Gelächter statt Respekt: In Gelsenkirchen wird Rossinis „Otello“ zum Drama des Verfalls europäischer Ideale

Draußen vor der Tür: Otello (Khanyiso Gwenxane) hat keine Chance, zur Gesellschaft zu gehören. (Foto: Björn Hickmann)

Kinder können grausam sein: Sie tänzeln mit Baströckchen vor dem schwarzen Mann, zeigen mit Fingern auf ihn, strecken ihm eine Banane entgegen. Wir kennen solche rassistischen Beleidigungen unter anderem von Fußballplätzen.

Doch Empörung ist unter Umständen vorschnell und billig: Denn nicht nur raubeinige Sporthooligans, denen niemand die Segnungen der Intelligenz zusprechen möchte, sind unverblümte Rassisten. Die Abwertung von Menschen ist in „feinen“ Kreisen vielleicht nicht so drastisch spürbar, dafür aber umso subtiler. Manuel Schmitt, Regisseur der Gelsenkirchener Neuinszenierung des „Otello“, zeigt mit der umtriebigen Schar auf der Bühne auch keine Kinder, sondern eher kleine Gespenster: Was die Gesellschaft hinter einer Fassade von gutem Benehmen verbirgt, lassen die grauen Wesen in seiner ganzen Gemeinheit in die Realität einbrechen.

Ein gespenstischer Alptraum vor der „Festung Europa“. (Foto: Björn Hickmann)

Dabei sieht zunächst alles nach eitel Wonne aus: In einer eleganten Nachkriegsarchitektur wird ein Bankett vorbereitet, ein hierarchiefreier runder Tisch gedeckt. Einer der blütenweiß livrierten Bediensteten zertritt angewidert etwas am Boden – offenbar ein lästiges Insekt. Aber all diese harmlosen Schilderungen haben einen doppelten Boden: „In varietate concordia“ lässt Bühnenbildner Julius Theodor Semmelmann über dem Bauwerk prangen. Es ist das Motto der Europäischen Union. „In Vielfalt geeint“, ein hehres Ideal, zu schön, um bloß zynisch dekonstruiert zu werden. Aber wie weit es in der Realität trägt, will der Regisseur am Beispiel des „Mohren von Venedig“ im Lauf des Opernabends demonstrieren. Und er spendet, das sei jetzt schon gesagt, wenig Hoffnung.

Draußen vor der Tür

Gelsenkirchen hat Manuel Schmitt nach seinem erstklassigen Regiedebüt mit Georges Bizets „Die Perlenfischer“ 2018 erneut ein Werk aus dem Randbereich des Repertoires anvertraut: „Otello“ ist nicht die bekannte Oper Giuseppe Verdis, sondern ein Hauptwerk von Gioachino Rossini, 1816 uraufgeführt und im ganzen 19. Jahrhundert oft gespielt, bis es durch den Wandel des Zeitgeschmacks und das Fehlen koloraturerprobter Gesangssolisten – man braucht sechs Tenöre mit hoher Tessitura – von den Bühnen verschwand. Die Welle der Wiederentdeckung der ernsten Opern Rossinis hat auch dem „Otello“ eine Renaissance beschert, wenn diese auch an deutschen Theatern eher verhalten ausfällt.

Der Regisseur Manuel Schmitt. Foto: Werner Häußner

Der Regisseur Manuel Schmitt. (Foto: Werner Häußner)

Das zertretene Ungeziefer ist nur ein Hinweis, dass es mit der heilen Fassade nicht weit her ist. Als Otello auftritt, im eleganten Outfit von Carolas Volles an die noble Gesellschaft angepasst, wird die Kluft schnell deutlich: Er bleibt draußen vor der Tür, während drin eine privilegien- und machtbewusste Jeunesse dorée feiert. Jago gehört dazu, Rodrigo ebenso. Otello sagt es deutlich: „Ein Fremder bin ich“. Allzu bemüht erkennt die Gesellschaft seine Verdienste an, aber als es um „Respekt für den Helden“ geht, flammt Gelächter auf.

Schmitts Inszenierung hält in vielen bezeichnenden Details fest, wie sich auf der toleranten Fassade die Sprünge zeigen und der rassistische Kern durchscheint. Und welchen Stellenwert Desdemona, der Braut Otellos, zugeschrieben wird, zeigt er ebenso drastisch: Sie wird präsentiert als die Frau im Bett, observiert von einer Emilia, die wie eine alte englische Gouvernante wirkt. Dass hinter den kultivierten Konventionen Gewalt und Roheit lauern, wird am Ende des ersten Akts überdeutlich. Es stellt sich aber die Frage, ob sich ein Kriegsheld wirklich die körperlichen Übergriffe einer Bande entfesselter Luxusknaben gefallen lassen würde.

