Neue Exklusiv-Künstlerin am Konzerthaus Dortmund: „Maestra Mirga“ mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra

Das City of Birmingham Symphony Orchestra, geleitet von Mirga Gražinytė-Tyla, im Dortmunder Konzerthaus. © Pascal Amos Rest

Das City of Birmingham Symphony Orchestra, geleitet von Mirga Gražinytė-Tyla, im Dortmunder Konzerthaus. © Pascal Amos Rest

Am Konzerthaus Dortmund ist eine neue Exklusivkünstlerin angetreten: Die aus Litauen stammende, erst 32jährige Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla begann diese drei Jahre währende Partnerschaft mit einem erfreulich ungewöhnlichen Programm.

Mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra und Chor stellte die seit 2016 amtierende Chefin des renommierten britischen Klangkörpers zwei Werke vor, die Leiden an dem Terror, der vor 80 Jahren Europa und wenig später die Welt überzog, mit den Mitteln der Kunst formulieren: Benjamin Brittens Sinfonia da Requiem op. 20 und Michael Tippetts „A child of our time“, beide in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs entstanden.

Mirga Gražinytė-Tyla. Foto: Ben Ealovega

Mirga Gražinytė-Tyla. Foto: Ben Ealovega

Obwohl ihr Name komplizierter zu schreiben als auszusprechen ist, wird Gražinytė-Tyla ein wenig anbiedernd als „Maestra Mirga“ vorgestellt und ein Nähe zum Publikum suggeriert, die sie – anders als ihr mit „Andris“ beworbene Vorgänger beim Birmingham Orchestra und jetzige Gewandhauskapellmeister Nelsons – in Dortmund mit Charme und in einwandfreiem Deutsch einlöst: In Michael Tippetts Oratorium sind fünf Spirituals eingearbeitet; bei zweien war das Publikum zum Mitsingen eingeladen und „Mirga“ dirigierte mit dem Rücken zum Orchester mit sichtlichem Vergnügen das durchaus animierte Publikum in „Steal away“ und „Deep river“.

Das war’s mit dem – in diesem Fall recht sympathischen – Populismus. Denn weder Brittens kurioserweise zum 2600. Jubiläum des japanischen Kaiserhauses in Auftrag gegebene Trauermusik noch Tippetts zwischen Zeitbezügen, Jung’schen Archetypen und christlicher Erlösungshoffnung changierendes Oratorium finden sich häufig auf Konzertprogrammen. Eine willkommene Begegnung mit zwei eher den Eingeweihten – wenigstens dem Namen nach – bekannten Werken.

Komponisten im Schatten Benjamin Brittens

In der direkten Konfrontation wird deutlich, warum Benjamin Britten allen anderen britischen Komponisten des 20. Jahrhunderts den Rang abläuft: Er schreibt die individuellere, ingeniösere Musik mit dem gewissen Etwas, das unschwer zu hören, aber unendlich schwer zu beschreiben ist. In seinem rein instrumentalen Requiem ist das an der Klangfarbendramaturgie der großen „Lacrymosa“-Steigerung zu erleben, an der emotionalen Wirkung des hartnäckig wiederholten, gedämpften Trompetensignals, an der überwältigenden Wirkung des Klangs des Saxophons, an den die Form abrundenden Paukenschlägen, die den schweren Gang eines Trauerkondukts vorgeben. Schließlich auch an den rhythmisch atemlosen Streichern, am Absterben jeder Melodik im „Dies irae“-Satz und an der leuchtenden Transparenz des kammermusikalisch verfeinerten „Requiem aeternam“-Epilogs. Mirga Gražinytė-Tyla und das Orchester verstehen sich glänzend, gestützt durch die nicht gerade sparsame, aber stets auf den Punkt zielende Zeichengebung der Litauerin. Nein, die Dirigenten-Show zieht die Maestra wirklich nicht ab.

Nun gibt es aber neben diesem komponierenden Jupiter noch andere Sterne am britischen Musikhimmel. Dass sie in seinem Glanz gefährdet sind, dass sie beim ersten Blick als blass erscheinen, ist ein ungnädiges, unverdientes Schicksal. Tippett teilt es mit Zeitgenossen wie William Walton, aber auch mit der Generation vor ihm, zu der etwa Arnold Bax mit seinen farbenschillernden Orchesterpoems oder der gerne als allzu distinguiert eingeschätzte Ralph Vaughan Williams gehören, dem wenigstens seine Fantasie auf ein Thema von Thomas Tallis und seine „Greensleeves“-Bearbeitung einen dauerhaften Platz im Repertoire sichern.

