Festspiel-Passagen IV: Große Momente – Diana Damrau als „Traviata“ in München

Diana Damrau bei ihrem Münchner Debüt in  Verdis "La Traviata" mit Arturo Chacón Cruz als Alfredo. Foto: Wilfried Hösl

Diana Damrau bei ihrem Münchner Debüt in Verdis „La Traviata“ mit Arturo Chacón Cruz als Alfredo. Foto: Wilfried Hösl

München musste warten – doch die Zeit hat sich gelohnt: Nach New York, Zürich, Mailand, London und Paris ist Diana Damraus Violetta Valéry nun auch an der Bayerischen Staatsoper angekommen.

Das fulminante Hausdebüt unter erschwerten Bedingungen – Joseph Calleja musste kurzfristig vergrippt absagen – ließ eine Sängerin erleben, die das Rollenporträt der „Traviata“ im Vergleich zum Europa-Debüt im Mai 2013 in Zürich noch einmal vertieft hat. Das liegt nicht nur an der älteren, aber in ihrer bildmächtigen Sprache immer noch schlüssigen Inszenierung von Günter Krämer. Vor allem im zweiten Akt, in den Szenen mit Vater Germont, bietet die Bühne Andreas Reinhardts der Sängerin den Raum, darstellerische Intensität zu entwickeln – ein Kennzeichen der stets durchreflektierten und im Detail durchgestalteten Rollenporträts der Sängerin.

Entscheidender ist: Bei Diana Damrau kompensiert schauspielerisches Talent keine stimmlichen Fragwürdigkeiten. Sondern potenziert das idiomatisch zutreffende und technisch abgesicherte Singen im Sinne einer Ganzheit der Expression, wie sie in dem Begriff vom „Sänger-Darsteller“ oder „Sing-Schauspieler“ idealtypisch anvisiert, doch nicht allzu häufig auch erreicht wird.

Damrau muss sich nicht zu Mitteln eines – gern mit Expressivität verwechselten – Deklamier-Verismo flüchten. Sie muss auch nicht um die Koloraturen des ersten oder die mit intensiver Tongebung geschlagenen Bögen des zweiten Akts fürchten. Vor allem hat sie schier endlose Varianten von Stimmfarben zur Verfügung: Ob sie mädchenhaft belustigt auf die linkische Vorstellung Alfredos reagiert oder sich über den Ernst seiner Liebesworte irritiert zeigt. Ob sie sich zaghaft freuend fragt, was dieses Bekenntnis für sie bedeuten könnte, oder ob sie mit trotziger, sarkastischer Rebellion auf die aufkeimende Ahnung einer echten Liebe in ihrer eigenen Gefühlswelt reagiert. „É strano“ ist ein Meisterstück differenzierter Psychologie und dazu technisch tadellos bewältigt.

Eindringliches Kammerspiel: Diana Damrau (Violetta) und Simon Keenlyside (Giorgio Germont) in der Münchner "Traviata". Foto: Wilfried Hösl

Eindringliches Kammerspiel: Diana Damrau (Violetta) und Simon Keenlyside (Giorgio Germont) in der Münchner „Traviata“. Foto: Wilfried Hösl

Im zweiten Akt hat Diana Damrau mit Simon Keenlyside einen Bariton-Partner, der die Noblesse der anspannungsfrei entfalteten Gesangslinie mit der subtilen musikalischen Gewichtung der Worte verbinden kann. Bei diesem Vater Germont hört man den von der Würde der Kurtisane beeindruckten Gentleman, aber auch den berechnenden Patriarchen, der ohne Erbarmen die gesellschaftliche Reputation seiner Familie sichern will. Krämer hat mit dem Einfall, die Schwester Alfredos als stumme Rolle einzuführen, eine nach wie vor überzeugende Ebene emotionaler Spiegelung eingeführt. Das Gespräch zwischen Germont und Violetta ist von beiden Darstellern mit einer stimmlich abgesicherten Eindringlichkeit geführt, die es zu einem ganz großen Moment gestalteten Musiktheaters werden lässt.

