontea“ in Frankfurt

An Ägyptens Gestaden gestrandet: Alidoro (Xavier Sabata), angehimmelt von Silandra (Louise Alder), aber auch von der Königin Orontea selbst begehrt. Foto: Monika Rittershaus

An Ägyptens Gestaden gestrandet: Alidoro (Xavier Sabata), angehimmelt von Silandra (Louise Alder), aber auch von der Königin Orontea selbst begehrt. Foto: Monika Rittershaus

Wenn’s in Frankfurt mal lustig wird, ist Achtsamkeit angesagt: Mit komischen Opern oder gar Operetten hat Hausherr Bernd Loebe seit Jahren kaum etwas im Sinn. Jetzt erbarmte er sich zur „fünften Jahreszeit“ einmal eines nach Witz und heit’rer Laune gierenden Publikums – aber wenn schon, dann wenigstens barock: „L’Orontea“ hatte rechtzeitig vor den närrischen Tagen Premiere; ein burlesker, geistvoller Spaß aus dem Jahr 1656, geschaffen von einem Franziskanermönch.

Antonio Cesti wusste, wie er sein Zeitalter zu packen hat, und schuf für das Innsbruck Erzherzog Ferdinand Karls zur Karnevalssaison einen handlungssatten Dreieinhalbstünder, an Personen reich, mit Anspielungen und Zweideutigkeiten kräftig gewürzt. Giacinto Andrea Cicognini, der Librettist, verstand sein Handwerk: Er wusste, wie man verwöhnte, von der Oper gesättigte Venezianer professionell zu unterhalten hatte.

Dennoch ist die „philosophisch“-allegorische Einkleidung keine bloße Maskerade, um kulturellem Anspruch zu genügen. Ein Disput zwischen „Filosofia“ und „Amore“ exponiert das Vergnügen und sorgt am Ende für die Raffinesse der Auflösung: Creonte, der alte Philosoph, löst den Knoten der heillos verschnürten Handlungs- und Gefühlsstränge. Mag ja, sein, dass die Liebe die größere Macht über die Menschen hat und ihr Streben und Drängen bestimmt. Aber ohne die lösende Vernunft könnte sie sich aus den eigenen Verstrickungen nicht mehr befreien. Eine weise Lösung nach barocker Art.

Doch zuerst geht’s um den verderblichen Einfluss amouröser Impulse auf ein (scheinbar) vernünftig wohlgeordnetes Gemeinschaftswesen. Orontea regiert als Königin in Ägypten und ist keinesfalls willens, dem triebhaften Unter-Ich zu weichen, das als dickköpfige Amorette durch das Bühnenbild Gideon Daveys geistert. Aber wie das eben so ist: In Gestalt des schönen, an ägyptischen Gestaden gestrandeten Malers Alidoro kommt die Versuchung an, und statt dem Rat des – leider zu spät geborenen – Oscar Wilde zu folgen, sich lieber gleich zu ergeben, müssen sich die zunehmend liebeskranke Regentin und ihr Hof gute drei Stunden in Musik ergießen, bis sich alles im Sinne Amors fügt.

Barocke Fülle der Zeit: 70 Minuten braucht Orontea, bis sie sich zu dem zentralen Schluss durchringt, sie liebe Alidoro. Und erst nach weiteren 130 Minuten setzt sie die Erkenntnis folgerichtig durch. Dazwischen: Rezitative und Arien, einige von entzückendem Reiz, Sehnen, Begehren, Eifersucht, Trunk Travestie und Täuschung, Verzweiflung und Verwechslung, Briefe, Amulette und Piraten: Das ganze Repertoire wird aufgefahren, um Spaß und Spannung der Zuschauer zu erhöhen, bis endlich Creonte – mit der soliden, unfehlbar sitzenden Stimme von Sebastian Geyer – der Liebe freie Bahn gibt.

Regisseur Walter Sutcliffe – er inszenierte in Frankfurt Benjamin Britten selten gespielten „Owen WIngrave“ mit glücklicher Hand – schaut genau hin, auf Lust und Elend körperlichen Begehrens, auf lächerliche und tragikomische Versuche der Figuren, sich dem beliebten oder begehrten Gegenüber interessant zu machen, auf Getändel und Gemütstiefe.

Paula Murrihy als Orontea in Antonio Cestis gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Paula Murrihy als Orontea in Antonio Cestis gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Orontea etwa, die Königin, reagiert in „Liebesdingen“ ja nicht wie eine erfahren gereifte Seele. Sie hat den Attacken Amors in etwa so viel entgegenzusetzen wie ein dreizehnjähriger Teenager, reagiert wechselhaft, eifersüchtig, überzogen. Das Kostüm von Gideon Davey verdeutlicht den Fall: Zunächst in einer blauen Robe mit dem Kragen der „jungfräulichen“ Elisabeth Tudor, dann mit den exaltierten Würfen eines barock anmutenden Kleides, das auch ein köstliches Praliné verpacken könnte, schließlich schüchtern-reizstark entblättert schlittert die Königin in den emotionalen Wirrwarr hinein.

Auch andere Personen wechseln äußere Hülle und innere Seelenstimmung: Aristea etwa liefert mit Haut und Pailletten den Nachweis, dass Amor „auch die Alten nicht verschont“. Der Tenor Guy de Mey, der schon in der CD-Aufnahme mit René Jacobs mitgewirkt hat, macht aus der für einen tiefen Alt gedachten Rolle eine groteske, scharfe Travestienummer.

Amors Klone übernehmen die Herrschaft. Szene aus "L'Orontea" an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Amors Klone übernehmen die Herrschaft. Szene aus „L’Orontea“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Dass Sutcliffes Konzept vor allem im ersten Teil vor der Pause nicht trägt, liegt nicht nur an der Oper selbst, die sehr lange braucht, um alle Charaktere zu exponieren. Es liegt auch an der Distinktion des Regisseurs. Die Szenen ziehen sich, Abstecher ins Derb-Komödiantische oder in den Slapstick machen das Blei der Zeit nur punktuell leichter.

Daveys Bühne lässt barocke Schaulust vermissen: Da sorgt auch grelles Licht auf öde Sanddünen im ersten Akt nicht für Erleuchtung. Und ein hoher roter Raum, mit Büsten ausgestattet wie ein archäologisches Kabinett, bildet auch eher einen Rahmen als ein spielförderndes Element. Die tiefe Ruhe im Zuschauerraum vor der Pause sprach Bände.

Nach der Pause zieht das Tempo an, werden die Szenen burlesker, wenn auch nicht unbedingt belangvoller. „Amore“ behauptet ihre Herrschaft immer unverblümter: Die Putten vervielfachen sich; in Abendkleidern mit speckigen Ärmchen grillen sie Würstchen, schieben Kulissen, lugen hinter allen Kanten hervor. Das erinnert an den bunten, oberflächlichen Bühnen-Trash, mit dem in der Intendanz von Peter Jonas einst David Alden angetreten war, die Münchner zu Händel-Fans zu bekehren.

Nobler Rahmen, aber wenig spieldienlich: Das Bühnenbild von Gideon Davey. Foto: Monika Rittershaus

Nobler Rahmen, aber wenig spieldienlich: Das Bühnenbild von Gideon Davey. Foto: Monika Rittershaus

Dirigiert hatte diese Münchner Gesellschafts-Divertissements einst Ivor Bolton – und er debütiert in Frankfurt nun mit einer kritisch erarbeiteten Neuausgabe von Cestis Musik, den Streichern des Frankfurter Opernorchester und Solisten aus dem Monteverdi Continuo-Ensemble. Sie steuern die Spezialinstrumente bei: Theorbe, Lirone, Gambe, Trompete, Posaune, Zink, Orgel.

Bolton pflegt nicht die ruppige Ästhetik mancher Originalklang-Ensembles. Er setzt auf einen weich geformten, plastischen Klang, auf behutsame Akzente und federnden statt polternden Rhythmus. Das wirkt überzeugend in den Momenten der Innerlichkeit wie in der Arie „Intorno all’idol mio“, mit der die vorzüglich singende Paula Murrihy die seelische Tiefe der Orontea offenbart. Die burlesken Momente allerdings vertrügen entschlosseneren Zugriff in Artikulation und Rhythmus.

Unter den Sängern profiliert sich Paula Murrihy erneut als eine der leuchtenden Stimmen des sorgfältig gepflegten Frankfurter Ensembles. Ob in den sicher gesetzten verzierten Passagen oder im elegant gebildeten Legato: sie ist höhenschön, sicher in der Stütze und klangvoll im Timbre präsent. Mit schmeichelndem Timbre und geschmeidiger Stimmführung empfiehlt sich der katalanische Counter Xavier Sabata als Alidoro, selbst wenn ihm der virile Nachdruck ein wenig fehlt. Eigentlich war für diese Produktion Franco Fagioli angekündigt, der sich auf seiner Homepage aber mit Verweis auf höhere Gewalt entschuldigte.

Matthias Rexroth und Louise Alder lassen als „niederes“ Paar kaum Wünsche offen. Simon Bailey hat als Gelone die buffoneske Basspartie auszufüllen: Den ständig alkoholisierten, jede Gelegenheit zu Schlaf oder voyeuristischer Neugier nutzenden Diener bringt er mit derbem Charme auf die Bühne, stimmlich hat er mit den geforderten Wechseln ins Falsett seine Probleme – kein Wunder, denn was im 17. Jahrhundert Sache gut ausgebildeter Spezialisten war, kann heute nicht ohne Weiteres von einem Sänger verlangt werden, der von Bach bis Bartók alles singen können soll. Am Ende war der größere Teil des Publikums zu reichlich Beifall aufgelegt.




Verborgener Schatz – Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ in Frankfurt

Zeitenthobene Seelen-Räume: Christian Schmidts Bühne für Delius`"Romeo und Julia auf dem Dorfe" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Zeitenthobene Seelen-Räume: Christian Schmidts Bühne für Delius`“Romeo und Julia auf dem Dorfe“ an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Es gibt Kunstwerke, die Jahre, ja Jahrzehnte unbeachtet bleiben, und plötzlich eine erstaunliche Gegenwärtigkeit gewinnen. Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ gehört dazu.

Diese Oper war ein verborgener Schatz für Liebhaber, hin und wieder ans Tageslicht gehoben und liebevoll betrachtet, dann wieder auf Jahre hin vergraben. Arila Siegert (Regie) und Justin Brown (Dirigat) scheinen mit ihrer gelungenen Karlsruher Produktion 2012 das Interesse an der Oper des deutschstämmigen englischen Komponisten wieder geweckt zu haben. Am entdeckerfreudigen Frankfurter Haus Bernd Loebes feierte „A Village Romeo and Juliet“ eine beeindruckende Premiere; in der nächsten Spielzeit steht Delius‘ vieldeutiges Werke in Bielefeld – der Heimat von Delius‘ Familie – im Spielplan.

Die Geschichte zweier junger Menschen, die gemeinsam in einen Liebestod gehen, ließe sich aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Gottfried Keller, aus dessen „Die Leute von Seldwyla“ der Stoff genommen ist, hatte sich von einer Zeitungsmeldung über den Suizid zweier Jugendlicher anregen lassen und hartnäckig auf dem sozialkritischen Aspekt beharrt: ein Schicksal armer Leut‘. Nicht ohne Basis wäre auch eine Lesart im Sinne des Fin de Siècle, zu dem Delius‘ Musik unüberhörbar tendiert: als eine psychologisch-symbolistische Studie über die innere Reifung zwischen Kindheit und Adoleszenz in einer als feindlich wahrgenommenen Umwelt.

Eva-Maria Höckmayr und ihr Bühnenteam Christian Schmidt, Saskia Rettig (Kostüme) und Olaf Winter (Licht) halten die Geschichte von allzu eindeutiger Konkretion fern, lassen sie in einem zeit- und ortlosen Seelen-Raum spielen, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander schieben. Schmidt nutzt die Frankfurter Doppel-Drehbühne aus: Die Küche eine ländlich-einfachen Hauses mit Sprossenfenster und Kaninchenstall, wiederholt als rein-weißer, reduzierter Raum (Weiß ist, so erfahren wir im Programmheft, in Japan die Farbe des Todes); ein hohes Treppenhaus; ein Fleck grüner Natur und ein Baum, umgeben von bühnenhohen Wänden.

Ahnung und Erinnerung sind präsent in Eva-Maria Höckmayrs Regie in der Frankfurter Erstaufführung von "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Foto: Barbara Aumüller

Ahnung und Erinnerung sind präsent in Eva-Maria Höckmayrs Regie in der Frankfurter Erstaufführung von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Foto: Barbara Aumüller

Die Schauplätze schieben sich ineinander, wandeln sich rasch. Szenische Augenblicke wiederholen sich oder werden kontrastiert. Sali und Vreli, die beiden Liebenden, vervielfältigen sich: zwei Kinder als Braut und Bräutigam; ein altes Paar, ebenfalls in Hochzeitskleidung; zwei paradiesisch nackte Menschen auf dem Kulminationspunkt der liebenden Verschmelzung.

Es passiert viel, aber Höckmayr wehrt der Versuchung üppigen, beziehungslosen Bildertheaters. Sie bezieht die Szenen virtuos und stets inhaltlich abgesichert aufeinander, meidet aber zu eindeutige Festlegungen, die leicht ins lehrhaft Erklärende abrutschen würden. Der Ahnungsraum bleibt intakt, die Zeichen versuchen nicht vorschnell zu sprechen. Die Szene zeigt weniger „Handlung“ als Sehnsüchte, Wünsche, Imaginationen. Die atmosphärische Faszination der Bilder ist jedoch kein Selbstzweck, erschöpft sich nicht im Ästhetischen: Sie wahrt den letzten, unaufklärbaren Raum der Psyche, in dem sich Erträumtes und Erlebtes zu inneren Impulsen verbinden.

Bote der Freiheit und des Todes: der "schwarze Geiger" (Johannes Martin Kränzle). Foto: Barbara Aumüller

Bote der Freiheit und des Todes: der „schwarze Geiger“ (Johannes Martin Kränzle). Foto: Barbara Aumüller

So führt Höckmayr die Personen des Stücks ruhig und bestimmt durch die Raum gewordenen Labyrinthe ihrer Seelen – konzentriert auf das Paar Sali und Vreli und den „schwarzen Geiger“, eine ambivalente Figur, anziehend und unheimlich. Ihm wurde das Stück Natur vererbt, auf dem er beiden Kinder spielen lässt – aber die dumpf und stumm agierenden „Leute“ verdrängen ihn, weil er, der „Bastard“, auf das Brachland keinen Rechtsanspruch hat. Er öffnet den jungen Menschen die „Natur“ als Raum der inneren Freiheit, der Distanz zu den Regeln der Gesellschaft – aber wie ein „geigender Tod“ auch die Gefahr einer Abkoppelung vom Leben: Seinen Vorschlag, in sorgenfreier Anarchie mit ihm umherzuziehen, lehnen die Jugendlichen ab. Dem roten Mohn im Revers bläst der Fiedler die Blütenblätter ab: ein behutsames Zeichen für vergängliches Leben – und noch ein Hinweis, wie sorgfältig Höckmayr mit szenischen Details ihre Deutung ausarbeitet. Für Johannes Martin Kränzle ist diese vielschichtige Figur wie geschaffen: Er konkretisiert sie im körperlichen Gebaren wie im gestischen Reichtum seines Singens.

