Seelische Zerstörung: Floris Vissers penetrantes Bildertheater für Mozarts „Idomeneo“ in Köln

In der Gummizelle: Kathrin Zukowski (Ilia), Kinderstatist, Anna Lucia Richter (Idamante), Peter Bermes (Idomeneo). (Foto: Sandra Then)

Der alte Mann entkommt seiner Zelle nicht. Auf weiße gepolsterte Wände zeichnet er mit nervösem Strich immer wieder das gleiche Männchen, mit einem Dreizack in der Hand. Beim Familienbesuch rastet er aus, muss mit einer Spritze ruhiggestellt werden.

Floris Visser führt während der Ouvertüre von Wolfgang Amadeus Mozarts „Idomeneo“ die Titelfigur als einen Gezeichneten ein. Kein herkömmliches Regietheater-Irrenhaus-Setting: Denn die Zelle weitet sich, eröffnet einen Hintergrund in hyperrealistischem Licht, mit dem James Farncombe die felsige Strandlandschaft der Bühne Jan Philipp Schlößmanns in überzeichnet scharfe Konturen taucht. Der Naturalismus eines „Schauplatzes“ wird so ausgehebelt; der alte Mann, unschwer als Idomeneo zu identifizieren, beginnt durch seine innere Landschaft zu irren.

Mit seiner Inszenierung an der Oper Köln im Staatenhaus versucht Visser, diese Seelenwelt eines Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einzuholen – einer psychischen Verwundung, die in Flashbacks Erlebnisse der eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit so intensiv zurückholen kann, dass die betroffene Person die Erfahrung wieder und wieder mit der gleichen emotionalen Intensität durchleidet und sogar unfähig sein kann, sie als Erinnerung zu identifizieren. So flutet Visser die Bühne mit heterogenen Bildern und Szenen, in denen Idomeneo doppelt präsent ist – als Uniform tragender Soldat Bestandteil des Geschehens; als Greis im Nachthemd ein stummer, staunender oder leidender Beobachter. Er steht im wahrsten Sinn des Wortes „neben sich“, wenn er sogar einmal den gemarterten Feldherrn Idomeneo in den Arm nimmt.

Unablässiger Aktivismus

Drei Stunden dichte, in kaum einem Moment ihre Tiefe und Komplexität verlassende Musik hat Visser szenisch zu bewältigen. Er setzt den langen Rezitativen einen unablässigen Aktivismus entgegen. Auch die Arien erlauben keine Ruhepunkte. Im Sinne des Konzepts ist das folgerichtig, denn ein Flashback kennt kein Innehalten und Reflektieren. Aber der Zuschauer, der nach dem Zeichenhaften der Aktionen sucht, wird von der Dynamik der szenischen Unermüdlichkeit zugeschüttet. Irgendwann stumpfen die visuellen Ausrufezeichen ab. Aber – das muss Visser zugestanden werden: Die penetrante Qual, die im Wiederholen traumatisierender Momente liegt, spiegelt sich in dieser Tretmühle der Zeichen wider.

Der Fluch der Gewalt gebiert das Trauma: Daniel Calladine personifiziert es in Floris Vissers „Idomeneo“-Inszenierung in Köln. (Foto: Sandra Then)

Visser verwendet Bilder aus den Kriegen der Gegenwart: Leichensäcke am Strand, Menschen, die Tote identifizieren müssen, das ertrunken angespülte geflüchtete Kind Alan Kurdi, die Anzüge von Abu Ghraib in Orange, Opfer mit verhüllten Köpfen, eine Trauerfeier an sandigem Gestade. Er verbindet diese Kriegs- und Gewaltchiffren mit Hinweisen auf den antiken Mythos: Eine schwarze Gestalt, „das Trauma“ (Daniel Calladine) geistert mit einem Beil durch die Szenerie, das auf den Tod Agamemnons und den Fluch der Atriden hindeutet. Anderes wirkt überzogen, etwa eine Szene, in der Idomeneo offenbar in den trojanischen Krieg abberufen wird, als er gerade mit seinem Kind Idamante am Strand ein Badetuch ausgebreitet hat. Deplatziert auch die griechische Fahne, neben der am Ende einträchtig eine türkische flattert. Solche allzu expliziten Verweise stören den psychologischen Gedankengang durch weit hergeholte politische Konkretion.

Zweifel am Sieg der Liebe

Wenn im Finale „die Stimme“ (Lucas Singer) – und, wohlgemerkt, nicht Neptun oder ein anderer der Götter – die Lösung verkündet, spricht der alte Idomeneo (Peter Bermes) tonlos auf der Bühne mit. Ein Funke Hoffnung? Ob aber wirklich die Liebe über alles siegt, zweifelt Vissers Schlussbild leise an: Sinnierend liest Ilia, die trojanischen Prinzessin, die eigentlich die „natürliche“ Feindin der Griechen sein müsste, ein Holzpferd ihres Kindes auf – ein Verweis auf das trojanische Pferd und die eigene, nach Vergeltung rufende Wunde?

Auch im Orchestergraben gelingt es nicht durchgehend, die Spannung zu halten. Bei aller Wertschätzung dieses genialen Wurfs eines 25-Jährigen neigt man dazu, die eine oder andere Kürzung in den Rezitativen als sinnvoll zu erachten. Rubén Dubrovsky verführt das Gürzenich Orchester schon in der Ouvertüre zu feinsinnig detailreichem Spiel. Er fasst den Klang mit scharfer Kontur, lässt luftige Bläserakzente setzen, hebt generell hervor, mit wie unermüdlicher Kreativität Mozart die Fallen gleichförmiger Wiederholungen, stereotyper Harmonie oder schematischer Instrumentation umgeht. Anderes, so das berühmte Quartett des dritten Akts, bleibt seltsam blass. Aber das Gürzenich Orchester spielt in der ganzen langen Zeit hoch konzentriert und verströmt elegant ausgewogenen Mozartklang.

