Zehn Jahre nach dem Weltkrieg: Als deutsche Abstrakte in Paris reüssierten

Karl Otto Götz: Ohne Titel (9.9.1954) (Drouin-Bild, 1954) / Sammlung von Morgen, Berlin (Foto: Oskar Lee / Emil Schumacher Museum, Hagen)

Abstrakte deutsche Kunst in Paris zeigen – nur zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs? Das muss ein heikles Unterfangen gewesen sein. 1955 sah man darin von Staats wegen auch eine diplomatische Mission zur Annäherung ans vormals befeindete Nachbarland. Trotz vieler Streitigkeiten im Vorfeld wurde die Schau ein Erfolg und brachte manchen Künstlern den Durchbruch. Wer es in Paris geschafft hat, der damaligen Welthauptstadt der Kunst, konnte es überall vollbringen.

Jetzt, 70 Jahre später, ist die legendäre Ausstellung fürs Hagener Emil Schumacher Museum (ESMH) zu wesentlichen Teilen rekonstruiert worden. Sie führt auf eine Zeitreise in ästhetische Gefilde der 50er Jahre. Es gibt wenige Fotos vom Pariser Ereignis und Schnipsel eines Kino-Wochenschau-Berichts („Blick in die Welt“, dem feinsinnigen Thema zum Trotz im schnarrenden Stil jener Zeit kommentiert). Solche Aufnahmen empfangen einen wandfüllend zu Beginn des Rundgangs in Hagen. Schon ist man eingestimmt.

Möglichst viele Bilder und Skulpturen von damals aufzutreiben, erforderte eine Menge Fahndungsarbeit. 98 Arbeiten von 37 Urhebern (kaum Frauen dabei) wurden 1955 in Paris gezeigt, 56 Exponate konnte Gastkuratorin Anne-Kathrin Hinz von der Bonner Uni-Forschungsstelle Informelle Kunst ausfindig machen, 41 können in Hagen gezeigt werden. Einige Werke sind nicht mehr transportfähig, andere werden aus diversen Gründen nicht verliehen. Schon bald dürfte eine solche Zusammenstellung gar nicht mehr möglich sein. Überhaupt war die Vorarbeit (sowohl 1955 als auch diesmal) fast ebenso spannend wie die schließlich gezeigte Kunst.

Ernst Wilhelm Nay: „Instrumentation“, 1952. Öl auf Leinwand. MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher (Foto: Olaf Bergmann, Witten)

Ganz anders als 1955, als die vielfach frisch aus den Ateliers kommenden Kunstwerke im Cercle Volney (nahe der Pariser Oper) dicht an dicht präsentiert wurden, können sie in Hagen auf größerer Fläche weitaus luftiger ausgestellt werden. 1955 war dem auf deutscher Seite organisatorisch federführenden Iserlohner Künstler Wilhelm Wessel sehr daran gelegen, auch die allerneuesten, noch nicht etablierten Positionen zu zeigen, zu deren Protagonisten z. B. just der Hagener Emil Schumacher oder Karl Otto Götz zählten. Deren frühe, teilweise noch nicht ausgereifte Schöpfungen – Schumacher fand recht spät zu seiner ureigenen Bildsprache – hingen unmittelbar neben denen bereits bekannter Künstler wie Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay oder Fritz Winter.

Gegen dieses anti-hierarchische Konzept regten sich damals starke Widerstände – einerseits aus den Reihen der arrivierten Künstler, die eine Abwertung ihrer Oeuvres fürchteten, vor allem aber vom eher konservativen „Deutschen Kunstrat“, der dem Außenministerium angegliedert war und nur längst anerkannte Spitzenkunst zulassen mochte. Doch Wilhelm Wessel, damals Vorsitzender des Westdeutschen Künstlerbundes, und sein französischer Mitstreiter, der Galerist René Drouin, setzten sich durch.

Die Presse war vom Ergebnis überwiegend angetan bis begeistert, was man auf der Gegenseite nicht wahrhaben wollte. Auch Rezeption und Folgen der Pariser Ausstellung werden nun dokumentiert, sogar Seiten aus dem Gästebuch von damals sind zu sehen. Wie kühn die Schau war, lässt sich ermessen, wenn man bedenkt, dass kurz darauf die allererste Kasseler documenta eröffnet wurde, die noch weitgehend an die klassische Moderne aus Vorkriegszeiten anknüpfte.

Rupprecht Geiger: „Wjasma“ (1955), Eitempera auf Leinwand. (Archiv Geiger, München / Foto: Nikolaus Steglich, Starnberg)

In Hagen erweist sich, dass es etliche abstrakte Wege der Kunst gibt und eben auch schon 1955 gegeben hat. Die oftmals spontanen Prozesse der Gegenstandsferne weisen in verschiedene Richtungen. Von den vielfach düster vergitterten Nachkriegsbildern hebt sich vor allem das frühvollendete, farbintensive Schaffen eines Rupprecht Geiger ab, dem eine singuläre Stellung im Kontext dieser Ausstellung zukommt. Auch die filigranen Skulpturen von Norbert Kricke fanden erst später breiteren Zuspruch.

Man ahmt in Hagen nicht die ursprüngliche Sortierung nach, die etablierte und unbekannte Künstler nach Kräften mischte. Ordnungsprinzip sind vielmehr die Arbeitsorte der Künstler, z. B. Frankfurt (K. O. Götz, Bernard Schultze u. a.), das Rheinland (Georg Meistermann, Hann Trier, Hubert Berke u. a.) oder München (Rupprecht Geiger, Fred Thieler u. a.). Westfalen ist mit Emil Schumacher und Wilhelm Wessel vertreten. Diese Abfolge hat etwas für sich: Jeweils in räumlicher Nähe wirkend, haben sie einander wohl verstärkt beeinflusst. Der Genius Loci scheint immer noch lebendig zu sein.

Die Hagener Rekonstruktion lässt es ahnen: Im Rückblick ist es kaum zu überschätzen, was die Ausstellung 1955 und danach für den deutsch-französischen Kulturaustausch bewirkt hat. ESMH-Direktor Rouven Lotz hält es für denkbar, dass auch die jetzige Schau Folgen hat – wenn etwa Nachfahren der damaligen Künstler aufmerksam werden und auf weitere Werke hinweisen. So entstehen womöglich ungeahnte Zusammmenhänge.

„Paris 1955. Deutsche Abstrakte im Zentrum der Moderne“. Noch bis zum 3. August 2025. www.esmh.de

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Medaillen, Hymnen und so weiter

Abspielgerät aus der Zeit, als Hymnen noch anders gewertet wurden: Grammophon auf dem Flohmarkt. (Foto: Bernd Berke)

Schon etwas seltsam (Running Mate Tim Walz würde wohl sagen: „weird“), dass man diesen nationalistisch angehauchten Quatsch immer noch beachtet. Muss ich mich jetzt der verstohlenen Blicke auf schnöde Ziffern schämen? Kaum hatte Olympia in Paris etwas Fahrt aufgenommen, habe ich tatsächlich wieder täglich auf den Medaillenspiegel geschielt und mit gemischten Gefühlen bemerkt, wie sehr Deutschlands Sportlerinnen und Sportler vielfach hinterdrein hechelten.

Aus gar vielen Gründen blieben die Athleten aus Germany zurück, auch in hierzulande vordem sehr erfolgreich betriebenen Sportarten wie z. B. Fechten, Segeln und Ringen. Auch beim Radfahren überwog die Enttäuschung. Bei manchen Wettbewerben war kaum fassliches Missgeschick im Spiel. In der Gesamtbilanz landete l’Allemagne – einzelnen Glanztaten zum Trotz – mit 33 Medaillen (davon 12 Gold) nicht nur weit, weit hinter den rivalisierenden Global-Giganten USA (126) und China (91), sondern sehr deutlich auch hinter Frankreich (64 – naja, deren Heimspiele halt) und Großbritannien (65), die derzeit beide arge gesellschaftliche Probleme wälzen und wohl nach sportlicher Kompensation dürsten. Der „Kater“ folgt wahrscheinlich.

Doch das ist nicht alles. Desgleichen liegen zum Beispiel auch die wesentlich kleineren (bevölkerungsärmeren) Niederlande (34 Medaillen) vor den Deutschen Olympioniken. Die deutschen Olympia-Funktionäre haben bereits für die nächsten Sommerspiele wieder die Rückkehr unter die sechs weltbesten Nationen als Ziel ausgerufen, diesmal war es lediglich Rang zehn. Sollten etwa die landesüblichen Bürokraten in der Sportförderung hinderlich gewesen sein?

Vollends verblüffend wirkt übrigens die Erfolgsbilanz Australiens, das mit seinen gerade mal rund 26 Millionen Einwohnern formidable 53 Medaillen gesammelt hat. Auch die Teams aus Neuseeland (20) oder Kanada (27) holten mehr, als es nach reinen Bevölkerungszahlen zu erwarten gewesen wäre, jene aus Indien (6) hingegen ungleich weniger.

Nein, wir betreiben jetzt keine Ursachenforschung, schon gar nicht spekulativ. Von etwaigem Doping-Verdacht und aggressiver Sportpolitik bestimmter Regime gar nicht erst zu reden. Wobei Russland diesmal aus bekannten Gründen außen vor geblieben ist.

Allerdings könnte man jene etwas andere Tabelle aufstellen: Einwohnerzahl geteilt durch Medaillen. Den Rechenaufwand erspare ich mir. * Statt dessen stelle ich mir mal wieder die Frage: Wer hat eigentlich die klangvollste Hymne – für den Fall, dass jemand ganz oben auf dem Treppchen zu stehen kommt? Aber das ist wohl schon wieder so ein Quark von vorgestern.

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* Mittlerweile hat ausgerechnet die „Bild“-Zeitung eine solche Tabelle erstellt und heute (13. August) online publiziert.




Mit bösem Blick die feine Gesellschaft sezieren – aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt

Diese Texte sind 1989 schon einmal in Hans Magnus Enzensbergers „Anderer Bibliothek“ erschienen. Na und? Wenn bislang vergriffene Bücher das Entdecken oder (Wieder)-Lesen lohnen, dann solche. Kurz und gut: Der Verlag Galiani hat mit der Neuausgabe der „Blitzlichter“ einen Glücksgriff getan.

Es handelt sich um Auszüge aus den phänomenalen Tagebüchern der Brüder Goncourt, mit denen man so recht ins glanzvolle Paris des 19. Jahrhunderts samt all seinen exzentrischen Dichtern und Künstlern, den Salons und Soiréen, Kurtisanen und Kokotten „eintauchen“ kann.

„…sind mir diese Dirnen gar nicht so unangenehm“

Doch schon der Prolog der von Anita Albus glänzend übertragenen Aufzeichnungen zeigt, dass es nicht ums bewundernde Schwelgen geht – im Gegenteil. Edmond und Jules de Goncourt hatten den bösen Blick, mit dem sie die damalige „feine Gesellschaft“ nach Belieben sezierten und allerlei Sottisen noch über die vermeintlich erlauchtesten Geister zu Papier brachten; ja, das Wort Sottisen könnte geradewegs für solche literarischen Kabinettsstücke erfunden worden sein.

Dass es dabei selbst für heutige Begriffe sehr freizügig zugeht und immer wieder das frivole, oft genug auch bizarre Treiben der offenbar zahllosen Huren und ihrer ach so „edlen“ Klientel geschildert wird, versteht sich beinahe von selbst. Irgendwoher muss das Paris von einst seinen Ruf ja haben… Die Übersetzerin wählte übrigens mit Bedacht den Ausdruck „vögeln“ und nicht das derbe F-Wort. Die Goncourts goutierten finanziell „ausgehaltene“ Frauen: „Alles in allem sind mir diese Dirnen gar nicht so unangenehm. Sie heben sich ab von der Eintönigkeit, der Rechtschaffenheit, der gesellschaftlichen Ordnung (…) Sie bringen ein bißchen Tollheit in die Welt.“

Der Band ist alphabetisch nach beschriebenen Personen geordnet. Das Verzeichnis klingt wahrlich imposant. Die Brüder haben – aus mehr oder weniger regelmäßigem Umgang – Berühmtheiten gekannt wie: Charles Baudelaire, Daudet, Degas, Flaubert, Gautier, Victor Hugo, Huysmans, Maupassant, Rimbaud, Rodin, George Sand, Turgenjew, Verlaine und Zola – um nur eine erlesene Auswahl zu nennen.

Monsieur Flaubert und sein „Büffel-Frohsinn“

Selbst vor einem literarischen Genie wie Gustave Flaubert knieten sie keineswegs nieder. Gewiss haben sie spürbar gern mit dem Arbeits-Berserker geplaudert, doch bezeichnen sie den Monsieur aus dem normannischen Rouen als Grobian und provinziellen Effekthascher. Zitat: „Er ist ein maßloser Tolpatsch, schwerfällig in allen Dingen, im Scherz, in der Übertreibung (…) Seinem Büffel-Frohsinn geht jeglicher Charme ab.“

Mit Kaiser Napoleon III. und der wohl recht schwatzhaften Kaiserin Eugénie haben die Brüder Goncourt gleichfalls gesellschaftlich verkehrt. Auch über sie belustigen sie sich, so dass man durchaus nachvollziehen kann, dass die Aufzeichnungen erst im Jahr 1956 unzensiert erscheinen konnten. Der Kaiser, so erfahren wir, habe sich aus den Opernkulissen gern willige junge Frauen kommen lassen, die er in seiner blickdicht vergitterten Loge während der Aufführungen „vernaschte“. Operngenuss mal anders.

Wenn die Duse auf der Bühne Trauben aß

Vom Theater kennen die Goncourts beiläufig Legenden wie Sarah Bernhardt und Eleonora Duse, späterhin Inbegriffe der Divenhaftigkeit. Von der Duse heißt es, sie spiele nur Szenen, „die ihrem Talent entsprechen, während sie in allen anderen, die ihr mißfallen, Trauben ißt oder sich sonst irgendwelchen Zerstreuungen überläßt.“ Das muss man sich mal bildlich vorstellen. Bei der Bernhardt wiederum lebten, inmitten all der überbordenden orientalisch-japanischen Dekorationen, ein Affe und ein Papagei en famille, wobei der Affe den armen Vogel marterte und peinigte. Doch als man ihn deswegen wegnahm, starb der Papagei fast vor Kummer. Offenkundig eine amour fou, die vielleicht einem Marquis de Sade gefallen hätte, welch Letzterer nur namentlich vorkommt, weil just Flaubert von dessen sexuellen Verstiegenheiten besessen gewesen sei, wie die Goncourts genüsslich mitteilen.

Nicht nur Literaten und Künstler kommen vor, sondern vereinzelt auch Menschen der „niederen Stände“ bis hinab zur Gosse. Als seltsames Zwischenwesen tritt die verkrachte Schauspielerin Suzanne Lagier in Erscheinung, die ständig obszöne Reden schwingt und – um ein Wort von früher zu verwenden –  dermaßen „mannstoll“ ist, dass sie sich auch klaglos schlagen lässt und sich allenfalls selbst diverser Verfehlungen bezichtigt, so dass die Herren sie eben rechtmäßig züchtigen dürfen…

Ganz anders bewegend sodann die Passagen, die von Rose handeln, dem langjährigen und mit all ihren Gepflogenheiten vertrauten Dienstmädchen der Brüder. Sie starb einen qualvollen Tod. Erst danach stellte sich heraus, dass sie ein überaus wüstes Doppelleben geführt hatte. Mit heimlich abgezweigtem Geld der Goncourts kaufte sie sich Liebhaber und verfiel aus Kummer dem Suff. Hier hat es ein Ende mit den vielfach sarkastischen Betrachtungsweisen, die Brüder reden von einem Riss in ihrem Leben, von tiefer Trauer. Gleichwohl hat Alain Claude Sulzer in seinem mehrdeutig betitelten Roman „Doppelleben“ (erschienen im August 2022, ebenfalls bei Galiani) die Brüder Goncourt mit dem Schicksal von Rose konfrontiert und den Schluss nahegelegt, sie hätten nicht einmal bemerkt, wie neben ihnen eine Frau jämmerlich zugrunde ging, die sie seit Kindertagen betreut und bedient hatte. Das hört sich nach einem Filmstoff par excellence an.

Ihre Notizen waren gefürchtet

Edmond (1822-1896) und Jules (1830-1870) de Goncourt gelten als Mitbegründer eines eher mitleidlosen, scharf beobachtenden Naturalismus. Sie haben, nach allem, was überliefert ist, wie zuweilen verwechselbare Zwillinge über Jahrzehnte zusammen gelebt und nicht nur ihr Journal, sondern gar ihre Mätressen geteilt. Als charmante Plauderer nahmen sie die Menschen für sich ein, um sich hernach Notizen zu machen und selbige mit diabolischer Könnerschaft auszuformulieren. Manch eine(r) mied sie dann doch, um lieber nicht in ihren Bemerkungen vorzukommen und womöglich zum Gespött der Metropole zu werden. Auch Théophile Gautier argwöhnte: „Sobald man sie nicht anschaut, müssen sie wohl auf ihre Manschetten schreiben.“

Wie auch immer. Amüsante und verblüffende, vielfach auch degoutante Details finden sich in diesem Buch zuhauf. Eine äußerst kurzweilige Klatsch- und Tratsch-Lektüre, die Aspekte einer ganzen Epoche aufschließt. Sinnlichere Geschichts-Exkursionen lassen sich kaum denken.