Europäische Werte – nur noch museal

Der Bau auf der Bühne mutiert zum Museum. Ein antiker Torso mag an die humanistische Tradition Europas erinnern, ein Gemälde wie Théodore Géricaults „Floß der Medusa“ aus dem gleichen Jahr wie der „Otello“ (1816) kann als Verweis auf die Bootsflüchtlinge von heute gelesen werden. Auch das Blau von Yves Klein – die riesigen Flächen im Foyer sind der Stolz des Musiktheaters im Revier – taucht auf. Aber die Kunst degeneriert zur Staffage und zum Objekt des Marktes. Otello tritt sie wütend und desillusioniert mit Füßen, während der schicke Bau von Stacheldrahtrollen umgeben wird: ein beklemmendes Bild für die „Festung Europa“.

Der südafrikanische Tenor Khanyiso Gwenxane als Otello und Rina Hirayama, bisher Mitglied des jungen Ensembles am MiR, als Desdemona. (Foto: Björn Hickmann)

Bei den Personen auf der Bühne meidet Schmitt eine allzu eindeutige moralische Kategorisierung und lässt damit Tragik und Fallhöhe zu: Rodrigo erweist sich als ein zwar berechnender, aber wirklich Liebender, Iago als der falsche Strippenzieher, dem Otello in seiner Verzweiflung vertraut. Über das Ende entscheiden die Zuschauer in einem scheinbar demokratischen Verfahren, das eine bloße Abstimmungs-Farce ist. Ohne zu wissen, wohin ihr Votum führt, wählen sie das tragische Ende mit dem Tod Desdemonas oder ein von Rossini für die römische Karnevalssaison 1820 nachkomponiertes, absurdes Happy End.

Herausfordernde stimmtechnische Hürden

Wie herausfordernd die Partien sind, die Rossini damals für die Sängerelite seiner Zeit schrieb, kann in Gelsenkirchen nicht verleugnet werden. Die drei Tenor-Hauptrollen sind respektabel besetzt, stellen sich mutig den technischen Hürden, bleiben aber bei der Galoppade der Koloraturen, Verzierungen, Höhensprünge, unangenehmen Registerwechsel und bei der kräftezehrenden Dramatik in schwindelnder Höhe immer wieder an den Sprungbalken hängen.

Khanyiso Gwenxane ist ein in seinem Auftritt zurückhaltender Otello, kultivierter als diejenigen, die ihn von oben herab betrachten. Sein Abstieg macht ihn ratlos, hilflos, zuletzt verzweifelt. Gwenxane legt die Emotionen in seine Stimme, die ihre Position erst finden muss und die mit ausgeprägtem Vibrato das Legato zerhackt. Das wird im Duett mit dem Rodrigo Benjamin Lees zum Problem, wenn die Stimmen nicht harmonieren. Lee singt eine beeindruckend gefasste Arie, aber seine Höhen sind abenteuerlich gebildet und neigen dazu, unsauber zu werden. Immer wieder drückt er auf die Leichtigkeit des Tons.

Adam Temple-Smith ist ein harter Iago mit scharf geschliffener Stimme ohne vokale Eleganz und ebenmäßige Tongebung. Dieser Iago ist nicht die Inkarnation des nihilistischen Bösen wie bei Arrigo Boito und Giuseppe Verdi – eine solche Figur hatte Rossini bereits ein Jahr vorher in seiner „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ geschaffen. Der aus Hass kalkulierende Intrigant, der Otello mit scheinbarer Freundschaft eine Falle stellt, ist dennoch als Charakter verkommen genug, um das Trio der Gegner Otellos zu komplettieren. Dazu gehört auch eine bei Verdi nicht vorkommende Figur: Elmiro, Vater Desdemonas. Er schmiedet einen hinterhältigen Plan, um die Heirat seiner Tochter mit Rodrigo zu erzwingen. Man hat dem verdienten Sänger Urban Malmberg keinen Gefallen getan, ihn mit dieser Rolle zu betrauen, denn er ist alles andere als ein Schönsänger. Mit Mühe stellt er sich den Noten Rossinis, gleitet auf öligem Vibrato von Ton zu Ton und liefert eine Karikatur von Belcanto.