Die Bedrohung geht von den Vätern aus. Manz und Marti, wenn auch mit Sense und Bauernkluft ihrer musikalisch handfest-konkreten Zeichnung entsprechend, sind mehr als die auf Land gierigen Streithanseln, die sich prozessierend ruinieren: Sie hindern ihre Kinder an der Selbstwerdung, die sich Sali in einem Akt des Aufbegehrens erstreitet: Er schlägt dem aggressiven Marti, Salis Vater, einen Stein auf den Kopf – und es ist ein Stein, wie ihn der „schwarze Geiger“ scheinbar absichtslos hat fallen lassen, als er Verhängnis prophezeite, „wenn der Pflug das Land berührt“. Dietrich Volle ist ein ungewöhnlich strapaziert klingender Manz, der seine Höhe nicht frei, sondern erkämpft erreicht; Magnús Baldvinsson ein Marti mit passend rautonigem Bass.

Dumpfer Druck des Dorfes: In dieser Gesellschaft haben die Liebenden keine Chance. Foto: Barbara Aumüller

Dumpfer Druck des Dorfes: In dieser Gesellschaft haben die Liebenden keine Chance. Foto: Barbara Aumüller

Auch das Paar Sali (Jussi Myllys) und Vreli (Amanda Majeski) zeichnet sich durch intensive Darstellung aus: kontrolliert in den statischen Momenten, aus denen sich der Bewegungsimpuls nur langsam löst; berührend sensibel in den wenigen innigen Momenten der Zweisamkeit. Die amerikanische Sopranistin hat in Frankfurt schon die „Gänsemagd“ in Humperdincks „Königskindern“ gesungen, geht im März 2015 für Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ nach Chicago und kehrt im Mai 2015 als Feldmarschallin in den neuen Frankfurter „Rosenkavalier“ zurück. Darauf wird man gespannt sein dürfen, denn Majeski zeigt einen klar fokussierten Sopran mit gläserner Brillanz, aber wenig Farbenspiel. Jussi Myllys – 2015 als Tamino, Don Ottavio und als „Rosenkavalier“-Sänger an der Deutschen Oper am Rhein – ist vor allem als jungenhafter Typ eine passende Besetzung; klanglich lässt sein lyrischer Tenor ein wenig Schliff vermissen, aber der Nachdruck für die intensiv erfüllte Linie und der leidenschaftlichen Phrasierung ist da.

In besten Händen entfaltet sich die klangliche Schönheit, mit der das Frankfurter Orchester immer wieder überzeugen kann: Dirigent Paul Daniel nimmt den Anfang wohl bewusst kantig, um die Entwicklung zu den fließend-impressionistischen Klangströmen zu pointieren, mit denen Delius die Grenze zwischen Realität und Imagination, Traum und Wirklichkeit musikalisch aufweicht. Da mögen Wagner und Debussy durchklingen, da mag manches auf die Raffinesse von Schreker und Korngold hinweisen – Delius hat in Leipzig studiert und war mit Edvard Grieg eng befreundet –, aber die persönliche Handschrift des Briten geht nicht in Vorbildern auf: Delius findet, formal unbekümmert, zu eigen geprägter klanglicher Sensibilität und agogischer Geschmeidigkeit, zu oszillierenden Mikroklängen wie zu breiter lyrischer Emphase, die sich in ihrem Strömen nur unwillig eindämmen lässt.

Daniel lenkt diesen Fluss mit gestaltender Hand und gibt ihm mit den en détail aufmerksamen Musikern die klanglichen Licht- und Schattenspiele, die wie die im Licht bewegte Oberfläche eines Flusses zwischen zitterndem Verharren und schimmerndem Entgleiten changieren. – Frankfurt hat in den letzten Jahren ein schönes Repertoire aus der Zeit zwischen Gründerzeit und Zweitem Weltkrieg präsentiert. Es wird 2014/15 mit Humperdincks „Hänsel und Gretel“ und Martinůs „Julietta“ weitergeführt, und man darf hoffen, dass die nächsten Jahre der Intendanz Loebe noch einige sehenswerte Trouvaillen an den Tag bringen.




Kafkaeske Geschichte von Willkür und Gewalt: Rossinis „Diebische Elster“ in Frankfurt

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Das Unheimliche triumphiert. Von Gioacchino Rossini ist der Opernbesucher leichte Kost gewöhnt – auch weil deutsche Opernhäuser nicht bereit sind, anderes zu gewähren. Und nur, wenn man mit dem Regisseur Glück hat, werden die grotesken und die irritierenden Momente in Werken wie „La Cenerentola“ oder „Der Türke in Italien“ auch herausgearbeitet. Im Falle von „La gazza ladra“ stand das bisher nicht zur Debatte, denn „Die diebische Elster“ mit ihrer weithin bekannten Ouvertüre wurde einfach nicht gespielt. In dieser Spielzeit hat sich das geändert: In Würzburg und Frankfurt steht das Stück auf dem Spielplan, das ein Rossini-Kenner wie der Dirigent Alberto Zedda unter die drei bedeutsamsten Opern Rossinis einordnet.

Doch während in Würzburg die Regie von Andreas Beuermann an der Rossini-Konvention kleben bleibt und eine leicht skurrile Winzerdorf-Posse mit märchenhaften Zügen auf die Bühne stellt, betont David Alden in Frankfurt das Unheimliche, ja Brutale in dieser Kleine-Leute-Geschichte.

In einem spukhaften Bühnenbild von Charles Edwards löst Alden das Drama um den vermeintlichen Diebstahl durch eine Hausangestellte und ihre Verurteilung zum Tode unter Kriegsrecht aus dem historischen Zusammenhang des französischen Rührstücks und rückt es zeitgemäß zurecht: als kafkaeske Geschichte von Willkür und Gewalt. Die von Bibi Abel erstellten Video-Projektionen lassen unheimliche schwarze Vögel über die Szene fliegen, die sich im ersten Finale zum bedrohlichem Schwarm ballen: der Verweis auf Hitchcocks Film passt zu der Bedrohung des Opfers, die auch unerklärbar aus dem Nichts erwächst.

"Spooky": Die Bühne Charles Edwards' zu Rossinis "Die diebische Elster" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

„Spooky“: Die Bühne Charles Edwards‘ zu Rossinis „Die diebische Elster“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Die Bühne, ein großmustrig tapeziertes Halbrund mit schweren, altmodischen Türrahmen, erinnert an Film-Spukhäuser, an Räume der „gothic novel“ oder an verloren-unheimliche Anwesen auf Bildern von Dennis Hopper oder des Fotografen Matthias Herrmann. In diesem Horizont wird ein trautes Heim herumgeschoben und je nach Bedarf zugerichtet. Rosige Tapeten zitieren das Muster des Halbrunds, die Einrichtung zeigt, dass sich hier kleine Leute nach dem Vorbild der Großen strecken. Dort erwartet man die Rückkehr des „eroe di guerra“, des Sohnes, der als Soldat den Interessen der Mächtigen dienen muss.

Zentrale Figur des Dramas ist der Podestá Gottardo, der in einer schwarzen Kutsche, von Menschen gezogen, vorfährt, als wolle Edwards Murnaus „Nosferatu“ zitieren. Er ist vom Ursprung her, wie viele in dieser Rossini-„Semiseria“, eine Komödienfigur: der lüsterne Alte, der gerne etwas junges Fleisch genießen würde.

Doch sein Verhalten sprengt nachdrücklich die Komödien-Konvention: Ein Provinz-Beamter, der übergeordneten Kontrolle entzogen, geriert sich als Tyrann. Er reagiert auf Ninettas selbstbewusste Ablehnung (in patriarchalischen Gefügen unangemessenes Beharren auf selbstbestimmter weiblicher Sexualität) mit der Wut des Gedemütigten und mit dem arglistigen Hintersinn eines juristisch versierten Rachsüchtigen. Der zufällig aufgeschnappte Vorwurf in einer eher familiären Auseinandersetzung, das Dienstmädchen habe einen Silberlöffel verschlampt, wird zum „Fall“.

Was folgt, ist ein Indizienprozess, in dem Menschen, die wohl kaum lesen und schreiben können, chancenlos einer vermeintlich zutreffenden Kette von Schlussfolgerungen ausgeliefert sind. Wer hinter die zeitgemäße, heute harmlos wirkende Einkleidung blickt, fragt sich: Wie weit weg ist da der Dorfrichter Adam aus Kleists „Zerbrochenem Krug“? Und wie nahe liegt diesen Menschen der Büchner’sche Seufzer: „Wir arme‘ Leut“?

Gefährlich groteske Figuren

David Alden misstraut dem „coup de théâtre“ mit der „diebischen Elster“: Im Libretto Giovanni Gherardinis wird Ninetta im letzten Moment vor der Hinrichtung gerettet, weil im Nest einer Elster das vermisste Besteck gefunden wird. In Frankfurt klaut nicht nur die hoffmanneske Figur des Hausierers Isacco (Nicky Spence gibt ihm gefährlich-groteske Züge), sondern auch der Bauernbursche Pippo (mit feiner Stimme: Alexandra Kadurina). Er zieht den Silberlöffel aus der Tasche, steckt ihn aber erschreckt zurück, als von „Todesstrafe“ die Rede ist.

Alden lässt die Geschichte so seltsam enden, wie uns heute der „glückliche“ Schluss vorkommt, zu dem Rossini durch Zensur und Konvention gezwungen war: keine Aufhellung, kein Schlussjubel, eher ein entkräftetes Zurücksinken. Ninetta und ihr Vater – das Schicksal dieses Deserteurs spitzt den Hauptstrang der Handlung zu – grüßen von der Kutsche des Podestá, der sich in einer Ecke als Verlierer krümmt. Wie so oft bei Alden gibt es freilich auch Momente, in denen die Regie übertreibt und sich verselbständigt: erst ein unmotiviertes Tänzchen, dann überflüssiges Gerenne des Chores und eine seltsame Orgie der „Gewalt gegen Sachen“ des Richterkollegiums bräuchte es nicht.

Keine einfache Aufgabe stellt Rossinis ausgefeilte Partitur an Henrik Nánási und das Frankfurter Opernorchester: lyrische Innerlichkeit, sanfte Traurigkeit, aber auch feurig-jugendliches Aufbegehren verbinden sich mit den hier beinahe zynisch wirkenden Crescendi und Repetitionen aus der koketten Opera buffa. Ungerührt wie der Lauf der Geschichte geht die Musik über die Schicksale hinweg: eine verstörende Wirkung. Doch im Vordergrund steht die moderne Expression, die Rossini in seinen neapolitanischen Opern nach 1817 kultivieren und perfektionieren sollte. Nicht umsonst wird der erhabene Ausdruck der Chöre und des Trauermarschs im zweiten Akt gerühmt.

Belcanto-Flexibilität und kühle Präzision

Nánási, Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin, rückt die Ouvertüre noch zu sehr in die Nähe fröhlich-quadratischer Marschrhythmen, als sei Rossini ein mediterraner Paul Lincke. Doch im Verlauf des Stücks findet er zu einer überzeugenden Mischung aus belcantesker Flexibilität und kühler, rhythmisch-metrischer Präzision. Die Bläsersoli aus dem Frankfurter Orchester sind meist erstklassig; dass den Violinen im Lauf von mehr als drei Stunden das heikle, filigrane Fingerwerk nicht immer akkurat gelingt, ist kein Merkmal mangelnder Qualität.

Das Biedere wird unheimlich: Katarina Leoson (Lucia) und Federico Sacchi (Fabrizio Vingradito) in Rossinis "Die diebische Elster" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Das Biedere wird unheimlich: Katarina Leoson (Lucia) und Federico Sacchi (Fabrizio Vingradito) in Rossinis „Die diebische Elster“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Die Sänger, wie stets bei Rossini erheblich gefordert, sind mal mehr, mal weniger mit dem spezifischen Idiom vertraut: Kihwan Sim ist als brutaler, unrührbarer Egozentriker der Macht eine auch vokal imponierende Figur; Sophie Bevan eine intensive Darstellerin der mädchenhaften Ninetta mit einem hübsch timbrierten, aber manchmal zu leichtgewichtigen und in der Höhe nicht ganz abgefederten Sopran.

Jonathan Lemalu macht aus dem untergetauchten Deserteur Fernando eine grob geschnittene, nicht sehr glaubwürdig agierende Gestalt mit ebenso grobem, nicht präzis vokalisierendem Bariton. Den unbedachten Anlass für die tragische Entwicklung gibt die Dienstherrin Ninettas mit ihrem kleinkarierten Genöle: Katarina Leoson zeichnet sie als eine bigotte, aufs Materielle bedachte Frau aus der bürgerlichen Mittelschicht des 19. Jahrhunderts – die sorgfältig gestalteten Kostüme stammen von Jon Morrell. Ihr Mann ist lockerer eingestellt, kann sich aber gegen niemanden durchsetzen: Federico Sacchi singt ihn passend profillos. Francisco Brito jammert und protestiert als Giannetto vergeblich gegen die übermächtige, juristisch abgesicherte Willkür an.

In der Pause echauffierte sich ein älterer Besucher über die „aufgeblasene Dorfgeschichte“. Wer nichts verstehen will, versteht eben auch nichts. Zum Glück gibt es in Frankfurt – und anderswo – das Publikum, das sich dem Neuen und Ungewohnten öffnet, auch wenn es in scheinbar so konventioneller Umkleidung wie in dieser genialen Rossini-Oper auftritt.




Im Gespinst des Irrealen: Aribert Reimanns „Die Gespenstersonate“ an der Oper Frankfurt

Aribert Reimann, Die Gespenstersonate: Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Aribert Reimann, Die Gespenstersonate: Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Phantome in der Oper: In Frankfurt haben sie Fleisch und Bein, wenn auch nur Glasknochen und morbides Gewebe. Im Bockenheimer Depot wehen sie durch Aribert Reimanns „Gespenstersonate“.

Die Kammeroper, 1984 bei den Berliner Festwochen uraufgeführt, radikalisiert August Strindbergs gleichnamiges Drama mittels einer Musik ohne Grund und Boden: geisterhaft irrlichternde Motivfetzen, schwebende Flageoletts, nebulöse Streicher-Piani, unwirklich schwebende Cluster, dazwischen Fragmente handfest definierter Akkorde, genau umrissene, grelle Bläsereinwürfe, polyphoner Tumult. Und dann die faulige Süße des Harmoniums, ein Ton wie aus dem Geisterhaus im Disneyland.

Reimann setzt diese Mittel virtuos ein: die klanglichen Chiffren des Gespenstischen, des Unheimlichen, wie wir sie aus entsprechenden Filmen kennen. Die Kraft der ins Unendliche geweiteten tonalen und atonalen inneren musikalischen Bezüge. Die immer wieder bezwingende Ausdrucksdichte seiner Erfindung, wie sie von „Lear“ bis „Medea“ seine Opern zu Fixpunkten der Musiktheater-Geschichte der letzten vierzig Jahre macht.