Dass Diana Damrau – auf dem Weg zu weiteren bedeutenden Frauengestalten Bellinis, Donizettis und Verdis – mit den leuchtend erfüllten Tönen des Zentrums keine Probleme hat, zeigten exemplarisch die herrlichen Bögen des zweite Bilds im zweiten Akt: Drei Mal beklagt Violetta ihr Erscheinen beim Fest Floras, drei Mal bittet sie Gott um Beistand und Gnade. Damrau lagert diesen großbogigen emotionalen Ausbruch aus der bedrohlichen „sotto voce“ – Atmosphäre der Szene traumsicher auf dem Atem, zeigt nicht die Spur forcierter Attacke. Im Gegenteil: Sie färbt diese Ausbrüche jedes Mal anders, gibt ihnen den sehrenden Seelenschmerz der Situation mit.

Für den dritten Akt mit seiner emotionalen Spannweite zwischen erschöpfter Resignation und verzweifeltem Aufbegehren ist Damraus auch in den Piani und Pianissimi tragender, sicher gestützter und locker geführter Sopran ideal. „Addio del passato“ ist mehr als ein wehmutsvoller Rückblick, mehr als eine Klage über unwiederbringlich verlorene Lebensmöglichkeiten. Die Arie ist der bewusste Abschied vom Leben, eine Bilanz in der Rückschau, auch eine Abrechnung mit einer trügerischen Hoffnung, gipfelnd in dem von jeder Sentimentalität freien Aufschrei „Or tutto finì“. Der Stoß der Posaune wird wenig später die Endgültigkeit dieses Abschieds nach dem letzten Flackern einer Hoffnung in „Parigi o cara“ besiegeln.

In diesem Duett gelang mit dem Einspringer Arturo Chacón Cruz der einen Tag vorher noch Alfredo am Theater an der Wien gesungen hatte – ein intensiv-berührender Moment. Chacón Cruz zeigte sich in dem über die Demonstration tenoraler Schmelzwerte hinausgehenden gestalterischen Zugriff auf „De‘ miei bollenti spiriti“ als Sänger mit Potenzial, das er stimmtechnisch und im Timbre noch einzulösen hätte, wenn ihm günstigere Umstände winken. Paolo Carignani am Pult des diskret agierenden Bayerischen Staatsorchesters hatte einen glücklichen Abend: Verdi klang nicht knallig-brillant und mit vordergründigem „Schmiss“, sondern mit Rücksicht auf die Sänger, mit sensibler Agogik und mit feinen Lasuren einer reichen Palette von Piano-Farben.

Schade, dass Diana Damrau in der Rhein-Ruhr-Region so gut wie nie zu erleben ist. Am 23. September kann man die Gewinnerin der Auszeichnung „Beste Sängerin“ bei den „Opera Awards“ 2014 in einem „Belcanto-Konzert“ im Amsterdamer Concertgebouw hören. Ihre nächsten Auftritte in Deutschland führen sie nach Baden-Baden (Mozarts „Entführung aus dem Serail“) und 2015 wieder an die Münchner Staatsoper, dann in der Titelpartie in einer Neuinszenierung von Donizettis „Lucia di Lammermoor“.




Festspiel-Passagen IV: Salzburg – Fanatische Kämpferin, zerbrechliches Opfer

Anna Netrebko: umschwärmter Star in „Giovanna d’Arco“ in Salzburg. Foto: Silvia Lelli

Anna Netrebko: umschwärmter Star in „Giovanna d’Arco“ in Salzburg. Foto: Silvia Lelli

Die Jungfrau von Orléans, die heilige Johanna, die kriegerische Maid: Hexe und Heilige, Symbol der Nation, Identifikationsfigur in Zeiten der Unterdrückung, selbstbewusst-selbständige Frau, keusche Verkörperung eines Reinheitsideals, amazonenhafte Kriegerin, radikale Kämpferin, Bild des Edel-Erhabenen, verehrt und verspottet, unantastbar und unverstanden. Die Ikone der 1431 auf dem Scheiterhaufen hingerichteten und 1920 heiliggesprochenen Bauerntochter Johanna aus dem lothringischen Domrémy ist immer wieder neu gemalt und übermalt worden.