Edmond und Jules de Goncourt: „Blitzlichter“. Aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Anita Albus. Mit bibliographischem Anhang und Register. Galiani Berlin, 352 Seiten. 25 Euro.

 




Aus ödem Alltag in den Ausnahmezustand: Hilmar Klutes Paris-Roman „Oberkampf“ zwischen Bistros, Kultur, Liebe und Terror

Jonas Becker heißt der Mittvierziger, der sich endlich aus seinem immergleichen Berliner Alltagsleben („Langstreckenglück“) befreien möchte. Er trennt sich von seiner allzeit effizienten Gefährtin Corinna. Auch gibt er die gemeinsame Agentur kluge-koepfe.de auf, die Koryphäen mancher Sorte an Veranstalter vermittelt. Beziehung und Firma liefen eben nicht mehr so gut. Um es bilingual zu sagen: Midlife-Crisis comme il faut.

Wohin kann man gehen, wenn es einem in Berlin zu fad werden sollte? Beispielsweise nach Paris. Immer und immer wieder erfahren wir durch Jonas in Hilmar Klutes Roman „Oberkampf“ (verhärtet klingender Name einer Pariser Métro-Station, benannt nach einem deutschstämmigen Tuchfabrikanten), was wir nicht zu fragen wagten: wie viel eleganter, entspannter, urbaner, kultivierter und sinnlicher die französische Metropole doch sei; wie schon die Sprache jenseits des Rheins sanfter klinge, einem weichen Plumeau vergleichbar. Mehr noch: Zahllose französische Chansons seien wahrhaft dichterisch, ganz anders als die „miefige Sehnsucht der Udo-Jürgens-Lieder“. Auch Schriftsteller haben dort Stil, während sie in Deutschland bestenfalls mal im Hilfiger-Pullover die Lesebühne betreten. Vom wundervollen Essen und von der Liebe ganz zu schweigen. Derlei hat man gelegentlich schon gehört, oder? Oh, là, là!

Ein Bewegungsgesetz dieses ebenso lukullischen wie promillereichen Romans ähnelt dem einiger französischer Kinofilme: Da geht’s unentwegt von Bistro zu Bistro, die Dreh- und Angelpunkte der meisten Tage kreisen ums faire la terrasse und um l’amour. Gleich bei seiner Ankunft gerät jener Jonas an ein munteres, aufgekratztes Trüppchen, das im Dezember einen luftigen Rotwein-Abend zelebriert und über Vorzüge wie Nachteile der Provinz (jemand will nach Montpellier ziehen) frotzelt. Mittendrin: die attraktive Christine, die schon mal in Freiburg studiert hat und leidlich Deutsch spricht. Jonas und sie tauschen keine Adressen, begegnen einander aber später auf wundersame Weise wieder. Wenn das kein Zeichen ist! Daraus erwächst recht rasch ein tägliches Mittagspausen-Ritual: halbe Stunde Liebe machen, halbe Stunde köstlich speisen. Hach ja, c’est Paris, n’est-ce pas?!

Schier endlose Interviews mit einem gealterten Schriftsteller

Weiterer Hauptstrang ist Jonas‘ Job daselbst. Er soll ein ausführliches Buch über den ergrauten Schriftsteller Richard Stein (86) verfassen, der sich in seinem von Fachkreisen hoch geachteten, aber kaum über solche Zirkel hinaus bekannten Werk eigentlich schon genugsam selbst bespiegelt hat. Die schier endlosen Interview-Sitzungen sind denn auch zermürbend. Der nur noch rückwärts blickende Stein verkörpert eine Art von geistiger Dominanz, die seine Mitmenschen zu verschlingen droht. Bloß gut, dass es die lebensdurstig vorwärts drängende Christine als Gegenpol gibt…

Eine Rahmenhandlung, die alles verändert, fasst das gesamte Konstrukt ein, sie hat bestürzend reale Vorbilder. Schon bald nach Beginn des Romans geschieht, sozusagen in Jonas‘ Quartiers-Nachbarschaft, das mörderische Attentat auf die Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo. Es wirkt wie eine Betäubung auf die Hauptstadt. Ganz am Schluss besiegelt ein weiterer Terroranschlag des Jahres 2015 (den wir hier nicht näher bezeichnen wollen, weil er ein frappierendes Ende markiert) die Handlung. Wie war das mit dem Alltag? Nun herrscht Ausnahmezustand in Permanenz.

Übrigens: Jonas ist natürlich eine literarische Figur, dennoch könnte die ihm nachdrücklich zugeschriebene Auffassung irritieren, dass die Leute von Charlie Hebdo ihre Scherze über den Islam eben einfach zu weit getrieben hätten und am Massaker gleichsam selbst schuld oder wenigstens mitschuldig seien. Ein kurzer Trip in die hoffnungslosen Banlieues, den Jonas und Christine hernach unternehmen, deutet jedenfalls auf die Unvereinbarkeit der soziokulturellen Welten in Paris hin.

Klutes Verlag weist derweil auf den zufälligen Umstand hin, dass der Prozess um die Charlie-Attentäter just im September beginnen solle, nahezu zeitgleich mit dem Erscheinen des Romans. Nun ja. Wenn es sich so verhält…

Prägnante Skizzen und weniger produktive Exkurse

Von gewissen Schematismen und dem einen oder anderen Klischee-Ansatz abgesehen, gelingen Hilmar Klute im Verlauf seines Roman etliche prägnante Skizzen von Personen und Situationen. Ein staunenswert mit sich im Reinen scheinender Exil-Wiener namens Altenberg zählt beispielsweise dazu, an einem anderen Ende der Skala auch Frankie, Concierge und Faktotum des Hauses, in dem sich Jonas‘ bescheidene Kleinstwohnung befindet. Und auch Fabian, jener eigentlich eher farblose Ex-Kompagnon aus der Berliner Köpfe-Firma, gewinnt ohne viel Aufhebens literarische Kontur. Die erloschene Liebe zwischen Corinna und Jonas wird in all ihrer Ödnis haarfein dargestellt. Das sind keineswegs nur Fingerübungen, das ist Könnerschaft; nicht so sehr in den ganz großen Bögen, sondern am deutlichsten im Nebenbei. Manche Abfolgen wirken denn auch nicht organisch entwickelt, sondern wie einzeln ersonnen und im Nachhinein montiert.

Hin und wieder verfängt sich Klute in weniger produktiven Exkursen. So müssen etwa, anlässlich eines Friedhofs-Spaziergangs (Montparnasse) mit Christine, an den Gräbern der Berühmtheiten vielerlei Meinungen und Urteile über Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, über Samuel Beckett und Serge Gainsbourg abgearbeitet werden. In einer weiteren Passage passiert Ähnliches mit Böll, Beuys und dem einstigen Literaturpapst Hans Mayer. Auch Max Frisch und Allen Ginsberg werden vergleichend abgehandelt. Zudem erfahren wir einiges über Jonas‘ Buchbestände, die er freilich weitgehend aufgibt. Nach den Aufzählungen kennen wir aber seinen literarischen Kanon. Überhaupt werden viele kulturelle Wertungen vorgenommen, was nicht unbedingt Aufgabe eines Romans ist. Langweilig wird es trotzdem nicht. Wie denn auch – in solchem Ausnahmezustand? Klute beschwört die Dämonen jener Tage auf persönlicher Ebene so herauf, dass es schwerlich ein Entkommen gibt, allenfalls die Illusion des Entrinnens.

Autor und Hauptfigur ließen das Ruhrgebiet weit hinter sich

Halt, das müssen wir jetzt noch nachholen: Hilmar Klute, heute federführender Redakteur der vielgepriesenen „Streiflicht“-Kolumne auf Seite eins der „Süddeutschen Zeitung“, ist gebürtiger Bochumer vom Jahrgang 1967. Doch das Ruhrgebiet hat er – ebenso wie seine Hauptfigur – entschieden hinter sich gelassen. Der Wahl-Berliner hat tatsächlich zwei Jahre in Paris gelebt. Seine Figur Jonas lässt er in Duisburg aufgewachsen sein, beruflich geht’s zuerst nach Köln. Und dann halt auch nach Berlin und Paris. Ein heillos abstruser Abstecher des Romans führt – selbstredend in einem kultigen Cadillac – nach San Francisco und Umgebung. Lauter bedeutsame, inspirierende Zentren also. Jedenfalls theoretisch. Aber egal, wo er ist, der mürrische Held Jonas scheint allerorten einigen Lebensüberdruss mit sich herumzutragen. Kann ihm auf Erden geholfen werden? Gegen Ende hin fühlt er sich auf einmal so seltsam erleichtert und befreit. Dann aber betritt er einen Saal, in dem er schon erwartet wird…

Hilmar Klute: „Oberkampf“. Roman. Galiani Berlin. 320 Seiten. 22 €.

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Eine Besprechung von Klutes vorherigem Roman „Was dann nachher so schön fliegt…“ findet sich hier.




Weitaus mehr als Barcarole und Can Can: Ein Blick auf das Offenbach-Jubiläumsjahr 2019

Jacques Offenbach um 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

Jacques Offenbach um das Jahr 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

Jacques Offenbach ist kein Unbekannter: Wer jemals die Barcarole aus „Hoffmanns Erzählungen“ gehört hat – und sei es nur als Werbe-Untermalung – wird die träumerisch-irisierende Melodie nie mehr vergessen. Wer nur einmal den Sog des Cancan aus „Orpheus in der Unterwelt“ gespürt hat, wird die Beine nie mehr ruhig bekommen.

Und dennoch: In seinem 200. Geburtsjahr 2019 ist der Kölner „Judenpursch“, der in Paris eine märchenhafte Karriere gemacht hat und nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 unter vielen Anfeindungen einen Absturz erleiden musste, als Komponist immer noch lückenhaft erschlossen, als Mensch oft nur als Klischeefigur präsent und in seiner Wirkungsgeschichte in längst nicht allen Aspekten beleuchtet. Von seinen zwischen gut 100 bis 140 geschätzten Werken für die Bühne sind höchstens zehn Prozent hin und wieder präsent, für viele gäbe es nicht einmal Noten- oder gar Aufführungsmaterial.

Motto des Festjahres in Köln: „Yes, we cancan“

Mit einem groß angelegten Festjahr will die Stadt Köln ihren wohl bedeutendsten musikalischen Sohn neu ins Bewusstsein rücken. Zahlreiche Partner bringen Mittel und Know-how ein, allen voran die Kölner Offenbach-Gesellschaft, das Land Nordrhein-Westfalen, Förderer aus der Wirtschaft, den Medien und der Kultur – und auch die Katholische Kirche. „Yes, we cancan“, ist das Motto des Jahres, das den „Erfinder der Operette“ endlich als einen der großen Komponisten des 19. Jahrhunderts öffentlich wirksam machen will.

Das tut not: Denn während etwa Richard Wagner omnipräsent auf der Bühne und in der Literatur ist, Werk und Person in nahezu allen Details ausgeleuchtet und kontrovers diskutiert sind, während sich Gioachino Rossini weltweit und immer mehr auch im deutschen Sprachraum steigenden Interesses erfreuen kann, während Giacomo Meyerbeers epochemachende Opern gerade in aufregenden Inszenierungen neu entdeckt werden, steckt eine umfassende Offenbach-Rezeption noch in den Anfängen.

Auch die seit 20 Jahren beim Verlag Boosey & Hawkes laufende monumentale Offenbach- Edition Jean-Christophe Kecks änderte das nur zeitweise und in einigen prominenten Fällen. Noch bis vor kurzem gab es Theater, die selbst Offenbachs Hauptwerk „Les Contes d’Hoffmann“ und seine bahnbrechenden Operetten nach altem, heutigen kritischen Standards nicht genügendem Material spielten.

Sein Musiktheater war für das Hier und Jetzt gedacht

Das hat vielfältige Gründe: Offenbach verstand sich nicht, wie Wagner, als Schöpfer überzeitlich gültiger Werke, sondern produzierte für sein Hier und Jetzt, für die Gesellschaft des französischen Zweiten Kaiserreichs. Sein Stern sank nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, nach dem er in Frankreich wie in seinem Heimatland Deutschland gesellschaftlich angefeindet wurde und den zunehmenden Antisemitismus zu spüren bekam.

Offenbach konzipierte sein Musiktheater neu, setzte auf märchenhafte, opulent ausgestattete Féerien. Seine zeitaktuellen, satirischen Werke hatten ihre große Zeit hinter sich. Spätere Generationen konnten nichts mehr damit anfangen. Die Kritik konzentrierte sich im Schatten Wagners auf die angeblich „seichte“ Musik und übte sich in moralischer Empörung.

Die großen Erfolgsoperetten degenerierten zu harmlos-heiteren Vergnügungen. Nationalismus und Antisemitismus als treibende Kräfte sorgten dafür, dass gerade die politisch-satirische Seite seines Œuvres, die schon zu seinen Lebzeiten von der Zensur klein gehalten wurde, auf den Bühnen kaum eine Chance mehr hatte.

In alle Winde verstreutes Material

Dass „Orpheus in der Unterwelt“ oder „Pariser Leben“ als relativ viel gespielte Werke nicht nur burleske Parodien der versunkenen Antike oder einer historisch gewordenen Gesellschaft sind, sondern aufmüpfiges Potenzial haben, wurde zwar seit den siebziger Jahren wieder entdeckt. Aber die Nach-68er-Kultur suchte sich andere Ausdruckswege als ausgerechnet Operetten.

So erfreute sich Offenbach zwar eines gewissen Respekts, der sich aber – so jedenfalls in der Erinnerung – nicht in Zahl und Qualität der Aufführungen niederschlug. Dazu kommt die Abwertung der Gattung Operette in den letzten Jahrzehnten, die zwar vor allem dem – seit der Nazizeit geförderten – sentimentalen Genre galt, aber dafür sorgte, dass die Sparte des unterhaltsamen Musiktheaters an den meisten Theatern auf eine oder zwei Produktionen pro Spielzeit schrumpfte, wenn sie nicht ganz aufgegeben wurde, und die spezialisierten Ensembles verschwanden. Und ein Problem ist auch die archivalische Überlieferung: Das Material ist in alle Winde verstreut, nicht zugänglich oder überhaupt nicht bekannt.

Das Problem mit der Aktualisierung

Zu ihrer Zeit waren Jacques Offenbachs Operetten – präziser ist der Begriff der opéra bouffe – topaktuell. Deswegen klappt es mit der Modernisierung meistens nicht. Zwischen laschem Historismus und bemühter Zeitgenossenschaft führt eine tückische Straße geradewegs in Belanglosigkeit, glitschig gepflastert mit groben Gags oder völlig überdreht in den Klamauk abdriftend. Offenbach zu inszenieren gehört in die Königsklasse des Regiehandwerks, und an Figuren wie der Großherzogin von Gerolstein mit ihrer zweifelhaften Entourage oder König Bobèche („Barbe-bleue“) in den Gedärmen seiner Macht scheitern Regisseure unter Umständen erbärmlicher als an Parsifal oder Elektra.

Derzeit in Hagen im Spielplan: Jacques Offenbachs "Pariser Leben". Die Regie von Holger Potocki lässt das nostalgische Paris nur noch als Zitat zu. Veronika Haller und Kenneth Mattice als Ehepaar Gondremarck in der Aufführung in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Derzeit in Hagen im Spielplan: Jacques Offenbachs „Pariser Leben“. Die Regie von Holger Potocki lässt das nostalgische Paris nur noch als Zitat zu. Veronika Haller und Kenneth Mattice als Ehepaar Gondremarck in der Aufführung in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Christoph Marthaler hat in Basel an „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ vorgeführt, was es heißt, die Figuren Offenbachs in ihren ambivalenten Charakteren ernst zu nehmen, ohne Humor, Ironie und Parodie zu verraten. Und auch an kleineren Theater gelingt der eine oder andere Offenbach-Abend, etwa jüngst in Hagen, wo Holger Potocki in „Pariser Leben“ jede Form von Historismus meidet und das damals aktuelle, heute historisch-nostalgisch verklärte Paris nur als sanft ironisches Zitat zulässt.

Der „Sittenverderber“ aus dem frivolen Paris

Inzwischen passé sind die Argumente gegen den Meister des satirischen Humors, wie sie nicht zuletzt in kirchlichen Kreisen lange vorgebracht wurden: Offenbach als „Sittenverderber“ stand für ruchloses Treiben auf (und wie geargwöhnt hinter) der Bühne, für verdammenswerte sexuelle Freizügigkeit, für das Verderben einer für unschuldig gehaltenen Jugend. Dazu hat Manuela Jahrmärker unter dem Titel „Vom Sittenverderber zum ewig klassischen Komponisten“ in einem lesenswerten Band von Rainer Franke über „Offenbach und die Schauplätze seines Musiktheaters“ zahlreiche Quellen gesammelt, die nicht nur das christliche Milieu betreffen.