Romantisch-expressive Tonsprache

Rina Hirayama hat als Desdemona ihre berührendsten Momente im dritten Akt, für den Rossini eine neue, romantisch-expressive Tonsprache entwickelt, die direkt von Giovanni Simone Mayr zu dessen Schüler Gaetano Donizetti führt. Hirayama singt das Gebet der Desdemona und „Assisa a pie‘ d’un salice“ – das „Lied von der Weide“ – schlicht und intensiv, wie den Gesang einer tragischen Heroine. Ihre Stärken zeigt sie jedoch ebenso im Gestalten der Rezitative, die Rossini mit viel Bedacht und genauer Anpassung an die dramatische Situation komponiert hat. Der Tenor Tobias Glagau gefällt im melancholischen Lied eines Gondoliere; Lina Hofmann (Emilia) und Camilo Delgado Díaz (Lucio) sind in den kurzen Momenten ihrer Nebenrollen präsent und konzentriert. Der Chor, einstudiert von Alexander Eberle, hat zu Beginn Mühe mit dem Tempo, in den großräumig gestalteten Finali packende vokale Prägnanz.

Die Neue Philharmonie Westfalen kann in den reich bedachten Bläsern – stellvertretend seien die geschmeidige Oboe in der Ouvertüre und das Solo-Horn im ersten Akt genannt – viel Sinn für Rossinis vielgestaltige Klang- und Rhythmus-Dramaturgie beweisen. Giuliano Betta am Pult fordert zugespitzte Tempi und eine nicht immer eingelöste federnd-impulsive Artikulation; Momente der Kontemplation bleiben aber hin und wieder zu zäh. Wechselhaft auch der Eindruck der Rezitative – mal feurig gelungen, mal zu flott-beiläufig formuliert. Dennoch: Rossinis Musik trägt den Sieg davon, trotz der vokalen Schwächen. In Verbindung mit der starken Regie Manuel Schmitts zeigt der Abend in Gelsenkirchen, wie wenig auf die alten Vorurteile Verlass ist: Dieser „Otello“ ist packendes, berührendes Musiktheater. Der „ernste“ Rossini ist es wert, endlich in seiner Vielfalt auf der Bühne zu erscheinen.

Vorstellungen am 05. und 26. Dezember 2021, am 9. und 16. Januar 2022. Info: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/otello




Rossini aus Konventionen befreit: An der Oper Frankfurt eröffnet ein fulminanter „Otello“ den Reigen der Premieren

Otello (Enea Scala) und Jago (Theo Lebow) in der Frankfurter Inszenierung von Gioachino Rossinis "Otello". Foto: Barbara Aumüller

Otello (Enea Scala) und Jago (Theo Lebow) in der Frankfurter Inszenierung von Gioachino Rossinis „Otello“. Foto: Barbara Aumüller

Und wieder einmal ist die Oper Frankfurt Vorreiterin: Mit der szenischen Realisation von drei kaum gespielten Werken Gioachino Rossinis durchbricht sie in der neuen Spielzeit 2019/20 die eintönige Kette immer wieder „neu befragter“ Aufführungen des „Barbier von Sevilla“ in deutschen Opernhäusern, befreit Rossini aus dem Dunstkreis verdienstvoller, aber begrenzt wirksamer Festivals und stellt ihn einem städtischen Theaterpublikum im Rahmen eines Repertoirebetriebs vor.

Endlich wird so auch der „ernste“ Rossini gewürdigt: Die Fachwelt ist sich längst einig, dass nicht die sicherlich genialen und öfter gespielten Opern wie „La Cenerentola“ oder „Der Türke in Italien“, sondern Rossinis Seria-Opern den bedeutenderen Platz in seinem Schaffen beanspruchen können.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

So hat die Ehre der ersten Premiere der Frankfurter Spielzeit Rossinis „Otello“. Die 1816 – im Jahr des „Barbiere“ – uraufgeführte Version von Shakespeares Drama, durch die Brille italienischer Bearbeitungen gesehen, war trotz der anspruchsvollen Besetzung mit fünf Tenören ein nachhaltiger Erfolg und wurde gespielt, bis ein gewandelter Geschmack und Giuseppe Verdis moderne Version von 1887 das Werk verdrängten. Das Problem der Besetzung ist letztlich auch das größte Hindernis auf dem Rückweg des „Otello“ auf die heutige Opernbühne. Nur große Theater schaffen es, drei erstklassige Belcanto-Tenöre und einen Koloraturmezzo vom Schlage der Uraufführungs-Sängerin Isabella Colbran zu gewinnen.