Das Drama – vom Komponisten gemeinsam mit Uwe Schendel eingerichtet – ist ein merkwürdiger Zwitter, erinnert an die psychologisch aufgeladenen Sozialdramen, aber auch an den in Mystizismus und Okkultismus versinkenden späten Strindberg. Die Frankfurter Inszenierung von Walter Sutcliffe leugnet das nicht. Kaspar Glarners Bühne, ein Talboden zwischen den beiden Abhängen der einander gegenübergebauten Besuchertribünen, mimt im kalten Licht Joachim Kleins ständig Realismus – und bricht ihn immer wieder ins Absurde. Die Villa Direktor Hummels steht als fein detailliertes Gebäude da, entlarvt sich aber als abgründiges Modell eines von unwirklichen Gestalten bewohnten Hauses. Sessel und Möbel fahren auf und ab, werden aus dem Untergrund ausgespuckt und verschwinden im Irgendwo. Ein Schrank dient als Habitat, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt; bewohnt wird er von einer „Mumie“. E.T.A. Hoffmann ist amalgamiert mit Maurice Maeterlinck und Alice im Wonderland.

Tod im Hyazinthen-Gitter: Szene aus Reimanns "Die Gespenstersonate" an der Oper Frankfurt. Alexander Mayr als Student Arkenholz, Barbara Zechmeister als Fräulein. Foto: Wolfgang Runkel

Tod im Hyazinthen-Gitter: Szene aus Reimanns „Die Gespenstersonate“ an der Oper Frankfurt. Alexander Mayr als Student Arkenholz, Barbara Zechmeister als Fräulein. Foto: Wolfgang Runkel

Schein oder Sein: Die Frage bleibt unbeantwortbar. Das Libretto, eine obskure Geschichte aus gespenstischen Täuschungen, Schein-Realitäten, beziehungsreich verrätselten Erläuterungen, monströsem Trug und symbolistischem Raunen. Die Handlung, eine nicht nacherzählbare Verstrickung der Personen in eine mörderische Vergangenheit, in Unsagbares, Verdrängtes, Irreales, Pathologisches. Die Personen selbst, Untote, Vampire, Wiedergänger, halbreale Irrende zwischen Räumen und Zeiten.

Sutcliffe bemüht sich um größtmögliche Klarheit, ohne die klebrige Geheimnislast des Gespinstes wegaufklären zu wollen. Absurdes kommt daher, als sei es alltäglich real; banale Vorgänge werden weggesogen in eine unheimliche Sphäre des Irrealen. Als „Mumie“ etwa, im grauen Glanz brüchigen Kleidergespinstes, setzt Anja Silja ihre ganze Bühnenerfahrung ein, changiert zwischen dem erbarmungswürdigen psychischen Elend einer verlebten Frau, dem grotesken Irrsinn einer Greisin und der schrankenlosen Wahrhaftigkeit eines desillusionierten Lebensrückblicks.

Direktor Hummel, Intrigant, Mörder und Verdränger, erinnert bei dem auch stimmlich großartigen Dietrich Volle eher an die patriarchalischen Sozialstudien Strindbergs aus seiner naturalistischen Phase – mit einem Dreh ins Fantastische, der die unheimlichen Seiten der Figur noch verstärkt. Brian Galliford als Oberst gehört auch in diese Kategorie der Väter, deren wohlanständig gesetzte Fassade Abgründe verdeckt. Martin Georgi (Konsul) und Nina Tarandek (Dunkle Dame) lassen durch ihr überlegtes Spiel im Gespenster-Souper erfahren, dass sie nur noch als geisterhafter Nachhall einer einst gelebten Existenz durch den Raum des Spiels klingen.

Einen dämonischen Zug bringen die „dienstbaren Geister“ mit: Bengtsson, der wissende Bediente des Oberst, aalglatt gespielt und schmierig gesungen von Björn Bürger; Johansson, das unterwürfige Faktotum Hummels, von Hans Jürgen Schöpflin als undurchschaubare Gestalt angelegt; die Köchin, Stine Marie Fischer, die sich als unheilvolle Vampirin als Gegenprinzip zum Leben profiliert, das im „Hyazinthenzimmer“ zaghaft zu keimen versucht. Auch das Milchmädchen, angeblich einst Opfer Hummels, gehört in diese Reihe: Kristina Schüttö gibt es als zerbrechliches Zwischenwelt-Wesen.

Verlorene Zeichen der Hoffnung

Beziehungsreich das Bild des Hyazinthenzimmers im dritten Bild, eine weiße Gitterstruktur, halb Gefängnis, halb Zufluchtsort. Die Blumen, in der herkömmlichen Floral-Symbolik für Lebensfreude, Genuss und Zukunftsglück, stehen hier als verlorene Zeichen einer Hoffnung, die sich nicht erfüllt. Nicht für das Fräulein, wieder einmal brillant gestaltet von Barbara Zechmeister, das sich nicht aus dem unheilvollen Trug ihrer Existenz lösen kann, ohne sein Leben zu verlieren. Und auch nicht für den Studenten Arkenholz, dessen hybriden hohen Tönen – diese Grenzüberschreitungen der Stimme sind eine expressiv sein wollende Marotte Reimanns – Alexander Mayr sich mit verzweifelt gebildeten Falsett-Bemühungen zu stellen versucht. Der junge österreichische Tenor ist auf den Spuren der alten, vergessenen Technik der „voce faringea“, hat aber ohrenscheinlich ihr Geheimnis noch nicht entschlüsselt.

Das Kammerorchester aus achtzehn Solisten führt Karsten Januschke ebenso wie die Sänger sicher durch Reimanns Partitur-Irrgarten. Der atmosphärische Klang, das scheinbar improvisierend hingeworfene Detail, die präzise Reaktion auf eine bewusst „unnatürliche“ Phrasierung sind bei ihm in besten Händen. Reimanns „Gespenstersonate“ – in der Region bisher in Köln, Münster und Bonn erschienen – könnte in dem seltenen Genre eine Chance haben, sich auch dreißig Jahre nach der Uraufführung im Repertoire zu verankern – neben Philip Glass „Fall of the House of Usher“, Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ und den leider immer noch unterschätzten frühen Ausformungen der Geisteroper, Heinrich Marschners „Der Vampyr“ und „Hans Heiling“.




Radikaler Neuenfels-Abend in Frankfurt: „Oedipe“ von Georges Enescu

Mythos und Politik, Tragisches und Heiteres. In der Frankfurter Oper spielen derzeit Stoffe aus der Antike eine beachtliche Rolle: Ezio und Oedipus, Daphne und Dido, dazwischen Ariadne und bald Danae und Orpheus. Ein weit gefasstes Spektrum, aus dem Georges Enescus „Oedipe“ herausleuchtet. Eine Oper, die seit ihrer Uraufführung 1936 eine ewige Anwartschaft aufs Repertoire einzulösen versucht. 2006 schien in Bielefeld Nicolas Broadhurst mit einer vielschichtigen Inszenierung einen Anstoß zu gelingen: vergeblich. Jetzt hat sich Frankfurt wieder auf den Solitär des rumänischen Komponisten besonnen und kein Geringerer als Hans Neuenfels gibt den Ausgräber.

Den eigensinnigen Altmeister des Regietheaters interessiert die Radikalität des Mythos. Er will ihn weder aktualisieren noch in antiker Form belassen. Er will ihn „an uns heranziehen“. Und wie in seiner legendären Frankfurter „Aida“ von 1981 lässt er einen Archäologen in die mythische Zeit eintauchen und sich auf die Suche nach seinem Selbst begeben. Bevor Oedipus aus einem goldstrahlenden Ei geboren wird, streift dieser Mensch auf der Bühne Rifail Ajdarpasics durch unterirdische Grüfte aus Schiefertafel-Mauern, dicht beschrieben mit Formeln, Zahlen, Zeichen. Weltwissen, das vor der Dynamik des Mythischen verblasst.

Schuld und Freiheit: Die WIssenschaft löst diese Fragen nicht. Der Wissenschaftler (Simon Neal) stellt sich ihnen, indem er zu Oedipus wird. Foto: Monika Rittershaus

Schuld und Freiheit: Die WIssenschaft löst diese Fragen nicht. Der Wissenschaftler (Simon Neal) stellt sich ihnen, indem er zu Oedipus wird. Foto: Monika Rittershaus

Wir lassen mit Neuenfels die Deuter hinter uns: keine Altertumswissenschaft, kein Freud, auch keine Religion. Die Frage ist die nach der Freiheit des Menschen, die der Ödipus-Mythos radikal verneint. Die Sphinx sagt es schmerzhaft deutlich: Selbst die Götter sind Gefang’ne des Geschicks. Die Antwort Ödipus‘ auf das Rätsel, was größer sei als das Geschick, lautet: der Mensch. Doch die sterbende Sphinx nimmt das Geheimnis mit, ob sie geschlagen sei oder gesiegt habe. Neuenfels lässt sie mit – verzweifeltem oder wissendem? – Gelächter sterben. Und er greift die Ungewissheit auf, wenn er – eines seiner beliebten Regiemittel – am Ende auf die Bühne projizieren lässt: „Es gibt keine Erkenntnis außer der Hoffnung“.

Für dieses Ende nimmt Neuenfels schwere Eingriffe in Enescus Stückanlage vor, akzeptiert Dirigent Alexander Liebreich einen musikalischen Blutsturz. Beinahe die Hälfte des Originals sind gestrichen, neben wichtigen Szenen vor allem der gesamte vierte Akt: Die vermeintlich christliche Schilderung von Erlösung bedrohe die Radikalität des Mythos, meint Neuenfels im Interview im Programmheft. Er übersieht dabei, dass die Fatalität des Oedipus-Mythos an sich schon mit den Begriffen von Freiheit und Erlösung im Christentum in denkbar schärfstem Gegensatz steht.

Aber Lösungen sind ja von vorneherein (ideologie-)verdächtig, und so triumphiert die Verweigerung. Am Ende lässt sich Oedipus mit blutverschmierten, riesigen Augenhöhlen wegführen. Und Neuenfels bleibt uns bei aller Regiekunst, die sich vor allem in einer unfehlbaren Personenführung offenbart, die Antwort schuldig, warum es ausgerechnet die Oedipus-Adaption Enescus sein muss, mit der er seinen Fundamental-Fatalismus ausbreitet.

Man hat den Eindruck, diese Frage stellt sich auch Alexander Liebreich im Angesicht einer Partitur, zu der er offenbar mehr kritische Distanz als Zuneigung gewonnen hat: Mit der zwischen spätromantischer Fülle und neosachlichen Konturen, zwischen Detailfinesse und dem Atem großer Aufschwünge changierenden Musik Enescus geht er mit wenig mehr als kühler Genauigkeit um. In den kammermusikalischen Momenten zeigt das Frankfurter Orchester wie stets viel Kompetenz, aber die rauchig-herben, schimmernd exquisiten, sattfarbig fließenden Klangmixturen bleiben spröde, wirken nicht einmal analytisch, sondern nur ihrer sinnlichen Raffinesse harsch entkleidet.

Simon Neal als Oedipus und Katharina Magiera als Sphinx. Foto: Monika Rittershaus

Simon Neal als Oedipus und Katharina Magiera als Sphinx. Foto: Monika Rittershaus

Unter den Sängern brillieren die Frankfurter Damen des Ensembles wie Katharina Magiera als betörend schillernde Sphinx, Jenny Carlstedt als warmstimmige Merope, Tanja Ariane Baumgartner als entschieden-klangvoll singende Jokaste. Polternd-angestrengt tönen die drohenden Weissagungen des Tiresias: Magnús Baldvinsson intoniert sie als schmutziger Greis, in einem Laufkäfig gefangen. Dietrich Volle setzt seine schöne Stimme charakterisierend ein, wenn er den alerten politischen Aufsteiger Kreon vokal geschmeidig gestaltet.

Auch der Hirte (Michael McCown), der Hohepriester (Vuyani Mlinde), Phorbas (Kihwan Sim), der Wächter (Andreas Bauer) und der grobschlächtige, seinen Sohn mit Urin aus einem königlichen Penis beschmutzende Hans-Jürgen Lazar als König Laios – ohne einen solchen Prügel scheint es bei Neuenfels auch nicht mehr zu gehen – profitieren von der ausgefeilten Personenregie und ihrem stimmlichen Gestaltungspotenzial.

Simon Neal setzt sich mit fesselnder Ausstrahlung und der authentischen inneren Kraft eines großen Darstellers für die Riesenpartie des Oedipus ein; stimmlich opfert er zu heftig dem Drang zu rüder, vermeintlich expressiver Klangbildung. Der Chor hatte Glück: Durch die Kürzungen blieben ihm nur Reste, die er, einstudiert durch Matthias Köhler, mit überzeugender klanglicher Façon realisiert. Ein kühner Neuenfels-Abend, zu dem Enescu eine Vorlage geliefert hat, die man demnächst gerne an einem anderen Haus in ungefleddertem Zustand wiederhören möchte.

Weitere Aufführungen von „Oedipe“ am 3. und 5. Januar 2014.

Die nächste Frankfurter Produktion mit Antiken-Bezug – und gleichzeitig ein weiterer Beitrag zum Strauss-Jahr 2014: Wiederaufnahme von „Daphne“ am 28. Februar, inszeniert von Klaus Guth und mit Stefan Blunier, dem GMD der Oper Bonn, am Pult.




Schillerndes Spiel um Macht und Liebe: Glucks „Ezio“ in Frankfurt

Die Frankfurter Oper hat es wieder einmal geschafft: Mit einer Inszenierung von Christoph Willibald Glucks „Ezio“ entriss sie ein Werk aus dem Dämmerschlaf, das noch vor Glucks bedeutsamen Reformopern entstanden ist. Gleichzeitig gelang dem Haus von Bernd Loebe damit das Präludium zum Gluck-Jahr: 2014 jährt sich die Geburt dieser wichtigen Gestalt der Musikgeschichte zum 300. Mal.

Edle Roben: Christian Lacroix schuf die Kostüme für Glucks "Ezio" In Frankfurt. Sene mit Max Emanuel Cencic, Paula Murrihy und Beau Gibson. Foto: Barbara Aumüller

Edle Roben: Christian Lacroix schuf die Kostüme für Glucks „Ezio“ In Frankfurt. Sene mit Max Emanuel Cencic, Paula Murrihy und Beau Gibson. Foto: Barbara Aumüller

Die Ausgangslage ist wie bei solchen Jubiläen üblich: Einige kleine Häuser in der deutschen Theaterlandschaft kündigen Premieren von Gluck-Opern an, die Flaggschiffe steuern unbeirrt daran vorbei. Ob sich an diesem Bild noch etwas ändern wird, wenn im Frühjahr die Pläne für die Spielzeit 2014/15 publiziert werden, steht noch dahin. Obwohl ein Komponist wie Gluck dringender eine zeitgenössische theatrale Befragung bräuchte als etwa Wagner.