Spirituals statt Bachischer Choräle

„A child of our time“ ist nach einer Aufführungswelle in den neunziger Jahren heute wieder eine Rarität. Tippett stellt sich mit der dreiteiligen Form und mit der Funktion von Soli und Chören bewusst in die Oratorientradition von Bach und Händel, reizt die Tonalität aus, ohne sie in fernere Gefilde zu überreizen, bleibt im Chorklang dem treu, was etwa ein Edward Elgar vorgeformt hatte. Die „Turba“-Chöre Bachs sind vernehmbar, nicht aber dessen Choräle: Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Form gemeindlichen Bekenntnisses stieß Tippett – wie er selbst berichtet – durch Zufall im Rundfunk auf ein Spiritual und entschied sich, die afro-amerikanische Form religiöser Musik, eine Musik ausgebeuteter und geschundener Sklaven, in sein Oratorium einzubauen.

Tippett behandelt die traditionellen Melodien dabei nicht wie folkloristische Einschübe. Er verknüpft sie höchst kunstvoll mit seiner originären Musik, gibt ihnen eine je eigene Farbe: „Steal away“ als breit angelegten Chorsatz mit Solisten, „Nobody knows the trouble I see“ beschleunigt und rhythmisch geschärft, „Go down, Moses“ mit großbogigem Pathos, „Oh, by and by“ in der Form des „call and response“ in schwarzen Gemeinden mit der idiomatisch versierten Sopranistin Talise Trevigne, und als kompositorisch ausgefeilten Finalchor dann „Deep river“ – ein Gesang der Hoffnung, ein Hinweis auf das „gelobte Land“ jenseits des Jordans.

Reizvoll zu beobachten, wie sich bei Tippett musikalische Gestaltungselemente finden, die uns ein paar Jahre später etwa auch in Brittens „Peter Grimes“ wieder begegnen, etwa das feine Flirren der Geigen, wenn Joshua Stewart mit kraftvollem, sensibel abfärbendem Tenor von seinen an der grauenvollen Wirklichkeit zerbrochenen Träumen singt. Oder der ostinate Paukenrhythmus zum weit gespannten Quartett der Solisten, zu denen noch Felicity Palmer mit vibratoreichem, gesättigtem Alt und Brindley Sherratt mit klar fokussiertem Bass gehören.

Sympathie für Menschen auf der dunklen Seite des Lebens

"A child of our time" liegt in einer Aufnahme des City of Birmingham Orchestras vor, dirigiert vom Komponisten selbst. Naxos 8557570. Cover: Naxos Records

„A child of our time“ liegt in einer Aufnahme des City of Birmingham Orchestras vor, dirigiert vom Komponisten selbst. Naxos 8557570. Cover: Naxos Records

Die Sympathien des politisch engagierten Komponisten gehörten den Menschen auf der dunklen Seite des Lebens, den Verfolgten, Ausgebeuteten, Chancenlosen. Ödön von Horváths Roman „Ein Kind unserer Zeit“ gibt dem Werk den Titel, die tödlichen Schüsse des 17jährigen Herschel Grynszpan auf einem deutschen Diplomaten in Paris – für die Nazis willkommener Anlass zu den Pogromen der „Reichskristallnacht“ – stoßen die Reflektion über die gesellschaftliche Repression an, die einen verzweifelten Jungen zum Mörder werden lassen: das „child of our time“.

Dass Tippett kein Doku-Oratorium schreibt, ist ein Vorteil: Die Thematik des Sündenbocks, die gewalttätigen Reaktionen der Masse, aber auch die christlichen Assoziationen öffnen das Stück für die Gegenwart. Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert mit flammendem Engagement, führt den Chor, der sich durch einen klaren Klang fern jeden „romantischen“ Murmelns auszeichnet, mit deutlichen, großen Bewegungen. Das Orchester, das 2005 unter Tippetts Leitung eine Einspielung aufnahm, demonstriert tadellose Qualität. Ein Einstand, der gespannt auf die nächsten Konzerte blicken lässt.

Mirga Gražinytė-Tyla und ihr Orchester sind am 12. März 2020 wieder im Konzerthaus Dortmund zu Gast, dann mit Anton Bruckners Sechster Symphonie und dem Dritten Klavierkonzert Béla Bartóks, gespielt von Piotr Anderszewski. Am 29. November 2019 präsentiert sich die Dirigentin als Sängerin, wenn sie (begleitet von Violine, Flöte und der orientalischen Laute Oud) Vertonungen ägyptischer Lyrik zum Thema Liebe vorträgt.