Insgesamt eine gediegene Besetzung

Intendant Hein Mulders hat für diesen ambitionierten „Idomeneo“ eine insgesamt gediegene Besetzung verpflichten können: Sebastian Kohlhepp ist ein anfangs etwas kehlig intonierender, sich zunehmend frei singender Idomeneo, der in den Koloraturen seiner Arie „Fuor del mar“ alle inneren Qualen freilegt, da er die Bedrohung durch Neptun im fürchterlichen Meer seines Herzens weiter spürt.

Kohlhepp ist in den dramatischen Momenten ebenso sicher wie in dieser expressiven Beweglichkeit, die weniger auf technischen Glanz als auf den existenziell aufgewühlten Ausdruck achtet. Auch als Darsteller steigert er sich mit beinah stummfilmhafter Intensität in die Rolle eines Menschen, dessen furchtbarstes Schicksal ist, sich selbst nicht entkommen zu können. Floris Vissers Vorzeigetheater lässt ihn dabei keinen Moment allein. In der Arie „Vedrommi intorno“ erweitert er den Schauder vor dem bald zu vergießenden Blut: Eine nackter blutiger Junge erinnert Idomeneo wohl auch an die Opfer, die der Krieg um Troja gekostet hat. Die Orchesterbegleitung dieser Arie gehört übrigens zu den Höhepunkten des Abends.

Aus der Stimme gestaltete Musik

Anna Lucia Richter als Idamante. (Foto: Sandra Then)

Eine nahezu ideale Besetzung ist Anna Lucia Richter in der Rolle des Idamante: eine sanft geführter, ausgeglichener, leuchtender Mezzo, der den edlen, empfindsamen Charakter des jungen Prinzen in purem Wohllaut repräsentiert, ohne die entspannte Tonbildung aufgesetzten expressiven Gesten zu opfern. Gestaltung aus der Musik und aus dem Material der Stimme: Hier wird’s zur beglückenden Realität.

Auch Kathrin Zukowski punktet als Ilia mit kultiviertem Singen und einem zarten, gepflegten Timbre. Sie neigt allerdings zu flachen, manchmal dünn-ungestützten Tönen, die sie nicht nötig hat, um die lyrische Grundierung etwa von „Zeffiretti lusinghieri“ – einem vokalen Paradestück der Oper – zu sichern. Mit einer abgesicherten Stütze im Körper könnte Zukowski auch die ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen technisch perfektionieren.

Ana Maria Labin stellt sich mutig und erfolgreich der Herausforderung, die „Furien der grausamen Unterwelt“ – bei Visser treten sie natürlich leibhaftig auf – in schneidender Dramatik zu beschwören und die bizarren Ausbrüche ihres wütenden Abgangs am Ende zu erfassen. Aber in ihrer Liebesarie im zweiten Akt zeigt sie auch ihre andere Seite, die einer zärtlich fühlenden Frau, die sich trügerischen Hoffnungen hingibt und daher umso herber enttäuscht wird. Anicio Zorzi Giustiniani darf sich als Arbace mit ausgeprägtem, manchmal zu grell nach vorne gedrängtem Ton ebenfalls in zwei Arien zeigen; John Heuzenroeder ist ein würdig gefasster Oberpriester.

Der Chor der Oper Köln (Rustam Samedov) ist eines großen Kompliments würdig für die wie selbstverständlich wirkende Integration in die szenische wie musikalische Seite der Aufführung. Floris Vissers Bildertheater ist durchaus eine Zumutung; wer sie als bloß illustrativ wahrnimmt, wird des Abends irgendwann einmal überdrüssig. Wer sie als Spiegel einer seelischen Zerstörung akzeptiert, wird in ihrer Penetranz die unheilvollen psychischen Abläufe erkennen, die – über den Kriegsheimkehrer Idomeneo hinaus – heute Tausende von Menschen innerlich überfluten.

Weitere Vorstellungen: 25., 28. Februar, 2., 8., 10., 13. März. Info: https://www.oper.koeln/de/programm/idomeneo/6687




Balkanien in Köln: Franz Lehárs „Lustige Witwe“ mit dem Essener GMD Andrea Sanguineti am Pult

Lieber Grisetten als das teure Vaterland: Adrian Eröd alias Graf Danilo in der Kölner „Lustigen Witwe“. (Foto: Matthias Jung)

Jetzt hat auch Köln seine „Lustige Witwe“. Es gibt wohl kein Theater in Nordrhein-Westfalen, in dem in den letzten Jahren niemand im Maxim intim gewesen und die „Weiber“ studiert hätte.

Nun gut, Intendant Hein Mulders wollte für das Ausweichquartier der Kölner Oper und in der (inzwischen erneut gefährdeten) Hoffnung auf rechtzeitige Eröffnung des Hauses am Offenbachplatz 2024 einen zugkräftigen Titel haben. Das ist Franz Lehárs Erfolgsoperette allemal noch – gehört sie doch zum Restbestand der Operetten-Monokulturlandschaft, die mit der „Fledermaus“, der „Csardasfürstin“ und dem „Orpheus in der Unterwelt“ des Kölner Operettenerfinders Jacques Offenbach weitgehend bestellt ist. Von den Dutzenden früherer Erfolgstitel ist kaum etwas geblieben; nur Paul Abraham darf sich im letzten Jahrzehnt über eine gewisse Renaissance freuen. Das Sterben der Operettenensembles, das Ausdünnen der Spielpläne, die generationenlang gepflegte Verachtung des jahrzehntelang lieblos abgenudelten Genres und der Hinschied des alten Operettenpublikums tragen Früchte.

Dem entgegenzuarbeiten ist eine reizvolle Aufgabe, der sich nicht nur Barrie Kosky früher an der Komischen Oper Berlin und die spezialisierten Häuser in Dresden, Leipzig und München widmen sollten. Insofern darf man hoffen, dass Hein Mulders in Köln, sonst eigentlich kein für Ideen verschlossener Kopf, auch einmal in die Tiefen des Repertoires der „leichten“ Muse greift. Immerhin: Dank der pfiffigen Regie von Bernd Mottl und einer beispielhaft schmähaffinen musikalischen Leitung des Essener GMD Andrea Sanguineti ist der Ausflug nach Pontevedro in Paris rundweg kurzweilig geraten.