Das ist kein Plädoyer für ein Opernmuseum: Sicher klaffen die musikhistorische Stellung und die aktuelle Bedeutsamkeit von Komponisten oder Werken bisweilen weit auseinander. Doch gerade die letzten Inszenierungen des „Ezio“, einer noch stark an den Konventionen der „opera seria“ orientierten Oper, lassen spüren, wie brisant ein Libretto des lange als Barock-Langweilers geschmähten Metastasio wirken kann, und von welch unterschiedlichen Positionen aus sich eine Regie der Gefühls- und Affektwelt des 18. Jahrhunderts nähern kann.

Vincent Boussard macht es in Frankfurt ganz anders als Andreas Baesler 2012 in Nürnberg. Dort verlegte eine freche, bestürzend aktuelle Regie den „Ezio“ in die Tiefgarage des Staatstheaters, verwandelte die Rezitative in Sprechtext, ließ die Sänger von Schauspielern doubeln, bot eine knallharte, temporeiche Action-Tragödie. Jetzt, in Frankfurt, wehrt sich die Regie im Schulterschluss mit dem genau analysierenden Dirigenten Christian Curnyn gegen Eingriffe in Glucks Musik, mutet dem Zuhörer von heute die ausführlichen Rezitative von damals zu.

Was Baesler in Nürnberg als brutales Kammerspiel herunterfetzte, wird in Frankfurt zu hochästhetischer theatralischer Aktion. Doch man sollte sich hüten, Stilisierung mit einem Verlust an Relevanz und packender Wirkung gleichzusetzen. Manchmal sind sparsame Gesten, Verzicht auf angeheizte Erregungszustände und Abstand von starken Effekten ergreifender als der zappelige Aktionismus, der noch die letzte musikalische Sekunde szenisch gewichten will.

Boussard spitzt das Drama um den neurotischen Machtinhaber Kaiser Valentinian, seinen von Ehrgeiz und Loyalität geschüttelten Feldherrn Ezio, der alptraumhaft rachsüchtigen Vaterfigur Massimo und den beiden Frauen Fulvia und Onoria ganz allmählich zu. Das führt im ersten Teil des gut dreistündigen Abends zu einigen Durchhängern, wenn die gepflegte und aufmerksame Gestaltung der Rezitative szenisch erlahmt oder von abgelebter Melodramengestik flankiert wird. Doch je mehr sich das Netz zuzieht, je verzweifelter sich die Figuren im Labyrinth ihrer Gefühle, Intrigen und Psychosen verrennen, desto eindringlicher spielen die Darsteller, desto schärfer zeichnet die Regie die Konturen des psychischen Verfalls, der seelischen Zerrüttung.

Paula Murrihy als Fulvia und Beau Gibson als Massimo in Glucks "Ezio". Foto: Barbara Aumüller

Paula Murrihy als Fulvia und Beau Gibson als Massimo in Glucks „Ezio“. Foto: Barbara Aumüller

Vor allen anderen gelingt Paula Murrihy ein gesanglich intensives, darstellerisch bewegendes Porträt einer Frau, deren seelische Qual jedes Maß sprengt: Fulvia liebt Ezio, wird vom Kaiser begehrt, von dessen Schwester Onoria mit Missgunst verfolgt und von ihrem eigenen Vater Massimo als Instrument seiner Rache an Valentiniano missbraucht. Die Sängerin klagt mit innig geführtem Mezzosopran über ihren zerstörten existenziellen Halt, kann erhabene Verzweiflung wie edle Menschlichkeit expressiv stimmlich darstellen.

Murrihy ist nicht die einzige, die vokal überzeugen kann: Mit Max Emanuel Cenčić steht als Valentiniano einer jener seltenen Counter, denen man die artifizielle Tonbildung dank einer soliden Technik problemlos abnimmt. Cenčić zeichnet den Kaiser – der historische Valentinian III. herrschte 30 Jahre lang im Weströmischen Reich – als eine Figur von shakespearehaften Dimensionen: machtbesessen und dennoch ohnmächtig den Intrigen ausgeliefert; selbstherrlich und brutal und dennoch fast infantil schwach; renaissancehaft selbstbewusst und dennoch seinen nagenden Zweifeln bis zum Verfolgungswahn ausgeliefert.

Cenčić drückt diese schillernde Figur stimmlich ausgezeichnet, in seiner Bühnenaktion oft mit auffahrenden, aber wenig profilierten Gesten aus. Den Ezio verkörpert Sonia Prina mit einem satten „Contralto“, der manchmal ebenmäßiger geführt sein könnte – eine energische, völlig von sich eingenommene Figur mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein. Cenčić und Prina sind auch Protagonisten einer „Ezio“-Aufnahme unter Alan Curtis, die 2011 bei Virgin Classics erschienen ist.

Auch die Rollen in der zweiten Reihe kann Frankfurt ansprechend besetzen: Sofia Fomina hat für Neid wie Mitgefühl brillante Töne; Beau Gibson gibt dem Massimo die paranoid-gefährlichen Züge eines Triebtäters, aber auch die schleichende Gefährlichkeit des Intriganten; Simon Bode versucht erfolgreich, den Varo aus seiner Nebenrollen-Ecke herauszumanövrieren und gibt ihm das Profil eines willig dienenden Staatsglieds, das aber im richtigen Moment die menschliche Regung der Freundschaft über die geschuldete Räson siegen lässt und damit das „glückliche Ende“ ermöglicht.

Licht- und Schattenspiele als Mittel szenischen Ausdrucks: Sonia Prina als Ezio in Glucks gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Licht- und Schattenspiele als Mittel szenischen Ausdrucks: Sonia Prina als Ezio in Glucks gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Mit den fulminanten Roben des Modeschöpfers Christian Lacroix landete die Frankfurter Oper einen Coup, der ihr die Aufmerksamkeit des Boulevards sicherte. Barocke Flamboyanz, gediegenes bürgerliches Tuch, malerische Fantasie – so lassen sich die Elemente beschreibe, die Lacroix nutzt, um die Bühne Kaspar Glarners zu beleben. Die ist wieder einmal einer der weißen Kästen, an denen man sich in Frankfurt satt sehen kann. Mit beziehungsreichen Licht-Schatten-Spielen von Joachim Klein ermöglichen die kahlen Wände gleichnishafte wie gespenstisch-surreale Bilder, zusätzlich verlebendigt durch behutsam die Stilisierung stützende Videos der stets einfühlsam arbeitenden Bibi Abel.

Bis die heillosen Verwicklungen endlich gelöst werden können, haben Glarner und Boussard die Bühne mit einer allmählich wachsenden Schar von Imperatoren-Statuen zugestellt, die an den berühmten Augustus von Prima Porta erinnern. Zwischen ihnen streifen Touristen in Alltagskleidern herum, glotzen und fotografieren – und drängen die Personen des Dramas aus dem Fokus der Aufmerksamkeit. Was Boussard damit auch erzielen wollte – es bleibt unerreicht; der Bruch der Handlung verfängt nicht schlüssig, sagt uns über Metastasios ausgefeiltes Psychospiel im barocken Rahmen hinaus nichts Erhellendes über die Figuren und ihre Konstellationen.

Umso mitteilsamer ist die Musik: Christian Curnyn und die 27 Musiker des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters bringen Glucks Musik leicht und leuchtend zum Klingen. Sie leugnen nicht, dass der „Ezio“ von 1750 – man spielt die frühere Prager Fassung – vergeblich nach den Errungenschaften der späteren Reformopern suchen lässt. Aber das ist kein Nachteil, denn Gluck beherrscht sein Handwerk und setzt es in den vielfältigen formalen Varianten von Rezitativ und Arie virtuos ein.

Doch zeigt sich im „Ezio“ schon, dass Gluck den Bezug zwischen Wort und Musik – im Gegensatz zu Händel in seiner „Ezio“-Vertonung – offenbar für so bedeutsam erachtet, dass er manche musikalische Finesse der dramatischen Schlagkraft opfert. Curnyn freilich bleibt dezent: Von den schlagkräftigen Wirkungen, die Gluck – und, nicht zu vergessen, sein Schüler Antonio Salieri – später einsetzen, ist in diesem „Ezio“ nur manchmal zu hören, wenn Curnyn kräftige Akzente zulässt. Es wird sich zeigen, wie sich die Frankfurter Gluck-Initiative auswirkt; am Main steht jedenfalls ab 8. Dezember mit Georges Enescus „Oedipe“ die nächste selten zu erlebende Oper um einen antiken Stoff auf dem Spielplan.




Dualismus und Erlösung: Vera Nemirovas „Tannhäuser“-Inszenierung in Frankfurt

Iso-Matten, Rucksäcke, bunte Käppis: Die Truppe sieht aus, als komme sie gerade vom Weltjugendtag. Zum frommen Klang der Pilgerchor-Melodie lässt man sich nieder. Viele beten, manche denken in sich versunken nach. Eine Gruppe zieht ein, schleppt ein riesiges Kreuz mit sich. Alle scharen sich darum. Dann übermannt der Schlaf das Völkchen.

So lange, bis die ersten Tremoli der Venusberg-Musik aufzüngeln: Jung und Alt werfen sich in die Arme, bald fliegen die Klamotten. Die fröhlichen Nackten ziehen einem weiß-blauen Himmel entgegen. Doch das venerische Treiben geht nicht lange gut: In Richard Wagners Orchester setzen sich die Pilgerchor-Motive wieder durch. Zuckende Leiber kriechen mit Gesten des Entsetzens und der Reue zum Kreuz. Klagende Gebärden zur triumphal vom Blech intonierten erhabenen Melodie.

Szene aus der Ouvertüre zu "Tannhäuser" in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Szene aus der Ouvertüre zu „Tannhäuser“ in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Inszenierte Ouvertüren sind manchmal nur der Angst des Regisseurs vor der reinen Musik geschuldet. Doch im Falle des Frankfurter „Tannhäuser“ erschließt Vera Nemirova damit die Sinnrichtung des Stücks. Sie stellt den prägenden Dualismus zwischen Venus und Maria, zwischen sexuell-sinnlicher Entfesselung und keusch-vergeistigt Liebe in einer präzis entwickelten Szene auf die Bühne. Und sie behauptet so, dass der Dualismus nicht allein eine Angelegenheit des 19. und des vergangenen 20. Jahrhunderts sei.

Der „Tannhäuser“, eine wichtige theatrale Station auf dem lebenslangen Weg Wagners zur Bewältigung seiner Konflikte zwischen Reinheit und Trieb, wurzelt in einem christlichen Menschenbild, das aber mit den ideologischen Brillen des 19. Jahrhunderts kaum erkennbar war. Die Verbindung von körperlich-sexueller und seelisch-spiritueller Liebe hätte durch Tannhäuser und Elisabeth erreicht werden können: Hier der Mann mit den Erfahrungen des Venusbergs, der weiß, dass der sterbliche Mensch auch durch Götter nicht zum Gott gemacht wird; der erfahren hat, dass der schrankenlose, ungetrübte Genuss sinnlicher Reize nur zum Überdruss führt. Dort eine starke Frau, die eine widerstandsfähige Liebe bewahrt, die nach ganzheitlicher Erfüllung strebt, die das „Rätsel ihres Herzens“ zu lösen hofft.

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova behauptet in ihrer Inszenierung eindrucksvoll, dass diese Liebe scheitern muss: Die Ideologie der Wartburg, im Wettstreit der Sänger zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht, lässt nur den dualistischen Bruch zu. Hier der „Liebe reinstes Wesen“, das Wolfram von Eschenbach nicht „mit frevlem Mut“ berühren will. Dort der Tannhäuser mit seinem faustischen Vornamen Heinrich, der „im Genuss nur Liebe“ kennt, der in Venus „die Quelle alles Schönen“ propagiert. In diesem Konflikt weist selbst der Papst keinen Ausweg, und die Barmherzigkeit ist eine Tugend, die in dieser Welt nicht reift und von oben kommen muss.

Nemirova – die Regisseurin des gefeierten Frankfurter „Ring“ und eines neuen „Lohengrin“ in Basel – inszeniert den „Tannhäuser“ nicht als ein Stück von gestern, dem man für seine Schlüssigkeit heute ein neues Thema überstülpen müsste. Und es genügen ihr im Verein mit ihrem Bühnenausstatter Johannes Leiacker knappe Hinweise und Andeutungen, um einen zwingenden, berührenden Opernabend zu gestalten.

Etwa die Szene mit dem Hirten: In Frankfurt ist er mit einem Kind besetzt (Cedric Schmitt). Er singt von Frau Holda und malt mit Kreide ein Kreuz auf den Boden – für eines jener Hüpfspiele, mit denen sich Kinder früher auf den Straßen die Zeit vertrieben. Tannhäuser, der Wanderer mit Gitarre und Federn am Hut, legt sich auf das Kreuz und wird von seinen Ex-Sängerkollegen entdeckt. Der Hirte spielt am Ende dann eine entscheidende Rolle: Das Kind, von den Konflikten unberührt, führt Tannhäuser zu den Klängen des Erlösungschores weg.

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter "Tannhäuser". 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter „Tannhäuser“. 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Leiacker genügt für die karge Bühne eine Wand mit einem weiß-blauen Himmel, davor eine Peitschenlampe mit kaltem, trübem Schein (Olaf Winters Licht mit entscheidendem atmosphärischem Anteil). Dieser Himmel mag, wenn die aufgedrehten Kirchentags-Teenies in ihm „baden“, ein Ort emotionalen Höhenflugs sein; eine Erfüllung der menschlichen Sehnsucht ist er nimmer. Im dritten Aufzug hat die Leinwand Löcher, wird das hölzerne Traggerüst sichtbar. Eine höchst irdische, vergängliche Illusion.

Der Hirtenjunge führt den Tannhäuser zwar in Richtung des zerfetzten Himmelsbilds, aber darin hat sich eine Öffnung gebildet, die ins Unbestimmte führt. Nemirova lässt offen, wohin dieser Weg führt, aber keinen Zweifel, dass es sich um einen Moment des Transzendierens handelt. Die Szene erinnert an den Schluss von Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“. Eine bedeutungsvolle Parallele: Beide Regisseure sind nicht mit vorschnellen Lösungen bei der Hand, stellen die für Wagner essenzielle Erlösungssehnsucht nicht in Frage, lassen aber offen, worin die Erlösung bestehen könnte.

Sänger machen sich das Regiekonzept zu eigen

Wie wenig authentisch die Wartburg-Welt ist, zeigt Nemirova deutlich: Der zweite Aufzug ist eine Show, die aus den Fugen gerät. Landgraf Hermann, von Andreas Bauer mit Autorität gesungen, liest die Frage nach dem wahren Wesen der Liebe wie eine Quizfrage vom Spickzettel ab. Die Sänger, einheitlich in lila Rüschenhemd, liefern ihre Beiträge ab: der kleine, eitler Walther von der Vogelweide (präsent: Jun Ho You), der nur in der Kategorie des „Kampfs“ denkende Biterolf (überzeugend: Magnus Baldvinsson). Und Wolfram von Eschenbach, der Vertreter eines Liebesbegriffs, der sich in Anbetung verzehrt, ohne das Subjekt der Liebe je erreichen zu wollen. Daniel Schmutzhard spielt die inneren Qualen dieses Charakters aus; sorgt mit klug gebildeter, ebenmäßig geformter Stimme für den vokalen Höhepunkt der Frankfurter Aufführung. Dass Wolfram im dritten Aufzug Elisabeth erdrosselt und sie so beim Übertritt ins Jenseits „geleitet“, ist aus der Anlage der Figur heraus nur konsequent.