Offenbach ist in seinem völlig säkularen Musiktheater in der Tat ein Komponist der Moderne. Aber über allen moralischen Verdikten wurde übersehen, wofür seine beißende Kritik steht: Er entlarvt die moralische Heuchelei, das Bemänteln von Machtwille, Gier, narzisstischer Egozentrik oder eiskaltem ökonomischem oder politischem Kalkül mit „höheren“ Werten. Er führt Machthaber und ihre subalternen Schmarotzer vor, die Staat und Gesellschaft, Regeln und Gesetze nur als Mittel verstehen, mit denen sie sich Macht oder Lust verschaffen. Der Jupiter in „Orphée aux Ènfers“ ist eben kein drollig parodierter antiker Gott, sondern ein Scheusal, das selbst die – moralisch nicht weniger fragwürdigen – Stützen seiner Macht gegen sich aufbringt.

Dass Offenbach in den wenigen stillen, sentimentalen Momenten die Sehnsucht seiner Figuren nach einer wahrhaftigen, menschlichen Welt durchschimmern lässt, in der vielleicht sogar echte Liebe möglich sei, gibt seinen Operetten einen zutiefst humanen Zug und lässt, was seine Kritiker meist übersehen haben, in der Verderbtheit seiner Welten die „Sehnsucht nach dem Heil“ durchscheinen – nur eben viel menschlicher als bei Wagner.

Entdeckungen auf den Spielplänen der Opernhäuser

Der Blick auf die Spielpläne der Opernhäuser bis Juli 2019 zeigt noch wenig von dem innovativen Impuls, den sich Kenner und Liebhaber Offenbachs vom Jubiläumsjahr erhoffen. Der Opern-Klassiker „Les Contes d’Hoffmann“ steht sowieso im internationalen Repertoire – so von Buenos Aires über Peking, Moskau und Wrocław bis Neapel, in Deutschland in Gera und Karlsruhe. Aber seine erst in jüngerer Zeit wiederentdeckte Oper „Les Fées du Rhin“ („Die Rheinnixen“) wird derzeit lediglich in Biel-Solothurn, sein „Fantasio“ nur in Montpellier und Eindhoven (ab Mai 2019, geplant ist auch ein Gastspiel in Köln) gespielt.

Die nie veröffentlichte, erst jüngst von Jean-Christophe Keck wiederentdeckte und publizierte köstliche Polit-Satire „Barkouf“ – ein Hund regiert als Vizekönig im indischen Lahore – erlebte im Dezember 2018 Strasbourg ihre moderne Erstaufführung und wird 2019/20 in Köln zu sehen sein. Und in Hannover treibt in einer weiteren bissigen Satire auf unfähige Herrscher und korrupte Cliquen „Le Roi Carotte“ sein Unwesen.

Seltenes kündigen auch die Pariser Bühnen an: das Théâtre des Champs-Elysées „Maître Peronilla“ und die Opéra Comique „Madame Favart“. Und mit Hilfe des Palazzetto Bru Zane, einem Zentrum für die Erforschung und Wiederentdeckung der romantischen französischen Oper, führt das Théâtre Marigny unter dem Titel „Bouffes Bru Zane“ von Januar bis Juni eine Serie von einaktigen Werken der opéra-bouffe auf.

Von der „Prinzessin von Trapezunt“ bis zum regierenden Hund „Barkouf“

Nur in Würzburg bis April und ab Mai 2019 in Hamburg wird im deutschsprachigen Raum derzeit Offenbachs Erfolgsoperette "La Belle Hélène" gespielt. In Alexandra Burgstallers Ausstattung ist die fern gerückte Antike nur noch dekorative Assoziation. Foto: Nik Schölzel

Nur in Würzburg bis April und ab Mai 2019 in Hamburg wird im deutschsprachigen Raum derzeit Offenbachs Erfolgsoperette „La Belle Hélène“ gespielt. In Alexandra Burgstallers Ausstattung ist die fern gerückte Antike nur noch dekorative Assoziation. Foto: Nik Schölzel

In Deutschland zeigt das rührige Theater Hildesheim ab 3. März 2019 „Die Prinzessin von Trapezunt“. Andere beschränken sich bisher auf das, was von Offenbach in den Spielplänen überlebt hat: „Die Großherzogin von Gerolstein“ (Aachen, Halle, Köln), „Die schöne Helena“ (Hamburg, Würzburg), „Pariser Leben“ (Hagen, Trier) und „Orpheus in der Unterwelt“ (Bielefeld, Krefeld-Mönchengladbach, Mannheim, Oldenburg).

In Köln umfasst die Liste der Veranstaltungen in nächster Zeit eine Podiumsdiskussion am 22. Januar im Domforum mit dem Kölner PresseClub und dem Katholischen Bildungswerk, bei der das deutsch-französische Verhältnis im europäischen Kontext thematisiert wird. Das Institut Français in Köln eröffnet am 25. Januar eine Veranstaltungsreihe zum Offenbach-Jahr mit dem jungen Kölner Ensemble VivazzA. Das Konzert stellt Offenbach in den Kontext der Musik seiner Zeit.

„Divertissementchen“ zur Karnevalszeit

Ein Riesenspaß dürfte ab 2. Februar „Offenbach – ein Divertissementchen“ der Oper Köln werden, das die Karnevalszeit bis 5. März mit schmissiger Musik und Ballett-Choreografien auf die übliche Kölner Weise ausfüllen wird. Am 16. März nimmt die Kammeroper Köln ihre Produktion von „Orpheus in der Unterwelt“ wieder auf. Am 9. Juni feiert dann „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ ihre Premiere in der Oper Köln. Ab 17. Juni zeigt die Volksbühne am Rudolfplatz in Köln zwei der hintersinnig-amüsanten Einakter: „Die Insel Tulipatan“ und „Salon Pitzelberger“. Und ab 19. Juni stehen Leben und Werk Offenbachs im Zentrum eines Symposions der Hochschule für Musik und Tanz in Köln.

Info: https://www.yeswecancan.koeln/veranstaltungen




Junge Frau, ganz auf sich gestellt: Wuppertal würdigt das künstlerische Werk von Paula Modersohn-Becker

Paula Modersohn-Becker: „Kopf eines kleinen Mädchens mit Strohhut" (1904). Öl auf Leinwand (© Kunst- und Museumsverein im Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Kopf eines kleinen Mädchens mit Strohhut“ (1904). Öl auf Leinwand (© Kunst- und Museumsverein im Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Man muss es sich immer wieder vor Augen halten: All die Bilder der Paula Modersohn-Becker (1876-1907) stammen von einer sehr jungen Frau. Schon recht früh zeigt ihr Werk alle Anzeichen von Reife.

Mit ungefähr 20 begann sie vorsichtig tastend ihren künstlerischen Weg. Anfangs malte sie noch sichtlich unbeholfen. Aber dann! In wenigen Jahren hat sie das Ihre gefunden. Schon mit 31 Jahren ist sie gestorben und hat bis dahin nach ihrer eigensinnigen, sanft beharrlichen Art eine gewisse Vollendung erreicht. Ihre besten Bilder erstrahlen vor Innigkeit, sie sind von manchmal geradezu bestürzender Wahrhaftigkeit. Eher unscheinbaren Motiven wie Kinderbildnissen oder einfachen armen Leuten verleiht  sie etwas beispielhaft Monumentales, aber ganz und gar nichts Auftrumpfendes.

Spannungsfeld zwischen Worpswede und Paris

Als sie zwölf Jahre alt war, zog die Familie (der Vater war preußischer Bahn-Baurat) mit sieben Kindern von Dresden nach Bremen. Doch zwei andere, denkbar gegensätzliche Orte sind entscheidend für ihren künstlerischen Werdegang gewesen, den jetzt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum in den Blick nimmt: das bei Bremen gelegene Dörfchen Worpswede mit seiner kleinen Künstlerkolonie, den vielen schlanken Birken, dem Teufelsmoor – und das leuchtende Paris! In der Silvesternacht 1899/1900 reist sie erstmals an diese Stätte ihrer Sehnsucht. Sie kehrt mehrmals dorthin zurück, manchmal für einige Monate.

Paula Modersohn-Becker: „Alte Armenhäuslerin", um 1905. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Alte Armenhäuslerin“, um 1905. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Zahllose Ausstellungen der damals avantgardistischen Künstler und Kunstströmungen (u. a. Cézanne, Gauguin, Van Gogh, Nabis, Fauves) sieht sie dort, sie studiert an der Académie Calarossi, lernt später den leidenschaftlich bewunderten Bildhauer Auguste Rodin kennen – durch Vermittlung des Dichters Rainer Maria Rilke, der zu jener Zeit Rodins Privatsekretär ist. Nach vorherigen Lehrjahren in Berlin, wo sie Einflüsse von Arnold Böcklin und Walter Leistikow aufnimmt, entfaltet sie an der Seine nach und nach ihr Talent.

Exemplarischer Lebenslauf

Eigentlich wird Paula die kleine Welt von Worpswede nun zu eng. Und doch kehrt sie immer wieder dorthin zurück. Ein Zwiespalt. Auch sonst sammelt sie Widersprüche: Eigentlich sehnt sie sich nach einem üblichen Familienleben, doch durch ihr Werk und ihr künstlerisches Streben emanzipiert sie sich zunehmend, ohne zur Feministin zu werden.

Sie heiratet den Maler Otto Modersohn, aber nach ein paar unerfüllten Jahren will sie sich von ihm trennen. Es kommt jedoch zu einer Art Versöhnung und sie, die immer Kinder haben wollte, wird endlich schwanger. Unfassbare Tragik: 18 Tage nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde stirbt Paula an einer Embolie. Ein als exemplarisch empfundener weiblicher Lebenslauf um 1900, der – mit erfinderischen Zutaten – vor zwei Jahren auch fürs Kino taugte, als Christian Schwochows Film „Paula“ mit Carla Juri in der Titelrolle herauskam.

Übrigens: Es hat sich eingebürgert, sie lediglich Paula zu nennen – ohne den etwas sperrigen Doppelnamen. Bei welchem männlichen Künstler verfahren wir ebenso? Sagen wir nur „Max“ zu Ernst oder Beckmann? Sagen wir bloß Pablo oder Salvador?

Zu Lebzeiten rundweg unterschätzt

Zurück ins Museum. Nach Bremen besitzt Wuppertal das zweitgrößte Konvolut an Werken Paula Modersohn-Beckers, immerhin 22 Gemälde umfassend. Sie bilden den Kern der Schau, die zuerst fürs Rijksmuseum Twenthe in Enschede (Niederlande) zusammengestellt wurde und nun quasi als „Re-Import“ in Wuppertal zu sehen ist, wo Beate Eickhoff als Kuratorin wirkt. Paula Modersohn-Beckers Schaffen wird (mit aufschlussreichen Seitenblicken auf einige Zeitgenossen) anhand von etwa 80 Arbeiten weitgehend chronologisch aufgeblättert, so dass man das zu ihrer Zeit weithin unbeachtete Aufblühen ihrer Fähigkeiten nachvollziehen kann.

Paula Modersohn-Becker: „Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen", um 1907. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen“, um 1907. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Zu Lebzeiten hat sie nur ganz selten ausgestellt, sie wurde in Abhandlungen über Worpswede kaum je erwähnt, auch hat sie so gut wie keine Bilder verkauft. Wenn überhaupt einmal ein männlicher Kritiker über sie schrieb, ging es gleich recht ruppig und verletzend zu. Folglich glaubte sie zunächst nicht an sich selbst, sie war aber gottlob hartnäckig. Viele ihrer Bilder blieben unsigniert und trugen nur eine Jahreszahl.

„Hände wie Löffel…“

Selbst ihr Mann Otto Modersohn ahnte zwar ihre Begabung, mäkelte aber auch über ihren Malstil, und zwar wortwörtlich derart anmaßend: „Sie haßt das conventionelle und fällt nun in d. Fehler alles lieber eckig, häßlich, bizarr, hölzern zu machen. Die Farbe ist famos, aber die Form? Der Ausdruck! Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins…“ Außerdem sei sie auch noch – wie man heute sagen würde – beratungsresistent.

Paula Modersohn-Becker: „Sitzende Mutter mit Kind auf dem Schoß", 1906. Öl auf Pappe (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Sitzende Mutter mit Kind auf dem Schoß“, 1906. Öl auf Pappe (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Richtig ist, dass sie einem Ideal der Einfachheit frönte: „Es brennt in mir ein Verlangen, in Einfachheit groß zu werden.“  Insbesondere als Porträtistin wollte sie wahre, ungeschönte Menschen zeigen. Eine Frau mit grotesk langer Nase wird zu allem Überfluss im unvorteilhaften Profil dargestellt. Das Gegenteil von gefälliger Auftragskunst. Wenn das nicht authentisch ist…

„Die roten Rosen waren nie so rot…“

Auch der hochmögende Rilke erkannte ihr Wesen wohl erst recht spät, doch umso inbrünstiger. In Gedanken an sie schrieb er ein Gedicht, das so beginnt: „Die roten Rosen waren nie so rot / als an dem Abend, der umregnet war. / Ich dachte lange an dein sanftes Haar… / Die roten Rosen waren nie so rot.“  Manche Kunstfreunde, die es gerne menscheln sehen, spekulieren bis heute, ob Rilke nicht die bessere Wahl für Paula Becker gewesen wäre. Ach, wie müßig ist das!

Während die schöpferischen Herren in Worpswede (Otto Modersohn, Heinrich Vogeler, Fritz Mackensen u. a.) die Akademien verabscheuten und sich möglichst nur noch schwärmerisch in freier Natur ergehen mochten, erstrebte Paula gerade umgekehrt eine akademische Ausbildung, die ihr damals jedoch weitgehend verwehrt blieb. Private Institute standen ihr allenfalls offen, keine staatlichen. Vielleicht hat sie ihre Anlagen gerade deswegen umso eigenständiger entwickeln können. Sie war ganz auf sich gestellt. Schmerzliche Verheißung der Freiheit!

Ungeheuerliche Aktdarstellung mit Kind

Die Heimattümelei der allzeit in Worpswede verbliebenen Männer, die sich geradewegs stur weigerten, Einflüsse aus Frankreich aufzunehmen, machte sie später anfällig für nationalistische oder noch schlimmere Versuchungen. Geradezu revolutionär muten hingegen die „späten“ Bilder von Paula an: Wenn sie sich etwa selbst als Akt mit Kind darstellt (damals eine Ungeheuerlichkeit) oder wenn ihr aparte Mädchendarstellungen im deutlichen Gefolge des exotischen Gauguin gelingen, so wagt man kaum sich vorzustellen, was aus ihr noch hätte werden können.

Paula Modersohn-Becker auf der Veranda ihres Hauses, 1901 (Ausschnitt) (Foto: Atelier Schaub, Hamburg / Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen)

Paula Modersohn-Becker auf der Veranda ihres Hauses, 1901 (Ausschnitt) (Foto: Atelier Schaub, Hamburg / Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen)

Auzfgrund ihrer jeweils allerneuesten Kunst-Erfahrungen in Paris ließ Paula Modersohn-Becker alsbald impressionistische Anwandlungen hinter sich. Courbet sagte ihr mehr als Monet. Sie hat nicht bloß die Natur nachgeahmt, sondern sich draußen ins Gras gelegt, die Augen geschlossen, sozusagen „innere Bilder“ aufgerufen und diese Bilder schließlich flächig konstruiert, in kühnen Perspektiven zugespitzt oder stilisiert. So darf sie bereits als eine Vorläuferin des Expressionismus gelten. Bei etlichen Besuchen im Pariser Louvre wurde sie überdies auf altjapanische Kunst und auf altägyptische Totenbilder von erhabener Einfachheit aufmerksam. Auch solche Spuren, welche die Wuppertaler Ausstellung getreulich nachzeichnet, finden sich in ihrem Oeuvre.

Riesiger Nachlass – nachlässig behandelt

So wenig Anerkennung war der Lebenden insgesamt zuteil geworden, dass man überrascht war, als sich etwa 700 vielfach beachtliche Gemälde und rund 1000 Zeichnungen in ihrem Nachlass fanden, der – das Wortspiel sei erlaubt – leider recht nachlässig behandelt wurde. Zudem ging hernach vieles im Gefolge der schandbaren Nazi-Ausstellungsaktion „Entartete Kunst“ verloren, anderes wurde im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs zerstört.

Und wie kam es, dass gerade in Wuppertal viele Bilder von ihr vorhanden sind? Nun, letztlich ist es dem vielfach in Bremen wirkenden Künstler Bernhard Hoetger (aus Hörde stammend, heute ein Stadtteil von Dortmund) zu verdanken, der den eigentlichen Gründervater des heutigen Museums, den Wuppertaler Bankier August von der Heydt, recht früh auf Paula Modersohn-Beckers Schaffen hinwies. So konnte es auch nicht ausbleiben, dass im nahen Hagen Karl Ernst Osthaus von ihrem Wirken erfuhr. Es waren Zeiten und Kreise, in denen Region keineswegs „Provinz“ bedeuten musste.