Dialog von Wasserflecken an Neonröhren

20 Milliarden! Allein die Ansage lässt die Männer schmachten. Elissa Huber als Hanna Glawari und Herren des Chores der Kölner Oper. (Foto: Matthias Jung)

Pontevedro: Den Fantasie-Kleinstaat in Klischee-Balkanien verorten Friedrich Eggert (Bühne) und Alfred Mayerhofer (Kostüme) irgendwo im realsozialistischen Ambiente. Die großmustrigen braunen Tapeten erinnern an den biederen Charme Ost-Berliner Plattenwohnungen der siebziger Jahre. Über der Falttür rutschen die Porträts des pontevedrinischen Herrscherpaars in Schieflage. Der Vorraum ist mit Bauplastikplanen verhüllt, an der Decke prangt ein Dialog von Wasserflecken an kalten Neonröhren. Pontevedro zeigt sich so marode wie seine Staatskasse.

Und da kommt die Witwe ins Spiel: Deren 20 Milliarden sind das Kapital, das den fürstlichen Laden zusammenhält. Sie dürfen keinesfalls in die Hände eines leichtlebigen Franzosen geraten – etwa des in Brombeerfarbe hereinstelzenden Camille de Rosillon (Dmitry Ivanchey), des honeckerblau beanzugten Vicomte Cascada (John Heuzenroeder) oder eines gewissen Raoul de Saint-Brioche (Timothy Oliver). Die Milliarden selbst treten auf in aufreizendem Design in Schwarz, ein mondäner Gegensatz zu den schlicht geschnittenen Kleidern in gedecktem Bräunlichgrünlichblau der pontevedrinischen Hautevolee.

Elissa Huber ist eine hinreißende Hanna Glawari, die selbstbewusst und erfüllt vom Wissen um ihre Ausstrahlung verkündet, warum Witwen so begehrt sind, und später in wunderschön kitschiger Folklore-Ausstaffierung das Waldmägdelein im Vilja-Lied besingt. Ihr voller, samtig dunkel getönter Sopran strömt mit allem Charme und allem erotischen Prickeln, dem die Partie ihren Reiz verdankt.

Erst planen, dann bauen

Diese geldschwere Dame dem Vaterland zu erhalten, ist vornehme Aufgabe von Botschafter Mirko Zeta – und Ralf Lukas verkörpert ihn mit aller gewichtigen Pose, bedeutungsschwangere Deklamation eingeschlossen. Wäre da nicht die unsäglich gemusterte Krawatte, man könnte ihn gar für eine ernsthafte Person halten. Seine taktische Waffe heißt Graf Danilo: Adrian Eröd ist als Graf Danilo ein so souveräner Sängerdarsteller, dass er beinah zur heimlichen Hauptperson der ganzen Operette aufsteigt, wäre da nicht seine Noblesse, die der Diva stets den Vortritt gewährt. Er hat allerdings nicht die geringste Lust, dem Vaterland zuliebe ein Erbe zu erheiraten, zumal es mit einer Frau verbunden ist, mit der er eine unerfreuliche Vorgeschichte hat. Dass sich am Schluss die Liebe mit einem überraschenden Coup durchsetzt, ist dem Genre geschuldet. Tragische Operetten waren 1905 noch nicht im Blickfeld von Lehár.

Mottl inszeniert das Finale ohne derben Bruch, wie er dem Genre seinen Witz und seine Sentimentalität lässt. Nichts wird übertrieben, die Kalauer halten sich in Grenzen, der Herzschmerz auch. Beziehungen entstehen durch Gesten, Blicke, Pausen. Wenn Baron Zeta stolz den in nur einer Woche strahlend neu vergoldeten Saal seiner Botschaft preist, meint er, man habe erst geplant, dann gebaut. Da lachen die Kölner und denken an ihr Opernhaus. In den Choreographien von Christoph Jonas mischen sich Grisetten von „sämtlichen Ufern dieser Erde“, und die Tanzgruppe zitiert lustvoll alte Operettenklischees und baut mit leichtfüßiger Ironie daraus amüsante Körperwelten.

Zweifelhafte Zwitterwesen

Das Hin und Her zwischen diversen eifersüchtigen Paaren reduziert Mottl zugunsten des zentralen Konflikts, damit treten etwa Bogdanowitsch (Artjom Korotkov) und seine Frau Sylviane (Brigitta Ambs) ebenso in den Hintergrund wie Kromow (Zenon Iwan) mit seiner ewig des Seitensprungs verdächtigten Olga (Mariola Mainka). Dass die Romanze zwischen der „anständigen Frau“ Valencienne (Claudia Rohrbach als entzückendes Zwanziger-Jahre-Mädel) und dem trocken, aber passioniert die „Liebe aufglühen“ lassenden Camille (Dmitry Ivanchey) saftiger ausgespielt sein könnte, ist eine andere Sache.

Zwitterwesen von allen möglichen Ufern. Ralph Morgenstern (Njegus) und das Tanzensemble in der „Lustigen Witwe“. (Foto: Matthias Jung)

Ralph Morgenstern gibt dem Njegus nicht zuletzt dank einer langen, dürren Gestalt ein köstlich volatiles Profil jenseits des klassischen Operettenkomikers. Man glaubt ihm aufs Wort, dass er in die Pariser Art total vernarrt ist, vor allem, wenn ihn die „zweifellos zweifelhaftesten Zwitterwesen“ umschwärmen. Das alles wäre nur halb so animiert, würde nicht das Gürzenich-Orchester den mal samtig schmeichelnden, mal keck auffahrenden Lehár-Sound treffen und Andrea Sanguineti mit dezidierter Agogik und wundervoll pikanter Phrasierungsdramaturgie die Musik so gestalten, wie es die Operette braucht. Alles etwas altmodisch gedacht, aber vielleicht gerade deswegen so wundersam musikalisch, nostalgisch und hinreißend.