Voltaires Spottgedicht „La Pucelle d’Orleans“ zieht den Johanna-Mythos ins Ordinäre, diffamiert das Religiöse durch das Obszöne. Friedrich Schiller wehrt sich in seiner „Jungfrau von Orléans“ vehement gegen die abschätzige Dekonstruktion. Temistocle Solera erkennt als Librettist Giuseppe Verdis für die Oper „Giovanna d’Arco“ einen wichtigen Aspekt der historischen Rolle der Johanna, die im späten Mittelalter Euphorie und Rohheit der Masse gleichermaßen ausgelöst hat. Und in Walter Braunfels‘ „Jeanne d’Arc“ – 1939 bis 1943 in der inneren Emigration entstanden – spiegelt sich die existenzielle Unsicherheit der Zeit, der Verlust aller kultureller Gewissheit und eine entschiedene Zuwendung zum Transzendentalen, das alleine im alle Werte vernichtenden Feuerbrand Bestehen verheißt: Das Herz der Jungfrau bleibt von der Glut des Scheiterhaufens unversehrt.

Die Salzburger Festspiele haben sich mit den beiden Werken des Musiktheaters und mit Schillers „romantischer Tragödie“ einigen Aspekten des Johanna-Mythos genähert. Natürlich hätten noch andere dazu treten können: Arthur Honeggers mystisches Gleichnisspiel „Jeanne d’Arc au Bucher“ hätte dazu gepasst; Tschaikowskys heroische Tragödie „Die Jungfrau von Orléans“ auch. Aber bedauerlicher ist, dass beide Opern nur konzertant zu erleben waren: Die Chance, den Johanna-Mythos szenisch unterschiedlich auszudeuten, blieb so ungenutzt.

Das Landestheater Salzburg: Hier wird Michael Thalheimers Version von Schillers "Jungfrau von Orléans" gespielt. Foto: Häußner

Das Landestheater Salzburg: Hier wird Michael Thalheimers Version von Schillers „Jungfrau von Orléans“ gespielt. Foto: Häußner

Michael Thalheimer will uns die Schiller’sche Heldin in ihrer anachronistischen Mischung aus nationaler Entflammung, dualistischem Reinheitswahn und mystischer Entrückung nicht nahe rücken. In seiner Inszenierung, die ab September am Deutschen Theater in Berlin zu erleben ist, steht Johanna von Anfang an isoliert: Bühnenbildner Olaf Altmann richtet einen einzigen, grellweißen Lichtspot auf sie, einen Strahl aus dem Jenseits, der diese einsame Gestalt im weißen Hemd mit dem Schwert in der Hand erleuchtet. Kathleen Morgeneyer spricht die so zerbrechlich wie verhärtet wirkende Figur mit dröhnendem Überzeugungston, jenseits menschlicher Realität. Sie gehört zu den Reinen, die nicht fühlen, die nicht weinen. Alexander Khuon kotzt als sterbender Montgomery sein Leben blutig über die ungerührte Johanna aus. Liebe, Mitleid, Schuld – das sind Regungen, die im Dienst einer höheren Macht nicht zählen.

Kathleen Morgeneyer als Johanna: Die Jungfrau im Licht. Foto: Arno Declair

Kathleen Morgeneyer als Johanna: Die Jungfrau im Licht. Foto: Arno Declair

Schließlich weint sie doch, die Unberührbare, getroffen vom Blick Lionels – und damit ist ihre Mission gebrochen: Sobald die ungeheuerliche Gotteskriegerin ihre mörderische Isolation verliert, einen Kontakt mit Menschen aufbaut, der ihr Subjekt fordert, ist die Magie dahin, die Kraft gebrochen. Thalheimer lässt die Figur in ihrer Ambivalenz unberührt, erklärt nichts weg von ihrer Problematik: weder ihren glühenden Nationalismus noch ihre geradezu antichristliche Umdeutung Marias von der barmherzigen Mutter zu einer blutgierigen Göttin der Schlachten. Am Ende löst das fahl aufdämmernde Licht (Robert Grauel) die Bühne aus der Schwärze. Sichtbar wird eine gewaltige Wölbung, eine Kirche, ein Mausoleum, eine düstere Himmelskuppel. Von der Jungfrau von Orléans bleibt ein verletzliches Mädchen, das einen riesigen Schatten wirft.