„Paula Modersohn-Becker. Zwischen Worpswede und Paris“. 9. September 2018 (Eröffnung ab 11:30 Uhr) bis zum 6. Januar 2019 im Von der Heydt-Museum, Turmhof 8, Wuppertal. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12 €, ermäßigt 10€, Katalog 20 €.

Weitere Informationen: http://vdh.netgate1.net/

 

 

 

 




Düsseldorf: Surrealistische Freiheitskunst aus Ägypten

Der Titel weckt erhabene Gefühle: „Art et Liberté“, Kunst und Freiheit! Man erwartet das große Ganze, Wunderbare. Doch im K20, dem schwarz glänzenden Tempel der Kunstsammlung NRW, geht es in diesem Sommer nur um ein sehr spezielles Thema: das vergessene Wirken einer Gruppe ägyptischer Surrealisten um 1940. Mit der vom Pariser Centre Pompidou übernommenen und von einem Scheich gesponserten Schau überbrückt man die Wartezeit bis zum Antritt der neuen Direktorin Susanne Gaensheimer.

Ramses Younane: Ohne Titel (1939). Courtesy H. E. Sh. Hassan M. A. Al Thani collection, Doha. (Foto: Haitham Shebab) / © Kunstsammlung NRW)

Ramses Younane: Ohne Titel (1939). Courtesy H. E. Sh. Hassan M. A. Al Thani collection, Doha. (Foto: Haitham Shebab / © Kunstsammlung NRW)

Salim al-Habschi, Hassan el-Telmisani, Ibrahim Massouda: Nie gehört? Die Namen der Künstler, die sich Ende der 1930er-Jahre in Kairo unter der Parole „Art et Liberté“ zusammentaten, sind unbekannt. Zu Recht, muss man nach dem Besuch der Ausstellung leider sagen. Denn was man da sieht, ist hauptsächlich so etwas wie das schwülstige Abbild der Avantgarde-Werke, die im Paris zwischen den Weltkriegen entstanden waren. In der Tat hatten etliche Talente aus dem zu jener Zeit noch britisch dominierten Ägypten in der französischen Hauptstadt studiert oder zumindest nach Inspiration gesucht.

Das haben sie in Paris gelernt

Antoine Malliarakis zum Beispiel, genannt Mayo, Sohn eines griechischen Suez-Kanal-Ingenieurs, hatte in den 1920er-Jahren das prickelnde Künstlerleben am Montparnasse gesucht. Keineswegs zufällig ähneln Mayos kurios komponierte, sandfarbene Körperteile von 1937 den surrealistischen Strandszenen von Picasso.

Auch die Kollegen guckten ab. Ringsum meint man grobe Kopien der Traumlandschaften von Max Ernst, Salvador Dalí oder Yves Tanguy zu sehen. Hier glotzt ein Auge aus Tentakeln, da erscheint eine weiche Uhr in einer Landschaft, Nackte steigen aus dem Sumpf, trickreich veränderte Fotografien nach Art von Man Ray verbreiten mysteriöse Stimmungen.

Mayo: "Portrait" (1937). Europäisches Kulturzentrum von Delphi, Griechenland (VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: © Kunstsammlung NRW)

Mayo: „Portrait“ (1937). Europäisches Kulturzentrum von Delphi, Griechenland. (VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: © Kunstsammlung NRW)

Um die fatalen Ähnlichkeiten zu durchbrechen, proklamierte der auch theoretisch versierte Maler Ramses Younane den „Subjektiven Realismus“ und malte 1939 eine dürre gebogene Figur, die entfernt an altägyptische Hieroglyphen erinnert.

Nun ja. Man hat schon weit größere Kunst im K20 gesehen. Aber die Schau ist historisch-politisch interessant und wurde von den Gastkuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath mit Hilfe von Filmen, Tönen und großen Fotografien lebendig inszeniert.

Hoffnung auf die Zukunft

In Kairo also, der Metropole des Orients, formierte sich im Dezember 1938 ein Widerstand gegen die faschistische Kulturpolitik in Deutschland, Italien und der Sowjetunion. „Vive l’art dégénéré“, es lebe die „Entartete Kunst“, überschrieben 37 vereinte Künstler und Intellektuelle in Anspielung auf den Titel der Münchner Nazi-Propaganda-Ausstellung ein Manifest für „Art et Liberté“.

In der „entarteten“, also von akademischen Zwängen und Schönfärberei befreiten Kunst, sahen die progressiven Ägypter „alle unsere Chancen für die Zukunft“ und riefen auf: „Lasst uns gemeinsam für ihren Sieg über das Mittelalter arbeiten, das im Herzen des Okzidents entsteht.“ Dazu bildeten sie ein heute weltberühmtes, damals neues Anti-Kriegsbild des spanischen Idols Picasso ab: „Guernica“.

Inji Efflatoun: Surrealistische Komposition (1942), Privatsammlung (Foto: © Kunstsammlung NRW)

Inji Efflatoun: Surrealistische Komposition (1942), Privatsammlung. (Foto: © Kunstsammlung NRW)

Ganz nebenbei registriert man, dass auch Frauen – natürlich ohne Schleier – Mitglied der Künstlergruppe waren. Filmisch dokumentierte Stadtszenen zeigen eine westlich geprägte Gesellschaft. Islamistischer Fanatismus war noch kein Thema. Die Welt hatte andere Probleme. Die Kriegsfront zog sich zwar nicht durch Kairo, aber 1941 waren hier 140 000 Soldaten stationiert. Wie alte britische Nachrichtenfilme zeigen, prägten marschierende Truppen und rollende Panzer das Straßenbild.

Gegen die Stimmen der Kanonen

„Die Stimme der Kanonen“, so der erste Katalogtitel der Künstlergruppe, übertönte alles. Und die Künstler kämpften leidenschaftlich auf ihre Art. Inji Efflatoun, Malerin und Feministin, versetzte „Mädchen und Monster“ in den Dschungel ihrer Fantasie, und Georges Henein, Poet und Diplomatensohn, dichtete Pathetisches: „Die Furchen deiner Stirn seien gleich Salven, die Edelsteine, die prachtvolle Orgien verheißen, die diesen großen parallelen Lüsten vorbehalten sind …“. Vielleicht ist die Übersetzung ja auch etwas kraus, man weiß es nicht.

Maler und Schriftsteller als Mitglieder von "Art et Liberté" auf einem Foto, das um 1945 entstanden ist. (Unbekannter Fotograf / Sammlung Christophe Bouleau, Genf / © Kunstsammlung NRW)

Maler(innen) und Schriftsteller als Mitglieder von „Art et Liberté“ – auf einem Foto, das um 1945 entstanden ist. (Unbekannter Fotograf / Sammlung Christophe Bouleau, Genf / © Kunstsammlung NRW)

Aus einer Ecke tönt der Saint-Louis-Blues von Teddy Stauffer, ein Film zeigt lockere Frauen und Bauchtänzerinnen mit Gasmasken aus dem Cabaret. Es ging wohl recht ungezwungen zu in den Clubs von Kairo. Gleich, was in Europa in und nach dem Krieg geschah – eine reiche Elite amüsierte sich, während die Armut unterprivilegierter Bevölkerungsschichten immer größer wurde. Ausgemergelte Gestalten auf den Bildern von „Art et Liberté“ weisen auf diese Missstände hin. Wie fatal sich eine solche gesellschaftliche Schieflage auf Dauer auswirkt, wissen wir heute. Schon deshalb ist es wichtig, Kunst und Freiheit hochzuhalten.

„Art et Libertè – Umbruch, Krieg und Surrealismus in Ägypten (1938-1948)“. Bis 15. Oktober im K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr, jeden 1. Mittwoch im Monat bis 22 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog: 35 Euro. www.kunstsammlung.de




Ratlos in Paris

Fußball: Frankreich – Deutschland, aus Paris übertragen in der ARD. Zwischendurch hört man ein paar Detonationen. „Wieder diese elende Pyrotechnik“, denkt man zuerst. Doch es war lauter als sonst. Deutlich lauter. Furchtbar laut.

Menschen im Stade de France (Screenshot ARD)

Menschen im Stade de France (Screenshot ARD)

Und dann erfährt man, nach und nach: Es hat Tote gegeben. Viele Tote. Furchtbar viele Tote. So dass man gar keine Zahlen mehr nennen mag.

Derart unübersichtlich ist die Lage, dass sie auch im Fernsehen gar nichts Genaues wissen. Die versammelten Sportreporter sind eh grässlich überfordert, sie ahnen, dass jetzt eine andere Agenda gilt, doch sie senden zwischendurch noch Zusammenfassungen anderer Spiele des Abends, wiewohl sie selbst immer wieder betonen, dass man nun nicht mehr über Sport reden dürfe. Um 23:55 Uhr wird immer noch in Kickerei gemacht: Belgien gegen Italien. Welch ein Kracher! Hauptsache: auf Sendung bleiben, Bilder haben. Wie nichtssagend sie auch immer sein mögen.

Die Paris-Korrespondentin, die in Extra-Ausgaben der Tagesschau immer wieder einvernommen wird, ist ebenfalls hilflos. Wie soll sie auch den Überblick haben?

Man beneidet niemanden an diesem Abend. Weder die Fernsehleute. Noch die Fußballer oder Zuschauer im Stadion. Und erst recht nicht die Menschen, die direkt betroffen sind.




Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo – Zeit für eine Debatte über die Rolle der Religionen

Der feige Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo hat zwölf Menschen das Leben gekostet und großes Leid über ihre Angehörigen, ihre Freunde, ihre Kollegen gebracht.

Und er verletzt auch meine a-religiösen Gefühle zutiefst, meine Vernunft, mein Herz. Die Erkenntnis, dass Religionen und (Massen-)Wahn sehr nah beieinander liegen, ist – im wahrsten Sinne des Wortes – beileibe nicht neu. Zeigt sich dieser Zusammenhang aber im alltäglichen Leben als Katastrophe, wird er vollends unerträglich. Da hilft auch die Flucht von Sprechern religiöser Verbände in die Schutzbehauptung, Religionen und religiöser Fundamentalismus als Terrorismus hätten nichts miteinander zu tun, nirgends weiter, sondern verdunkelt nur tatsächliche Zusammenhänge.

Es wird also höchste Zeit für mehr radikale Religionenkritik, für eine Debatte über die Rolle der Religionen im öffentlichen Raum. Laizismus (laïcité) und Abbau der Sonderrechte für alle Religionen – dahin könnte es in einer demokratischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts gehen. Statt dessen versuchen nur mehr Religionen, den öffentlichen Raum zu unterwerfen. Dagegen ist zu setzen: Freiheit für die Religionen (ja, im Privaten), aber eben auch weitgehende Freiheit von den Religionen im öffentlichen Raum. Hierzulande gilt das Grundgesetz und das schützt nicht nur die Presse- und Meinungsfreiheit, nicht nur die Religionen, sondern auch die Freiheit humanistischer Weltanschauungen als Art, die Welt anzuschauen und dies auch zu artikulieren.

Allerdings hat sich jetzt in Frankreich drastisch gezeigt, dass Laïcité allein nicht genügt. Der breite öffentliche Diskurs über menschengemachte Götter, Religionen, Kirchen, Sekten in ihrem historisch-ideologischen Kontext fehlt im europäischen Rahmen deutlicher denn je. Selbst wenn Religionen nur noch Privatsache wären, gäbe es wohl noch genug irregeleitete Gläubige aller Couleur, die mit ihrem Alleinvertretungsanspruch Gewalt gegen Andersgläubige oder „Ungläubige“ legitimieren würden. Auf Dauer helfen nur beharrliche, friedliche, kluge, kenntnisreiche Argumente gegen abergläubische Wahrheitspächter, hilft nur die sich selbst immer neu aufklärende Aufklärung.

Ich oute mich deshalb immer öfter in der Familie oder am Arbeitsplatz, im Sportverein oder beim Schreiben… als Humanist, der auf die Idee „Gott“ gerne und humorvoll verzichten kann, der deren Entstehung historisch-kritisch zwar nachvollziehen kann, aber eben auch die Überlebtheit jeder „Gottes“-Idee feststellen muss. Das Staunen vor der unerschöpflichen Vielfältigkeit allen Seins nimmt dabei eher zu, viele Fragen dazu sind offen. Religionen aber geben darauf keine auch nur irgendwie überzeugende Antwort, sondern fordern allein: Dran-Glauben, Gehorsam und Hirnabschalten.

Wie wäre es, wenn wir den wunderbaren Toleranzgedanken Gotthold Ephraim Lessings weiterentwickelten? Lessing ging es in der Ringparabel des „Nathan der Weise“ um die friedliche Konkurrenz dreier Religionen. Heute dagegen geht es weltweit um die Konkurrenz vieler Religionen mit vielen anderen Welt-Anschauungen, darunter auch ein (gottfreier) Humanismus. Nur wer Güte nicht nur predigt, sondern sie auch lebt, ist in dieser Konkurrenz überhaupt ernst zu nehmen.

Darf man den verehrten Lessing vielleicht so ein wenig umschreiben?

Nathan:
Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Verbundenheit als Mensch dem Menschen,
Zu Hülf‘! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad‘ ich über tausend tausend Jahre,
Sie wiederum an diesen Tisch. Da werden
Weisre Menschen hier in trauter Runde sitzen,
Als ich; und sprechen.




Leben im Wildwuchs der Lektüren: Ulrich Raulff blickt in die 1970er Jahre zurück

Leicht kommen einem die eigenen Jugendjahre mitsamt den Zwanzigern wie die allerbesten Abschnitte der Geschichte vor. Das waren noch Zeiten. Da fühlte man sich noch (gelegentlich) kraftvoll und schier unverwundbar. Und wie man von Tag zu Tag immer klüger wurde, wie man allen die Stirn bieten wollte…

In solchem Sinne, wenn auch mit nachträglicher Skepsis ausbalanciert, hat Ulrich Raulff jetzt Bruchstücke seiner intellektuellen Autobiographie vorgelegt. Ein weiteres Beispiel fürs Genre „Wenn Großvater erzählt“?

Der 1950 in Meinerzhagen geborene Raulff hat seine historischen und philosophischen Studien vornehmlich in Marburg, Frankfurt und Paris betrieben, sich aber auch in Berlin, England, Italien und den USA umgetan. Man darf da wohl einen gutbürgerlichen Familienhintergrund mit entsprechendem Selbstbewusstsein vermuten.

Raulff

Jedenfalls hat Raulff etwas aus sich gemacht: Er war zeitweise Feuilletonchef der FAZ sowie leitender Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und ist schließlich 2004 Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach geworden. Alles vom Feinsten.

In dem Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern“ erzählt er nun vornehmlich von seinen studentischen Lehr- und Wanderjahren. Der „Nach-68er“ Raulff, der somit an der vermeintlich großen Rebellion nicht beteiligt war, schildert die frühen 70er Jahre als Zeit des überaus heiligen Ernstes aus dem allmählich versiegenden Geiste marxistischer Strömungen und Grüppchen. Welch eine Rechthaberei herrschte da! Wie war man im Gehege des Zeitgeistes gefangen! In so mancher festgefahrenen Debatte ward den Sensibleren unbehaglich zumute. Hier drohte der Absturz ins Kleinbürgerliche, dort das Elend der Polit- und Psychosekten.

Ulrich Raulff beschreibt die vielen, vielen langen Tage, die er in den schönsten und ergiebigsten Bibliotheken verbracht hat. Er selbst baute an der Uni regelmäßig einen Büchertisch auf. Auch die erotische Neigung zu zartsinnigen Mädchen scheint sich allemal durch gehabte oder ersehnte Lektüren angebahnt zu haben. Büchereien, so lernen wir abermals, sind nicht zuletzt Stätten eines im weitesten Sinne erotischen Begehrens. Das Leben und das Lesen waren also nahezu eins.

Als große Befreiung hat der junge Mann es erlebt, im Paris der mittleren und späten 70er Jahre in ein ganz anderes intellektuelles Klima einzutauchen als vormals in Marburg, wo etwa Wolfgang Abendroth das Sagen hatte. In Frankreich waren es die großen Zeiten von Roland Barthes und Michel Foucault. Glückhafter Umstand für die weiteren Jahre: Von Foucault hielt Raulff alsbald ein Empfehlungsschreiben in den Händen, das seinerzeit in Paris und eigentlich weltweit alle Türen der Geisteswelt öffnete. Er und ein Freund hatten sich einfach getraut, den großen Meister anzusprechen…

Der Strukturalismus und seine Vernunftkritik, die etwas später als Import in Deutschland anlangten, erwiesen sich für Raulff als Vademecum gegen den bis dato stramm links dominierten Diskurs. Ideologische Spurwechsel wurden damals vielfach vollzogen. Vom „Auszug aus der Suhrkamp-Kultur“ ist bei Raulff die frohe Rede. Als weiterer Zweig des Bedenkenswerten kam u. a. Aby Warburgs und Erwin Panofskys Ikonologie (Lehre von den Bildern) hinzu, deren Impulse im deutschen Sprachraum von Denkern wie Klaus Theweleit und Ausstellungsmachern wie Harald Szeemann aufgenommen wurden.