Ein anderes Problem ist das Sujet. Es bedarf schon eines entschiedenen und durchdachten Zugriffs, wie ihn jetzt Damiano Michieletto für diese Produktion, einer Kooperation mit dem Theater an der Wien und dort 2016 gezeigt, entwickelt hat. Dann aber wird das viel gescholtene Libretto von Francesco Maria Berio gerade wegen seiner Unzulänglichkeiten und seiner dramaturgisch offenen Stellen zur Vorlage für szenische und konzeptionelle Kreativität.

Ein venezianisches Familiendrama

Michieletto hat diese Chance genutzt und „Otello“ als ein Familiendrama konzipiert. Die geschlossene Gesellschaft zweier Clans, für die der venezianische Doge und der Vater Desdemonas, Elmiro Barberigo, stehen, das vergebliche Werben eines Fremden um Aufnahme in die hermetischen Kreise von Macht und Einfluss, der Mangel an Empathie und Liebe in den Beziehungen und das schlechthin Böse, für das mehr als Metapher denn als psychologisch fundierte Person Jago steht, hat Michieletto nach allen Regeln zeitgemäßer Regiekunst ausinszeniert und damit für einen reflektierten Abend gesorgt. Vom „albernen“ Umgang mit dem Thema, den noch ein Rossini-Kenner wie John Osborne bemängelte, war in diesen schlüssig gefügten drei Stunden nichts zu spüren – sicher auch ein Verdient der frisch wirkenden szenischen Einstudierung von Marcin Lakomicki.

Nino Machaidze als Desdemona. Foto: Barbara Aumüller

Nino Machaidze als Desdemona. Foto: Barbara Aumüller

Die Bühne von Paolo Fantin signalisiert mit üppigen Marmorwänden, einem Murano-Glaslüster und schweren Möbeln den Reichtum, aber auch die Kälte dieser gehobenen Gesellschaft und gibt den Sängern einen akustisch günstigen Entfaltungsraum. Denn auf die Sänger kommt es an: Sie sind in Rossinis musikalischer Konzeption am kreativen Entstehungsprozess der Komposition mit beteiligt. Ihnen obliegt es, durch Verzierungen und Variationen die Musik auf der Bühne zu aktualisieren. Zudem ist es für diese Form der Belcanto-Oper entscheidend, Traditionen der Gestaltung zu beherrschen, mit denen das gesungene Wort erst seine musikalische Vollendung findet.

Vieles davon, früher vergessen oder nicht beachtet, ist heute wiedergewonnen und wurde in Frankfurt vom Dirigenten Sesto Quatrini und einem im Ganzen hervorragenden Ensemble eingesetzt. Quatrini, Generalmusikdirektor im litauischen Vilnius, lässt den Sängern den erforderlichen Raum, koordiniert sie stilsicher mit dem Orchester und schäumt die Dramatik nie so auf, dass ihnen der Primat genommen oder der Stimmklang beeinträchtigt wird. Das Orchester besteht diese ungewohnte Bewährungsprobe glänzend – „Otello“ ist eine Frankfurter Erstaufführung und trotz einer ausgezeichneten „La gazza ladra“ vor einigen Jahren haben die Musiker bisher mit dem ernsten Rossini keine Erfahrung sammeln können.

Alle Farben des Klangprismas

Reynaldo Hahn beschrieb den für Rossini erforderlichen Gesangsstil einmal so: Der Belcantist müsse seine Stimme „endlos modulieren und sie durch alle Farben des Klangprismas filtern können“. Diese Forderung erfüllt am ehesten Jack Swanson als Rodrigo, der sein Paradestück im zweiten Akt („Ah, come mai non senti“) nach allen Regeln der Kunst ausziert, mit furiosen Spitzentönen aufwartet, aber auch die Momente lyrischen Innehaltens mit einwandfrei gebildetem Klang erfüllt.

Die Titelrolle fordert von dem seit einem guten Dutzend Jahren im Rossini-Fach tätigen Tenor Enea Scala einen ungewöhnlichen Stimmumfang, der bis in die Lage eines modernen hohen Baritons hinabreicht. Scala bewältigt die fiebrige, auch für Rossinis Otello nötige Dramatik mit ambitionierter Präsenz; seine Tiefe allerdings neigt zu ausgeprägtem Vibrato und vernachlässigt die Färbung mancher Vokale. Im Duett mit Theo Lebow als in niederträchtiger Blässe angelegten Jago allerdings zeigt sich Scala als intensiver Gestalter. In dieser ausgedehnten Szene wird deutlich, wie sehr es in Rossinis Drama auf die Sänger ankommt: Von Farbe und Klang der rezitativischen Rede sind Sinn und psychologische Wirkung der Worte abhängig; gestaltendes Singen wird zum Schlüssel des Verstehens.