Thalheimers auf zweieinviertel Stunden und 14 Rollen konzentrierte Version der Tragödie funktioniert nur, weil er hervorragende Sprecher in seinem Ensemble hat: Den eindimensional auf den heiser bellenden Krieger festgelegten Andreas Döhler als Dunois. Die Agnes Sorel der Meike Droste, die in einer starken Persönlichkeit die Ideale der Johanna teilt, aber mit menschlichen Regungen verbindet. Den markant charakterisierenden Michael Gerber als Thibaud. Und Christoph Franken als König, der sich von praktischer Vernunft, politischer Resignation und einer halb wehleidigen, halb hedonistischen Vision privaten Lebens leiten lässt: ein Schlappschwanz, dessen winselnde Ohnmacht eine gewisse innere Größe nicht abzusprechen ist.

Expressive Theatersprache: Almut Zilcher als Isabeau. Foto: Arno Declair

Expressive Theatersprache: Almut Zilcher als Isabeau. Foto: Arno Declair

Das ausgefeilteste Rollenporträt spricht allerdings Almut Zilcher als Königinmutter Isabeau: Sie stochert als dürres Gespenst in High Heels über die Bühne, jedes Wort in eine andere Klangfarbe kleidend, jeden Satz nachkomponierend. So wünscht man sich Theatersprache.

Das Sprachliche, in diesem Fall in Verdis beredte Musik gekleidet, dominiert auch die konzertante Aufführung von „Giovanna d’Arco“ in der Felsenreitschule. Vor dem Eingang ein Defilee der Kartensuchenden: Anna Netrebko und Placido Domingo sind eine Besetzung, für die Melomanen wie Adabeis einiges springen lassen.

Die Oper von 1845 gehört nicht zu den bevorzugten Werken aus Verdis mittlerer Schaffensperiode. Zu Unrecht, wie sie herausstellt. Denn Verdi experimentiert mit musikalischen Mitteln, die er später perfektioniert: Die grellen Flöten, die fahlen Farben des tiefen Holzes und die exzessive Rhythmik für das Diabolische führen zu „Macbeth“, die ätherischen Momente zu „Don Carlo“ und „Aida“. Die Emphase der groß angelegten Chöre weisen von Rossinis Finali zu Meyerbeers Tableaux. Daneben gibt es das ausgesponnene Legato Bellinis und die lyrische Intensität der Bariton-Romanzen Donizettis. Doch Verdi setzt diese musikalischen Elemente seiner Gegenwart nicht, wie die ältere Kritik abwertend behauptete, aus kreativer Verlegenheit und Zeitmangel ein. Sondern er verwendet Ausdrucksmittel der Tradition bewusst, um Figuren musikalisch zu profilieren.

Die Reinheit der fragilen Heldin

Temistocle Soleras Libretto nähert sich eher dem Oratorium und der großen Oper an – ein italienischer Reflex auf die neuen Entwicklungen der Pariser Bühne. Giovanna ist bei ihm eher ein junges Mädchen, das demütig eine überirdische Botschaft empfängt und ausführt, als eine fanatisierte Kriegerin. Im ersten Auftritt träumt sie von einer politischen Rolle, von Rüstung und Schwert; später imaginiert sie sich aus dem Fest im Königspalast zurück in ihre ländliche Heimat. Ihre Schwäche ist die unmögliche Liebe, die in diesem Fall nicht ein Engländer, sondern der König selbst von ihr begehrt. Ihre Apotheose gleicht einer Entrückung: Der Himmel entzieht die Jungfrau dem irdischen Treiben und bestätigt ihre Unschuld.