Infos und Tickets: (0231) 22 696 200, www.konzerthaus-dortmund.de/maestra-mirga




Rudelrennen in Babylon: Händels Oratorium „Belsazar“ im Gelsenkirchener Musiktheater

Gewogen und für zu leicht befunden: Die Tage der Herrschaft von König Belsazar (Attilio Glaser) sind gezählt (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Gewogen und für zu leicht befunden: Die Tage der Herrschaft von König Belsazar (Attilio Glaser) sind gezählt (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

„Jehova, dir künd’ ich auf ewig Hohn! Ich bin der König von Babylon!“ So ruft Belsazar in der gleichnamigen Ballade von Heinrich Heine, den Gott der Juden frech herausfordernd. Das biblische Gleichnis von der menschlichen Vermessenheit, dem Buch des Propheten Daniel entnommen, inspirierte im Jahr 1744 auch den Komponisten Georg Friedrich Händel. Er schuf mit „Belsazar“ eines seiner großen englischsprachigen Oratorien, jener zu Unterhaltungszwecken komponierten „Sacred Dramas“, die er in seinen Londoner Jahren schrieb.

Verschiedentlich hat die opernhafte Form und Dramatik von „Belsazar“ zu szenischen Umsetzungen geführt. Den jüngsten Versuch einer solchen hat jetzt die Regisseurin Sonja Trebes unternommen, die Gelsenkirchens Musiktheater damit die erste größere Barock-Produktion seit gut einem Dutzend Jahren bringt. An der Hanns Eisler Hochschule in Berlin ausgebildet und dem Staatstheater Kassel verbunden, schickt Trebes sich bei ihrem Gelsenkirchener Debüt an, „Belsazar“ als Parabel über die Vergänglichkeit von Macht zu deuten.

Doch obgleich sich der düstere Turm zu Babel beständig dreht, den Bühnenbildnerin Hyun Chu auf die Bühne gewuchtet hat, fällt es der Regie nicht leicht, ein lebendiges Spiel aus der starren Form des Oratoriums zu entwickeln. Ihr Bemühen führt zu manchem Rudelrennen der Chöre, zu manch kollektiver Tanzeinlage und diversen Aktionismen, aus denen sich jedoch kein wahrer Schwung gewinnen lässt. Bis Belsazar über seine Selbstherrlichkeit fällt und der Perserkönig Cyrus die Herrschaft übernimmt, bleibt der Abend eine recht zähe Angelegenheit.

Die aufwändigen Kostüme von Reneé Listerdal lassen trotz Fantasy-Anmutung die Konflikte unserer Tage anklingen. Die Babylonier tragen Munitionsgürtel um die Brust, Belsazar baumeln Handgranaten am Gürtel. Die roten Stirnlampen am Helm der in Goldrüstungen steckenden Perser wecken freilich auch andere Assoziationen: Biegt gleich womöglich die alte Dampflok „Rusty“ aus dem Bochumer Starlight-Express um die Ecke? Oder stimmt doch noch jemand das Steigerlied an? Wenn die Perser ihre Stirnlampen im Dunkeln für Morsezeichen nutzen, möchte mancher sich vielleicht auch ganz gerne vor den Kopf schlagen.

Königin Nitocris (Alfia Kamalova, l.) und der Perserkönig Cyrus (Anke Sieloff. Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Königin Nitocris (Alfia Kamalova, l.) und der Perserkönig Cyrus (Anke Sieloff. Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Von den Unbeholfenheiten der Szene unberührt, sind die musikalischen Leistungen achtbar. Unter der Leitung des kundigen Spezialisten Christoph Spering entfaltet Händels Musik ihre eleganten Phrasierungen und schimmernden Spinett-Klänge. Die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen folgen seinem Dirigat willig, halten sich zugunsten der Sänger zurück, erreichen in den finalen Chorszenen aber auch imperialen Glanz samt Pauken und Trompeten.

Unter den Solisten ragt vor allem Alfia Kamalova heraus, die Belsazars Mutter Nitocris einen leuchtenden, biegsamen Sopran verleiht. Als Gast gibt Attilio Glaser der Titelfigur einen hellen Tenor mit störrischen Untertönen. Anke Sieloff (Cyrus), die bald  ihr 20-jähriges Bühnenjubliäum feiert, und Almuth Herbst (Daniel) sind den beiden verlässliche Partner.

Den größten Beifall ernten jedoch Opern- und Extrachor des Theaters (Einstudierung: Christian Jeub), die das Volk der Juden, Perser und Babylonier verkörpern müssen. Das bedeutet viele rasche Kostümwechsel, durch die sich die Sängerinnen und Sänger freilich nicht aus der Spur bringen lassen. Sie sind die tragende Säule der Produktion, die erst beim finalen Machtwechsel schmerzlich klar macht, wie willkürlich es um alle Macht bestellt ist. Ob König oder Gott: Welchem „Herrn“ das Volk huldigt, hängt am Ende allein von der Frage ab, wer gerade das Sagen hat.

Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Belsazar/

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Festspiel-Passagen II: Bachfest Leipzig lässt das Leben Jesu in Musik erfahren

Festivals schmücken sich gerne mit einem Motto. Es soll inhaltliche Reflexion signalisieren, aber die Programme lösen den Anspruch oft nicht ein. Solchen Etikettenschwindel hatte das Bachfest Leipzig nicht im Sinn: „Vita Christi“ zog sich als inhaltliches Leitmotiv durch die 115 Veranstaltungen, prägte explizit die großen Oratorienkonzerte, gab einem Zyklus von sechzehn Kantaten inhaltlich ein Gerüst. Die Fülle der Konzerte litt nicht an einem übergestülpten dramaturgischen Konzept, driftete aber auch nicht in reine Beliebigkeit ab.

Streng schaut Carl Seffners Bach-Denkmal über die Besucher der Thomaskirche hinweg. Beim Bachfest dreht sich (fast) alles um den Thomaskantor. Foto: Häußner

Streng schaut Carl Seffners Bach-Denkmal über die Besucher der Thomaskirche hinweg. Beim Bachfest dreht sich (fast) alles um den Thomaskantor. Foto: Häußner

Schon die Eröffnung mit dem Thomanerchor unter Thomaskantor Georg Christoph Biller setzte mit dem ersten Teil von Händels „Messias“ in der Bearbeitung Wolfgang Amadeus Mozarts ein Zeichen: Es geht um biblische Lebensstationen Jesu – und mehr noch um die theologisch-musikalische Reflexion, wie sie Händel in seinem Oratorium beispielhaft durchführt. Strikt dem protestantischen „sola scriptura“-Prinzip verpflichtet, zeigt uns der „Messias“ in der Auswahl der vertonten Bibelstellen, wie die Evangelien den Erlöser in einer Mischung von Selbstzeugnissen, Zeugenberichten aus den Gemeinden und Bezügen zu älteren Schriftstellen interpretierend erfahren und erkennen.

Friedrich Schleiermacher verstand den „Messias“ als „compendiöse Verkündung des gesamten Christentums“. Einen ähnlichen Stellenwert genießt er auch im Programm des Bachfestes: Der „Messias“ ist gleichsam das zusammenfassende Präludium, das Prinzip, unter dem die Aufführungen der zehn Tage gesehen werden sollen. Dass Thomasorganist Ulrich Böhme das Konzert mit „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (BWV 140) adventlich einleitet, macht ebenfalls Sinn: Zur Begegnung mit dem in unsere Welt kommenden Jesus bereit zu sein, ist eine Haltung, die für den Christen zu den Grundkonstanten seines Lebens gehört.

So ist es – auch wenn sich Festbesucher und sogar Pressekommentare mokierten – nicht unpassend, das Weihnachtsoratorium in den Programmverlauf einzubauen: Was Trevor Pinnock, der Tenebrae Choir und das Gewandhausorchester auf gerühmtem Niveau präsentierten, ist ja keine weihnachtliche Erbauungsmusik, zu der sie erst im bürgerlichen Konzertbetrieb des 19. Jahrhunderts degenerierte. Sondern es ist die musikalische Verkündigung eines Ereignisses, dessen existenzielle Bedeutung mit einer jahreszeitlichen Verortung nichts zu tun hat.

Dass das Minguet-Quartett kurz vorher in der Michaeliskirche Joseph Haydns bewegende „Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze“ spielte, hat seinen tiefen Sinn: Auch Bach hat in seinen sechs Kantaten zur Weihnachtszeit nicht nur formal auf die Passionen Bezug genommen, sondern den heilsgeschichtlichen Zusammenhang von Geburt und Sterben Jesu in textlichen und musikalischen Verweisen deutlich gemacht.

Sorgfältige Abstimmung der Programme

Wie sorgfältig beim Bachfest die Programme mit dem Kontext der „Vita Christi“ abgestimmt waren, mag ein Beispiel verdeutlichen: Eine Motette in der Thomaskirche war unter das Thema „Lobgesang des greisen Simeon auf Christi Geburt“ gestellt. Eröffnet hat sie eine Bearbeitung von Franz Liszt, der „Chor der jüngeren Pilger“ aus Wagners „Tannhäuser“ für Orgel: Keine obligatorische Reverenz an den Sohn der Stadt Leipzig, dessen 200. Geburtstag heuer gefeiert wird, sondern ein inhaltlich motiviertes Präludium: Besingen die Pilger doch „der Gnade Wunder Heil“ und das Wunder, durch das sich der Herr „in nächtlich heil’ger Stund‘“ kundgetan habe.