Experimentelle Musik jener Zeit

Nino Machaidze kann als Desdemona in ihrem ersten Auftritt in einem Duett mit der jugendlich strahlend singende Emilia von Kelsey Lauritano das Profil einer realistisch beobachtenden Frau entwerfen, die zwischen Liebe und Angst ratlos nach einem Ausweg sucht, während ihr fremdenfeindlicher Vater Elmiro (Thomas Faulkner) längst beschlossen hat, seine Tochter dem Sohn des Dogen, Rodrigo, zur Frau zu geben, nicht ahnend, dass diese bereits heimlich mit Otello verheiratet ist. Der Höhepunkt ihrer Partie ist allerdings der dritte Akt, beginnend mit der schwermütigen, von der Harfe eingeleiteten Lied von der Weide („Assisa a’pie d’un salice“), ihrem Gebet und der tödlichen Konfrontation mit Otello – Szenen von romantischem Reiz, die etwa Giacomo Meyerbeer als „göttlich schön“, aber auch als „ganz und gar antirossinianisch“ bezeichnet hat.

Er hat Recht: Rossini schreibt in diesem dritten Akt eine für seine Zeit in ihrer Konsequenz experimentell moderne Musik, die er Jahre später in „Semiramide“ und schließlich in „Guillaume Tell“ perfektionieren sollte. Machaidze singt die Rossini-Desdemona mit nobler Brillanz und dem Selbstbewusstsein einer venezianischen Patriziertochter, bleibt aber mit unruhiger Tongebung, unscharfer Artikulation und einer fast unverständlichen Diktion der Partie die Präzision und Klarheit des Singens schuldig. Die Oper Frankfurt hat mit diesem „Otello“ die Trias der diesjährigen Rossini-Entdeckungen fulminant eröffnet.

Als nächste Premiere ist „La Gazzetta“ am 2. Februar 2020 im Bockenheimer Depot angekündigt, gefolgt von „Bianca e Falliero“ am 5. April im Opernhaus.




Rasendes Protokoll des Verfalls: Roland Schwab inszeniert Giuseppe Verdis „Otello“ am Aalto-Theater Essen

Das Prinzip des Bösen: Nikoloz Lagvilava als Jago in der Essener Neuinszenierung von Giuseppe Verdis "Otello" in Essen. Foto: Thilo Beu

Das Prinzip des Bösen: Nikoloz Lagvilava als Jago in der Essener Neuinszenierung von Giuseppe Verdis „Otello“ in Essen. Foto: Thilo Beu

Der Jubel über den Sieg ist falsch und schal. Mag sein, dass der hochmütige Muselmane zerschmettert am Grund des Meeres liegt. Aber der Mann, den die tarngrünen Truppen da hereinschleifen, ist alles andere als der kraftstrotzende Sieger. Er ist ein Gezeichneter: Otello, halbnackt, kaum fähig, sich auf den Beinen zu halten, schreit ein dünnes „Esultate“ heraus und wankt hinkend von der Bühne. Ein strahlender General sieht anders aus.

Und der andere, der Fähnrich, der so gerne Hauptmann geworden wäre, dem Otello aber einen anderen vorgezogen hat? Der vernebelt in Roland Schwabs neuer Inszenierung von Verdis vorletzter Oper am Aalto-Theater in Essen erst einmal den Raum. Dann zerbricht er eine schwarze, löchrige Fahne – das Banner des Aufruhrs, des Verderbens? Jago schnippt mit dem Finger und das Inferno bricht aus. Er ist, das macht Schwab von Anfang an klar, der Regisseur des Bösen. Sein Prinzip: „Ich bin nichts anderes als ein Kritiker.“ Der Geist, der stets verneint.

Die „Feuer der Freude“ tauchen die Szene in gespenstisches Orange. Später fährt auf der karg-schwarzen Bühne von Piero Vinciguerra im Hintergrund ein Dschungel hoch. Cassio wankt in die Röte hinter den Palmen; Napalmbrand oder Höllenfeuer, von Jago entzündet. Francis Ford Coppolas Apocalypse Now oder Stanley Kubricks Full Metal Jacket lassen grüßen.