Die Neueinstudierung der Inszenierung von 2007 – aus Anlass des Wagner-Jahres – ist auch gelungen, weil sich Lance Ryan (Tannhäuser) und Annette Dasch (Elisabeth) das Regiekonzept zu Eigen gemacht haben. Ryan singt anfangs mit extrem gespanntem, beengtem Tenor; wird nach und nach freier, hat die Kraft für die gefürchteten Stellen im zweiten Aufzug und für eine durchdachte Rom-Erzählung. Aber Schmelz und gelösten Klang erwartet man von diesem Tenor vergeblich.

Annette Dasch genießt zurzeit viel Anerkennung. Für das jugendliche Strahlen der „Hallenarie“ reicht der Klangkern der Stimme nicht, aber die lyrisch-innigen Momente gelingen mit dem Zauber, den nur eine reflektierte Gestaltung hervorruft. Der Frankfurter Opernchor hatte nicht seinen besten Abend; das Orchester unter Constantin Trinks überwand die groben Momente des Beginns und steigerte sich auf ein solides Niveau, das im dritten Aufzug vor den Finessen einer subtilen Dynamik nicht kapitulieren musste.




Oper Frankfurt: Verdi-Herbst mit „Les Vêpres Siciliennes“ glanzvoll eröffnet

Ein Schuss peitscht durch die Stille, noch vor der Ouvertüre. Ein junger Mann fällt und wird hastig weggeschleppt. Die Musik setzt ein, düster timbriert, mit einem unheilvoll dumpfen Doppelschlag. Er wird in der Oper immer wieder aufklingen, bis Schüsse und ein jäher, knapper Orchesterschlag das Drama beenden.

Die Oper Frankfurt hat ihre Spielzeit – und den Verdi-Herbst dieses Jubiläumsjahres – mit der Wiederaufnahme von „Les Vêpres Siciliennes“ eröffnet. Ein selten gespieltes Werk, mit dem Verdi 1855 während der Pariser Weltausstellung an der Opéra in Konkurrenz zu den „Klassikern“ der Grand Opéra trat. En Werk, dessen Dimensionen und Ansprüche einer breiten Rezeption im Wege standen. Aber in seiner psychologischen Differenzierungskunst steht Verdi in der „Sizilianischen Vesper“ auf der Höhe, die er mit „Rigoletto“ und „La Traviata“ erreicht und mit dem vier Jahre später entstehenden „Ballo in maschera“ perfektioniert hat.

Der Despot und der Revoluzzer: Quinn Kelsey und Alfred Kim in "Die sizilianische Vesper" in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Der Despot und der Revoluzzer: Quinn Kelsey und Alfred Kim in „Die sizilianische Vesper“ in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

In Frankfurt hat Jens-Daniel Herzog inszeniert. Er lässt sich nicht auf Schauplatz und Zeit ein – Sizilien 1282, während der Gewaltherrschaft von Charles d’Anjou –, sondern arbeitet die Grundkonflikte des Stücks heraus, die mit den historischen Abläufen sowieso kaum etwas zu tun haben: Eine traumatische Vater-Sohn-Beziehung, eine Liebe im Spannungsfeld von politischer Kumpanei und zärtlicher Verinnerlichung, eine Auseinandersetzung von gesellschaftlichen Gruppen, getrieben von einem machtbewussten Regenten und einem fanatischen Freiheitskämpfer.

Den Schauplatz definiert Mathis Neidhardt mit seiner Bühne, dominiert von einem Hochhaus im Stil der sechziger Jahre. Der schwarzpolierte Stein des Erdgeschosses, der goldene Beschlag der Eingangstür erinnern an den aufwändigen, dennoch billig wirkenden Protz sozialistischer Repräsentationsbauten, aber auch den stillosen Aufwand der Wirtschaftswunderland-Architektur. Vor dem Haus wird im kalten Schein einer Neonlampe der Mord verübt. In der Ouvertüre huschen Menschen vorbei, stellen mit gehetztem Blick nach links und rechts ein Grablicht auf, legen Blumen ab, kleben das Bild des Ermordeten an den Marmor. Eine alte Frau wir vorbeigeführt, verharrt erschüttert vor dem Bild. Eine Moment, der uns an ähnliche Szenen aus den Bürgerkriegen dieser Welt denken lässt, ob Kosovo oder Afghanistan.

Herzog lässt in seiner Inszenierung, die zu seinen genauesten und scharfsichtigsten gehört, konkrete historische Andeutungen weg. Die Herren, die in geschmacksarm modischen Anzügen das Serviermädchen belästigen, könnten ihren Espresso im Sizilien der sechziger Jahre oder am Rand der französischen Studentenrevolte nippen. Ihre Gegner, dunkel und einfach gekleidete Menschen, stellen sich mit ihren Fahrrädern in einer Front auf. Herzog versteht es, die lauernde Konfrontation in einem kraftvollen Bild einzufangen.

Jens-Daniel Herzog erschließt die komplexen Charaktere

Die Inszenierung des Dortmunder Opern-Intendanten ist kein vordergründiges Polittheater: Herzog erschließt die komplexen Charaktere von Verdis Figuren in szenisch außerordentlich dichten Konstellationen. Guy de Montfort ist der Gouverneur des besetzten Landes, ein Machtmensch, rasch in der Entscheidung, knallhart in der Umsetzung. Seine klar strukturierte Welt beginnt zu bröckeln, als er in einem Brief erfährt, dass der kleine Revoluzzer Henri sein Sohn ist, geboren von einer von ihm vergewaltigten Sizilianerin. Von diesem Moment an spürt Montfort die innere Leere; er lässt seine verdrängte Sehnsucht nach Zuneigung zu – die Suche nach einem „Menschen“, die Verdi zwölf Jahre später in König Philipp im „Don Carlo“ so bewegend darstellen sollte.

Quinn Kelsey macht mit den Farben seines ausgewogenen, sicher geführten Baritons die innere Welt Montforts deutlich: Er ist, wie die anderen Hauptfiguren dieses Verdi-Dramas, kein einschichtiger Charakter. Er leidet an der Einsamkeit des Herrschenden und kann sie nicht überwinden: Im vierten Akt erzwingt er von seinem Sohn mit seinen vertrauten Machtmitteln das öffentliche Bekenntnis zu ihm als Vater. Verdi gibt ihm einen Zug ins Tragische: Montfort ist, innerlich angerührt und „bekehrt“, bereit zur gesellschaftlichen Versöhnung.

Doch die verhindert ein Anderer, der sich zunehmend verhärtet: Jean de Procida, aus dem Exil zurückgekehrt, besingt in seinem Auftritt innig und voll Pathos seine Heimat. In der Bass-Arie, einer der schönsten Verdis, nimmt man ihm eine ehrliche, tief empfundene Verbundenheit mit seinem Land ab. Später mutiert er zu dem, was Verdi als „gewöhnlichen Verschwörer … mit dem Dolch in der Hand“ beschreibt.

Unversöhnliche Fronten: Jens-Daniel Herzogs kluge Inszenierung von Verdis "Sizilianischer Vesper" in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Unversöhnliche Fronten: Jens-Daniel Herzogs kluge Inszenierung von Verdis „Sizilianischer Vesper“ in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Procida spitzt den Konflikt zu, schürt die Gewaltbereitschaft, opfert jede menschliche Regung seiner politischen Mission. Wer persönliche Gefühle zulässt, ist Verräter: Henri, weil er sich außerstande sieht, seinen Vater einem Mordkomplott zu opfern. Hélène, weil ihre Hochzeit mit Henri nicht als politisches Kalkül sieht und mit ihrem Ja nicht das Stichwort für eine blutige Erhebung geben will. Kihwan Sim gestaltet diesen Weg ins Unmenschliche mit einer sonoren Stimme, deren schneidende Härte gut zum Charakter Procidas passt. Doch Sim vergisst nicht, dass Verdi den Typ des „basso cantante“ vor Augen hatte – anders als Raymond Aceto in der Premierenserie des „Vêpres Siciliennes“ im Juni, der zu wenig auf Linie sang, zu rau intonierte.

Verdi hat die Entwicklung der großen historischen Oper in Paris genau beobachtet und ihre musikalischen und dramaturgischen Errungenschaften für sich zu nutzen gewusst. Aber er blieb bei seinem Interesse an den Leidenschaften und seelischen Konflikten und hat unter diesem Aspekt das Libretto Eugène Scribes mehrfach kritisiert. Henri und Hélène wirken in der klugen Sichtweise Herzogs nicht als Liebespaar, sondern zunächst als Verbündete in der Opposition. Ein Liebesduett gibt es nicht, doch Verdi gibt vor allem Henri den musikalischen Raum zu verzweifelter Leidenschaft und spitzt damit den dritten und vierten Akt ungeheuer spannungsreich zu: ein idealistischer Junge, zerrissen zwischen den väterlichen Ansprüchen, der Liebe zu Hélène und der patriotischen Pflicht, seine Heimat zu befreien.

Burkhard Fritz lässt diese ausweglosen Konflikte mitfühlen: Er gibt der Figur bis ins mimische Detail hinein Konturen, setzt einen kraftvollen, technisch versierten Tenor ein, der in der schwierigen Partie die gestalterische Herausforderung meistert. Vor ihm hat Alfred Kim den Henri gesungen, mit mehr italienischem Schmelz, Legato-Leidenschaft und hinreißender Attacke. Fritz hat nicht die satte, schmeichelnde Höhe seines Vorgängers, wird beim Aufstieg in die obere Lage gerne schneidend spitz, kann aber mit seiner überzeugenden psychologischen Durchdringung der Figur alles wieder wettmachen.

Elza van den Heever (Hélène) und Quinn Kelsey (Guy de Montfort). Foto: Thilo Beu

Elza van den Heever (Hélène) und Quinn Kelsey (Guy de Montfort). Foto: Thilo Beu

Mit Elza van den Heever kann Frankfurt die hybride Rolle der Hélène mit einer weltweit gefragten Sopranistin besetzen. Die Südafrikanerin gehörte bis Ende vergangener Spielzeit dem Ensemble an und ist jetzt – nach ihrem Debut an der Metropolitan Opera New York – freischaffend tätig. Hélène ist keine der duldenden Heroinen Verdis, trägt eher die Züge starker „Macherinnen“ wie Abigaille oder Odabella. Ihre solistischen Selbstäußerungen sind merkwürdig distanziert. Weder das gleichnishafte Revolutionslied des ersten noch der schillernde Boléro des fünften Akts sprechen über sie selbst. Traumatisiert vom Mord an ihrem Bruder dringt sie erst im fünften Akt, zerrissen von der Liebe zu Henri und der Solidarität mit ihren Kampfgefährten, zu ihrer seelischen Mitte vor. Zu spät: Im losbrechenden Aufruhr verlieren die Liebenden ihr Leben.

Van den Heever durchmisst ihre technisch anspruchsvolle Partie mit Bravour, die sie von einer lodernd-aggressiven Cabaletta über psychologisch feinnervige Ensembles zum Koloraturfeuerwerk des berühmten „Boléro“ führt, ein Schaustück vokaler Geläufigkeit, das eher der Sphäre des kapriziösen Oscar aus dem „Ballo in maschera“ nahesteht.

Beispielhafte Verdi-Inszenierungen

Frankfurt wählte die kaum gespielte fünfaktige französische Originalfassung, allerdings ohne die melodienreiche, fast halbstündige Ballettmusik, und setzte damit wieder einmal Maßstäbe in der deutschen Opernlandschaft. Das war auch dem engagierten Orchester zu verdanken, dem Pablo Heras-Casado genau die atmende Phrasierung, differenzierte Dynamik und melodische Intensität abverlangte, die Verdis Musik spannend und vielfarbig machen.

Der 35jährige Spanier hat sich mit diesem Frankfurter Debut nachhaltig als Verdi-Dirigent empfohlen, dem man gerne wiederbegegnen möchte. Die derzeit laufende Vorstellungsserie dirigiert Giuliano Carella, nicht ganz so differenziert im Detail und flexibel im Tempo, aber ebenso mit Gespür für Verdis orchestrale Farben und glühende Expression. Dem Chor, für seine umfangreiche Aufgabe von Matthias Köhler bestens präpariert, würden deutliche Zeichen vom Pult her gut tun: Verdis rhythmisch kantig geschnittene Einsätze sotto voce und a cappella gelangen nicht überzeugend.

Mit „Les Vêpres Siciliennes“ hat Frankfurt neben einem immer wieder bewegenden „Don Carlo“ in David McVicars Regie und einem szenisch wie musikalisch hochkarätigen „Ballo in maschera“ von Claus Guth eine beispielhafte Verdi-Inszenierung im Repertoire; ein Nachweis der Leistungsfähigkeit des Hauses, das unter seinem Intendanten Bernd Loebe in die europäische Spitzengruppe aufgerückt ist. Dass ein solches Erfolgsunternehmen mit Kürzungen bedroht wird, ist ein weiterer Beweis für die desolate Kulturpolitik in Deutschland, das von Rostock bis Halle, von Dessau bis Wuppertal derzeit drauf und dran ist, sein kulturelles Kapital im Bereich des Theaters zu verspielen. Das ist kein Krisen-Management, das ist die pure Leichtfertigkeit.

 




Tiefe Gefühle, brisante Konflikte: Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt

Christof Loy bezieht mit seiner Inszenierung von Giacomo Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt klar Position: „Ich finde es … falsch, das Stück zu aktualisieren“, zitiert ihn das Programmheft. Falsch, weil die Naivität der Menschen auf der Bühne verloren gehen würde. Verzicht auf Aktualisierung freilich heißt für ihn nicht Verzicht auf Stilisierung: Herbert Murauer baut keine Hollywood-Wildwest-Kulisse. Sein Raum ist der von Loy so geliebten Kasten, diesmal eng, niedrig, flach wie ein Bretterverschlag.

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis "La Fanciulla del West". Foto: Monika Rittershaus

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis „La Fanciulla del West“. Foto: Monika Rittershaus

Nach draußen führt immer nur ein kleines, bedeutungsvolles Fenster. Es lässt einen blendend hellen Schein in den Raum – und in diesem Licht träumt Minnie, die Protagonistin: Von einem Aufbruch ins Irgendwo? Vom Glanz einer wahren Liebe? Vom inneren Licht der schmerzlich vermissten Bildung? Den Aufbruch wird sie am Ende wagen – hinein in ein goldenes Leuchten (Licht: Bernd Purkrabek), das sich auf den Gesichtern der Goldgräber im Frankfurter Opern-Kalifornien widerspiegelt.