Das Wunder der Menschwerdung des Messias, das der gottesfürchtige Simeon erkannt hat, ist dann Thema der bekannten Motette Felix Mendelssohn-Bartholdys: „Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren“ (op. 69,1). Auch Johann Sebastian Bach macht das „Nunc dimittis“ zum Thema in seiner Kantate zum Fest der Darstellung des Herrn von 1724, „Erfreute Zeit im Neuen Bunde“ (BWV 83): Der Bass zitiert den Lobpreis Simeons wörtlich im Psalmton.

Das Gebet der Elisabeth aus dem „Tannhäuser“ schlägt wieder den Bogen zu Richard Wagner, während drei Sätze des estnischen Komponisten Cyrillus Kreek auf Worte aus den Psalmen 84 und 104 und die Vertonung von „Freu‘ Dich sehr, o meine Seele“, die geistliche Intention aufgreifen und vertiefen: die Sehnsucht nach einem Leben in der Gegenwart Gottes, die auch Elisabeth anspricht, wenn sie bittet, von dieser Erde in „dein selig Reich“ genommen zu werden.

Bachfest 2013: John Eliot Gardiner dirigierte Bachs "Johannes-Passion" in der Thomaskirche. Foto: Gert Mothes

Bachfest 2013: John Eliot Gardiner dirigierte Bachs „Johannes-Passion“ in der Thomaskirche. Foto: Gert Mothes

Dass sich der Lauf der „Vita Christi“ musikalisch mit Auferstehung und Himmelfahrt schließt, liegt auf der Hand. In zwei Chor- und Orchesterkonzerten in der Nikolaikirche erklangen „Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu“ von Carl Philipp Emanuel Bach und Oster- und Himmelfahrtsoratorium Johann Sebastian Bachs. Das Werk des Bach-Sohns war einst hoch geschätzt; Carl Philipp Emanuel selbst hielt seine drei Hamburger Oratorien für seine „am stärksten gearbeiteten Stücke“ und hoffte, sie würden ihm auch nach seinem Ableben noch Ehre bringen – eine Erwartung, die sich nicht erfüllt hat.

Warum dem so ist, lässt sich heute nur noch historisch nachvollziehen, denn musikalisch hat der Hamburger Bach nicht wenig zu bieten: ein festlich besetztes Orchester, drei strahlende Triumph-Chöre, dankbare Arien, eine „moderne“ Harmonik im Geiste der Empfindsamkeit und eine gesteigerte melodische Expressivität.

Mag sein, dass der Text Karl Wilhelm Ramlers der Nachwelt zu beschreibend und zu wenig biblisch verortet erschien; mag sein, dass den orthodoxen Bachianern der Stil des Sohnes zu wenig streng vorkam: Dass die Hamburger Oratorien ein Nischendasein im Repertoire der großen Chöre führen, ist kaum mehr zu rechtfertigen. Vielleicht ändert der 300. Geburtstags Carl Philipp Emanuel Bachs 2014 etwas; der Bach-Sohn wird auch im Zentrum des Bachfestes des nächsten Jahres stehen.

Facetten historisch informierter Aufführungspraxis

In Leipzig wird der Besucher mit der Vielfalt der aktuell gültigen musikalischen Konzepte konfrontiert. Die letzten drei großen Chorkonzerte – das Fest schließt mit der h-Moll-Messe – zeigten in drei Facetten, wie heute „historisch informierte“ Aufführungspraxis verstanden wird. Bei Hermann Max, dem unglaublich rührigen Entdecker vieler unbekannter Oratorien-Schätze, klingt Carl Philipp Emanuel Bachs Musik farbenreich, kräftig akzentuiert und expressiv befeuert.

Aber sein Orchester „Das kleine Konzert“ spielt in den Streichern höhenbetont bis schrill und verzichtet allzu demonstrativ auf Vibrato: ein Klangbild, das die meisten Ensembles inzwischen wieder hinter sich gelassen haben – und das nicht nur aus ästhetischen Gründen. Ein natürlich anschwellender, in sich gerundeter Ton klingt eben reicher und differenzierter als die gezogen-gläsernen, eng schwingenden Töne, wie sie vor einigen Jahren als definitive Konsequenz aus der Quellenlage zur Interpretation im 18. Jahrhundert in Mode waren. Auch die Artikulation und die Sauberkeit schneller Tonketten ließen zu wünschen übrig. Glanzvoll bewältigten die Hörner und Trompeten ihre Aufgaben; auch die Holzbläser erweiterten den Reichtum der Orchesterfarben mit frischem und elegantem Spiel.