Die Reinheit Johannas ist bei Solera nicht sexuell, sondern transzendental geprägt: Schon im Prolog wird der Widerstreit der bösen Geister und der Engel in den Chören ausführlich exponiert. „Giovanna d’Arco“ verbindet dieses Motiv mit dem Vater Johannas, Giacomo, der sich als treibende Kraft des Dramas entpuppt: Sein Anklage, Johanna habe sich den bösen Geistern – und der „niedrigen irdischen Liebe“ – verschrieben, formuliert er auf dem Höhepunkt des Geschehens, in dem Moment, in dem der König Johanna gegen ihren Willen zur Patronin des Landes und zur Heiligen hochstilisiert, ihr sogar eine Kirche weihen will.

Die Hybris wie die Verleumdung kommen von außerhalb: Johanna ist das Opfer dieser Mächte, die sie in ihrem Inneren nicht berühren. Sie gehört zu den fragilen Mädchen und Frauen der italienischen Oper, denen vom Druck ihrer Umgebung der vitale Lebensatem ausgepresst wird. Mag sein, dass Verdi – wie Roger Parker im Programmheft erklärt – durch die sanfte Lyrik der Stimme der Uraufführungssängerin Erminia Frezzolini zu dieser Lösung angestoßen wurde. Auf jeden Fall fügt sie den Deutungen des Jeanne d’Arc – Stoffes eine originelle Facette hinzu.

Für Anna Netrebko ist die Partie der Einstieg in das dramatischere italienische Fach, der sich bereits mit Donizettis „Anna Bolena“ angekündigt hatte. Die Leonora in Verdis „Trovatore“ und die Lady in „Macbeth“ werden in der kommenden Spielzeit folgen. Pünktlich zur Premiere der „Giovanna d’Arco“ wurde in Salzburg auch die neue Netrebko-CD vorgestellt, auf der das zu erobernde Terrain bereits vorweggenommen ist.

Die dunkler gewordene Stimme der Sängerin hat in der Tat klangliche Fülle gewonnen, ist im Zentrum dunkelgolden üppig, entfaltet sich in der Höhe mit Substanz und Glanz. Dabei ist die gleichmäßige Tonproduktion ebenso bewahrt wie die lyrische Finesse. Im Rezitativ ihrer Auftritts-Kavatina zieht Netrebko den schönen Ton der ausdrucksvollen Gestaltung vor; die träumerische Wehmut der Giovanna, ihre kindlich anmutende Sehnsucht nach einer Rolle im Freiheitskampf wirkt mehr vorgetragen als empfunden. Doch im Duett mit dem König im ersten Akt spielt sie die gestalterischen Trümpfe voll aus: Eine der seltenen Sternstunden technisch sicheren und dramatisch erfüllten Singens, zu dem der Tenor Francesco Meli einen gleichrangigen Part beiträgt.

Mit Meli steht – endlich – wieder einmal ein Sänger auf dem Podium, bei dem man nicht das eine oder andere Ohr zudrücken muss, um ihn in die Traditionslinie überzeugender Verdi-Stimmen einzuordnen. Er hat nicht ganz die Flexibilität und den strahlenden Schmelz eines Carlo Bergonzi, kommt ihm aber sehr, sehr nahe. Druckfrei gebildete Höhe und natürlich anmutendes Legato zeichnen sein Singen aus. Dass manches Piano mit viel Kopfstimme gebildet wird und ein Crescendo nicht bruchlos gelingen kann, ist noch ein Manko. Aber Meli kann sich als Carlo VII. erfreulich positionieren. Bisher hat er vor allem das Repertoire zwischen Nemorino („Der Liebestrank“) und Alfredo („La Traviata“) gesungen – die Partie in „Giovanna d’Arco“ bedeutet also auch für ihn, einen Schritt weiter.