Loy erzählt in dieser Übernahme von der Königlichen Oper Stockholm – ursprünglich sollte Richard Jones diesen Puccini inszenieren – nicht einen saftig-spannenden Western. Nur der Schwarz-Weiß-Filmvorspann spielt an auf die goldene Zeit der amerikanischen Filmindustrie, bedient den Primadonnen-Mythos, der ja auch in der Oper eine Rolle spielt, evoziert die Parallele zum Film, wenn handelnde Personen in Schwarz-Weiß auf die Bühnenwand projiziert werden.

Immer wieder überhöht Loy die vermeintlich realistischen Elemente der Erzählung und der Bühne: Nicht nur das Fenster ist mit seinem unwirklichen Lichteinfall eher eine Chiffre. Wenn Murauer zwischen Minnies Garderobe und die Bar „Polka“ eine Mauer zieht, und wenn der rasend verliebte Sheriff Jack Rance an dieser Wand steht und spürt, er werde sie nie überwinden, wächst der Raum über sich selbst hinaus, wird zum Gleichnisort tiefer Gefühle und brisanter Konflikte.

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis "Fanciulla del West" stehen. Foto: Monika Rittershaus

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis „Fanciulla del West“ stehen. Foto: Monika Rittershaus

Dennoch erzählt Loy vor allem: Er erzählt eine Geschichte von Melancholie, Heimweh, Einsamkeit; von Empathie und der Last der Herkunft, von Schicksal, Gemeinheit und Edelmut. Manchmal wirkt das etwas zu filmisch, macht es dem Zuschauer leicht, sich in der Rolle des genießenden Betrachters zurückzulehnen. Tilman Knabe hat das Konfliktpotenzial und die Tragödie in seiner Mannheimer Inszenierung radikaler zugespitzt: Knabe verlegt die Handlung in eine verlorene, heruntergekommene Militärstation an der Grenze zu Mexiko, brutalisiert die Konflikte zwischen den Goldgräbern, zeichnet Dick Johnson nicht als den edlen Tenor-Ganoven, sondern changierend zwischen Kriminellem und Widerstandskämpfer.

Scharf beleuchtet Knabe den Agenten des Konzerns Wells Fargo, Mr. Ashby, als Drahtzieher im Hintergrund, dessen Rolle die naiven Goldgräber nicht durchschauen, bis das Militär aufmarschiert – eine Lesart, die jene ausbeuterischen Zustände kritisiert, welche die historische Folie des sonst so malerisch empfundenen Western-Milieus sind. In Frankfurt ist Alfred Reiter ein geschniegelter, aber sonst eher harmloser Vertreter – was aber auch daran liegen könnte, dass die nachstudierte Übernahme aus Stockholm manches Profil nicht so scharf wie ursprünglich gedacht umrissen hat.

In seiner „Fanciulla“ – der ersten Inszenierung der Puccini-Oper in Frankfurt seit 1958 – gleicht Loy die zurückhaltende konzeptionelle Zuspitzung aus, weil er seine Protagonisten virtuos und sensibel führt. Das gilt nicht nur für die resolute, warmherzige Minnie der Eva-Maria Westbroek mit ihrer unbestimmten Lebenssehnsucht und ihrer tiefen Menschlichkeit, die man ganz altmodisch als Nächstenliebe bezeichnen möchte. Es gilt auch für den Sheriff Jack Rance, den abgebrühten Spieler, der unter seiner abgewiesenen Liebe zu Minnie wie ein Hund leidet, aber auch berechnend, zuschnappend wie ein scharfer Jäger, sein kann.

Carlo Ventre als Dick Johnson ist letztendlich doch eher Tenor als Darsteller – und nicht einmal ein besonders glanzvoller: Sein Timbre ist stets von einem heiser-verbrauchten Beiklang begleitet, seine Kraft ist eindimensional und führt nicht zu einem weit projizierten Stimmklang. Auch Ashley Hollands Bassbariton ist für den Sheriff nicht so optimal im Körper verankert, dass er seinen Ton resonanzreich gestalten könnte – so kommt sein psychologisch bewusstes, klug gestaltendes Singen leider immer wieder an physische Grenzen.

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus (3)

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus

Und Eva-Maria Westbroek, die oft gefeierte Dramatische, die Sieglinde des Frankfurter „Rings“, schafft es nicht, die Höhe in die Linie einzubinden, muss vor allem forcieren, wenn sie aus der Mittellage ins hohe Register aufsteigt. Dann wird der Ton gequält und prekär. Ihre warme, volle Mittellage dagegen überzeugt, steht ihr in allen gestalterischen Facetten zu Gebot und führt dazu, dass der zweite Akt – in dem das Keimen der Liebe zu Dick Johnson und die entsetzliche Enttäuschung fesselnd entwickelt ist – ein atemberaubender Höhepunkt der Frankfurter „Fanciulla“ wird.

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Der Regisseur hat auch ein Auge auf die zahlreichen Nebenrollen und die Individuen des Chores, den Matthias Köhler musikalisch sicher präpariert hat. Dass Loy Elisabeth Hornungs Wowkle – die indianische Bedienstete Minnies – allerdings zur komischen Figur macht, will nicht mehr einleuchten, wenn man in Mannheim Tilman Knabes an dieser Figur entwickelte Studie über den Rassismus der weißen Frau gesehen hat.

Rundweg begeisternd agiert in Frankfurt wieder einmal das Orchester. Nun hat stellvertretender GMD Alois Seidlmeier in Mannheim seinen Job wirklich ausgezeichnet gemacht, aber die Vielfalt der Farben, die dynamische Finesse, den impressionistischen Klangschmelz, aber auch die Prägnanz rhythmischer und repetitiver Motive, die schon an Janáçek denken lassen, hat das Mannheimer Orchester nicht so bezwingend umgesetzt wie seine Frankfurter Kollegen unter Sebastian Weigle. Modern und klangsinnlich zugleich, emotional und strukturiert: Weigles Blick auf Puccini überwindet alle Vorurteile; lässt hören, wie der Komponist die Traditionen des Belcanto und der Spätromantik transformiert in seine unverwechselbare Klangsprache, die mehr als nur eine ferne Ahnung von den Aufbrüchen der Moderne in sich integriert. Auch deshalb darf man der Frankfurter Oper wieder einmal für einen spannenden, erfüllten Abend dankbar sein.




Metapher des Zufalls: Sergej Prokofjews „Der Spieler“ in Frankfurt

Dostojewskis „Spieler“ ist eine existenzielle Figur, die ein Thema der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zusammenfasst, nämlich die Frage, wie sich der Mensch im Spannungsfeld von Mächten verhält, die er nicht beeinflussen kann. Oder die auf seine Aktionen unberechenbar reagieren. Tolstoi hat den historischen Zufall in seiner ganzen Absurdität in „Krieg und Frieden“ ausführlich thematisiert. Wie heißen die Alternativen? Gottergebenheit oder Nihilismus?

Schon die Bibel wusste, dass sich Gott nicht zu einem für den Menschen einsichtigen Sinnzusammenhang zwingen lässt: Den Guten kann es schlecht, den Schlechten gut gehen. Selbst für den gläubigen Menschen, falls er nicht vollkommen naiv ist, bleibt der dunkle, unerklärbare Rest der Geschichte, das strukturell Böse jenseits des moralischen Übels. Und Sergej Prokofjews „Der Spieler“ ist eine Oper, die das Schicksal auf den Spieltisch schleudert – selbst, wenn die Figuren in diesem Reigen vordergründig logisch triumphieren oder scheitern.

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Wer triumphiert in diesem Stück, das an der Oper Frankfurt eine bezwingende Neuinszenierung erfuhr? Nicht die Liebe, nicht das Glück, nicht die Berechnung. Die Kugel auf der riesigen leuchtenden Roulette-Scheibe von Hans Schavernoch rollt gleichmütig und unberührt. Nur die alte Babuschka, eine jener grotesk-unheimlichen Frauen aus Russlands literarischem Erbe, könnte als Siegerin durchgehen, weil sie der Kugel ihren Tribut zollt: Sie befeuert den blinden Zufall, indem sie ihr ganzes Vermögen verspielt statt es zu vererben.

Ein anderer Schein-Sieger ist der Spieler selbst, Alexej, der Hauslehrer des bankrotten Generals. Seine Glückssträhne – 20 Mal Rot hintereinander – aber ist die grelle Ouvertüre zum letzten Akt seines existenziellen Unglücks: Da scheitert mehr als die Liebe zu seiner Schülerin Polina, da scheitert ein Mensch im Angesicht des Ungreifbaren: Schicksal und Liebe sind unverfügbar, Geld rettet und richtet nichts.

Das Leben - ein Roulette: "Der Spieler" in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Das Leben – ein Roulette: „Der Spieler“ in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Die Bühne braucht einen solchen Kenner menschlicher Tiefen wie Harry Kupfer, um aus der spröden Konversationsoper das packende Stück zu schaffen, das in Frankfurt zu sehen war. Mit seiner auf die Personen konzentrierten Regie bespielt Kupfer das illustrierend-kommentierende Bühnenbild mühelos: Hans Schavernoch erinnert an Klinikflure und geheimnisvoll gläserne Paläste, zeigt die glamourösen Sterne der Halbwelt und die lautlosen Gefahren der Außenwelt. Die Katastrophe des Spielers Alexej beschränkt sich nicht aufs Individuelle: Als er am Ende die Pistole auf seine Schläfe richtet, schlägt ein Komet auf der Erde ein – wie in Lars von Triers „Melancholia“.

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews "Der Spieler" an der Oper  Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews „Der Spieler“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

In Frank van Aken weckt Harry Kupfer den Darsteller und führt ihn zu großer Klasse: Van Aken liefert sich an die Riesenpartie aus, singt sie psychologisch durchdringend, gestaltet sie spannungsreich in ihrer Ambivalenz, zwischen aussichtlos – und daher erst recht vorbehaltlos – Liebendem und grotesk im Spielrausch Versinkendem. An der Seite dieser grandiosen Sängerleistung kann kaum jemand bestehen, obwohl Kupfer mit den allesamt vorzüglichen Frankfurter Darstellern bewundernswert scharf beobachtete bizarre Typen formt.

Nur eine zieht gleich: Anja Silja als Babuschka, an den Rollstuhl gefesselt, kostet ihre Macht aus, auch wenn sie nur eine negative ist. Ihr Geld bekommt niemand, eher überlässt sie es dem blinden Lauf der Kugel: In dieser Szene triumphiert die absurde Sinnlosigkeit des Geldes. Siljas Auftritt ist eingehüllt von der Magie einer Bühnenlegende – und dieser auratische Glanz stimmt das Gehör für den Rest ihrer Stimme milde und aufmerksam.

Später, wenn Frank van Aken seinen Gewinn über sich abregnen lässt und in einem Haufen Papiergeld sitzt, wird dieser Gedanke szenisch noch einmal überhöht und präzisiert: Polina, das prätentiöse, undurchschaubare und in der Regie wohl bewusst uneindeutig belassene Weibchen, wirft dem hoffnungslos verliebten Alexej sein Geld an den Kopf – einer der unverwechselbaren Auftritte der wie immer in ihrer Rolle lebenden Barbara Zechmeister.

Dank Kupfers Regiekunst wirken die farcenhaft stilisierten Nebenfiguren nie übertrieben. Sie sind in ihrer Gier, ihrem Wahn, ihrer Verfallenheit grotesk komisch (die diversen Damen der Gesellschaft mit Claudia Mahnke als zynisch abgedrehter Blanche), lächerlich tragisch (der alte General Clive Bayleys) oder schmierig undurchsichtig (Martin Mitterrutzner als Marquis oder Sungkon Kim als Mr. Astley). Die Kostüme von Yan Tax, changierend zwischen historischen Anklängen und flirrender Eleganz, unterstreichen die Charaktere.

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Mit dem Frankfurter Orchester bewegt sich Sebastian Weigle wieder einmal auf dem Niveau, das er durch seine Wagner-Interpretationen, aber auch mit Humperdincks „Königskinder“ oder Korngolds „Die tote Stadt“  markiert hat. Prokofjew schenkt den Musikern nichts: Seine Musik kann hitzig und auftrumpfend sein, bewegt sich aber oft in komplex konstruierten Klangmixturen, in denen solistische Präsenz und ein unbestechliches Gehör für die Partner-Instrumente im Orchester nötig sind. Weigle lässt diese rhythmisch verstörten Farbgemische so bunt vorüberziehen wie die Lichter in Schavernochs Bühnenprojektionen (realisiert von Thomas Reimer). Prokofjew kann sarkastisch kommentieren, aber die Musik löst sich auch vom Geschehen und hat dann einen Zug zu Hindemith’scher Autonomie.

Dass diese Oper so selten gespielt wird – in der Rhein-Ruhr-Region etwa in einer Regie Bohumil Herlischkas 1980 in Düsseldorf – ist nicht recht verständlich. Man darf auf eine Wiederaufnahme in Frankfurt hoffen, nachdem die sieben Vorstellungen ausverkauft waren. De Nederlandse Opera, die im Moment Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“ spielt, kündigt den „Spieler“ für die kommende Saison an: Premiere der Inszenierung von Andrea Breth ist am 7. Dezember 2013.

 




Abschied vom Meisterwerk nach 21 Jahren: Axel Cortis „La Traviata“ letztmals in Frankfurt

Nach 21 Jahren ist Frankfurts „La Traviata“ immer noch ein Publikumsrenner, doch nun heißt es Abschied nehmen von der Inszenierung Axel Cortis: Intendant Bernd Loebe teilt mit, die Oper werde einen Schnitt machen und Cortis viel gerühmte Arbeit aus dem Repertoire nehmen. Die Begründung überzeugt nicht: Ein Haus wie Frankfurt sollte nicht nach Platzproblemen entscheiden, und dass in bestehenden Inszenierungen neue Darsteller eingesetzt werden, ist an großen Häusern gang und gäbe und muss nicht zwangsläufig zu Qualitätsabfall führen.

Im Falle der tiefsinnigen Bildwelt Bert Kistners (Bühne) und Gaby Freys (Kostüme) ist die künstlerische Halbwertszeit noch lange nicht erreicht: So mancher Zeitgeist-Schnickschnack ist nach wenigen Jahren nur noch mit Mühe zu erdulden. Axel Cortis „Traviata“ dagegen bewegt und berührt immer noch, selbst wenn ein Tenor den Alfredo gibt, der nur sein romanisches Gesten-Repertoire einzubringen hat. Die Inszenierung ist eine derjenigen, die man als „zeitlos“ bezeichnen kann – vielleicht widerstrebt aber genau das manchem Dramaturgenkopf, der glaubt, auf der Bühne sollten stets die Schlagzeilen von gestern „reflektiert“ werden. Jammerschade: Frankfurts „Traviata“ hätte das Zeug gehabt, als Klassiker zu überleben.