Hermann Max scheint auch Stimmen vorzuziehen, die sich in der feintönigen, aber blässlich-weißen Welt des historisch imaginierten 18. Jahrhunderts wohl fühlen. Im flexiblen, präzisen Chor der „Rheinischen Kantorei“ führt dieser Ansatz zu unschön gedrückten Sopran-Höhen, deren schneidende Intonation längst nicht mehr als aufregender neuer Akzent einer frischen Interpretation wahrgenommen werden, sondern als das, was sie eigentlich sind: technisch unvollkommen.

Georg Poplutz formuliert schon in seiner Arie in Johann Sebastian Bachs einleitender Kantate „Halt im Gedächtnis Jesum Christ“ (BWV 67) die Sehnsucht nach dem Erscheinen des Heils in den Stürmen der Gegenwart mit einem quäkigen, nicht durchsetzungsfähigen Tenor, wie sie exemplarisch für diese Form der Aufführungstradition steht. Matthias Viewegs Bass könnte bei freierer Emission seine abwägend geformten Töne mit reicherem Klang gestalten. Kopfig eingesperrt wirkt Veronika Winters Sopran; die enge Höhe hat keinen Glanz und vermittelt im schnellen Teil ihrer Arie („Heil mir! Du steigst vom Grab herauf“) nichts von der beabsichtigten glühenden Ergriffenheit.

Sir John Eliot Gardiner. Foto: Gert Mothes

Sir John Eliot Gardiner. Foto: Gert Mothes

Von dieser Praxis verabschiedet hat sich John Eliot Gardiner, der mit Monteverdi Choir und English Baroque Soloists ein bejubeltes Konzert in der Nikolaikirche gab: Oster- und Himmelfahrts-Oratorium Johann Sebastian Bachs sind längst nicht so bekannt wie seine Passionen. Das mag an ihrer Form liegen, an der Verwendung älterer, zu weltlichen Anlässen komponierter Musik oder an der undramatischen Anlage, die eher Glaubensgeheimissen nachsinnt als eine Geschichte reflektierend erzählt.

Gardiners Ensembles artikulieren rhythmisch bewusst, pointiert und schwungvoll, meiden aber flach-glasige Adagio-Töne ebenso wie ruppig-überspitzte Attacken. Auch der Chor klingt lebendig und frisch, betont die festlich-triumphierende Haltung dieser von Freude und Heilsoptimismus durchzogenen Musik, in die sich nur ein Hauch von Sehnsucht nach dem baldigen Wiederkommen des in den Himmel aufgefahrenen Herrn mischt. Für diese süßen Schmerzen bringt Meg Bragle einen angenehm timbrierten, beweglichen Mezzo mit; Hannah Morrisons strahlende Sopranhöhen werden allerdings immer wieder zu spitz. Nicholas Mulroy (Tenor) und Peter Harvey (Bass) formulieren ohne Schwere, geben dem Wort den Vorzug vor dem Klang.

Mit dem Freiburger Barockorchester und seinem Thomanerchor gelingt Georg Christoph Biller am Ende des Bachfestes eine eindrucksvolle h-Moll-Messe als „Essenz der Vita Christi“. Ein sinnvoller Schlusspunkt, will doch die Messliturgie den gläubigen Mitfeiernden – unter anderem – in den Nachvollzug des Lebens Jesu rituell einbinden und ihm ihre existenzielle Bedeutung erschließen. Rhythmisch sicher, in den Details präzis, im Klang frisch und abgerundet singen die Thomaner, Christoph Biller hält anfangs das Metrum ein wenig zu streng fest, lässt dann im „Credo“ mehr Freiheit, modelliert dramatische Momente heraus – etwa die Melancholie des „Crucifixus“ gegen den eruptiven Glanz der Auferstehungsbotschaft. Der Thomaskantor findet einen passenden Mittelweg zwischen den Extremen eines historischen Rigorismus und einer geschichtsvergessenen Selbstgenügsamkeit und bestätigt damit eindrucksvoll, dass die Jahrhunderte alte Leipziger Tradition bis heute künstlerisch fruchtbar geblieben ist.




Wachstum möglich: Dortmunder „Klangvokal“-Fest erstmals auf sicherem Grund

Die israelische Sängerin Yasmin Levy zählt zu den "Klangvokal"-Gästen in Dortmund. Foto: Klangvokal

Wer die Pressemappe aufschlägt, sieht ein Tütchen „Gelbe Riesen“ vor sich. Sonnenblumen-Saatgut ist drin, wohl als sinnfälliges Symbol für Wachstum, letzthin fürs strahlend-duftige Sommergefühl. Ganz so wie das Bild auf dem Flyer des Dortmunder „Klangvokal“-Festivals. Blauer Himmel, ein gelbes Blütenmeer, eine Dame in Weiß: Das Programmheftchen, das den musikalischen Veranstaltungsreigen für 2012 unter dem Titel „Begegnungen“ auflistet, mag also für Optimismus im Dienste der Kunst stehen.