Tendenz zum Spielen, auch auf dem Konzertpodium: Placido Domingo als Vater Giacomo in Verdis "Giovanna d'Arco". Foto: Silivia Lelli

Tendenz zum Spielen, auch auf dem Konzertpodium: Placido Domingo als Vater Giacomo in Verdis „Giovanna d’Arco“. Foto: Silivia Lelli

Mit Jubel wurde der erst im Juli von einer Lungenembolie genesene Placido Domingo begrüßt: Er hatte mit der Rolle des Giacomo eine Partie, die sich würdig in die Reihe der markanten Vätergestalten Verdis einreiht. Verdi baut die Rolle aus, gibt ihr Gewicht und tragische Konturen: dieser Giacomo wirft seiner Tochter vorurteilsbeladen den Pakt mit teuflischen Kräften vor, muss seinen tragischen Irrtum erkennen und tief bereuen.

Domingo hat von seiner gestalterischen Kraft nichts eingebüßt, die sich auch immer wieder in einem unmittelbaren Bedürfnis nach körperlicher Rollendarstellung Bahn bricht. Seine Stimme tendiert eher zum Silber des Tenors als zur warmen Bronze eines echten Baritons. Aber diesen Jahrhundertsänger so präsent, mit dem Hintergrund seiner Erfahrung zu erleben, ist ein Geschenk. Nicht zu vergessen ist Roberto Tagliavini als Talbot, der nur im ersten Akt einige rhythmisch scharf geschnittene Sätze zu singen hat – diese allerdings mit schlankem, gut fundiertem Bass.

Mit der ambivalenten musikalischen Leitung Paolo Carignanis sich anzufreunden fällt nicht leicht: Da herrscht ein schlanker, nerviger Klang im Münchner Rundfunkorchester, prägnante Kontraste in der Ouvertüre zwischen den robusten Tutti und den ätherischen Flöten-Fiorituren und Holzbläser-Kantilenen. Die Musiker des Orchesters treffen auch die unheimliche Sphäre beim Auftritt Giacomos, das geisterhafte Gelächter der Flöte, den spitzen, bewusst banalen Rhythmus für die Dämonensprüche des glanzvoll disponierten Philharmonia Chores Wien (Walter Zeh).

Carignani lässt auch den Donizetti-Rhyhmus „abspringen“, den Verdi der Arie Giacomos („Franco son io“) im ersten Akt unterlegt. Aber er hält den Takt immer wieder unflexibel und steif, gibt zu wenig Freiheit, kann so zum Beispiel den Kontrast der Dämonen- und der Engelschöre im Finale des Prologs nicht ausformen. Das Cantabile Verdis bleibt dann flach, eingespannt in eine missverstandene Präzision, die Verdis Musik genau das unterstellt, was tunlichst zu vermeiden ist: den Leierkasten-Rhythmus der dörflichen Banda. Mit der Frage nach einer idiomatisch zutreffenden Verdi-Interpretation jenseits von preußischer Akkuratesse und traditionalistischer Schlamperei wird man sich – auch nach diesem Verdi-Jahr – noch zu befassen haben.




Mordgerät im Malz: Donizettis „Le Duc d’Albe“ in Antwerpen

Belgien ist das Land des Bieres, und so wirkt es naheliegend, dass in diesem Land auch Revolutionen mit der Kunst des Brauens zu tun haben.

Im zweiten Akt von Donizettis unvollendeter Oper „Le Duc d’Albe“ ist die Brauerei eines gewissen Daniel ein Hort des Widerstands gegen den spanischen Schlächter: Mordwerkzeuge unter Malz, Kämpfer kehren keimendes Korn weg. Der Lobpreis des Bieres könnte jedem Männergesangverein zur Ehre gereichen, aber er ist mehr als ein launiges Genrestück: Ähnlich wie der Gesang der Fischer in Daniel François Esprit Aubers großer Oper „La Muette de Portici“ enthält das Lied einen Code: Der unverdorbene Trank belgischer Vaterlandsliebe gegen den unbekömmlichen spanischen Wein der Willkür und der Gewalt.