Doppeltes Opfer Otello

Roland Schwab interessiert sich nicht so sehr für die feinen psychologischen Verästelungen einer Eifersucht, die ihre fahlen Fäden in die Seele von Otello bohren, auch nicht für den schrecklichen Mechanismus, mit dem der Nihilist Jago sein tödliches Garn spinnt. Er zeigt keinen Krieger auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, der dann durch einen Gespinst, fein wie das Taschentuch seiner Desdemona, zu Fall gebracht wird. Bei ihm ist Otello ein doppeltes Opfer – das seines furchtbaren Traumas, befeuert durch einen ebenso furchtbaren Widersacher. Die Oper ist ein rasendes Protokoll des Verfalls, der sich von Akt zu Akt steigert, um am Ende in unheilvoller Lethargie auf einem Designer-Sessel zum Erliegen zu kommen.

Gitterwerk einer traumatisierten Kriegerseele: Gaston Rivero auf der Bühne von Piero Vinciguerra zu Verdis "Otello". Foto: Thilo Beu

Gitterwerk einer traumatisierten Kriegerseele: Gaston Rivero auf der Bühne von Piero Vinciguerra zu Verdis „Otello“. Foto: Thilo Beu

Liebe, Eifersucht, der Außenseiter, der in seiner Frau einen Anker in der Welt gefunden hat: Diese Motive werden am Aalto-Theater sekundär. Im Vordergrund stehen die psychischen Folgen des Grauens, das den Krieger einholt. Es fängt die Seele in kaltglänzenden Lamellenrollos – eine Assoziation zur französischen „jalousie“, der Eifersucht –, es bannt Otello zwischen die Stäbe eines inneren Gefängnisses.

Dahinter wird die Gesellschaft in kitschigen, im Halbdunkel verschwimmenden Bildern sichtbar. Sie weicht ängstlich zurück, wenn Otello wie ein neurotisches Zootier an den Drähten entlangtigert. Dann gibt das Gitterwerk den Blick frei auf blutglänzende Körper, die in den verzweifelten Wiederholungszwängen kranker Seelen zucken und sich winden: Otello, vervielfältigt. Ikonen psychischer Verderbnis, in Blitze des Wahnsinns getaucht. Dämonisch klares Licht – Manfred Kirst und sein Team leisten Großartiges – und giftige Nebel lösen einander ab.

Projektion des Objekts einer Macho-Begierde

Und Desdemona? Das neue Ensemblemitglied Gabrielle Mouhlen, blond, lange Beine, steckt in einem ungeheuer schnulzigen Hochzeitskostüm, als sie wie von ungefähr im Hintergrund der Bühne auftaucht, wenn das Orchester die wundervolle Cello-Einleitung zum Duett „Già nella notte densa“ anstimmt. Gabriele Rupprecht (Kostüme) will die Figur mit diesem Aufzug nicht denunzieren, sondern kennzeichnet sie als Projektion: eine nur vordergründig reale Gestalt, in der sich alles zusammenfasst, was der Macho vom Objekt seiner Begierde, von der Projektionsfläche seiner Fantasien erwartet. Wenn „Venus leuchtet“, hockt Desdemona wie ein Incubus auf dem liegenden Otello – ein geschmackloses Bild, das genau in diesem Moment unheimlich sinnhaft wird: Der Mann der Siege erliegt der Macht seiner unbewussten Vorstellungen.

Gabrielle Mouhlen (Desdemona) und Gaston Rivero (Otello). Foto: Thilo Beu

Gabrielle Mouhlen (Desdemona) und Gaston Rivero (Otello). Foto: Thilo Beu

Gabrielle Mouhlens stets mit kühlem Metall versetzte Stimme, im Piano nicht schmeichelnd oder schmelzend, passt zu dieser unwirklich unerotischen Desdemona. Die Taschenlampen, mit denen die Venezianer im dritten Akt auftreten, sind einmal kein abgelebtes Versatzstück des Regietheaters, sondern lassen die Katastrophe vorscheinen, in die Otello, wild um sich schlagend, hineintaumelt. Desdemona, sein letztes, klischeehaftes Ideal, einziger Halt im verletzlichen Winkel seiner verhärteten Seele, ist im vierten Akt gefangen zwischen den kaltsilbernen Lamellen der klackend sich schließenden Jalousien. Der Mord ist kein Vorgang äußerer Realität: Er ereignet sich unsichtbar im grellen, gegen die Zuschauer gerichteten Scheinwerferlicht. Danach kauert ein gebrochener Mann in der entsetzlichen Leere seiner Existenz: „Otello fu.“ Es gibt ihn nicht mehr. Und Jago hinterlässt zynisch eine teuflische Spur von Schwefeldampf.