So füllt sich der mondäne Salon Bert Kistners mit seiner zentralen, geschwungenen Treppe zum letzten Mal mit Halbweltdamen, Kollaborateuren und Nazi-Offizieren – denn Corti, Jahrgang 1933, hatte Alexandre Dumas‘ Drama in das besetzte Paris des Zweiten Weltkriegs verlegt, eine Zeit, die er als Kind noch erlebt hatte. Noch einmal ziehen sich Violetta und Alfredo in das blaugraue Haus am Meer zurück, vor dem der Sandstrand Weite, der Horizont Unendlichkeit verheißt, aber eine rot-weiße Markierungslinie bis in den Himmel hinein eine Grenze zieht. Noch einmal tanzen unter den apokalyptischen Gespenstern eines Otto Dix unter einem Zirkuszelt französische Mariannen und preußische Pickelhauben das Spiel von Aufruhr und Freiheit (Choreografie: David Kern). Und noch einmal nimmt Violetta im Wartesaal eines Bahnhofs Abschied von der Welt, von ihrem Leben, ihren Illusionen und Hoffnungen.

Corti zeigt auf einzigartige Weise das individuelle Schicksal, die persönliche Tragödie der „Traviata“, das Scheitern zweier junger Menschen an Zwängen und Verstrickungen, verbunden mit der unheilvollen Atmosphäre einer Zeit, die uns näher liegt als die Sphäre der eleganten Kurtisanen der Epoche Verdis und Dumas‘. Immer noch schockierend, wenn vor der Chorstretta des ersten Akts die Luftschutzsirenen jaulen, Violetta die Leuchten löscht, durch die Fenster die Lichtfinger der Flak im Dunst der Nacht sichtbar werden. Sie suchen den Himmel ab, während die allein gelassene Violetta („È strano“) die Spur des Himmels in sich selbst zu erahnen beginnt. Selten wurden Bedrohung und Einsamkeit der „bevölkerten Wüste“ der Riesenstadt in so abgründige und gleichzeitig ästhetische Bilder gefasst. Wie überhaupt Kistners Bühne nicht hoch genug zu rühmen ist: Das Flair der Zeit, die Schönheit der Impression, aber auch der Ausgriff ins Symbolische und Mythische sind glücklich verbunden.

Ort des Abschieds: Violetta (Cristina-Antoaneta Pasaroiu) im letzten Akt von Verdis "La Traviata" an der Oper Frankfurt. Fotos: Wolfgang Runkel

Ort des Abschieds: Violetta (Cristina-Antoaneta Pasaroiu) im letzten Akt von Verdis „La Traviata“ an der Oper Frankfurt. Fotos: Wolfgang Runkel

Exemplarisch ist das im dritten Akt zu erleben: Der Bahnhof als mythischer Ort der Moderne, Symbol der unerbittlich verfließenden Zeit (die Bahnhofsuhr), der unsichtbaren Geister, die entscheiden, wann ein Zug ankommt, steht oder abfährt (die Rot oder Grün zeigenden Signale), säkularisierte Kathedrale der Technik und des Fortschritts (die riesigen Eisenkonstruktionen im Hintergrund) und gleichzeitig Ort des Abschieds, der Entscheidung, der Fremde und Unbehaustheit.

Corti stellt Violettas Sterben in den Kontext eines großen, unmenschlichen, entpersönlichten Sterbens: Während sich die jungen Menschen voll trügerischer Hoffnung ein letztes Mal in die Arme sinken, den Traum vom Leben anderswo („Parigi, o cara, noi lascieremo…“) besingen, kontrollieren Wehrmachtssoldaten mit Hund die Papiere der anderen Wartenden und führen zwei alte Männer ab.

Trauer, Schmerz, Ohnmacht werden individuell und politisch-gesellschaftlich konnotiert, ohne dass Corti versucht, das eine gegen das andere auszuspielen. Er stellt den Zusammenhang zwischen der Existenz des Einzelnen und dem Raum der Gesellschaft her, ohne dem Leid seine Würde, der Angst ihre Gewalt zu nehmen. Solche machtvollen Bilder wirken auch, wenn sich die Darsteller nicht vollkommen in das Regiekonzept einfinden – obwohl diese letzte Wiederaufnahme von Tobias Heyder ohne die Zusatzmätzchen manch früherer Einstudierer auskommt. Vielleicht hätte Bernd Loebe mal unter den zahlreichen Fans dieser Inszenierung fragen sollen: Einige hätten ihm nach Jahren noch aussagestarke Details aus der Inszenierung aus der Erinnerung referieren können – auch ohne Regiebuch.

Wenn allerdings ein Tenor wie Francesco Demuro auftritt, stehen die Signale für Personenregie generell auf Rot. Der „international gefeierte“ Sänger (so die Homepage der Frankfurter Oper) stellt den Alfredo aus, wie er sich von Seattle bis Santiago in jede verbrauchte „Traviata“-Routine einpassen könnte. Wenn denn nun wenigstens die Stimme etwas von der fehlenden Faszination der Bühnenerscheinung zurückbrächte! Aber Demuro wird, nach beachtlich energischem Start, im Kern immer dünner, im Schmelz immer ranziger, im Vibrato klirrender. Die Stimme löst sich von der Verankerung im Körper und hat im dritten Akt nur mehr markierte Piani und angestrengt-dünne Höhe zu bieten. Wie ein Sänger mit schönem Potenzial, aber so unausgereifter Technik „international gefeiert“ sein kann, ist eines der Rätsel der Opernwelt, dessen Erklärung man lieber nicht wissen möchte.

Trügerisches Asyl: Cristina-Antoaneta Pasaroiu (Violetta) und Jean-Francois Lapointe (Germont) im zweiten Akt der Inszenierung Axel Cortis.

Trügerisches Asyl: Cristina-Antoaneta Pasaroiu (Violetta) und Jean-Francois Lapointe (Germont) im zweiten Akt der Inszenierung Axel Cortis.

Anders entwickelt sich im Lauf des Abends der Germont von Jean-François Lapointe. Der kanadische Bariton beginnt gedeckt und mit einem knödelig-angestrengten Timbre, kann sich aber im Duett frei singen und zeigt dann eine versierte Beherrschung der Technik und des ausdrucksvollen Singens. Ein beeindruckendes Debüt eines Sängers, der am Ende viel Jubel erntet.

Für den erkrankten polnischen Sopran Aleksandra Kurzak singt Cristina-Antoaneta Pasaroiu die Violetta: Die Rolle liegt ihr im Lyrischen ausgezeichnet; vor allem im Dritten Akt lässt sie intensiv miterleben, wie mit ihrem Körper ihre Seelenkraft verfällt, wie die letzten Funken der Hoffnung das mühevolle Aufbegehren noch einmal nähren, um dann im Wissen um das unausweichliche Ende zu verlöschen. Für die differenzierten emotionalen Aspekte der Arie im ersten Akt und die weiten, dramatischen Bögen des zweiten fehlt der Sängerin das freie, weite Volumen, die Expansions- und Steigerungsfähigkeit. Vielleicht kommt die – oft unterschätzte – Rolle doch noch etwas zu früh?

Frankfurts Ensemble ist schon oft gerühmt worden; Anlass dazu gibt auch die Besetzung der Nebenrollen in dieser „Traviata“: Nina Tarandek lässt hinter der zugespitzten Eleganz ihrer Roben das warme Herz der Flora spüren; mit Elizabeth Reiter ist Annina einmal nicht mit einem Schlachtross aus dem Gnadenbrot-Stall besetzt, sondern mit einer klug gestaltenden, stimmlich niveauvollen Sängerin; Franz Mayer gibt als Douphol einen kaltherzigen Generalissimus, der die ständigen Störungen durch private Verwicklungen als lästig empfindet.

In der musikalischen Leitung der Wiederaufnahme debütiert der israelische Jungstar Omer Meir Wellber an der Frankfurter Oper; einer der zahlreichen Assistenten Daniel Barenboims, die Karriere machen. Er nähert sich Verdis empfindlicher Partitur ohne profilierten Blick. Das Orchester spielt präsent, mit weich geformten Piano-Momenten, trefflich koordiniert. Aber dort, wo die formende Hand des Dirigenten spürbar sein sollte, fehlt die Kontur: Meir Wellber atmet wenig mit den Sängern, achtet kaum auf die musikalische Rhetorik, trivialisiert manches schnelle Tempo und arbeitet dicht gesetzte Orchesterstellen und Tutti nicht ausreichend plastisch aus. – Die Vorstellungsserie ist so gut wie ausverkauft, lediglich am 1. Januar gibt es noch ausreichend freie Plätze, um eine Inszenierung zu erleben, die ähnlich wie der Frankfurter Berghaus-Ring zur Legende werden dürfte.




Bürgerliches Trauerspiel und symbolistisches Drama: Debussys „Pélleas et Mélisande“ in Essen und Frankfurt

Mit „Pelléas et Mélisande“ bewegen wir uns im Spannungsfeld zwischen einem bürgerlichen Familiendrama, das an Ibsen erinnert, und einem symbolistischen Mysterium, das sich in bildmächtige poetische Seelenlandschaften vertieft. Die beiden profilierten Neuinszenierungen der vergangenen Wochen in Essen und in Frankfurt nähern sich Claude Debussys rätselvoller musikalischer Fassung des Dramas von Maurice Maeterlinck mit unterschiedlicher Perspektive.

In den magischen Licht-Räumen Raimund Bauers und Olaf Freeses: Mélisande (Michaela Selinger) und Pelléas (Jacques Imbrailo). Foto: Baus, Aalto-Theater Essen.

In den magischen Licht-Räumen Raimund Bauers und Olaf Freeses: Mélisande (Michaela Selinger) und Pelléas (Jacques Imbrailo). Foto: Baus, Aalto-Theater Essen.

Nikolaus Lehnhoff in Essen rückt die traumverwobene Atmosphäre in den Vordergrund. Die Figuren scheinen kaum aus sich heraus zu agieren, wirken oft statisch und wie gebremst vom lähmenden Gespinst bedeutungsvoller Zeichen und Zusammenhänge. Claus Guth in Frankfurt dagegen schaut auf die Psychologie der Personen, gibt ihren Aktionen und Reaktionen etwas Welthaftes, Eindeutiges mit. Er negiert den symbolistischen Hintergrund der Oper nicht, aber er zieht sich nicht auf den Topos des Unerklärbaren zurück, sondern bindet dessen Chiffren ein in die Entwicklung des Geschehens, das zu Tod und innerem Zusammenbruch führt.

Verlöschen im Dunkel: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Verlöschen im Dunkel: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Für Guth ist Mélisande kein geheimnisvolles Undinen-Wesen aus dem Irgendwo, sondern eine offenbar traumatisierte junge Frau, die zitternd versucht, sich eine Zigarette anzustecken, als sie in den Lichtkegel der Bühne tritt. Ihre Vorgeschichte bleibt im Dunkel, ihre psychische Verfassung ist es nicht. In Zuge des Dramas verdichten sich die psychologischen Motive, für die Guth die symbolistischen Züge des Dramas einsichtig verengt: Er will nicht das wabernde Ungefähr des Ahnungsvollen bebildern, sondern die Menschen in den elegant eingerichteten Räumen des zweistöckigen Hauses auf der Bühne Christian Schmidts stringent entwickeln – allerdings ohne die komplexen und rätselvollen Seiten ihrer Psyche eilfertig wegzuerklären. Warum sich die Lichtkreise Golauds und Mélisandes schon bei ihrer ersten Begegnung nicht berühren, warum sich Pelléas und die junge Frau finden und in der undurchdringlichen Schwärze des Raums in ihren Lichtauren verbinden, bleibt letztlich ein Geheimnis.

Wie ein Puppenhaus: Christian Schmidts elegante Interieurs in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Wie ein Puppenhaus: Christian Schmidts elegante Interieurs in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Auf der anderen Seite entwickelt Guth im Spiel präzise und faszinierend die Brennpunkte, in denen die Personen des Dramas interagieren: Der Dialog zwischen dem resignativen Pelléas, der im Selbstgespräch nur punktuell zum „Du“ durchdringt, und dem nahezu perfekt verdrängenden Patriarchen Arkel ist großes, reflektiert durchdrungenes Schauspiel. Ebenso die genau beobachtete Szene, in der Golaud versucht, mit Hilfe des Kindes Yniold die Beziehung zwischen Pelléas und Mélisande zu ergründen.

Guth achtet scharfsichtig auf versteckte Motive, deutet zum Beispiel die Szene, in der Pelléas vom Haar Mélisandes in Ekstase versetzt wird, als inneren Vorgang des in sich verschlossenen Mannes, dem die Frau tiefere Schichten seines Begehrens erschließen hilft. In Christian Gerhaher hat Guth den idealen Darsteller depressiv-verschlossener Innenwelten, dessen hoher Bariton zu unendlichen Schattierungen des Ausdrucks fähig ist. Die Mélisande Christiane Kargs erschöpft sich nicht im zerbrechlich-passiven Opfer, sondern ist eine Frau, die sehr wohl versucht, im Beziehungsgeflecht von Haus Allemonde ihre Position zu finden.

Christian Gerhaher als Pelléas in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Christian Gerhaher als Pelléas in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Die mühsam unterdrückte Aggressivität, mit der Paul Gay den Golaud zeichnet, bricht sich in einem ungeschönt inszenierten Ausbruch von Gewalt freie Bahn – einer Brutalität, die Mélisande wie Golaud selbst zu Opfern macht. Arkel schaut weg: Alfred Reiter gelingt trotz eines wabernd-gedeckten Basses eine beklemmende Studie von Verdrängung und uneingestandener Einsicht. Zutiefst verunsichert durch Mélisandes geschichtslose Reinheit, erinnert Golaud an den Major in Strindbergs „Vater“, gefangen im Wahntrauma der Patriarchen von der „verbotenen“ Liebe, dem uneinnehmbaren Rest weiblicher Souveränität.

Friedemann Layer und das Frankfurter Opernorchester bestätigen den auch musikalisch führenden Rang der Rhein-Main-Oper unter den deutschen Musiktheatern. Layer ist ein Sachwalter von Debussys Modernität, entdeckt nicht nur die Raffinesse der Klänge, sondern auch ihre Reibungen, ihre herbe Würze. Doch er zwingt ihnen keine Spaltklang-Sprödigkeit auf, wie sie Propagandisten eines neuen Debussy-Bildes vertreten.

Layer stützt in den wundervoll modellierten Akkordsäulen und den filigranen Rückungen im Klangverlauf die Statik von Debussys musikalischer Architektur und entdeckt ihre dramatische Funktion, die geschichtslosen Zustände der Bilder auf der Bühne abzusichern. Dass Guth dazu immer wieder eine Uhr ticken lässt und damit die verfließende Zeit als spannungsreiches, drängendes Element einführt, gehört zu den aussagestarken Details dieser – aus der Perspektive des bürgerlichen Dramas – modellhaft gelungenen Deutung, an der Layer mit seinen scharfsinnig beleuchteten Korrespondenzen zwischen Musik und Bühne erheblich Anteil nimmt.

In Essen sind die Perspektiven anders, aber nicht minder überzeugend. Denn Stefan Soltesz im Graben macht mit den Essener Philharmonikern schon in den einleitenden Akkorden, in den mysteriös eingefärbten Pianissimi der tiefen Streicher und den ersten, fahlen Holzbläserklängen seine ästhetische Position klar: Das soll ein Debussy der äußersten Verfeinerung, des raffinierten Details, der subtilen Klangmischungen werden. Die Verheißung wird glänzend erfüllt; der orchestrale Zauber entfaltet sich dank der vorzüglich auf ihren Dirigenten reagierenden Musiker mit aller Nuancierung in Farbe und Dynamik.