Weitere Vorstellungen: 16., 21., 23., 25., 27., 29., 31. Dezember.
Info: https://www.oper.koeln/de/programm/die-lustige-witwe/6634




Aus dem Schatten Mozarts befreit: Antonio Salieris „Schule der Eifersüchtigen“ an der Oper Köln

Schwer lastet der Schatten Wolfgang Amadeus Mozarts über der Erinnerung an Antonio Salieri. Der langjährige Wiener Hofkapellmeister und Komponist war eine maßgebliche Institution schon vor der Ankunft Mozarts in Wien und lange nach dessen frühem Tod bis hinein in die Zeit Franz Schuberts: Komponist von gut drei Dutzend Opern, Organisator und Inspirator des hauptstädtischen Musiklebens, gesuchter Gesangspädagoge und Lehrer einer ganzen Komponistengeneration, Beethoven und Schubert eingeschlossen.

"La Scuola de' Gelosi" in Köln: Hinten: Kathrin Zukowski (Gräfin Bandiera), Anton Kuzenok (Leutnant), vorne v.l.n.r.: Matteo Loi (Blasio), Alina Wunderlin (Ernestina), William Goforth (Graf Bandiera), Arnheiður Eríksdóttir (Carlotta). Foto: Hans Jörg Michel.

„La Scuola de‘ Gelosi“ in Köln: Hinten: Kathrin Zukowski (Gräfin Bandiera), Anton Kuzenok (Leutnant), vorne v.l.n.r.: Matteo Loi (Blasio), Alina Wunderlin (Ernestina), William Goforth (Graf Bandiera), Arnheiður Eríksdóttir (Carlotta). Foto: Hans Jörg Michel.

Überlebt hat sein Name bis in die jüngere Zeit hinein lediglich durch ein Gerücht: Salieri, so die rufmörderische und längst widerlegte Behauptung, habe Mozart vergiftet. Peter Shaffer hat in seinem Schauspiel „Amadeus“ daraus eine Parabel über Gottes Gerechtigkeit, Genie und Mittelmaß gestrickt, die Miloš Forman 1984 durch seinen Film international verbreitet hat.

Möglichkeiten, hinter den Schatten zu blicken, haben sich erst mit Aufführungen und Tonaufnahmen in den letzten Jahrzehnten eröffnet. Opern von Salieri, obwohl zu ihrer Zeit unglaublich erfolgreich, sind Raritäten: Das betrifft nicht nur die Menge seiner komischen Opern, unter denen sich höchst Gelungenes neben routiniertem Durchschnitt findet. Sondern leider auch die an Gluck orientierten französischen Tragödien wie „Les Danaïdes“ oder „Tarare“. Nicht zuletzt zeigt sich Salieri im Verbund mit dem Librettisten Giovanni Battista Casti als genialer Satiriker – eine Eigenschaft, die er seinem Kollegen und gelegentlichen Konkurrenten Mozart voraushat. Polit-Satiren wie „Cublai, gran Khan dei Tartari“ oder „Catilina“ sind überhaupt erst in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts uraufgeführt worden, und das nicht in Wien, sondern in Würzburg und Darmstadt.

Vor zwei Jahren hat sich das entdeckerfreudige Theater an der Wien wieder einmal an eine Salieri-Oper gemacht und „La Scuola de‘ Gelosi“ wiederbelebt. Die Buffa hatte dem aus Legnago, einem venezianischen Städtchen südöstlich von Verona stammenden Komponisten 1778 nicht nur in Wien, sondern in der ganzen damaligen Opernwelt einen grandiosen Erfolg beschert. Die Oper Köln, die im Mozart-Jahr 2006 mit Salieris „La Cifra“ schon einmal Repertoirepolitik gegen den Strich gemacht hat, übernahm nun diese Produktion als Kölner Erstaufführung ins Staatenhaus.

Das Libretto von Caterino Mazzolá, damals noch ein Anfänger, ist in der bewährten Manier des italienischen „dramma giocoso“ konstruiert. Drei Paare – ein adliges, ein bürgerlich kaufmännisches, eins aus dem Stand der Dienstboten – gehen durch eine von einem Leutnant als Drahtzieher inszenierte „Schule der Eifersucht“. Zweidreiviertel Stunden komischer, grotesker, verblendeter und rührender Lektionen münden in die Erkenntnis, dass die Eifersucht genau das zerstört, was sie zu bewahren vorgibt, die eheliche Treue. Nur das Dienerpaar zeigt sich weitgehend immun: Geliebte ja – Ehefrau nein ist das Fazit, dass der Kammerdiener des Grafen aus seinen Beobachtungen zieht: Das Beispiel der adligen Herrschaften zeige, dass die Ehe zu vermeiden sei.

Die Inszenierung Jean Renshaws sorgt immer wieder für temperamentvolle Szenen, hier mit Alina Wunderlin (Ernestina), William Goforth (Graf Bandiera), Arnheiður Eríksdóttir (Carlotta), Matthias Hoffmann (Lumaca). Foto: Hans Jörg Michel.

Für das turbulente Hin und Her hat sich Christof Cremer an die vom Boulevard bekannte Türen-Klapp-Szenerie erinnert und eine Wand mit drei Durchgängen gestaltet, die sich – wie ihre beiden Rahmen – beliebig drehen lässt. So ist die Bühne auch ohne Maschinerie rasch und abwechslungsreich zu verwandeln; ein stummer Tänzer, der „carosello dubbio“ Martin Dvořák zerrt und schiebt die Teile ineinander und gegeneinander, wenn er nicht damit beschäftigt ist, zum Plot zu tanzen und zu akrobatisieren. Die Schraube dreht sich, nicht unheimlich wie in Brittens „Turn of the Screw“, sondern eher mit dem Hang zum Grotesken.

Die Inszenierung der Choreographin und einstigen Tänzerin Jean Renshaw betont diesen Aspekt in unermüdlichen, bewusst übertreibenden Bewegungen, die aber nicht auf platten Slapstick zurückgreifen. Sie lehnen sich eng an die Handlung an, tendieren aber immer wieder zur choreographischen Abstraktion. Der Musik Salieris kommt diese Methode entgegen, denn auch sie schmiegt sich an das Geschehen, will es aber selten empathisch vertiefen, sondern eher wie im Vorgriff auf Rossini in eine Sphäre quirliger Künstlichkeit heben.