Noch heute zeigt sich Raulff so beseelt von jener Zeit, dass er sich vielfach in Einzelheiten verliert. Der Punk kam damals auf und Raulff war Mitbegründer einer eher randständigen Zeitschrift namens „Tumult“. Man vernimmt hie und da Gestus und Duktus eines weltläufigen „Ich war dabei“, doch behält all das einen gewissen Charme und gerät nirgendwo zum Auftrumpfen. Gegen die Gefahren eines Bildungsphilistertums ist Raulff offenbar gefeit.

Auch kann man wahrlich die Wehmut nachvollziehen, mit der Raulff die schweifenden, wildwüchsigen Lektüren beschwört, deren Früchte sich in Zettel- und Karteikästen statt in Computer-Dateien ergossen haben. Jeder Lesende war sozusagen seine eigene Suchmaschine.

Wer damals (wenngleich begrenzter und glanzloser) ebenfalls studiert hat, kann zudem einigen geistigen Signaturen jener Jahre nachspüren, die einen selbst – so oder so – berührt haben. Auch in diesem Sinne sind Raulffs Erinnerungen ein aufschlussreiches Dokument der „Jahre, die ihr kennt“.

Ulrich Raulff: „Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens“. Klett-Cotta. 170 Seiten. 17,95 Euro.




Erfinder des Saxophons: Vor 200 Jahren wurde Adolphe Sax geboren

Ein Glück, dass die Welt in diesem Fall nicht auf den Papst gehört hat: Im Jahre 1903 erreichten Pius X. alarmierende Nachrichten vom Eindringen eines neuen Instruments in die geistliche Musik. Umgehend verbot er das Ding, das den Namen seines Erfinders Adolphe Sax trug. Bis heute sei der Bann nicht gelöst, heißt es. Aufgehalten hat der Heilige Vater den Siegeszug des Saxophons dennoch nicht. Bisweilen erklingt es wieder in Kirchen: wenn ein Organist etwa einen Saxophonspieler einlädt, mit ihm ein Konzert zu gestalten. Niemand wird deswegen noch eine Meldung nach Rom senden.

Adolphe Sax auf einer historischen Fotografie.

Adolphe Sax auf einer historischen Fotografie.

Der Erfinder des Instruments, Adolphe – eigentlich Antoine Joseph – Sax wurde vor 200 Jahren, am 6. November 1814, in Belgien geboren. Seine Heimatstadt Dinant an der Maas pflegt bis heute liebevoll sein Andenken: Das Jubiläumsjahr ist gefüllt mit Konzerten und Veranstaltungen, eine vier Tonnen schwere gläserne Wasseruhr in Form eines Saxophons schlägt bis zum Jubiläums-Geburtstag im Hof des Rathauses von Dinant. In Brüssel, wohin Sax mit seiner Familie noch im ersten Lebensjahr umzog, erinnert eine Ausstellung „Sax200“ bis 11. Januar 2015 an den genialen Erfinder und Instrumentenbauer. Sogar ein „Adolphe Sax Bier“ wird in Belgien gebraut.

Dabei hatten es weder Sax noch die nach ihm benannte Instrumentenfamilie leicht. In Kindheit und Jugend schien ein böses Geschick entschlossen, sein Überleben zu verhindern: Sax stürzte eine Treppe hinab, verschluckte eine Nadel, trank mit Schwefelsäure vergiftetes Wasser, erlitt bei einer Explosion Verbrennungen und wäre fast ertrunken. Später überlebte er Mordanschläge seiner Konkurrenten, Überfälle auf seine Werkstatt und eine schwere Krebserkrankung. Kein leichtes Leben, aber Sax lebte es zäh, ausdauernd und zielstrebig.

Der Vater arbeitete als Kunsttischler und eröffnete 1815 in Brüssel eine Werkstatt für Instrumentenbau. Sein Sohn – eines von elf Kindern – lernte das Handwerk von der Pike auf, studierte aber auch am Konservatorium Flöte und Klarinette. Letztere war das erste „Opfer“ seiner Erfindungsgabe, denn Sax verbesserte die Bassklarinette (später auch die Klarinette) und ließ sich mit 24 Jahren darauf ein Patent ausstellen. Es sollte das erste von 46 Patenten sein. Dasjenige auf die Familie der acht Saxophone, 1846 erworben, war nur das prominenteste. Andere betrafen Instrumente wie das Horn oder die Tuba – oder auch Tonsignale für die Eisenbahn.

Alte Saxophone sind kostbar und geben Einblick in Klang und Spieltechnik früherer Zeiten. Foto: Pixabay

Alte Saxophone sind kostbar und geben Einblick in Klang und Spieltechnik früherer Zeiten. Foto: Pixabay

Sax hatte einen Plan, den er zielstrebig umsetzte: Er wollte für das Militär ein Blasinstrument entwickeln, das dem Klang von Streichinstrumenten nahe kam, aber mehr Kraft und Intensität im Ton haben sollte. Damit wollte er bei der anstehenden Reform der französischen Militärmusik eine entscheidende – und für ihn wirtschaftlich segensreiche – Rolle spielen. Kein Wunder, dass er auf den entschlossenen und teilweise gewalttätigen Widerstand der gesamten Front der Pariser Instrumentenbauer stieß. Sie nutzten jedes Mittel, um Sax außer Gefecht zu setzen, überzogen ihn mit Prozessen, strebten eine Annullierung seiner Patente an, warben seine Arbeiter ab, brannten die Werkstatt nieder und sollen ihm sogar zwei Mal nach dem Leben getrachtet haben.

Sax hatte jedoch einen guten Schutzengel, mehr noch: Bei einem Wettbewerb 1845 gab es eine Schlacht der Instrumente auf dem Pariser Marsfeld. 25.000 Zuschauer sollen dabei gewesen sein, als das Saxophon-Orchester Adolphes über die mit traditionellen Blasinstrumenten wie Oboen, Hörnern und Fagotten angetretene gegnerische Formation einen lautstarken und überwältigenden Sieg errang. Fortan gehörte das Saxophon zur Ausrüstung der französischen Militärkapellen.

In der klassischen Musik fand es in den Komponisten der Zeit neugierige Befürworter. 1841 stellte Sax das erste Exemplar, ein Bass-Saxophon, auf der Brüsseler Industrieausstellung vor. Wohlweislich spielte er es hinter einem Vorhang, damit niemand seine Idee stehlen konnte. Ein Jahr später ging er mit einem Sopran-Saxophon ausgerüstet nach Paris; Hector Berlioz lernte das Instrument kennen, schrieb einen begeisterten Artikel und verwendete es 1844 in seiner im Original leider verlorenen „Hymne sacrée“.

Andere Komponisten folgten: von Georges Bizet bis Maurice Ravel reicht die Liste; letzterer vertraute dem exotisch anmutenden Klang des Saxophons eine prominente Rolle etwa in seinem „Boléro“ oder in seiner Bearbeitung von Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ an. Heute ist das Instrument aus der zeitgenössischen Musik nicht mehr wegzudenken. Es gibt sogar Ensembles wie das Raschèr Saxophone Quartet, das nicht nur neue Stücke spielt, sondern schon mal Bachs „Kunst der Fuge“ auf vier Saxophonen klanglich ungewohntes Leben einhaucht.

Sigurd Raschèr, der Gründer des Ensembles, 1907 in Elberfeld geboren, wurde 1933 aus Deutschland hinausgeekelt – doch es gelang den Nazis nicht, das „schmutzige“ Instrument, ein Symbol auch sexuell geprägter Leidenschaft, aus der Musik zu verbannen. Ein alter Musiker, der vor dem Krieg in den legendären Hotel-Tanzkapellen spielte, hat mir einmal berichtet, dass er sich als Klarinetten-Student am Konservatorium nicht erwischen lassen durfte, wenn er zum Saxophon griff, um sich in einer Band ein wenig Geld mit Tanzmusik zu verdienen. Das waren streng verbotene Abwege!

Doch damals hatte das Saxophon längst sein eigentliche Domäne erobert: die Jazz- und Swing-Musik des 20. Jahrhunderts. Zwischen den alten Jazzern und dem goldschimmernden Rohr zündete eine Liebe auf den ersten Blick. Was wäre der Jazz ohne das Saxophon eines Sidney Bechet, eines Charlie Parker, eines Coleman Hawkins? Was wäre die Tanzmusik der Zwanziger ohne die Saxophone von Duke Ellington? Was der ironische Schlager aus der Weimarer Zeit, der Berliner Swing oder die schmeichelnden karibischen Klänge der Lecuona Cuban Boys? Selbst in den Operetten der „goldenen“ Zwanziger, ob in Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ oder in Eduard Künnekes „Vetter aus Dingsda“, gehören Saxophone zur Original-Instrumentierung.

Diese Zeit hat Adolphe Sax nicht mehr erlebt: Er starb 1874, nach dem dritten und endgültigen Bankrott seiner Firma, verarmt und einsam in Paris und wurde auf dem Friedhof von Montmartre begraben. Sein Geburtshaus in Dinant steht nicht mehr, aber in der Rue Adolphe Sax 37 zeigt man die Stelle, an der es einst gestanden hat. Der Firmen-Name lebt weiter: Der Belgier Karel Goetghebeur ließ sich den Namen „Adolphe Sax & Cie“ schützen und belebte die Produktion von Saxophonen in Belgien neu. Seine Werkstatt in Brügge baut Instrumente nach Vorbildern aus den vierziger Jahren – aber mit allen modernen spieltechnischen Errungenschaften.




„Paris um jeden Preis“: Kino-Komödie zum Konflikt der Kulturen

Maya stammt aus Marokko. Doch sie lebt schon 20 Jahren in Paris und ist mit ganzem Herzen Französin.

Die Sprache ihrer Heimat kann sie weder verstehen noch sprechen. Warum sollte sie auch, ist sie doch ständig mit ihren französischen Freunden unterwegs und in der Modebranche zuhause. Ihr ganzes Leben kreist um ausgefallene Stöckelschuhe und den neuesten Look. Wenn ihre Ideen für die aktuelle Kollektion ankommen, könnte sie endlich die lang erhoffte Festanstellung in einem bekannten Modezar bekommen.

Maya (Reem Kherici) muss sich unversehens in Marokko zurechtfinden. (Bild: © polyband Medien GmbH)

Maya (Reem Kherici) muss sich unversehens in Marokko zurechtfinden. (Bild: © polyband Medien GmbH)

Doch dann geschieht das für Maya völlig Unfassbare: Als sie nachts in eine Polizeikontrolle gerät, stellt sich heraus, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung längst abgelaufen ist. Schon am nächsten Tag, da kennen die Franzosen kein Pardon, wird sie abgeschoben und sitzt im Flieger gen Marokko.

Plötzlich lebt die schicke Mode-Zicke mitten unter verschleierten Frauen, läuft sich mit ihren High-Heels auf staubigen Straßen die Füße wund und muss sich ständig die Vorwürfe ihres Vaters anhören, der meint, sie habe sich dem westlichen Satan verschrieben und führe ein lasterhaftes Leben. Fortan kreisen Mayas Gedanken nur um eines: Wie kann ich so schnell wie möglich wieder nach Paris kommen?

„Paris um jeden Preis“ ist ein ebenso flotte wie oberflächliche Komödie über alle Klischees, die wir über den Konflikt der Kulturen so gern pflegen. Ob Europäer oder Araber, Modemenschen oder Muslimbrüder, sie alle bekommen ihr satirisches Fett weg und werden durch den Kakao gezogen.

Aber richtig ans Eingemachte gehen und wehtun soll das nicht. Alles dreht sich um Reem Kherici, sie hat das Drehbuch geschrieben, führt Regie und spielt die Hauptrolle. Wahrscheinlich hatte niemand am Set den Mut ihr zu sagen, dass auch andere gelegentlich Luft zum Atmen brauchen und mehr als nur Stichwortgeber für überkandidelte Gags sein wollen.

Die um Maya alias Reem Kherici kreisenden Figuren sind mithin etwas flach und flau geraten, dafür aber immer brüllkomisch. Kaum verwunderlich, dass am Schluss alles so kommt, wie man es erwartet hat: Maya schöpft aus der ihr zunächst so fremden Heimat emotionale Kraft und kreative (Mode-)Fantasie und kehrt – rundum geläutert – auf (illegalen) Pfaden zurück in ihre Wahlheimat. Aber um jeden Preis, wer hätte das gedacht, muss sie, die das Leben und die Liebe ganz neu begriffen hat, nicht mehr in Paris leben. Geht’s noch ein wenig einfacher?

(Kinostart 22. Mai)




Brigitte Bardot und die erotische Nostalgie

Heute Abend war Henri-George Clouzots Filmklassiker „Die Wahrheit“ (1960) im arte-Programm zu sehen. Da dachte ich spontan: Den schaust du dir noch einmal an. Wer spielt die Hauptrolle? Richtig: Brigitte Bardot! Mit diesem Film wurde sie erstmals auch als ernsthafte Charakterdarstellerin wahrgenommen.

Zuvor hatte die Bardot vor allem als blonde Lolita Männern – wie man früher zu sagen pflegte – „den Kopf verdreht“, vorwiegend in nicht allzu ambitionierten Filmen. Charakteristisch schon die (deutschen) Titel wie „Gier nach Liebe“, „Das Gänseblümchen wird entblättert“, „Und immer lockt das Weib“ oder „Mit den Waffen einer Frau“. Da wurde ganz anders fabuliert als im französischen Original.

Schwärmerei und Raserei

Mehr Markenzeichen ging damals nicht. In den 50ern und den frühen 60ern galt die Bardot als das weibliche Sexsymbol schlechthin. Ihre Ehen mit Roger Vadim und Gunter Sachs wurden legendär und zogen Klatschpresse samt Paparazzi zuhauf an. Wohl so manche Spießer-Phantasie wurde dabei aufgestachelt. Sie hatte das Zeug dazu, Männer zum Schwärmen oder gar zur Raserei zu bringen.

Szene aus "Die Wahrheit" (1960): Dominique (Brigitte Bardot) bringt den jungen Dirigenten Gilbert (Sami Frey) zur Verzweiflung. (© ARTE France/CPT Holdings Inc.)

Szene aus „Die Wahrheit“ (1960): Dominique (Brigitte Bardot) bringt den jungen Dirigenten Gilbert (Sami Frey) zur Verzweiflung. (© ARTE France/CPT Holdings Inc.)

Wer hätte damals gedacht, dass sie schon sehr bald für den hochintellektuellen Regisseur Jean-Luc Godard (1963 in „Die Verachtung“) spielen würde? Und wer hätte vorausgesehen, dass sie nach dem abrupten Ende ihrer Filmkarriere (1973) einmal als militante Tierschützerin und als Galionsfigur der französischen Front National, also der fremdenfeindlichen Rechtsaußenpartei, Aufsehen erregen würde? Kurzum: Sie ist einem inzwischen herzlich unsympathisch geworden.

Heute sind andere Typen gefragt

Auch erotische Moden haben ihre Zeit, insofern kann man geradezu von „erotischer Nostalgie“ sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine wie die Bardot heute ähnlich Furore machen würde. Jetzt sind längst andere Frauentypen gefragt – und andere Männertypen als damals.

Trotzdem: Wenn man ein wenig älter ist, kann man immer noch gut nachvollziehen, was damals den Mythos der Bardot ausgemacht hat. Man ist ihr ja vielleicht selbst ein wenig auf den Leim gegangen; seinerzeit, als Brigitte Bardot ein gehöriges Stück Zeitgeist buchstäblich verkörpert hat.

Geilheit als Generationenfrage

War ihre flirrend unschuldige und doch so „sündige“ Ausstrahlung nicht auch ein Zeichen der Freiheit, eine Rebellion gegen starre Moral-Verhältnisse? Genau darum ging es in Clouzots Gerichtsfilm „Die Wahrheit“, der ganz grundsätzliche Kritik an der Justiz übt. Der Streifen hat bis heute Bestand – nicht zuletzt wegen der grandios agierenden Bardot. Dazu diese aufregende Pariser Atmosphäre…

Vor ein paar Jahren fiel einmal der Name Brigitte Bardot in einem freundschaftlichen Gespräch. Ein junger Mann, der damals auf die 30 zusteuerte noch heute (knapp) unter 40 ist, musste bekennen, dass er den Namen Brigitte Bardot noch nie gehört hat. Unfassbar! Da merkt man denn doch, woran die Geister sich scheiden. Auch Geilheit ist eine Generationenfrage…

Übrigens: Im nächsten September, so sagt der Kalender, wird Brigitte Bardot 80 Jahre alt. Kann man sich das vorstellen? Du meine Güte! Irgendwie nicht.