Magie des Raums: Das Licht spielt eine entscheidende Rolle. Foto: Aalto-Theater Essen

Magie des Raums: Das Licht spielt eine entscheidende Rolle. Foto: Aalto-Theater Essen

Ähnlich sensibel für atmosphärische Rückungen agiert Lehnhoff in seiner Inszenierung. Der hohe, kühl-dunkle Raum von Raimund Bauer, immer wieder neu ausgedeutet vom Licht Olaf Freeses, lässt naturalistische Anmutung bald hinter sich: Aus der hohen, dunklen Vertäfelung eines Saals mit der erdrückenden Noblesse der Villa Hügel wird ein Seelenraum, ein innerliches Gefängnis, aus dem Mélisande tastend, aber vergeblich einen Ausweg sucht, den sich nur das visionäre Licht, nicht aber die schwere Materialität der Körper öffnen kann. Das achte Bild mit seinen riesigen, nach unten führenden Treppen gemahnt an die Gefängnisse des Piranesi, tiefenpsychologisch radikalisiert und in eine schaurige Raumvision eines existenziellen Abgrunds verwandelt.

Auch Lehnhoff wirft einen Blick auf das bürgerliche Drama, inszeniert es aber weniger fest umrissen als sein Kollege Claus Guth in Frankfurt. Seine Annäherung an die symbolistischen Verdichtungen Maeterlincks bleibt allerdings oft unbestimmt – oder verliert sich, wie im siebten Bild die langen Haare Mélisandes, in zu konkret realisierten Bildern. So bleibt Michaela Selinger in der Hauptrolle ein verlorenes Wesen zwischen möglichen Konzepten, passiv und konturlos den Ereignissen ausgeliefert. Mit Vincent le Texier hat Essen einen kraftvollen, manchmal leider arg vordergründig bellenden Golaud, der seine Figur am Ende immer mehr in die Richtung des Gesellschaftsdramas entwickelt.

Konkretisierte Symbole: Die Haare der Mélisande in der Bildidee der Essener Inszenierung. Foto: Aalto-Theater Essen.

Konkretisierte Symbole: Die Haare der Mélisande in der Bildidee der Essener Inszenierung. Foto: Aalto-Theater Essen.

Auch der schönstimmige Jacques Imbrailo bleibt als Pelléas eher ein passives Wesen, unheilvoll verstrickt in die lastende Atmosphäre des Hauses. Wolfgang Schöne als Arkel und die mit grandios gereifter Stimme singende Doris Soffel als Geneviève sind die erstarrten, untoten Bewohner dieses unheilvollen Raumes; ihre Rolle wird sinnfällig unterstützt durch die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer, die sich im historisierenden und in einem zeitlos eleganten Arsenal von Ausdruckswerten bedienen. Getragen von wunderbar geatmeten Linien, von den bis zum Verlöschen gedämpften Piano-Schattierungen der Musik und der gestalterischen Raffinesse des Dirigenten können sich die Sänger drucklos frei entfalten. Und staunend ob dieses ästhetischen Wunders gewinnt der Satz Arkels noch eine Bedeutung über das Drama hinaus: „Man bedarf der Schönheit, wenn der Tod neben einem steht.“




„Ruhri“ am Main: David Bösch inszeniert in Frankfurt Humperdincks „Königskinder“

Engelbert Humperdinck ist einer jener Ein-Opern-Komponisten, von dem sich nichts im Repertoire gehalten hat als das zum Weihnachtsmärchen verniedlichte grausame Kinderschicksalsstück „Hänsel und Gretel“. Wissenschaft und Theaterpraxis haben seine anderen Bühnenwerke mit dem vernichtenden Satz eingesargt, dass der Meister an seinen „früheren Erfolg nicht anknüpfen konnte“.

Gefährdete kindliche Idylle: Amanda Majewski als Gänsemagd in Humperdincks "Königskinder" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Gefährdete kindliche Idylle: Amanda Majewski als Gänsemagd in Humperdincks „Königskinder“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Göttergleich fällt die Rezeptionsgeschichte das Urteil, ohne Bewusstsein für ihre eigenen, höchst vorläufigen Bedingungen. Der Regisseur Peter P. Pachl hat vor Jahren auf „Das Mirakel“ aufmerksam gemacht, ein einst ungeheuer erfolgreiches Theater-Experiment von Karl Gustav Vollmoeller und Max Reinhardt mit Musik Humperdincks – leider bisher vergeblich.

Einst erfolgreich, heute eine Rarität: Das gilt auch für Humperdincks zweite Oper „Die Königskinder“. An der Met, wo sie 1910 uraufgeführt wurde, war sie einige Zeit ein sicheres Repertoirestück. In den letzten Jahren gab es Versuche, ein neues Licht auf das spannende, den magischen Realismus eines Gerhart Hauptmann und symbolistische Strömungen der Wende zum 20. Jahrhundert aufnehmende Sujet zu werfen. In der Intendanz von Claus Leininger in Wiesbaden hat es Alois Michael Heigl 1991 eindrucksvoll realisiert; jüngst haben große Häuser wie München und Zürich eine neue Runde für die „Königskinder“ eröffnet.

Frankfurt zieht nun nach und verpflichtete mit David Bösch einen Regisseur, der in der Ruhr-Region seine ersten Arbeiten gezeigt hat und als innovativer, origineller Theatermann in Erinnerung bleibt: Viel gerühmt seine Shakespeare-Inszenierungen in Essen („Sommernachtstraum“, 2005) und Bochum („Romeo und Julia“, 2004), seine jeder Verkopfung widerstrebende Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Stücken, seine preisgekrönten Arbeiten wie „Viel Lärm um Nichts“ am Thalia Theater Hamburg.

Im Musiktheater hatte David Bösch diesen Erfolg nicht: Vivaldis „Orlando furioso“ in Frankfurt (2010) blieb in schrillem Klamauk stecken; auch sein Debüt in der Oper mit Donizettis „L‘Elisir d’amore“ am Münchner Nationaltheater wurde eher kühl aufgenommen. Mit den „Königskindern“ machte er sich an einen Stoff, dem die Autorin Elsa Bernstein-Porges zwar aus Märchenmotiven heraus entwickelt, aber nicht im Märchen verharren lässt. Was im ersten Akt, mit Hexe, Gänsemagd und Königssohn, noch mit vertrauten Figuren spielt, entwickelt sich im zweiten fast zum Sozialdrama, um im letzten Akt zu einer symbolistisch geprägten Nicht-Erlösungs-Geschichte zu mutieren.

Bösch und sein Team Patrick Bannwart (Bühne), Frank Keller (Licht) und Meentje Nielsen (Kostüme) nähern sich diesen verschiedenen Ebenen, indem sich die Geschichte aus der Sicht der beiden Heranwachsenden – der Gänsemagd und des Königssohns – entwickeln. Der Zauberkreis des ersten Bildes entspricht der Wahrnehmung eines Kindes: Die Gänsemagd empfindet den Druck der zweckmäßig organisierten Erwachsenenwelt; ihre „Erzieherin“ wird folglich zur „Hexe“, die sich schon in der Einleitung wie ein schwarzer Scherenschnitt am Horizont abzeichnet.

Das Kind spiegelt sich im Brunnen – eine symbolistisch geladene Chiffre – und genießt Sonne und Tiere; die Hexe drängt auf praktische Arbeit, deren Sinn freilich für das Kind undurchschaubar bleibt. „Wirst du den Kessel spülen? Ist der Brunnen nur gut als Spiegel?“ sagt die Alte: Ein Vers der exemplarisch für die unterschiedlichen Perspektiven steht.

Das Libretto von Elsa Bernstein-Porges, die unter dem Pseudoym „Ernst Rosmer“ geschrieben hat, bleibt jedoch nicht im Märchenhaften oder Psychologischen stecken – und Bannwarts Bühne zeigt das in überzeugender Bildsprache: Kreidezeichnungen kindlicher Spiele auf dem Boden, ausgeschnittene Gänse und Blumen rundum aufgesteckt. Das Kind entwirft sich seine Welt selbst. Sie beginnt, brüchig zu werden, als der Königssohn in sie eindringt. Die Entdeckung des „Du“ und der Erotik entfremden die Gänsemagd ihrer Welt. Entrinnen kann sie ihr noch nicht; erst als ihr der „Spielmann“ den Weg weist, den Zauber zu zerreißen, gelingt der Ausbruch in neue Erfahrungsräume.

Der zweite Akt in der Hellastadt trägt noch am deutlichsten die sozialkritischen Züge, die Bernstein-Porges im Sinn hatte: Bösch erzählt ihn als grimmige Parabel einer selbstgenügsamen Gesellschaft. Wie Maden aus einem Stück Speck kriechen die Bürger aus den Kanälen ihrer „Höllastadt“ – so verkündet der Zwischenvorhang mit dem abgestürzten korrekten „e“ den Namen. Der Herzensadel, mit „Lieben und Leiden“ errungen, gilt ihnen wenig, mehr noch: Sie bemerken ihn nicht einmal. Nur ihre Kinder weinen, als sie Königssohn und Gänsemagd aus ihrer satten Hölle vertreiben. Diesen sinistren Karneval dumpfer Selbstbezogenheit inszeniert Bösch zu wörtlich, stellt dralle Opernfiguren auf die Bühne. Da helfen auch die Schweinemasken nicht viel weiter.

Zweiter Akt der "Königskinder" an der Oper Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Zweiter Akt der „Königskinder“ an der Oper Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Für den sozialen Kältetod des Königskinder-Paares hält Patrick Bannwart seine Bühne wüst und öde. Nur nutzt Bösch die konzentrierende Leere nicht, um dieses Sterben zu transzendieren und der symbolistisch angelegte Figur des Spielmanns eine neue Dimension zu geben. Er steht nicht für eine Art Kunst-Erlöser, aber er ist eine sinngebende Gestalt, die dem inneren Entwicklungsweg der Kinder, aber auch ihrem Sterben die Bedeutung jenseits des Sozialdramas gibt. Das Lied des Spielmanns, in die Herzen gesenkt, macht die Kinder „sehend“; die Auferstehung der Königskinder in den Herzen gibt die Hoffnung auf eine neue Generation, fern der inneren Blindheit der Höllastadt und ihrer in Begierden gefangenen Bewohner.

Bösch verrät das Visionäre dieses Finales, wenn der vortrefflich singende und gestaltende Nikolay Borchev als humpelnder Opern-Opa über die Bühne hüpft, die Kinder ihre Holzschwerter zücken und das „Häppie Äntt“ auf hochgehaltenen Täfelchen konstatieren. Abwegig erscheint der Selbstmord der Königskinder per Schwertstreich. Er entwertet das Brot, das die Gänsemagd im ersten Akt backen muss, zum bloß peripheren Requisit, wo es doch ein sinnstiftendes dramaturgisches Mittel sein soll. Denn es ist nicht nur mit dem Todesfluch der Hexe behaftet, sondern auch mit dem Spruch des Mädchens: Der Esser „mag das Schönste sehn, so er wünscht sich zu geschehn“. Bösch findet kein theatrales Mittel, den symbolistisch-transzendierenden Aspekt von Humperdincks Oper zu vertiefen. Der dritte Akt verflacht, weil er sich zu wenig dem Sog des Vorhergegangenen entzieht.

Nur die Kinder verstehen den Spielmann (Nikolay Borchev). Foto: Wolfgang Runkel

Nur die Kinder verstehen den Spielmann (Nikolay Borchev). Foto: Wolfgang Runkel

Man darf annehmen, dass Frankfurts GMD Sebastian Weigle nicht ganz unbeteiligt an der Wahl des Stückes gewesen ist: Seine Domäne ist die deutsche Oper mit ihren Höhepunkten Wagner und Strauss. Humperdinck „Königskinder“ sind ein Zeugnis des mühevollen Strebens einer ganzen Komponistengeneration, sich aus dem riesigen Schatten Wagners heraus ins Licht neuer Ideen zu bewegen.

Humperdincks Schüler und des Bayreuther Meisters Spross und Erbe Siegfried Wagner ist ein anderer dieser vergessenen Generation, der im Licht einer neuen Rezeption geprüft werden müsste. Weitere sind zu nennen, etwa der langjährige Strauss-Vertraute Ludwig Thuille, ambivalente Komponisten wie Max von Schillings oder die französischen Vertreter des „Wagnerisme“. Vielleicht wäre diese verdienstvolle „Königskinder“-Aufführung ein Impuls, sich dieser Epoche zuzuwenden? Der erfolgreiche Intendant Bernd Loebe, der Anfang des Monats seinen Vertrag bis 2018 verlängerte, hätte die Kapazitäten seines Hauses und das Interesse des Publikums auf seiner Seite.

Und Sebastian Weigle bringt den Sensus für diese Art von Musik mit. Er macht mit dem wieder einmal ausgezeichnet disponierten Orchester der Oper deutlich, wo die Anklänge an Wagner liegen, aber auch, wo sich Humperdinck entschieden von dessen Vorbild abwendet. Weigle arbeitet kammermusikalische Finessen heraus, die den Techniker Humperdinck in bestem Licht erscheinen lassen, kennt aber auch den Herzenston der aufbrechenden Melodik, den schimmernden Zauber der Klangkombinationen. Dass er auf dem dreistündigen Weg durch Humperdincks Partitur auch matte Momente durchrutschen ließ, sei nicht verschwiegen.

Mit dem Königssohn hat sich das einstige Ensemblemitglied Daniel Behle erfolgreich eine schwierige Zwischenpartie erobert, die ihm weniger im lyrisch frei ausgestalteten Zentrum als in den noch nicht nachdrücklich genug gestützten Höhen Grenzen setzt. Amanda Majeski überzeugt durch ihre kindliche Aura und ihr Gespür für die Psychologie der Gänsemagd, geht aber zu zaghaft daran, vor allem im zweiten und dritten Akt Stimmfarben einzusetzen, die eine Entwicklung der Figur charakterisieren könnten.

Julia Juon, von der Szene zu sehr auf Märchenhexe festgelegt, muss den Beweis nicht antreten, was für eine großartige Sängerin sie ist. Man freut sich auf jeden Auftritt. Magnús Baldvinsson und Martin Mitterrutzner passen als Holzhacker und Besenbinder zu ihren Charakterpartien, die im dritten Akt manchmal in die Nähe missverstandener Lortzing’scher Chargen rücken. Für vorzüglich ausgefüllte kleinere Partien mögen Nina Tarandek und Katharina Magiera als Wirtstochter und Stallmagd stehen. Nicht zu vergessen sind der solide Chor Matthias Köhlers und der Kinderchor, der anspruchsvolle Aufgaben tapfer bewältigte. Michael Clark und Felix Lemke haben ganze Arbeit geleistet!

Weitere Aufführungen: 14., 19., 25., 27. Oktober.