So sind sie aufeinander losgelassen, die Figuren des Dramas, und der Zuschauer von heute erkennt, wie sich Mozart und Salieri gleichermaßen in der italienischen „commedia“ bedient haben: Der Graf Bandiera – mit frischem, aber technisch nicht geschliffenem Tenor: William Goforth – erinnert an „Nozze di Figaro“, weil er seiner Gattin überdrüssig ist, und bekennt ähnlich wie Don Giovanni, nicht so sehr die Schönheit als die „leichte Eroberung“ der Damen zu schätzen. Die Gräfin indes leidet und hat eine entsprechende große Arie mit einem ausdrucksvollen Rezitativ, die nicht die melodische Inspiration und romantisch anmutende Empfindungstiefe der Mozart-Gräfin hat, aber in ihrem Kontrast von bohrender Erregung und zärtlicher Erinnerung kein musikalisches Leichtgewicht ist. Kathrin Zukowski singt Wehmut wie Wut in eleganter Linie, zupackender Attacke, aber verbesserungswürdiger Artikulation.

Korngroßhändler Blasio erhitzt sich an der Eifersucht wie im deutschen Fach der misstrauische Herr Fluth in Otto Nicolais „lustigen Weibern von Windsor“. An der musikalischen Faktur seiner Rolle zeigt sich die satirische Ader Salieris, etwa wenn Matteo Loi in Anklängen an altertümliche Madrigale seine Lebensart erläutert oder eine gleichbleibende, sich beschleunigende Flötenfigur die rasch ansteigende Temperatur seines Furors illustriert.

Die gräfin Bandiera (Kathrin Zukowski) leidet. Foto: Hans Jörg Michel.

Seine Frau Ernestina, die erst aus Trotz gegen ihren überdrehten Gatten beginnt, das Werben des Grafen zu beachten, hat in Alina Wunderlin eine koloraturgewandte, auch im Lyrischen ansprechende Gestalterin – erst ratlos und betrübt, dann mit diebischem Vergnügen an dem vom Leutnant (mit hellem, glitzerndem Tenor: Anton Kuzenok) eingefädelten Komplott, das dieser Vorläufer Don Alfonsos („Cosí fan tutte“) erst kurz vor einer drohenden Tragödie auflöst. Die Diener Lumaca (Matthias Hoffmann) und Carlotta (Arnheiður Eiríksdóttir) hangeln sich pragmatisch durch die Intrigen und zeigen sich unbeeindruckt von den erotischen und emotionalen Verwicklungen ihrer Umgebung. Ihre Kostüme tragen dieselben Rautenmuster wie die Wandbespannung – sie gehören zum „Inventar“. Die Rauten tauchen auch in der Kleidung des bürgerlichen Paares auf, während die Gräfin mit groß geschwungenen floralen Mustern über das Klein-Karierte erhaben ist: Eine sinnige Bild-Idee von Ausstatter Christof Cremer.

Schreiben Salieri und Mazzolá also einen harmlos-unterhaltenden Buffa-Stoff ohne tiefere Gedanken? Oder ein Stück, das im Gewand des Buffonesken vorführt, wie sich Einstellungen und moralische Positionen überdreht verselbständigen und dann Menschen, Gefühle, Beziehungen in einem sich rasend drehenden Strudel verschlingen können? Die Groteskerie des Finales von Akt eins ließe eine gleichnishafte Deutung zu: Es spielt an einem jedem Wiener wohlbekannten Ort, dem „Narrenhaus“.

Letztlich entscheidet die Musik, was aus einer solchen Oper wird. Salieri will mit seinen fröhlich aus den Instrumenten purzelnden Noten nicht tiefer schürfen als es die Komödie braucht. Die Töne gruppieren sich wendig und fröhlich, selten einprägsam zu geschwind gestrichelten, schnell wieder verflatternden Linien. Die Melodien sind längst nicht so originell und individuell wie die Mozarts, aber stets unterhaltsam zur Stelle, wenn es darum geht, dem Ohr zu schmeicheln. Die Musik beleuchtet Situationen und Charaktere gerade so, dass es Spaß macht zuzuhören, ohne viel nachdenken zu müssen. Das ist Gebrauchsmusik in gediegener Qualität, die sich gar nicht individuell gebärden will. Arnaud Arber und das klein besetzte Gürzenich Orchester folgen ihr reaktionsschnell, mit kräftigen Akzenten und farbig charakterisierend. Das fegt mit nur manchmal eingetrübter, glitzernder Brillanz dahin, ohne dass Arber die Tempi übertreibt. Ob der Abend ausreicht, auch andere Theater zu animieren, einmal Salieri statt x Mal Mozart zu spielen, muss leider, wie so oft, dahingestellt bleiben.

Aufführungen noch am 18., 21., 23. April 2019. Info: https://www.oper.koeln/de/programm/la-scuola-de-gelosi/4049




Reise ins Innere: Detlev Glanerts „Solaris“ nach Stanislaw Lem an der Oper Köln

Detlev Glanerts "Solaris" im atmosphärisch dichten Bühnenbild von Darko Petrovic. Foto: Bernd Uhlig

Detlev Glanerts „Solaris“ im atmosphärisch dichten Bühnenbild von Darko Petrovic. Foto: Bernd Uhlig

Spannende Zeiten in Köln. Während etwa in Düsseldorf an der Deutschen Oper am Rhein eine sichere Nummer nach der anderen abgearbeitet wird, zeigt der Opern-Herbst in der Domstadt, wie erfindungsreich Repertoirepolitik sein kann.

Auf Johann Adolph Hasses in Schwetzingen wieder ausgegrabene Oper „Leucippo“ folgte nun die deutsche Erstaufführung von „Solaris“, mittlerweile die dritte in Köln gespielte Oper Detlev Glanerts. Bleibt Intendantin Brigit Meyer bei diesem Kurs, wird einem um die künftige Vielfalt nicht bange.

„Solaris“ nach einem erfolgreichen Roman des polnischen Autors Stanislaw Lem wurde 2012 in Bregenz uraufgeführt. Die Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier sollte an die Komische Oper Berlin übernommen werden, was – laut Glanerts Aussage in einem Interview – ohne Nennung von Gründen unterblieb. Man kann sich vorstellen, dass die illustrative, an Raumschiff-Enterprise-Ästhetik gemahnende Bilderfindung des Duos bei Barrie Kosky keine Gegenliebe entzündete: Er kündigte für 2015/16 eine eigene Neuinszenierung an.