Stimmungsmache, Skandalgerede, Voraburteile: Dortmund und die „Tannhäuser“-Premiere

Kay Voges inszeniert in Dortmund den "Tannhäuser". Foto: TheaterDortmund/Birgit Hupfeld

Kay Voges inszeniert in Dortmund den „Tannhäuser“. Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Skandal! Das Wort ist ausgesprochen, ist nachzulesen schwarz auf weiß. Der Vorgang, den es bezeichnet, wird herbeigeredet, -geschrieben, von manchem vielleicht auch ersehnt. Stimmungsmache, Beschwichtigungen, Erklärungen und Voraburteile schwirren durch den Raum. Eine Debatte ist zu verfolgen, deren Gegenstand bisher nur fragmentarisch sich darstellt. Es ist so, als würde ein Schmetterlingsbein sich aus der Raupe herausschälen, und einer ruft: „Ist das Tier aber hässlich“.

Worum geht es? In nüchternen Worten formuliert, um die bevorstehende Premiere von Richard Wagners großer romantischer Oper in drei Akten „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ am Theater Dortmund. Regie führt Kay Voges, der erfolgreiche, längst über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Chef des Schauspielhauses. Es ist seine erste Arbeit im musikdramatischen Fach. Voges wird, über das Bühnengeschehen hinaus, multimediale Effekte einsetzen. Eigentlich ist solcherart Inszenierungsbeigabe ein nicht mehr ganz neuer Hut. Doch mancher Bedenkenträger fragt schon jetzt beklommen, ob das nicht zu viel des Illustrierens sei.

Wagners „Tannhäuser“ – da war doch was. Genau: etwa die tumultuöse Aufführung 1861 in Paris, als organisierte Gruppen mit aller Macht (und Trillerpfeifen) das Werk des Deutschen akustisch zerstören wollten. Ein Vorgang, der bis heute zu den größten Eklats der Musikgeschichte zählt. Und jüngst, im Mai, der Skandal um die Inszenierung von Burkhard C. Kosminski an der Rheinoper in Düsseldorf. Die Premiere war die erste und letzte szenische Vorstellung, hernach blieb der Vorhang zu, der „Tannhäuser“ mutierte zu einem rein konzertanten Erlebnis. Freilich, der Regisseur hatte das Werk teils in der Nazi-Zeit verortet und pantomimisch gezeigt, wie eine ganze Familie exekutiert wird. Einige aus dem Publikum gaben an, sie hätten ob der Zumutung einen Arzt aufsuchen müssen.

Wenige Tage später stellte Dortmunds Opernchef Jens-Daniel Herzog den neuen Spielplan vor, mit eben jener Nachricht, dass Kay Voges den „Tannhäuser“ inszenieren werde. Um eiligst hinzuzufügen, Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Dann ging die Zeit ins Land und die Welt war in Ordnung. Nun aber, nach einigen Überlegungen des Regisseurs, abgedruckt in der Theaterzeitung, nach Einführungsmatinee und öffentlicher Probe, herrscht plötzlich jede Menge Aufgeregtheit. Der Knackpunkt vor allem: die Videoprojektionen.

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Joseph Tichatschek als Tannhäuser und Wilhelmine Schröder-Devrient als Venus in der Dresdner Uraufführung 1845. Zeichnung: F. Tischbein

Voges setzt sie im Schauspiel regelmäßig ein, etwa in seiner Inszenierung nach Thomas Vinterbergs „Das Fest“. Die Gesichter der Figuren werden groß auf eine Leinwand projiziert, auf dass das Publikum jede emotionale Regung und deren mimische Entsprechung mitbekomme. Das war immerhin eine Nominierung für den Theaterpreis „Faust“ wert. Ähnliches hat Voges im „Tannhäuser“ vor. Hinzu kommt der Versuch, in dieser Figur, taumelnd zwischen Venusberglust und hehrer Minne, Christus zu sehen; in Anlehnung an Martin Scorseses so umstrittenen wie glänzenden Film „Die letzte Versuchung Christi“.

Ob das gelingt, werden wir sehen. Voges sagt, Wagner, der Verfechter des Gesamtkunstwerks, hätte den Film als Gestaltungsmittel eingesetzt. Jens-Daniel Herzog hat das in einem Interview ähnlich formuliert. Ein Teil der veröffentlichten Meinung hingegen zerrt den wohlbekannten Satz mancher Wagnerianer hervor, der Komponist habe das so sicher nicht gewollt. Nun gut, Spekulationen sind das eine, teils polemische Urteile über einen Probenausschnitt aber sind von anderem Gewicht. Vom Skandal ist vorsorglich auch schon Mal die Rede.

„Kinder, schafft Neues!“ ist ein vielzitiertes Wagner-Wort. Ist der Einsatz der Video-Technik zu neu? Das Dortmunder Publikum werde durch die Bilder zu sehr von der Musik und den Figuren abgelenkt, unkt es im Blätterwald, das Seelenheil der Zuschauer könnte leiden. Solcherart Fürsorge ex cathedra wirkt geradezu putzig. Doch Filmsequenzen zur Oper sind den Musikfreunden der Stadt durchaus bekannt, zuletzt gesehen in hochgelobten Konzerthaus-Aufführungen von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und, man staune, in Richard Wagners „Tristan und Isolde“.

Voges hat unterdessen auf die Vorab-Urteile höchst originell reagiert. Bei aller Verärgerung stichelte er in einer Mischung aus Ernst und Ironie zurück. Inmitten seiner tiefsinnigen, urkomischen, so erfrischend albernen wie entlarvend verstörenden Revue „Das goldene Zeitalter“, in der uns das Leben als Endlosschleife offenbart wird, mit mehr oder weniger gelungenen Versuchen, daraus auszubrechen. Da dröhnt die „Tannhäuser“-Ouvertüre aus den Lautsprechern, und ein blondes Barbiepuppenwesen hämmert manisch in die Schreibmaschine „Volle Konzentration auf die Musik“.  Konsequent fällt der Vorhang, das Theater wird zum kollektiven Wohnzimmer mit Stereoanlage, Rezeption zur behaglichen Routine, wie der alltägliche Konsum der Tagesschau. Touché!

Gut nur, dass nun, kommenden Sonntag (1. Dezember), endlich Premiere ist, in annähernd ausverkauftem Haus. Erst dann ist die Stunde ernsthafter, kundiger Analyse und ästhetischer Beurteilung gekommen. Stimmungsmache aber vernebelt die Gedanken.

Informationen zur Inszenierung: http://www.theaterdo.de/detail/event/513/?not=1




Für kurze Zeit im Leben mitspielen – Franz Hessels „Pariser Romanze“ neu veröffentlicht

Über das Verlorene lässt sich bekanntlich am besten schreiben – wenn auch nicht jeder die deutsche Sprache so einzigartig meistert wie Franz Hessel. Mit seiner „Pariser Romanze“, die der Lilienfeld Verlag in der schönen Buchausstattung seiner Lilienfeldiana-Reihe neu herausbringt, formuliert Hessel eine doppelte Liebeserklärung.

Das eine Geständnis richtet sich an eine junge Berlinerin, die zum Malen und Französischlernen für begrenzte Zeit nach Paris gekommen ist. In seiner Prosaarbeit nennt der Autor sie Lotte; aus Hessels Biographie ist leicht zu ersehen, dass seine spätere Ehefrau, Helen Grund, für die Figur Modell gestanden hat.

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Die zweite Liebeserklärung gilt Paris, und zwar dem unwiederbringlich verlorenen Paris, das der Erste Weltkrieg zerstörte. Über seinen Freund Henri-Pierre Roché hatte der junge und damals noch vermögende Franz Hessel, der 1906 in die französische Metropole kam, Zugang zu einer internationalen Bohème gefunden; er mischte sich unter Künstler und Bonvivants, die „von dem neuen Abendlande redeten, dem Zukunftslande der besten Europäer, an dem wir bauen wollten, um den ewig unverzeihlichen Fehler der Erben Karls des Großen wiedergutzumachen, wir seligen Toren.“

Es kam leider zunächst anders. Der Ausbruch des Weltkriegs treibt die bunte Clique jäh auseinander. Als Soldat auf deutscher Seite, erst im Elsaß, dann an der Ostfront, schreibt Arnold Wächter, wie Hessel sein Alter Ego in der Erzählung nennt, in mehrere Schulhefte einen einzigen langen Brief in vier Teilen an seinen Freund Claude (alias Henri-Pierre Roché). Die Fortsetzung der Freundschaft ist ungewiss; Wächter lässt die Briefe über einen gemeinsamen Schweizer Bekannten zustellen.

Die Kriegsgegenwart ist in den Briefen kurz, aber eindringlich, meist zum jeweiligen Briefbeginn, dargestellt, bevor das Erinnerungswerk seinen Lauf nimmt. Wächter klagt über den „verzweifelten Stumpfsinn des Garnisonslebens; das gräßliche System machte mich subaltern. Es war, als dürfte ich nicht mehr denken.“ Mit dem Krieg geht der Verfasser der Briefe hart ins Gericht: „Dies Sterben ist Sünde, dies Blut schreit zum Himmel. […] Mut ist ein Zwitter aus Wahnsinn und Genauigkeit geworden.“

Zwar folgte Hessel, wie so viele junge Deutsche, zum Kriegsbeginn dem Gestellungsbefehl schneller, als es für ihn als Familienvater nötig gewesen wäre, doch zeigt er sich durch den Krieg geläutert und veröffentlicht – ein Verlagswechsel ist dazu nötig – den liebevollen Rückblick auf seine Jahre in Paris bereits 1920, als Frankreich den meisten Deutschen weiterhin als der Erzfeind galt.

„Papiere eines Verschollenen“, wie der Untertitel des Buchs lautet, das ist zum Glück eine von zwei großen Fiktionen des weitgehend autobiographisch verstehbaren Buchs.

Aus anderen Romanen des Autors wissen wir, wie sehr sich Hessel in der Rolle des unbeteiligten Zuschauers gefiel, ein Flaneur eben. „Ich war so glücklich, aus der Welt des Erfolgs und der Beziehungen fort zu sein“, heißt es auch in der „Pariser Romanze“. Dann aber erzählt er Claude, wie eine junge Frau ihn „eine kurze Zeit verführt hatte, das Leben der Lebendigen mitzuspielen.“ Er begegnet Lotte auf einem der Maskenbälle zuerst in einer „Hosenrolle“; sie ist als Opernpage kostümiert. Wächters mütterlich wirkende Ex-Geliebte Hertha macht ihn mit der Tochter ihrer Schulfreundin bekannt, die sich dem Paris-Erfahrenen gern anschließt, um mehr von der Stadt kennenzulernen.

Indem er Lotte durch die ihm bereits vertraute Stadt führt, erlebt er die Schauplätze wie in einem „Traumgleiten“ – St. Séverin, St. Julien le Pauvre und natürlich die Cafés des Montparnasse, in denen Hessel verkehrte. Auch heutige Paris-Liebhaber dürften bei der Lektüre auf ihre Kosten kommen, verkehrte Lotte doch zum Beispiel gern in der noch immer recht lebendigen Rue de la Gaîté, „jener erstaunlichen Straße, in der für den Bewohner des Montparnasse im kleinen alle Reize von Paris, ins Volkstümlich-Vorstädtische verwandelt, billig angeboten werden“ – und wo sich das Bobino befindet, in dem von Josephine Baker über Juliette Gréco und Édith Piaf bis Amy Winehouse alle möglichen Größen des Chansons und Entertainments aufgetreten sind.

Beginnt nun, wie der Titel verspricht, eine Romanze? Ja. Jedoch in dem speziellen Hesselschen Sinn. Wächter erweist sich als väterlicher Freund. Ein Ratgeber, den die gefühlsverwirrte junge Frau fragen kann: „Welches Leben ist denn nun das richtige, Pamelas oder Lilys oder Frau Herthas oder das meiner Mutter?“ Wächter streichelt daraufhin ihr Haar: „Mein armes Kind, nun erlebst auch du das Schreckliche, daß die Welt ohne Gesetz ist und jeder in seiner Art recht hat in der leeren Welt.“ Und über sich selbst: Er habe keine Welt, „ich hause in Ruinen vergangener Welten.“

Sie hat das nötige Vertrauen, neben ihm einzuschlafen, und er betrachtet die Schlafende, ohne sie zu berühren.

Die Gefahr solcher Männer liegt woanders. Lottes englische Freundin Pamela warnt: „Das sind Leute von der Wissenschaft, sie merken sich alles, was man sagt, und jede Gebärde. Und nachher muß man sich lebenslänglich so benehmen, wie es in ihren ersten Notizen steht.“

Den, der sich nicht ans Leben verlieren möchte, quält schließlich doch Eifersucht, wenn Lotte ohne ihn an einem Maskenball teilnimmt. „Wenn nun irgendein Wissender, Nüchterner nach ihr griff, so ein Maler oder Mediziner? Und ich fühlte bei dem Gedanken einen körperlichen Schmerz.“

Der Zuschauer hat sich in die Liebe hineinziehen lassen. Als er Lotte vor ihrer Rückfahrt nach Deutschland zur Metro begleitet, fürchtet er sich „wie ein Kind vor dem Alleinbleiben.“ Hastig macht Arnold Wächter ihr einen Heiratsantrag. Lotte ist entsetzt. Helen war es nicht. Und das ist die zweite große Fiktion im Buch. Denn bereits anderthalb Jahre bevor der Erste Weltkrieg ausbrach, waren Franz Hessel und Helen Grund verheiratet. Verloren hat er Helen erst später – an seinen Freund Henri-Pierre Roché. Aber das ist die Geschichte von „Jules und Jim“, das Buch von Roché und der Film von Truffaut.

Die biographischen Fakten zur „Pariser Romanze“ und mehr Wissenswertes ergänzt das Nachwort des ausgewiesenen Franz-(und-Stéphane-)Hessel-Experten Manfred Flügge.

Franz Hessel: „Pariser Romanze. Papiere eines Verschollenen. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Einbandgestaltung unter Verwendung eines Gemäldes von Simone Lucas. Lilienfeldiana Band 15. 144 Seiten. ISBN 978-3-940357-28-1. € 18,90




„Midnight in Paris“: Woody Allen und die Nostalgie

Der Herr Woody Allen filmt in den letzten Jahren so oft in Europa, dass ich den Verdacht habe, dass er in all den Städten einfach ausgestiegen und für ein Weilchen dageblieben ist, weil sie ihm gefielen. Wie Clint Eastwood in „The Bridges of Madison County“. Kaum hat er London, Barcelona und Paris erlebt, dreht er schon in Rom.

Aber jetzt „Midnight in Paris“: schon beim allerersten Bild, bevor der Vorspann kam, begann meine Verliebung. Ich nostalgierte sofort beim Anblick dieser zärtlichen Schwenks über Arondissements, Straßen, Alleen, Parks und der Brücken über die Seine! Diese liebevolle Musik! Genau da wär ich ausgestiegen aus dem Zug und wäre geblieben. Aber ich kenne Paris schon, und trotzdem bin ich ausgestiegen. Und eingestiegen, mitgefahren auf dieser romantischen Zeitreise.

Denn das ist es, eine Zeitreise. Ich kann über diesen Film gar nichts schreiben, ohne nicht wenigstens ein paar klitzekleine Spoiler preiszugeben. Die Reise geht in die Roaring Twenties. Oder waren es die Golden Twenties? Das Jazz-Age?

Szenenbild (Concorde Filmverleih)

Der junge Hollywood-Schreiberling Gil (Owen Wilson) ist allerdings erst mal mit Braut Inez (Rachel McAdams) und Schwiegereltern in spe als Tourist im Paris der Gegenwart unterwegs. Er hat seinen 400-Seiten Roman über den Betreiber eines Nostalgieladens in der Tasche. Seine zukünftige Familie – laute, neureiche Amerikaner, wie sie jeder Europäer zu kennen glaubt – muss er hin und wieder mal ausblenden. Und bei diesem Ausblenden findet er sich unversehens in Gesellschaft all der illustren Gestalten der bewussten Zwanziger. Plötzlich ist Hemingway sein Gesprächspartner, „Gert“ Stein (großartig: Kathy Bates) will sich mal seinen Roman ansehen, sobald sie damit fertig ist, Picassos abstraktes Gemälde einer schönen jungen Frau in Grund und Boden zu stampfen. Ansonsten hängt er ab mit Zelda und Scott, mit Salvador und Bunuel. Unversehens lebt er in seiner eigenen Nostalgie.

Er transportiert seine Begeisterung für das Lebensgefühl der goldenen Zeit in die Gegenwart, und die freundlichste Reaktion seiner Braut ist: „Your brain tumor is acting up“. Owen Wilson gehört nun wirklich nicht zu meinen Favoriten, aber für diese Rolle hätte ich mir keinen Anderen vorstellen können. Er ist der Woody in diesem Gil, der nicht nur seine Zeitreise in die Vergangenheit hat. Gil hat eine Zukunft.
Ich musste den einfach lieben, und so wird es vielen gehen, auch wenn man noch nicht franko-, pariso- oder bibliophil ist. Man wird es. Wenigstens für die Dauer dieses Films. Und vielleicht bleibt auch ein bisschen davon hängen. Mit einem Schuss Woodyphilie. Das wäre schön.