Dazu besteht derweil wieder Anlass. „Klangvokal“, die Verbeugung vor dem Facettenreichtum der menschlichen Stimme in Oper, Oratorium, Weltmusik und Jazz, prägt seit 2009 das Kulturleben der westfälischen Metropole. Anfangs war das Festival finanziell einigermaßen üppig ausgestattet, doch setzte die Stadt sehr schnell die Sparschraube an. Am Ende des Kulturhauptstadtjahrs (2010) war nicht sicher, ob das Festival weiter existieren kann. Quasi in letzter Minute schuf der Rat eine tragfähige Finanzgrundlage.

Nun aber haben sich die Politiker dazu entschlossen, den städtischen Zuschuss für 2012 bis 2014 zu garantieren. Das sind in diesem Jahr 330 000 Euro, in den nächsten beiden Jahren indes jeweils 10 Prozent weniger. Und dennoch: „Klangvokal“-Intendant Torsten Mosgraber ist froh, endlich Planungssicherheit zu haben. „Viele berühmte Künstler kann man nur weit im Voraus verpflichten“, weiß er um die Bedingungen des internationalen Konzertlebens.

Zum städtischen Zuschuss kommen weitere Mittel, die der Freundeskreis gibt, lokale Sponsoren beisteuern und die sich inclusive des Kartenverkaufs-Erlöses auf 270 000 Euro summieren sollen. Mosgraber sieht auch hier optimistisch nach vorn: Der Zuschauer-Zuspruch habe sich inzwischen bei gut 70 000 eingependelt. Auf jeden Fall können die Besucher in diesem Jahr (vom 16. Mai bis zum 3. Juni) 26 Konzerte an elf Spielstätten genießen. Mit im Boot sind etwa der Jazzclub Domicil, Theater und Konzerthaus Dortmund sowie diverse Kirchen.

Die hohe Publikumszahl erklärt sich vor allem daraus, dass der Kern des Festivals das (nunmehr vierte) Fest der Chöre ist. Dann ist jeder eingeladen, die Dortmunder Innenstadt singend zu beleben. Hinzu kommt in diesem Jahr der 6. Internationale Gospelkirchentag, mit einer gewissermaßen aufgefächerten Großveranstaltung auf 35 verschiedenen Podien. Und das Galakonzert mit der a-cappella-Formation „Wise Guys“ in der großen Westfalenhalle dürfte ebenfalls Zulauf finden.

Den Reiz des Festivals machen aber jenseits allen Gesangsspektakels außergewöhnliche Weltmusik- oder Jazzabende aus. Und eben jene Begegnungen, die in ihren Kontrasten für Spannung sorgen sollen. Etwa das Eröffnungskonzert, in dem Händels „Israel in Ägypten“ auf Musik des vorderen Orients trifft – mit dem Barockensemble „L’arte del mondo“ und irakisch-jüdischen Musikern.

Für den Jazz mögen hier der Amerikaner Kurt Elling und die Dänin Caroline Henderson stehen, für die Weltmusik die Sängerin Angelique Kidjo aus Benin oder der südafrikanische a-cappella-Chor „Ladysmith Black Mambazo“. Das Abschlusskonzert wiederum mit Vivaldis Oper „Juditha Triumphans“ gestalten neben dem Sinfonischen Chor der Chorakademie Dortmund die Accademia Bizantinia unter Leitung von Ottavio Dantone. Die Titelrolle singt die berühmte amerikanische Mezzosopranistin Vivica Genaux.

„Klangvokal“, inzwischen offenbar von Politik und Verwaltung anerkannt als wichtiger Beitrag zur oft propagierten Musikstadt Dortmund, hat also alle Chancen auf Fortbestehen. Daraus muss ja nicht gleich ein Riese erwachsen.

Karten gibt unter Tel.: 01805/570005

http://www.klangvokal-dortmund.de




Fußball im edlen Frack – Experiment der RuhrTriennale: Oratorium „Die Tiefe des Raumes“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Wer wollte bestreiten, dass der Fußball rituelle und mythische, ja quasi religiöse und liturgische Anteile hat? Da liegt es vielleicht doch nahe, diesem phänomenalen Sport ein ehrwürdiges Oratorium zu widmen. Die RuhrTriennale probiert’s mit der in Bochum uraufgeführten Kreation „Die Tiefe des Raumes“.