Nun hat Köln zugegriffen und sich die deutsche Erstaufführung gesichert. Mit Patrick Kinmonth (Gesamtkonzept und Regie), Darico Petrovic (Bühne), Annina von Pfuel (Kostüme) und Andreas Grüter (Licht) wurde ein Team verpflichtet, das mit starken, differenziert ausgeleuchteten Bildern den Blick von der Science-Fiction-Oper weglenkt. Das entspricht der These, nach der Lems „Solaris“ weniger eine Reise in die unendlichen Weiten des Alls beabsichtigt, sondern tief ins Innere des Menschen mit seinen uneingestandenen Wünschen und seinen einsamen Verletzungen führt.

Aoife Miskelly als Harey in Glanerts "Solaris" in Köln. Foto: Bernd Uhlig

Aoife Miskelly als Harey in Glanerts „Solaris“ in Köln. Foto: Bernd Uhlig

Die Raumstation über dem Forschungsobjekt, einem planetenumspannenden, rätselhaften Plasma-Ozean, steht auf stählernen Gitterträgern und zeigt mit zerbröselnd rostigem Stahlbeton das Stadium finalen Zerfalls. Ähnlich ruinös sind die Verhältnisse an Bord: Der Wissenschaftler Gibarian hat sich selbst getötet, sein Kollege Sartorius verschanzt sich in seinem Labor, der dritte, Snaut, irrt scheinbar halb wahnsinnig durch die Station.

Das Solaris-Plasmawesen liest die traumatischen, „abgekapselten“ Erinnerungen der Forscher aus den Gehirnen heraus und lässt sie materialisiert als menschliche Wesen auf der Station erscheinen. Das Entsetzliche ist, dass diese „Gäste“ aus den verborgensten Winkeln der Psyche stammen: „….unsere eigene monströse Hässlichkeit, unsere Albernheit und unsere Schande“, wie der Forscher Snaut formuliert. Dem neu eingetroffenen Psychologen Kris Kelvin begegnet seine junge Frau Harey. Sie beging Jahre vorher Selbstmord – an dem sich Kelvin mitschuldig fühlt.

Metapher absoluter Fremdheit

Lem und mit ihm Glanerts anfangs des Jahres verstorbener Librettist Reinhard Palm setzen den einsamen Ozean als Metapher absoluter Fremdheit ein. Es wird nicht einmal klar, ob die Plasma-Manifestationen, gebildet nach den Traumata der Forscher, Versuche der Kommunikation einer Intelligenz, spielerische Ausformungen eines kindlichen Wesens oder Schöpfungsversuche eines unvollkommenen Gottes sind. Aber am Beispiel von Kelvins Frau Harey erweist sich, dass sich die Wesen aus dem Plasma nach und nach von den Gedanken-Matrizen ihrer Verursacher emanzipieren, selbständig werden, eine eigene Persönlichkeit entwickeln.

Ein anderer, wichtigerer Aspekt von „Solaris“ ist der einer Selbsterkenntnis: „Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten, wir brauchen Spiegel“, resümiert Kelvin. So wird die Reise zu den Sternen zu einer Reise zu sich selbst. Dass Kelvin am Ende den Ozean aufsucht, spricht freilich dafür, dass der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch trotz allem das große „Andere“ sucht: Ohne Hoffnung, aber in Erwartung, und mit einem Glauben. Solaris als großes Gegenüber, das dem einsamen Einzelnen in der absoluten Verschiedenheit sich selbst offenbart. Vielleicht der „Gott“, den der Mensch – so meint Glanert – in aller Erforschung des Jenseitigen und des Weltraums sucht?

Der Inszenierung Kinmonths fehlen bei aller szenischen Sorgfalt, bei aller Intensität, mit der er die Personen führt und charakterisiert, der Aspekt der Fremdheit und das Element der Überraschung. Die „Gäste“ schleichen sich unspektakulär ein, ohne dass ihre verstörende Präsenz spürbar wird. Der Chor, der den Ozean repräsentiert, agiert sichtbar in Alltagskleidern auf der wasserbedeckten Bühne, bewegt sich in fließenden, ritualartigen Choreografien: das Fremde bleibt gleichwohl unausgedeutet. Den Reiz des Geheimnisvollen, Uneindeutigen will Kinmonth allein mit der Interaktion der Personen gewinnen. Doch die Verweigerung der Metaphysik führt ins Alltägliche, Lems Kritik an einem platten Empirismus bleibt stumpf.

Vordringen in die Tiefenschichten der Partitur

Umso faszinierender dringt Lothar Zagrosek in die Tiefenschichten von Glanerts Partitur vor. Mit dem erfahrenen Dirigenten am Pult vollbringt das Gürzenich-Orchester Wunder klanglicher Differenzierungen. Optimal auf die akustischen Verhältnisse des Opernzelts am Dom eingerichtet, werden die atmosphärischen Qualitäten von Glanerts Musik ausgeschöpft: das Spiel mit minimalen klanglichen Verschiebungen wie bei Ligeti, der Mut zum expressiven gesanglichen Bogen wie in der zeitgenössischen amerikanischen Oper, aber auch die Schärfe der Kontraste wie bei Glanerts Lehrer Henze.

Die Disziplin der Musiker ist beispielhaft, die Klangentwicklung in jedem Moment beherrscht. Glanert bezieht sich auf musikalische Traditionen – etwa auf Wagners „Rheingold“ in dem emblematischen Viertonmotiv des Beginns und in seinen raunenden liegenden Akkorden –, verwendet vertraute Formen etwa in Final-Ensembles. Das wirkt in keinem Moment imitierend oder epigonal, sondern ist kreativ ins Heute transferiert.