Donizettis Oper von 1839, ein Versuch, in Zusammenarbeit mit dem Großmeister des Librettos, Eugène Scribe, an der „Opéra“ zu landen, wurde durch ein Veto der Primadonna Teresa Stolz, der späteren Geliebten Verdis, verhindert. Sie lehnte die Rolle der Hélène ab, die uns heute als eine der innovativen Frauengestalten Donizettis gegenübertritt: kein leidendes Opfer á la Lucia oder Linda, keine zwischen staatsfraulicher Pflicht und privatem Gefühl zerriebene Königin. Sondern eine Kämpferin für die nationale Sache, eine ideologisch unbeirrbare Fanatikerin, fest im Hass und in der Linie klar wie belgisches Bier. Der Liebesbeweis, den sie fordert, ist so grausam wie eindeutig: Der Spanier muss sterben.

Doch Henri, Hélènes Geliebter, kann die Hand nicht gegen den Herzog von Alba heben. Der junge Mann aus dem Kreis der Widerständler muss erfahren, dass er kein Geringerer als der Sohn des Herzogs ist. An ihm ist es nun, zwischen Vaterliebe und Vaterlandsliebe abzuwägen. Sein Flehen um den Verzicht auf Rache ist vergebens. Hélène, eine Vorläuferin Elektras, muss ihren Vater, den Grafen Egmont, rächen: Henri wirft sich in ihren tödlichen Streich, rettet dem Vater das Leben und stirbt.

„Le Duc d’Albe“ ist also in mehrfacher Hinsicht kein konventionelles „Sopran-liebt-Tenor“ Belcanto-Stück. Bemerkenswert in Scribes Charakterisierung der Personen ist auch die Wandlung des spanischen Herzogs. Als er in einer bewegenden Szene zu Beginn des dritten Akts erfährt, wer sein Sohn ist, beginnt die Vaterliebe den hartherzigen Anwalt der spanischen Sache zu bekehren: Im Finale der Oper tritt uns ein zutiefst tragischer Mensch entgegen, dessen humane Läuterung das Unglück, seinen Sohn sterben sehen zu müssen, nicht verhindert hat.

Donizetti hat diese beiden Schlüsselszenen nicht komponiert, sondern nur einige Skizzen hinterlassen. Offenbar war er sich bewusst, dass sie seine Charakterisierungskunst eminent herausfordern würden; ein Aufwand, den sich der viel beschäftigte Komponist angesichts des unklaren Schicksals der Oper wohl nicht zumuten wollte. Für die verspätete Uraufführung 1882 hat ein Schüler Donizettis, Matteo Salvi, die skizzierten Nummern orchestriert und die zwei letzten Akte zu einem zusammengefasst.

Für die Uraufführung der französischen Originalversion an der Vlaamse Opera Antwerpen hat der 1953 geborene Komponist Giorgio Battistelli die fehlenden Nummern komponiert: rücksichtsvoll gegen die belcantistische Anlage des Werks; hellhörig für Donizettis kennzeichnende Linien, Wendungen und Begleitfiguren, ohne den modernen Einsatz des Materials zu leugnen. Keine platte Nachahmung, sondern individuell geprägte musikalische Charakterisierung, demütig und respektvoll, aber entschieden eigen geprägt. Die finale Szene, die Klage und der Abschied des Alba, werden so zu einer bewegenden, musikalisch reichen Szene – ein zusätzliches Argument, für Donizettis Oper auf Repertoiretauglichkeit zu plädieren.

Die ergibt sich auch aus anderen Argumenten, etwa der ungewöhnlichen Charakterisierung der Figuren, fern der Klischees des „melodramma“. Donizetti zeigt sich wieder als sensibler Instrumentator, ein Erbe seines Lehrers Johann Simon Mayr. Mit dem Orchester der Vlaamse Opera unter Paolo Carignani klingt die Partitur allerdings oft pauschal. So sorgfältig Carignani dynamische Details modelliert, so forsch zieht er vor allem über den Streicherapparat hinweg, den man sich im Zusammenklang plastischer wünschen würde. Der große, Spannung erzeugende Bogen ist Carignanis Sache nicht – das war schon in seiner Zeit in Frankfurt immer wieder zu hören.