Samstagabend nochmal um 21:30h im Cinenova Open-Air in Köln.
Ab 18. August 2011 in den Kinos.

(Szenenbild – Rechte: Concorde Filmverleih)




Apollinaire im Nachgang: „Flaneur in Paris“ auf Deutsch

Wie konnten Guillaume Apollinaires literarische Streifzüge durch Paris über mehr als neunzig Jahre unübersetzt bleiben? In Frankreich ist das vergnügliche kleine Buch bereits 1919 unter dem Titel „Le Flâneur des deux rives“ erschienen.

Apollinaire führt seine Leser durch Viertel wie das damals noch ruhige Auteuil (heute ein Quartier des 16. Arrondissements). Oder in die zum Rive Gauche gehörenden Straßen Saint-André-des-Arts und die Rue de Buci. Das unbekannte, vom Verschwinden bedrohte Paris und seine Geschichten, aber auch das Paris der großen Boulevards und Künstlertreffpunkte wie das Café Napolitain sind in dem Buch vertreten. Vor allem geht es um die Menschen, die diese Schauplätze belebten: Bohemiens, eigenwillige Buchhändler, Kleinverleger und verschiedenste Originale.

Ein Bilderrätsel, das dem Flaneur scheinbar zufällig vor die Füße flattert, führt zum Kontakt mit einem Maskierten und am nächsten Morgen zum Besuch bei dem durch die Auflösung des Rebus‘ identifizierten Schriftstellerkollegen. Das Hotelzimmer, das der exzentrische Ernest la Jeunesse, Autor inzwischen vergessener Romane, bewohnt, erweist sich als vollgestopftes Kuriositätenkabinett.

Freude an Mystifikationen, Überblendungen von Realität und Fiktion, Klatsch und ausgelassene Späße begegnen uns fast auf jeder Seite – Späße wie der fiktive Antiquariatskatalog (mit authentischen Buchtiteln) im Kapitel „Die Quais und die Bibliotheken“, dessen Einträge zum Beispiel lauten:
„BOISGOBEY (F. de). Enthauptet. In 2 Teilen, Kopf beschnitten, stockfleckig“ oder
„GRAVE (Th. De). Der Hochstapler. Mit falschem Titel“.

Ein staubiges Kellergewölbe in der Rue Laffitte Nr. 8, in dem sich Bilder zeitgenössischer Maler stapelten und Künstler wie Picasso, Redon, Bonnard und Derain sich zu exotisch gewürzten Speisen mit schönen Frauen trafen, nimmt Apollinaire als Ausgangspunkt, um sich an Léon Dierx, den Prince des Poètes aus dem Kreis der Parnassiens zu erinnern, dessen Ruhm inzwischen verblasst sein dürfte. So sind es im Buch weniger die noch heute großen Namen unter seinen Freunden – Pablo Picasso, Max Jacob, Robert Delaunay, Marcel Duchamp, Blaise Cendrars, Alfred Jarry u. v. a. –, denen Apollinaire mit seinen „Chroniques“ ein Denkmal setzt. Stattdessen wird der dichtende Garkoch Michel Pons porträtiert. Oder das private Napoleon-Museum eines zehnjährigen Schülers. Oder ein sich offenbar aus verschiedenen Informanten zusammensetzender Gesprächspartner, der die Bibliotheken der Welt bereist.

Der Erste Weltkrieg bildet einen Einschnitt in der Welt der Pariser Bohème. Die meisten Kolumnen waren zwar vor 1914 erschienen, größtenteils im Mercure de France. Für die Buchform hat Apollinaire sie sich 1918, kurz vor seinem Tod, noch einmal vorgenommen. Gegenüberstellungen mit der verlorenen Vorkriegszeit finden wir fast in jedem Kapitel. So trägt das Buch erheblich dazu bei, nicht nur einzelne Zeitgenossen, sondern eine ganze Epoche, die Welt, in der Flaneure noch exquisite Spazierstocksammlungen besaßen, vor dem Vergessen zu bewahren.

Walter Benjamin reihte „Le Flâneur des deux rives“ bereits 1929 unter die „Bücher, die übersetzt werden sollten“ ein. Nun ist es dem Übersetzer und Herausgeber Gernot Krämer sowie der Friedenauer Presse zu verdanken, dass wir Apollinaires Wonnen der flânerie erstmals auf Deutsch lesen können. Neben der gelungenen Übertragung des sicherlich nicht leicht zu übersetzenden Autors überzeugt die Publikation durch die editorische Sorgfalt und das kenntnisreiche Nachwort. Den Anmerkungsapparat der 1993 in den Editions Gallimard erschienenen Pléiade-Ausgabe hat Gernot Krämer durch eigene Recherchen bereichert und geht vielen interessanten Spuren nach, die die Herausgeber der französischen Ausgabe vernachlässigt haben.

Die Lektüre verlockt, die Wege Apollinaires über Satellitenbilder und Stadtpläne zu verfolgen. Oder gleich nach Paris zu fahren und dem „Flaneur in Paris“ an beiden Ufern der Seine nachzuwandern.

Guillaume Apollinaire: „Flaneur in Paris“. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, Berlin 2011, 136 Seiten, 16 Euro




Paul Auster: Aufregend ungewiss

Schon die Umschlaggestaltung des Buches deutet auf vergangene Zeiten hin. Doch die können bekanntlich weiter wirken. Paul Austers neuer Roman „Unsichtbar“ führt zurück bis 1967. Da ist der hochbegabte Schönling Adam Walker gerade mal 20 Jahre alt, studiert an der Columbia University in New York und träumt von einer Laufbahn als Schriftsteller.

Auf einer Party spricht ihn ein mephistophelischer Typ an. Der sonst in Paris lebende, 36-jährige Rudolf Born ist Gastprofessor für Politik und bietet Walker einen geradezu faustischen Pakt an, bei dem vielleicht die Seele auf dem Spiel steht: 25000 Dollar für eine Literaturzeitschrift, die Walker weitgehend nach Gusto gestalten darf. Einfach so. Weil Born erklecklich geerbt hat und der Novize ihm gefällt. Oder treibt er etwa nur ein hinterhältig zynisches Spiel mit ihm? Auch auf diese Idee könnte man verfallen, wie auf so viele andere, die einander irritierend überlagern. Der Leser muss hier vielen Fährten folgen.

Virtuos und postmodern zirzensisch spielt Auster die Möglichkeiten durch: Die kunstvoll angerichtete Fiktion will es, dass der inzwischen todkranke Walker im Jahr 2007 autobiographisch zurückblickt. Einem Jugendfreund, der es zum prominenten Schriftsteller gebracht hat, sendet er die Manuskripte zur Prüfung und Bearbeitung. Schon dadurch kommen Verschiebungen und Brüche in Spiel. Jede Aussage wird relativiert, beginnt gleichsam zu flimmern und zu funkeln.

Die drei großen Teile der Geschichte werden aus verschiedenen Perspektiven erzählt, die immer mehr Distanz zum Geschehenen schaffen: zuerst aus Ich-zentriertem Blickwinkel, dann aus halbnaher Du-Draufsicht, schließlich aus fahrigem, nur noch skizzenhaftem Er-Abstand. Zitat nach dem ersten Drittel der Erzählstrecke, mit Bezug zum Titel: „Indem ich von mir selbst in der ersten Person schrieb, hatte ich mich lahmgelegt, mich unsichtbar gemacht…“ Wie denn überhaupt der Erzählende hier mal sichtbar und mal im Verborgenen Fäden zieht. Sinnfälliges Beispiel aus einer Bibliothek, in der Walker als Student jobbt: Wird dort ein Buch an falscher Stelle eingeordnet, bleibt es auf Jahre hinaus oder für immer unauffindbar, also gleichsam „unsichtbar“. Ähnliches dürfte auch für Verdrängtes im Leben gelten.

Die Formenspiele mit Erzählmustern könnten ins Akademische oder Metaliterarische abdriften, doch Auster meidet diese Klippen. Die Ortsmarken (New York, Columbia University, Paris) liegen auf seiner eigenen Lebenslinie. Aber sein Buch ist ein zuweilen teuflisches Vexierspiel, das realistische Vorgaben weit hinter sich lässt.

Verstörende Vorfälle rufen die gewaltigen Urthemen Eros und Tod auf. Rudolf Borns rätselhaft schweigsame Geliebte Margot lässt sich auf eine mehrwöchige Affäre mit Adam Walker ein. Weiß Born davon, hat er die sexuelle Gelegenheit gar herbeigeführt? Und wie riskant ist es, wenn Walker die Beziehung zu Margot bei einem Studienaufenthalt in Paris wieder anknüpft? Sein Credo ist jedenfalls eindeutig: „Sex ist der Herr und Heiland, die einzige Erlösung auf Erden.“

Doch der Tod ist eine mindestens ebenbürtige Kraft: Ein Farbiger will in einer New Yorker Nacht einen Raubüberfall auf Walker und den sinistren Born verüben. Letzterer hat den Kleingangster nicht nur in vermeintlicher Notwehr erstochen, sondern ihn (als Walker einen Arzt rief) hernach in der Finsternis offenbar regelrecht abgeschlachtet. Dabei war die Waffe des Schwarzen nicht einmal geladen. Hätte Walker die Tat verhindern können? Um nicht in Selbstvorwürfen zu ersticken, ist er fortan wie besessen von dem Gedanken, dass Born seine Tat sühnen müsse. Er schickt sich an, das Leben des Professors zu zerstören…

Der Mord wird im Laufe des Buches ebenso wenig „aufgeklärt“ wie etwa die Inzest-Orgien, die Walker eine Zeitlang mit seiner geliebten Schwester Gwyn zelebriert haben will. Hier wetterleuchtet auch noch die fatale Familiengeschichte hinein: Der kleine Bruder der beiden ist vor Jahren ertrunken.

Die mit Inbrunst betriebene, doch vielfach prismatisch gebrochene und letztlich vergebliche Suche nach „Wahrheit“ beschreibt den Spannungsbogen dieses grandiosen Romans. Auch zwischenzeitlich eingestreute Gerüchte, Born sei vielleicht Geheimdienstler (also auch so ein „Unsichtbarer“) und habe im Algerienkrieg für Frankreich gefoltert, bleiben bloße Spekulation, fügen der Handlung jedoch weitere Energiefelder hinzu. Elektrisierende Ungewissheit allenthalben.

Unauslotbar geheimnisvoll sind auch die Charaktere. Wie Gespenster irrlichtern sie durch ihr Dasein, manchmal nahezu unsichtbar. Rückblickend betrachtet, sind sie vielleicht nur ein Hauch auf Erden gewesen.

Ohne seine Figuren jemals zu überfrachten, gelingt es Auster überdies, an ihrem Beispiel wechselnde geschichtliche Verhältnisse darzulegen, zumal vor dem Horizont des Vietnamkriegs und der anschwellenden Proteste in den USA und Europa, wo man um 1967/68 schon mit anderen Wassern gewaschen zu sein scheint als in den Staaten.

Auch bei der Historie hat es nicht sein Bewenden. Überzeitliche Fragen klingen an: Wie viel Grausames darf und muss man Mitmenschen im Namen der Gerechtigkeit zumuten? Welche Spuren kann jemand in der Welt hinterlassen? Wann wird eine Tat unverzeihlich und ist nie wieder gutzumachen? Stoff für eine halbe Ewigkeit.

Paul Auster: „Unsichtbar“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Rowohlt. 316 Seiten, 19,95 Euro.




Essenzen von Liebe und Abschied – Charles Aznavour in der Essener Philharmonie

Von Bernd Berke

Essen. War es ein Abschied für immer? Man mag es kaum glauben.

Der große französische Chansonnier Charles Aznavour hat am Montag Abend in der ausverkauften Essener Philharmonie eine kurze Deutschland-Toumee triumphal beendet. Angeblich soll es sein letzter Bühnenauftritt in unseren Breiten gewesen sein. Doch schon mehrmals hat er auf ähnliche Weise Adieu gesagt. Warten wir’s ab.

Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd. So existenzialistisch erwartet man es von ihm. Dann seine unvergleichliche Stimme, scharf umrissen und doch zartfühlend. Ganz wie früher. Der Mann soll 81 Jahre alt sein? Auch seine Bewegungen lassen beim zweistündigen Konzert keinerlei Müdigkeit erkennen. Er kann es sich leisten, mit vermeintlicher Vergesslichkeit („Wie hieß noch mal diese Zeile?“) zu kokettieren.

In seinen Chansons (rund 1000 hat er inzwischen verfasst) sind Essenzen von Liebesüberschwang, schmerzlichen Abschieden und vergänglicher Jugend auf höchst kultivierte Weise aufgehoben. Untröstliche Momente und die Feier einer wunderbaren Lebensfülle sind hier keine Widersprüche. Vor allem aber: Die Liebe kann niemals lächerlich sein …

Man traut ihm durchaus zu, dass er selbst noch erotisch entflammt. Wenn er auftritt, fühlt man jedenfalls ein aufregend charmantes Paris, seine Boulevards und Bistros immer mit. Klischees also, doch in Vollendung stilisiert.

Natürlich singt er auch einige seiner größten Erfolge: „Les comédiens“, „Sa jeunesse“, „II faut savoir“, „Tu te laisse aller“ (Du lässt dich geh’n), „She“ und „La bohème“. Er hat keine Scheu vor Pathos, vor den ganz großen Gefühlen, beinahe schon im Kitsch-Bezirk. Auch solche Grenzgänge kann sich einer wie Aznavour erlauben. Bei wem sonst erstrahlt selbst die Melancholie so herrlich und würdevoll?

Mit äußerst sparsamen, doch ungemein wirkungsvollen Gesten lenkt Aznavour den rauschenden Beifall des Publikums – und die Band, die zwischen Jazz, Swing, Chanson und gehobenem Schlager so manche Nuancen beherrscht. Zum musikalischen Begleitpersonal zählt auch seine Tochter Katia, mit der er im Duett „Je voyage“ vorträgt. Die junge Frau kann auf jene entzückend französische Weise naiv klingen – wie einst France Gall oder die frühe Françoise Hardy. Hach!




Mit Herzblut für die wahre Freiheit – Einer unserer allergrößten Dichter: Vor 150 Jahren ist Heinrich Heine in Paris gestorben

Von Bernd Berke

Vielleicht treffen sie sich jetzt dort droben: Wolfgang Amadeus Mozart und Heinrich Heine. Falls ja, dann können der Komponist und der Dichter einander Hochachtung, aber auch wechselseitiges Mitleid bekunden. Allenthalben werden sie rituell gefeiert, weil sich biographische Daten „runden“. Heute vor 150 Jahren starb Heine nach langjährigen Leiden in seiner Pariser „Matratzengruft“.

Wie überaus betrüblich: Einer, der dem göttlich guten Leben im Diesseits derart zugetan war, musste so elendiglich enden. Nur zu verständlich, dass Heine zuletzt allen atheistischen Anwandlungen abschwor und um Gottgläubigkeit rang. Nur ahnungslose Schandmäuler können ihm dies verübeln.

Seine Werke gehören unverbrüchlich zur Weltliteratur. In Frankreich zählen die Bücher von „Henri“ ebenso zum ehernen Bestand wie bei uns – und mancher Japaner oder Russe kann wahrscheinlich das „Loreley“-Gedicht im deutschen Original aufsagen.

Sein Witz war kühn und treffsicher

Das berühmte „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ konnten nicht einmal die Nazis verschweigen. Allerdings schrieben sie die Zeilen einem „unbekannten Dichter“ zu.

Heine war Rheinländer jüdischen Glaubens, als junger Mann ließ er sich allerdings christlich taufen, denn: „Der Taufzettel ist das Entréebillet zur europäischen Kultur.“ Antijüdische Vorurteile gegen Heine steigerten sich schon bei einigen seiner Zeitgenossen zu erschreckenden Hasstiraden. Die üblen Klischees des 19. Jahrhunderts führten letztlich auch zur Bücherverbrennung von 1933.

Der Heißsporn Heine hat sich zu seiner Zeit mit nicht lauteren Mitteln gewehrt: Als der Dichter August Graf von Platen ihn mit antisemitischen Untertönen angriff, machte sich Heine öffentlich über dessen Homosexualität lustig – damals ein ungeheurer Skandal und wohl der schlimmste deutsche Dichterstreit überhaupt.

Nachwirkung zwischen Karl Kraus und Nietzsche

Heines Nachwirkung ist stets eine Streitfrage gewesen. Selbst ein ungemein kluger, doch hitziger Kopf wie Karl Kraus hat Heine als Vorläufer eines unverbindlich plaudernden Stils missverstehen wollen. Kraus-Zitat: „Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat.“ Heine habe „der deutschenSprache so sehr das Mieder gelockert (…), dass heute alle (…) an ihren Brüsten fingern können.“ Friedrich Nietzsche bezog die Gegenposition: „Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind …“

Die Vaterstadt Düsseldorf hat sich mit Heine schwer getan. Schier endlos währte das Gezerre darum, ob die Uni seinen Namen tragen sollte 1989 war es so weit. Ehrenbürger ist er bis heute nicht.