Gesungen wird in Köln mit hohem Einsatz und ausgefeilter Charakterisierungskunst: Nikolay Borchev gestaltet einen Kris Kelvin zwischen Schock und Zärtlichkeit, Martin Koch gibt Snaut die Züge eines weisen Hysterikers, Bjarni Thor Kristinssons Bass versucht in klangüppiger Deklamation, die Reste seiner Wissenschaftler-Fassade zu sichern. Unter den „Gästen“ singt Qiulin Zhang mit strömendem Alt eine fast zu schöne, dann aber auch abgründig düstere Baboon – ein rätselhaftes Wesen, halb Frau, halb Äffin. Der Mutter Snauts, mit der er offenbar ein inzestuös fäkalophiles Verhältnis pflegte, gibt Dalia Schaechter schneidend-schmeichelnde Kommandotöne. Hanna Herfurtner fegt mit obszönen Sätzen als „Zwerg“ über die Szene – das Gespenst, das Sartorius peinigt. Und die tragende Rolle der Harey wird von Aoife Miskelly sehr zart, glaubwürdig und sensibel gestaltet – auch wenn das kopfige Stimmchen schon beim Orchester-Mezzoforte keine Chance mehr hat.

Szene aus Hasses "Leucippo" mit Regina Richter als Dafne und Valer Sabadus als Leucippo. Foto: Paul Leclaire

Szene aus Hasses „Leucippo“ mit Regina Richter als Dafne und Valer Sabadus als Leucippo. Foto: Paul Leclaire

Glanerts Oper bietet noch einiges an Deutungspotenzial; die Vorfreude auf die Berliner Produktion – und vielleicht weitere an anderen Häusern – konnte die beachtliche Kölner Inszenierung auf jeden Fall fördern.

Bei Hasses „Leucippo“ bleibt der Wunsch nach einem Wiedersehen auf der Bühne verhaltener. Auch wenn Tatjana Gürbaca den Mythos aus dem Arkadien des Daphne-Apoll-Mythenzyklus intelligent als eine Geschichte unter der Gegenwart nahe gerückten Teenagern erzählt, auch wenn die Zerstörung einer kindlich ungebrochenen Welt durch das verstörende Aufbrechen sexuellen Begehrens kein Thema von Gestern ist, auch wenn Gianluca Capuano mit den feurigen Musikern des Concerto Köln die prächtige, manchmal aber auch einförmige Musik Hasses aufregend zum Klingen bringt: Rettung verheißt dem langatmigen Stück auch dieser ambitionierte Versuch nicht. Immerhin: Mit Valer Sabadus als Leucippo stand einer der Counter-Stars der Gegenwart auf der Bühne; von Clara Ek als Climene war kluge, technisch versierte Stilistik zu hören. Und die Momente, in denen aufblitzt, was Hasses Musik auch heute noch wertvoll macht, waren den Besuch im Palladium allemal wert.




Für die Ruhmeshalle der Opernregie: Hilsdorfs überwältigender „Eugen Onegin“ in Köln

Es war einer jener Opernabende, die – wie es Zerbinetta in Strauß‘ „Ariadne auf Naxos“ sagt – hingegeben stumm machen. Bei dem man den Eindruck hat, noch so gewählte Worten blieben schmerzhaft ungenügend hinter der Tiefe des Erlebten zurück. Bei dem jede Beschreibung vergeblich ist, die versucht, dem unmittelbaren Eindruck einen Begriff zu geben. Bei dem es dem Rezensenten schwer fällt, die professionelle Distanz zu wahren.

Geschafft hat das kein „neuer Gott“, sondern ein erfahrener Regisseur, in Einklang mit einem wunderbaren Team: Dietrich Hilsdorf hat in Köln im Zeltbau am Hauptbahnhof einen „Eugen Onegin“ erarbeitet, der es zumindest auf einen Spitzenplatz bei den diversen Umfragen zur besten Inszenierung der Saison schaffen müsste.

Olesya Golovneva (Tatjana) und Andrei Bondarenko (Onegin) in der Kölner Inszenierung von Tschaikowskys "Lyrischen Szenen". Foto: Paul Leclaire/Oper Köln

Olesya Golovneva (Tatjana) und Andrei Bondarenko (Onegin) in der Kölner Inszenierung von Tschaikowskys „Lyrischen Szenen“. Foto: Paul Leclaire/Oper Köln

Das schier unglaubliche Maß des Gelingens ist zuallererst dem Menschenbeobachter Hilsdorf zu verdanken. Tschaikowskys „Lyrische Szenen“ eignen sich ja nicht für den Aktionismus, mit dem andere Regieführer sie aufzupeppen suchen. Aus dem Zusammentreffen eines in das fiktive Leben und Lieben seiner Romane versponnenen Mädchens mit einem jungen Mann, der schon (zu) viel erlebt haben dürfte, sind kaum szenischen Funken zu schlagen. Es sei denn, man heißt Dietrich Hilsdorf und hat einen ausnehmend scharfen Blick für die menschliche Psyche.

Die anderen Ursachen für das Kölner Opernwunder heißen Marc Piollet und das Gürzenich-Orchester. Sie treiben die Verfeinerung der ohnehin in ausgesuchtem Raffinement schwelgenden Partitur auf die Spitze. Das liegt nicht nur an der stets lockeren, gelassenen Phrasierung, der sanften Brechung der Orchesterfarben, der dynamischen Delikatesse. Piollet versteht es, die milde Wehmut und den zitternden Enthusiasmus in noblen Klang zu kleiden; das Orchester ist in den neblig-depressiven Momenten des zweiten Akts ebenso sensibel bei der Sache wie in der auffahrenden Aggressivität der Polonaise oder der nervösen Rastlosigkeit des Finales. Und der intensiven Glut der emotional hochfahrenden Musik Tschaikowskys, die ja nicht nur lyrische Verinnerlichung kennt, folgt Piollet nicht mit vordergründiger Brillanz oder saftigem Ausspielen, sondern mit einem gebändigten, untergründigen Drängen.

Was „macht“ Hilsdorf mit den „lyrischen Szenen“, dass sie so eindringlich wahrhaft wirken? Dass die Kunstfiguren der Oper an die tragischen Charaktere aus einem Tschechow- oder Gorki-Drama erinnern? Die Antwort: Eigentlich nichts. Er beobachtet nur genau, was in ihnen vorgeht, und weiß mit sicherer Hand seine Darsteller zu animieren, jeden Moment auf der Bühne zu leben. Dieser „Eugen Onegin“ ist ein Abend subtiler Interaktion, erschlossen mit minimalen Gesten, mit sprechender Mimik, mit genau austarierten szenischen Reaktionen auf die Musik. Hilsdorf ist einer der Regisseure, die auf die Musik achten – auch wenn er aus dem Schauspiel kommt, hat er selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie den Blick auf die Musik vergessen.