Weitergeführte Kriegs-Metaphorik

Roland Schwab führt in seiner Otello-Version mit schlüssiger Konsequenz die Kriegs-Metaphorik fort, die er bereits in seiner Augsburger Inszenierung von Bedřich Smetanas selten gespieltem „Dalibor“ (demnächst ist die Oper auch in Frankfurt zu sehen) – dort noch ein Stück zu gegenständlich – eingesetzt hat. Das Essener Aalto-Theater hat damit eine beachtliche Alternative zu Michael Thalheimers nachtschwarzem Psychodrama an der Deutschen Oper am Rhein geschaffen, das im April wieder in Düsseldorf zu sehen ist – dort als ausweglose Geschichte zweier Außenseiter im Raum einer Paranoia, die selbst ein harmlos-naives Requisit wie das Taschentuch zum Existenz zerstörenden Fanal vergrößert. In Essen spielt das „fazzoletto“ auch eine Rolle – als zynisches Signal, das Otellos fiebrige Wahnwelt anheizt, bis die finale Zersetzung beginnt.

Enttäuschende Performance des Dirigenten

Essen hätte also eine fulminante Premiere erleben können, wäre da nicht die enttäuschende Performance des italienischen Dirigenten Matteo Beltrami gewesen. Er glättet Verdis Dramatik zu einem lyrisch grundierten Moderato, das wie ein fauler Kompromiss zwischen einem faden Gounod und einem zahnlosen Massenet wirkt: Der brachiale Orchesterschlag zu Beginn ohne Schärfe, die Piani ohne Drohung, das Fortissimo ohne Aufruhr und Katastrophenahnung. Die Artikulation des Orchesters ohne Bestimmtheit, ohne zupackende Erregung. Der Wechsel zwischen angespanntem Drive und gefährlich dräuender Entspannung ohne Biss. Die schwärmerischen, sehnsuchtsvollen, aufbrausenden, leuchtenden Momente des Duetts Otello – Desdemona im ersten Akt glattgebügelt zu einem gefällig-unverbindlichen Moderato.

Blässliche Akkuratesse also im Graben zu starken Bildern auf der Bühne. Dazu kein fokussierter Ton des Chores: Jens Bingert mag sein Bestes gegeben haben, aber die federnden Tänzchen am Dirigentenpult bleiben ohne Resonanz, und über die Präzision zieht sich so mancher Schleier. Beltramis leidenschaftsloses Verdi-Exerzieren hat bereits nicht in „Il trovatore“ und noch weniger in „Rigoletto“ überzeugen können. Ein Rätsel, warum man sich für diese wichtige Premiere wieder auf einen derartigen Mangel an Profil eingelassen hat.

Jago triumphiert auch als Sänger

Von den männlichen Protagonisten sichert sich der Jago von Nikoloz Lagvilava auch vokal den Triumph: Sein durchsetzungsfähiger Bariton basiert auf einer sicheren Stütze ohne doppelten Boden atemtechnischer Tricks, behält in der Höhe Rundung und Fülle und schillert in der Tiefe in einer satt-gefährlichen Farbe. Die Duette mit Otello strotzen vor Kraft, ohne dass dem Ton Gewalt angetan würde. Der Mann kennt keinen durch sfumature abgetönten Zweifel; auch sein „Credo“ ist ein Bekenntnis ohne Zwischentöne. Dieser Jago ist keine philosophische Gestalt, sondern ein abgebrühter Verbrecher.

Gaston Rivero hält in den Ausbrüchen, in denen sich seine Realität immer unverrückbarer verschiebt, in Kraft und Nachdruck mühelos mit. Aber seine Rolle braucht die gebrochenen Momente, die Palette emotionaler Farben von der Erinnerung an einstigen Seelenfrieden über die unkontrollierbare Glut bis hin zur tonlosen Erschöpfung des Endes. Da fehlen der soliden Mittellage dann die Farben des Sarkasmus; da flackert der Lyrismus des Duetts mit Desdemona; da fehlen in „Dio! Mi potevi scagliar …“ die Schmerzenstöne über den verlorenen inneren Halt.