In der Inszenierung von Carlos Wagner, mehr noch im bedrückenden Bühnenbild von Alfons Flores herrschen die Chiffren des Krieges vor. Riesige marschierende Soldaten erinnern an die Schrecken des Ersten Weltkriegs, der sich gerade in Flandern ausgetobt hat. Das Licht von Fabrice Kebour verbannt die Personen oft in fahles Zwielicht oder in tückisch grelle Strahlen. Die schwarz uniformierten Spanier agieren auf einer Brücke hoch über den beherrschten Flamen, die zum triumphalen Auftritt der Sieger ihre Toten beklagen. Aus dem staubigen Dunst der Mälzerei im zweiten Akt formiert sich der Widerstand des zu schmutzigen Lemuren verurteilten Volkes. Alba erinnert in seiner vom Licht akzentuierten Einsamkeit an Verdis Philipp II. – eine Statur, die ihm auch seine ausdrucksstarke Musik verleiht. Hélène trägt unter ihrem weißen Frauengewand die braune Montur einer Soldatin; das Kostüm A.F. Vandevorsts ist ebenso eine psychologische Chiffre wie die Entblößung im Duett Alba – Henri.

Die aufs Äußerste gespannten Linien in diesem Zwiegesang gehören zu den Höhepunkten der Partitur. Donizetti zeigt sich im dritten Akt auf der Höhe seiner musikalischen Charakterisierungskunst. George Petean und Ismael Jordi folgen dem fiebrigen Zug der Musik mit flammender Dramatik in der Stimme. Der rumänische Bariton füllt die intensiven Gesangslinien mit einer reichen, stets abgesichert gestützten, manchmal jedoch zu ruppig eingesetzten Stimme, die dann eher dem Verismo als einem stilistisch reflektierten Belcanto zuneigt. Ismael Jordi ist einer der erfolgreichen jüngeren Tenöre mit hoher Tessitura und intimem Wissen um Tonbildung und Legato. Er neigt nie zum „Krähen“, sondern kann den Ton stets abrunden; dass er in manchen Übergängen die sichere Formung der Stimme auf dem Atem vernachlässigt, muss nicht sein.

Rachel Harnisch als Hélène d’Egmont macht mit gleichmäßig geführter, schöner Stimme deutlich, warum Teresa Stolz mit der Partie nicht einverstanden gewesen sein könnte: Die Emotionen dieser Figur äußern sich eher in Stolz, Schmerz und Rachdurst als in den Kantilenen einer liebenden Frau. Die Stimme von Igor Bakan als Braumeister und Rebell Daniel bleibt beengt timbriert und unfrei in der Emission; das Gegenteil dazu repräsentiert Vladimir Baykov mit einem gewaltigen, aber kruden Bassbariton. Man hört, dass sich eine neue Generation von Sängern mit dem Genre des Belcanto intensiv befasst; dennoch sind die Beherrschtheit des Singens und der stilistische Schliff, wie ihn etwa Alfredo Kraus oder Juan Diego Flóres perfektionieren, noch nicht ihr Bier.

„Le Duc d’Albe“ passt nicht nur zum lokalhistorischen Erbe Flanderns; es ist eine Oper, der man eine baldige Erstaufführung in Deutschland wünschen würde. Die Chancen stehen freilich nicht gut: Sparzwang lässt die Opernhäuser zu den alten Schlachtschiffen des Repertoires greifen und vielerorts werden die tragischen Dramen Donizettis immer noch nur dann erwogen, wenn man einer Primadonna einen Gefallen tun will wie etwa Edita Gruberova in München. Verdient haben die Werke das nicht, denn Donizetti bietet beileibe kein saures Bier an, sondern den reinen Quell faszinierender Musikalität.

Aufführungen in Antwerpen: 9., 11., 15., 18. Mai um 19.30 Uhr; 13. Mai um 15 Uhr.

Aufführungen in Gent: 25., 29., 31. Mai, 2. Juni um 19.30 Uhr; 27. Mai um 15 Uhr.

Info: www.vlaamseopera.be

Tel.: (00 32 70) 22 02 02