Wenn hier die Mannschaftsaufstellung verkündet wird, klingt es fast, als riefen Posaunen zum Jüngsten Gericht. Der mit blauweißen bzw. schwarzgelben Schals angetretene, zuweilen ausgelassen tobende TriennaleChor (48 Damen und Herren verkörpern 60 000 Fans) antwortet auf die Vorgabe „Oliver“ mit Donnerhall: „Kaaaaahn“! Dazu lässt Dirigent Steven Sloane die sturmstarken Bochumer Symphoniker zu apokalyptischer Klangmacht anwachsen.

Das Spiel mit der komischen Fallhöhe

Es darf gefeixt werden. Derlei komische Fallhöhe zwischen Thema und Instrumentierung wird sich an diesem Abend häufig ergeben. Es ist ja ein Heidenspaß. Doch irgendwann fragt man sich, ob dem Fußball dieser edle Frack überhaupt passt. Soll das Kicken nachhaltig nobilitiert werden? Oder lässt man sich gnädig-gönnerhaft dazu herab? Ist diese Schöpfung gar blasphemisch, weil sie eine religiös geprägte Form profan ausbeutet? Nun, so päpstlich sollte man nicht denken.

Erzählt wird die Geschichte eines 17-jährigen Spielertalents (Corby Welch, Tenor): Er schwankt zwischen „Tugend“ (Claudia Barainsky, Sopran) und „Laster“ (Ursula Hesse von den Steinen, Mezzosopran). Wird er nach ersten Erfolgen nur noch hinterhältig nach Geld und Weibern gieren, oder wird er dem wunderbar zweckfreien Spiel huldigen, wie es dem Menschen seit Anbeginn der Zeiten gemäß ist? Ein paar Lebensjahre hinzu gerechnet, denkt man dabei jetzt vor allem an Kölns Nationalstürmer Lukas Podolski. Er soll bei der Genese dieses Oratoriums gleichsam Pate gestanden haben: Tonsetzer und Textautor haben angeblich diskutiert, ob es sich bei ihm um eine „Erlöserfigur“ im biblischen Sinne handele…

Doch ein erzählerischer Kern schält sich nicht so klar heraus in dieser Aufführung, die fußballgerecht zweimal 45 Minuten plus 8 Minuten (!) Nachspielzeit dauert und mit dem legendären Resultat 3:2 endet. Es fehlt ein kräftiger roter Faden. Ohne Programmheft (mit komplettem Libretto-Text) haben Zuschauer bei dieser gestisch nur sparsam akzentuierten Nummernfolge kaum eine Chance. Die überfrachtete Story (Autor: Schalke-Fan Michael Klaus) verirrt sich auf ebenso viele Nebenwege wie die Musik (Komponist: Bayern-Anhänger Moritz Eggert).

Wenn die Abseitsregel gesungen wird

Der Text sammelt allerlei Vorfälle aus dem Umkreis eines Fußballspiels ein – bis hin zur gesungenen Erläuterung der Abseitsregel. Zudem wollen drei prominente Rezitatoren als Trainer, Radioreporter und Alt-Internationaler mitmischen: Doch Joachim Król, Christoph Bantzer und Peter Lohmever (Film „Das Wunder von Bern“) dringen mit ihren Sprechstimmen manchmal kaum durch.

Die Musik ist vollends eklektisch. Sie nimmt – mit imponierendem Kunstverstand – ihre Impulse von überall her und begreift alles als Spielmaterial, beileibe nicht nur Schlachtgesänge aus der Stadionkurve. Der hehre Duktus eines barocken Oratoriums (Gipfel ist eine „Hymne an den Ball“) wird in dieser Collage vielfach (post)modernistisch und ironisch gebrochen. Es gellen die Schiri-Pfeifen und Siegesfanfaren à la Verdi dazwischen, oder man wiegt sich auch schon mal in schlagerseligen Rhythmen undskandiert feinsinnige Weisheiten: „Nichts ist scheißer als Platz zwei.“

Meist steigert sich das Orchester aus lyrisch leisen Kapitel-Anfängen in ein anschwellendes Breitwand-Pathos, das freilich immer wieder in den tonalen Zusammensturz getrieben wird. Man ist schließlich avanciert.

Innenminister Otto Schily hat’s kürzlich bei der Vorstellung der WM-Kulturprojekte geahnt: „Die Tiefe des Raumes“ werde sich dem durchschnittlichen Fußballfan nicht leicht erschließen. Tatsächlich behält dieses interessante Experiment eine Zwittergestalt. Auf dem grünen Rasen geht’s drauf und dran. Auf kulturellem Spielfeld aber zählen Zwischentöne. Insofern ist es ein exemplarisches Projekt, das solche Distanzen spürbar werden lässt. Doch damit wird bestimmt keine neue Gattung begründet.

• Weitere Aufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle: 18. Sept. (20 Uhr). Karten  0700/2002 3456. www.ruhrtriennale.de