Carlos Cardoso macht mit strahlendem Timbre und einer präsenten Emission auf sich aufmerksam; sein Cassio ist auch als Figur gelungen. Dass Bettina Ranch im Finale nur aus einem blechernen Off erklingt, ist schade, aber konsequent; ihre Präsenz auf der Bühne ist eher die einer Aufseherin als die der mitfühlend-ahnungslosen Gefährtin. Dmitry Ivanchey als Rodrigo, Tijl Faveyts als Lodovico, Baurzhan Anderzhanov als Luxusbesetzung für Montano und Karel Martin Ludvik als Herold ergänzen das Ensemble.

Weitere Vorstellungen: 8., 20., 27. Februar; 9. März; 7., 18. April; 12. Mai; 28. Juni 2019.
Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/otello/




Schwarze Seelen: Michael Thalheimer inszeniert Verdis „Otello“ an der Rheinoper

Otello. Foto: Hans-Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein

Otello. Foto: Hans-Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein

Die Bühne ist so schwarz wie Jagos Seele: In einem klaustrophobisch anmutenden dunklen Raum begegnen sich schwarzgekleidete Gestalten und das Unheil nimmt seinen Lauf. Einer von ihnen hat sogar ein schwarzes Gesicht, die anderen malen sich ihres in düsterer Farbe an, um es ihm gleichzutun.

Michael Thalheimer hat Verdis „Otello“ für die Deutsche Oper am Rhein bis zur Schmerzgrenze optisch reduziert, sich dadurch aber auf die düsteren Leidenschaften konzentriert, die in uns allen wirken: Eifersucht, Neid, enttäuschte Liebe, Hass.

Schmerzhaft schön tritt dabei Verdis Musik (Musikalische Leitung: Axel Kober) in den Vordergrund: Sie spiegelt, illustriert und vertieft die Leidenschaften der handelnden Figuren, zeigt auch ihre verborgenen, versteckten Regungen und Motive auf. Jago, der sich als böser Nihilist geriert, kommt in die Nähe von Mephisto, nur ohne dessen geschliffene Ironie. Überhaupt erinnert Thalheimers Inszenierung, eine Koproduktion der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg mit der Opera Vlaanderen, an seinen „Faust“ am Deutschen Theater in Berlin, der seinerzeit ebenfalls in einem dunklen kargen Raum angesiedelt war.

Doch dies verkopfte, dieses Eingesponnensein in das Gefängnis seiner eigenen Neurosen charakterisiert Otello gut: Wieso sollte sonst der große Feldherr den pumpen Intrigen eines Jago so schnell auf den Leim gehen, wenn nicht seine Seele bereits von Selbstzweifeln, Wahnvorstellungen und Minderwertigkeitskomplexen des Außenseiters zerfressen wäre? Warum sollte er sonst wegen eines lächerlichen Taschentuches seine große Liebe Desdemona töten? Taschentuch und Brautkleid Desdemonas sind übrigens die einzigen weißen Gegenstände dieses rabenschwarzen Abends und daher mit der Symbolik der verlorenen Unschuld aufgeladen: Das Taschentuch gilt als Beweis für ihre Untreue, im Brautkleid wird sie erwürgt. Die Schwärze schluckt alles.

Desdemona auf dem Totenbett. Fotos: Hans-Jörg Michel/Rheinoper

Desdemona auf dem Totenbett. Fotos: Hans-Jörg Michel/Rheinoper

Allerdings nicht den Klang: Otello (Ian Storey) singt eine kraftvolle Partie, die Jähzorn, aufbrausendes Temperament sowie zarte Liebestöne hören lassen. Aus gesundheitlichen Gründen konnten sowohl Jacquelyn Wagner und Boris Statsenko an diesem Abend nicht auftreten: Doch die eingesprungenen Gäste meisterten ihre Partien bravourös und erhielten viel Applaus. Serena Farnocchia gab der Desdemona einen warmen Klang, Alexander Krasnov, eingeflogen aus Jekaterinenburg, nahm man den empathielosen Bösewicht Jago unbedingt ab.

Eine schöne Stimme hat auch Ovidiu Purcel als Cassio aus dem Ensemble der Deutschen Oper am Rhein. Besonders hervorzuheben ist unbedingt der Chor der Rheinoper, der kraftvoll und eindringlich aus dem düsteren Hintergrund heraus agierte und natürlich die Düsseldorfer Symphoniker im Graben, der an diesem Abend ungewöhnlich hell wirkte.

Nur noch wenige Vorstellungen im November, Opernhaus Düsseldorf: 1., 4., 10. und 13. Nov. Karten: www.operamrhein.de