Präzise szenische Darstellung innerer Zustände

Wie präzis Hilsdorf innere Zustände szenisch zu repräsentieren versteht, erweist zum Beispiel die entscheidende Begegnung zwischen Tatjana und Onegin: Wie den jungen Andrei Bondarenko bei der Lektüre des Briefes der Überschwang des Bekenntnisses nervt, wie er um pubertäre Gefühlslagen wissend grausam gerecht urteilt, mit einer Mischung von wissender Anteilnahme und der eisigen Klugheit seiner abgebrühten Erfahrungen. Auch Onegin ist ein mehrdimensionaler Charakter – und Bondarenko macht das im Spiel und im Tonfall seines schlanken, gestaltungswilligen Baritons deutlich.

Ein Buch der Gefühle ist das Antlitz Tatjanas: Olesya Golovneva, die in Köln in so einigen großen Rollen brillierte, lebt diese Rolle geradezu: Wie sich vorausschauender Schmerz mit vager Hoffnung paart, wie sie die Tränen zurückhält, unter den Worten Onegins immer mehr die Fassung verliert, wie sie die Fäuste im Schoß ballt und die stumme Bitte formuliert, es möge vielleicht doch glücklich ausgehen – alles das ist große Menschendarstellung. Und durch den manchmal etwas schwer schwingenden, aber tadellos geführten und zum enthusiastischen Aufschwingen ebenso wie zu lyrischer Verinnerlichung und traumatischer Blässe fähigen Sopran Golovnevas erfüllt sich die szenische Intensität auch musikalisch aufs Wahrhaftigste.

Hilsdorf verliert mit der Konzentration auf Schlüsselszenen nicht den Blick auf die Figuren, die scheinbar am Rand stehen, tatsächlich aber dem Drama unersetzlich Akzente mitgeben: Da ist Dalia Schaechter als Larina, eine ernüchterte Frau, pragmatisch, durch das Schicksal hart geworden. Tatjanas Bücherverliebtheit akzeptiert sie nur mühevoll und mit einer Spur scharfen Hohns. Eine Frau, die dem Chaos der Welt ein beherrschtes System gesellschaftlich kontrollierten Verhaltens entgegensetzt, das durch Onegins und Lenskis Ausbruch zusammenbricht. So geht es auch ihr: Teilnahmslos sitzt sie zuletzt im Rollstuhl, vom Schlaganfall gelähmt.

Raum und Licht stützen Hilsdorfs Menschenstudien

Schaechter, eine großartige Darstellerin, bringt mit Anna Maria Dur als Filipjewna das Quartett mit Tatjana und Olga in der ersten Szene musikalisch so wunderbar auf den Punkt, wie man es selten zu hören bekommt. Der „Njanja“, ebenfalls vom Leben gezeichnet, gibt Dur mütterlich-verständnisvolle Züge, ausgedrückt in kleinen Gesten und Zwischentönen. Adriana Bastidas Gamboa ist die attraktive Olga, die sich eigentlich nur langweilt, während Lenski seine Liebesschwüre vorträgt, als würde er eine Lesung seiner eigenen Gedichte veranstalten. Sie steht auf der „realistischen“ Seite und wäre die geeignete Nachfolgerin der Hausherrin im System Larina. Dass sie sich – wie in der Vorlage Puschkins – schnell mit einem Soldaten tröstet, zeigt Hilsdorf in einem Streiflicht während der Polonaise des dritten Akts, die eher Züge einer Totenzugs als eines Festes trägt.

Die Schärfe der Analyse lässt nur in der Episode mit dem Fürsten Gremin nach. Das mag an Robert Holl liegen, der szenisch eher neutral einherschreitet, leider auch in den Höhen ins Schwimmen gerät und den Schmelz für die Legati nicht mitbringt. Auch Matthias Klink erfüllt die Rolle des Lenski nicht ganz glücklich. Bei aller darstellerischen Sensibilität, die sich mit musikalischem Verstehen eint, fehlt ihm der freie, gelöste Ton.

Alexander Fedin macht aus Monsieur Triquet eine bitter-komische Variante des Hoffmann’schen Kapellmeisters Kreisler: Er ist für ein bisschen Unterhaltung gut, aber verstehen wird ihn in dieser rustikalen Ballgesellschaft niemand. Dass er die letzte Strophe seines Couplets der geduldigen Filipjewna im allgemeinen Trubel unbeirrt vorträgt, trägt die Züge einer Groteske. Auch Stefan Kohnke als Hauptmann, Luke Stroker als Saretzkij und Rolf Schorn als Guillot machen aus ihren marginalen Figuren große, weil im Detail durchgestaltete Rollen. Nicht zu vergessen: Der Chor gibt – dank Andrew Ollivant – nicht nur musikalisch, sondern auch in seiner präzisen Bühnenaktion sein Bestes.

Dieter Richter hat für Hilsdorfs Menschenstudie eine im besten Sinne unspektakuläre Bühne gebaut: Einen Salon, wie man ihn in russischen Herrenhäusern heute noch finden kann, lichtvoll, dezent in Pastellfarben, mit zurückhaltender florealer Dekoration. Das elektrische Licht ist nachträglich eingebaut; die Leitungen führen in schwarzen Röhren zu altertümlichen Bakelit-Schaltern. Liebe zum Detail verbindet diesen Raum, der sich zur Halle erweitern lässt, mit Renate Schmitzers Kostümen, die sich stilistisch zwischen der Zeit Tschaikowskys und den fünfziger Jahren bedienen. Dass Raum und Licht (Andreas Grüter) die Inszenierung kongenial stützen, trägt dazu bei, für diesen Kölner „Eugen Onegin“ schon mal einen Platz in der Hall of Fame der Opernregie zu reservieren.