Mit Herzblut hat Heine einige der schönsten romantischen Gedichte geschrieben. Doch sein flackernder, treffsicherer Witz und seine oft kühnen Formulierungen (er reimte schon mal „ästhetisch“ auf „Teetisch“) ließen wehe Idyllen und Schauermärchen der Romantik weit, weit hinter sich.

Gemischte Gefühle fürs aufkommende Proletariat

Er hat nicht nur höchst sprach- und formbewusste, sondern aufsässige Texte geschrieben – mit satirischer Stoßrichtung gegen schläfriges Biedermeier, starres Preußentum und aggressiv dumpfen Nationalismus (nationale Einigung ja, aber bitte unter freiheitlichen Vorzeichen). Ach, wüsste man doch, was der Erz-Journalist Heine zum jetzt so akuten Streit um Karikaturen und Pressefreiheit gesagt hätte!

Mit gemischten Gefühlen sah Heine das Proletariat heraufkommen. Er begriff die Notwendigkeit dieser Entwicklung, fürchtete aber auch die Barbarei der neuen Klasse – eine Schreckensvision, die im Realsozialismus grässliche Gestalt annahm. Im Grunde blieb Heine Monarchist, freilich ein aufgeklärtes Königtum, das per Verfassung alle (bürgerlichen) Menschenrechte wahren sollte.

Mit Potentaten und Zensoren in Berlin hatte er ebenso Probleme wie mit kaufmännischen „Pfeffersäcken“ in Hamburg, wo sein reicher Bankiers-Onkel Salomon und sein Verleger Campe lebten – zwei Menschen, mit denen er oft um Geld gestritten hat.

Welch eine Befreiung muss Paris bedeutet haben, damals die konkurrenzlose Weltmetropole mit rauschendem Kultur- und Gesellschaftsleben, an dem Heine ausgiebig teilnahm. Hier traf er prägende Gestalten jener Zeit – von Richard Wagner bis Karl Marx, von Hector Berlioz bis Balzac und George Sand.

„Dicht hinter Hagen ward es Nacht.. .“

Seinen Büchern kann man entnehmen, dass er trotz alledem wehmütig an seiner Heimat gehangen hat. Er hatte „das Vaterland an den Sohlen“ – wären es doch nur befreite Lande gewesen! „Denk ich an Deutschland in der Nacht…“

Der Rheinländer Heine hat die geradlinige westfälische Wesensart sehr geschätzt. In Göttingen sang und trank er mit Studienfreunden aus hiesigen Breiten.

Die Zeilen, die jeden Westfalen rühren, stammen aus der ansonsten eminent politischen Dichtung „Deutschland. Ein Wintermärchen“ und schildern Heines Reise nach Hamburg (1843), die durch Westfalen führte:

„Dicht hinter Hagen ward es Nacht, / Und ich fühlte in den Gedärmen / Ein seltsames Frösteln. Ich konnte mich erst / Zu Unna, im Wirtshaus, erwärmen…/ Den lispelnd westfälischen Akzent / Vernahm ich mit Wollust wieder.“

Und nun kommt’s:

„Ich habe sie Immer so lieb gehabt, / Die lieben, guten Westfalen, / Ein Volk so fest, so sicher, so treu, / Ganz ohne Gleißen und Prahlen (…) / Sie fechten gut, sie trinken gut, / und wenn sie die Hand dir reichen, / Zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie; / Sind sentimentale Eichen.“

Beileibe nicht nur wegen dieser Verse: Der Weltbürger Heine verdient unbedingt auch die westfälische Ehrenbürgerschaft.

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LEBENSDATEN

Kaufmannslehre und Romantik

  • Heinrich Heine (Bild) wird am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf geboren.
  • Er erwirbt kein Reifezeugnis, sondern wechselt zur Handelsschule.
  • Ab 1815 Kaufmännische Lehrzeit in Frankfurt und Hamburg.
  • 1816 Unglückliche Liebe zur Cousine Amalie.
  • 1817 Erste Gedichte unter Pseudonym.
  • Ab 1819 Jura-Studium in Bonn, Göttingen, Berlin. Auch philosophische Vorlesungen, u. a. bei Hegel.
  • 1825 Examen, Promotion, protestantische Taufe.
  • 1826 Erster Teil der „Reisebilder“ (u.a. „Die Harzreise“, „Die Nordsee“).
  • 1827 „Buch der Lieder“ (zu Lebzeiten 13 Auflagen). Reise nach England.
  • 1828Norditalien-Reise
  • 1829 Umzug nach Berlin
  • 1837 Heine zieht nach Paris, berichtet von dort für deutsche Zeitungen.-•1835 Verbot der Schriften Heines im Dt. Bund.
  • 1836 „Die romantische Schule“
  • 1840 Streitschrift gegen Ludwig Börne (Folge: Duell mit einem Börne-Fan).
  • 1 841 Heirat mit der 18 Jahre jüngeren Mathilde, die er 1834 kennen gelernt hatte. Heine schrieb: „Sie hat einen sehr schwachen Kopf, aber ein ganz vortreffliches Herz.“
  • 1843 und 1844 Reisen nach Hamburg.
  • 1844 „Deutschland. Ein Wintermärchen“.
  • 1847 „Atta Troll“
  • 1848 Feb./März: Bürgerliche Revolution in Frankreich und Deutschland. Heine ist ab Mai für den Rest seines Lebens durch Krankheit ans Bett gefesselt („Matratzengruft“).
  • 1851 „Romanzero“
  • 1854 „Geständnisse“
  • 1856 (17. Februar): Heinrich Heine stirbt in Paris.



Als der Champagner strömte: Münsteraner Picasso-Museum zeigt Plakatkunst von Toulouse-Lautrec und Zeitgenossen

Von Bernd Berke

Münster. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Paris eine veritable „Galerie der Straße“. So nannte man die Unzahl der plakatierten Reklamebotschaften, wenn man denn Gefallen an den künstlerischen Ausdrucksformen fand. Wer eher den Stadtreinigungs-Aspekt im Sinne hatte, sprach allerdings despektierlich vom „Plakatwahn“ („Affichomanie“). Um 1890 wurde ein Gesetz gegen wildes Anheften erlassen.

Längst werden ästhetisch ambitionierte Plakate auf dem Kunstmarkt hoch gehandelt. In Münster sind jetzt sozusagen Spitzenprodukte der Zunft zu sehen, sie stammen von Henri de Toulouse-Lautrec und einigen seiner Zeitgenossen. Bis dato hatten Plakate meist nur schwarz-weiße Buchstaben-Botschaften übermittelt. Um 1890 aber gediehen Bildhaftigkeit und Farbrausch.

Die rund 160 Exponate kommen aus 20 europäischen Museen. Toulouse-Lautrec (1864-1901) hat insgesamt 31 Plakate geschaffen, immerhin 25 dieser Motive sind in Münster zu sehen. Im Vergleich mit den durchaus beachtlichen Schöpfungen damaliger Mitbewerber (z. B. des Wegbereiters Jules Chéret oder von Théophile-Alexandre Steinlen) kann man die besonderen Qualitäten Toulouse-Lautrecs ausmachen: die ungeheuer treffsichere Pointierung und auch den Mut zur Drastik. Manche Tänzerin oder Diseuse fühlte sich zunächst von ihm allzu gröblich dargestellt. Trotzdem bekam er die Aufträge, denn keiner war besser.

Plakate erwiesen sich als Medium, in dem momentane, augenblicksschnelle Wirkkräfte der Kunst erprobt werden konnten – auf schmalem Grat zum Kommerz: Die Ausstellung führt zu den berühmten, gelegentlich frivolen Konzertcafés („Moulin Rouge“, „Chat Noir“), sie präsentiert Star-Plakate von damals Jane Avril, La Goulue, Aristide Bruant), unternimmt Streifzüge durch die Produktwerbung (Absinth, Liköre, Lakritzbonbons) und widmet sich gar dem seinerzeit grassierenden „Fahrrad-Wahnsinn“, der von Fußgängern als bedrohlich empfunden wurde.

Schließlich mündet all dies in einen Raum mit Pablo Picassos frühen, von Toulouse-Lautrec angeregten Plakat-Versuchen. Man kann sagen: Es war nicht das angeborene Metier des genialen Spaniers.

Prächtige Stücke sind in Münster zu sehen, so etwa Steinlens prägnante Werbung fürs „Chat Noir“ mit riesiger schwarzer Katze, deren Kopf von einem gotischen Ornament umfangen ist – eine bemerkenswerte Würdeformel.

Toulouse-Lautrec wagte es unterdessen, einen kabarettistischen Auftritt von Aristide Bruant mit dessen markanter Rückenansicht anzukündigen. Bruant, von Haus aus Bahnarbeiter, der auf der Bühne die Bourgeoisie rüde beschimpfte, war davon angetan. Sein Gesicht kannte ohnehin jeder.

Drei Damen wollen endlich ins Lokal

Hinreißend sind jene drei rot gewandeten Damen, die auf Georges Redons Plakat sehnsüchtig die Wiedereröffnung des Lokals Marigny erwarten. Bezaubernd auch das Champagner-Plakat des Mannes, von dem sich Toulouse-Lautrec inspirieren ließ: Der famose Pierre Bonnard erfasst das Strömen und Perlen des Schampus derart Sinnlich, dass man ahnt, warum diese Ära „Belle Epoque“ genannt wird. Die Blondine jedenfalls, die das prickelnde Edelgetränk genießt, schmilzt selig dahin.

„Plakatwahn – Toulouse-Lautrec und die französische Plakatkunst um 1900″. Picasso-Museum Münster, Königsstraße 5. Bis zum 15. Februar 2004. Di-Fr 11-18, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro. Katalog 29,80 Euro.




Wenn die kulturelle Mischung stimmt – Wuppertaler Ausstellung „Russisch Paris“ häuft Beispiele für internationalen Einfluss an

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen, so können sich die schönsten und buntesten Mischformen ergeben. Das gilt nicht nur unter lebendigen Menschen, sondern auch auf dem Felde der Malerei: „Russisch Paris“ heißt die neue Wuppertaler Ausstellung, die schon im Titel eine neue „Legierung“ schimmern lässt.

Gemeint ist der Einfluss russischer Künstler in der französischen Metropole, welche wiederum die Neubürger prägte. Die Schau erfasst den langen, wechselvollen Zeitraum zwischen 1930 und 1960. Vor allem aus politischen Gründen gab es seinerzeit etliche russische Einwanderungswellen in Paris.

Flucht vor Stalin an die Seine

In den 1930er Jahren lebten über 80 000 Russen an der Seine – darunter zahllose Maler, Bildhauer und Komponisten. Eine kreative Kolonie also. Sie kamen, als der stalinistische Terror tobte, als in der Sowjetunion nur noch „realistisch“ dienstbare Kunst im Sinne des Systems geduldet wurde.

Die selbstbewussten Franzosen haben den ästhetischen Zuwachs lange geflissentlich ignoriert und ihn später als eine erste „Ecole de Paris“ (Pariser Schule) flugs vereinnahmt. So geht’s auch.

Wuppertal ist einzige deutsche Station der mit über 270 Arbeiten sehr umfangreichen Auswahl, die noch nach Bordeaux (aber nicht nach Paris) wandert. Zusammengestellt als Beitrag zu den 300-Jahr-Feiern in St. Petersburg, stammen die Bilder und Skulpturen vor allem aus dem dortigen Staatlichen Russischen Museum. Heute ist man dort also stolz auf Namen wie Kandinsky, Chagall, Gontscharowa, Archipenko, Lipchitz, Poliakoff oder Zadkine; und auf Künstler, die bei uns noch zu „entdecken“ wären, wie z. B. Boris D. Grigorieff. Manchen merkt man die Herkunft nicht namentlich an: Auch die ruhmreiche Sonia Delauney, Schöpferin pulsierender Farbrhythmen, stammte aus Russland.

Sämtliche Exponate sind in Paris entstanden. Die Summe wirkt, trotz Kapitel-Gliederung, etwas diffus und wenig trennscharf. Katalog-Studium tut not.

„Freunde vom Montparnasse“

Fast alle Stilrichtungen sind im Mix der Ungleichzeitigkeiten vertreten –von erzkonventioneller Abbildnerei bis zu entschiedener Avantgarde oder heftiger Provokation (Chaim Soutine: „Schweine“, 1941).

Besonders interessant wird es, wenn just neue Mischungen sichtbar werden, wenn also Russen die französisehen Traditionen oder Atmosphären aufgreifen und sie sich so anverwandeln, dass ein „Drittes“, wahrhaft Übernationales entsteht.

Die anfangs häufig spätimpressionistisch und aus touristischem Blickwinkel dargestellte Stadt wirkt eher fade. Wenn östliche Motiv- und Gefühlswerte einfließen, kann der Zauber walten. Fast eine Regel: Wer immer sich Paris allzu sehr ausgeliefert hat, verlor ebenso an Spannkraft wie alle, die nur auf dem Hergebrachten beharrten. Und die Ausnahme: Marc Chagall, der sich fern der Heimat treu blieb.

1962 malte Maria Marevna ein melancholisches Gruppenporträt zwischen Kubismus und Ikone: „Freunde vom Montparnasse“. Da war die große Zeit der Russen in Paris vorüber. Die Schwerpunkte der Weltkunst lagen bereits in New York.

10. August bis 26. Oktober. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog 29 Euro.




Patrice Chéreaus Huldigung an die Worte – festliche „Phädra“-Inszenierung zur Eröffnung der RuhrTriennale

Von Bernd Berke

Bochum. Das Wort klingt ja nicht so schön, doch die Eröffnung der RuhrTriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle war fürs Revier ein, nun: ein wahres „Event“. Oder halt ein Ereignis. NRW-Ministerpräsidenf Steinbrück und Kulturstaatsministerin Weiss nahmen ebenso in recht knapp bemessenen Sitzschalen Platz wie etwa WDR-lntendant Pleitgen oder auch TV-Plauderer Biolek.

Frankreichs gepriesener Theater- und Filmregisseur Patrice Chéreau, seit seinem Bayreuther „Ring“ (1976) eine Leitfigur der europäischen Szene, gastiert mit seiner Inszenierung von Jean Racines Tragödie „Phèdre“ (Phädra). Der Produktion des Pariser Odéon-Theaters eilt ein Ruf wie Donnerhall voraus.

Ein antikes Portal (ansonsten radikal schmucklose Bühne: Richard Peduzzi) genügt, um in der riesigen Halle eine altgriechische Szenerie zu beschwören. Die Darsteller agieren zwischen zwei Zuschauerblöcken. Man fühlt sich unversehens in eine Polis versetzt, auf einen Platz, wo Schicksale von öffentlichem Interesse verhandelt werden. Chéreau hat das 1677 (zur Barockzeit Ludwigs XIV.) entstandene, strikt moralische Stück auf seine antiken Quellen zurückbezogen, hat ältere Schichten freigelegt wie ein Archäologe. Und siehe da: Am Anfang war das Wort!

Seit Lessings berühmtem Verdikt gelten die französischen Klassiker Corneille und Racine hierzulande als steif und blutleer. Lange sind sie für uns hinter Shakespeares leidenschaftlichem Welttheater nahezu verschwunden. Doch die kunstreich gereimten Alexandriner der „Phädra“ klingen in Chéreaus textdienlicher Zurichtung lebendig und seelenvoll, wobei die strenge Form letztlich gewahrt bleibt. Zudem lässt die französische Sprache (per Kopfhörer gibt es eine taugliche Synchron-Übersetzung) weiten Raum für Pathos.

Aus weiter Ferne so nah rücken uns somit die ebenso prägnant wie dezent gewandeten Gestalten (Kostüme: Moidele Bickel): die Königsgattin Phädra (gesättigt mit Leiden: Dominique Blanc), welche ihren Stiefsohn Hippolyte (Eric Ruf) liebt, der wiederum der gefangenen Fürstin Aricie (Marina Hands) zugetan ist. Die rasende Rache des Königs Theseus (Pascal Greggory) wird fürchterlich sein.

Lichtkegel folgen den Figuren wie göttliche Rest-Illuminationen. Immer wieder blicken die Protagonisten entgeistert, Haare raufend zum Götterhimmel, dabei wohnt doch die Zerrissenheit längst in ihrer eigenen Brust. Liebe scheint eingezäunt in rigide Regeln, weshalb man über sie in Kategorien des Kampfes und der Überwindung denkt.

Dies ist eine Huldigung an die Worte. So stark und wirksam sind sie, dass sie allein es immer wieder vermögen, die Leiber zu magnetisieren, zu beugen, herumzureißen. Sprache kommt dermaßen klar, rein und wuchtig zur Geltung wie nur selten. In gewisser Weise hat man hier einen mächtigen Gegenentwurf zum in Deutschland oft üblichen Körper-Theater mit allerlei Deutungs-Mätzchen. Ob man es immer so haben möchte, ist eine andere Frage.

Chéreau und sein großartiges Ensemble zeigen uns mit hochlöblicher Sprechkultur ein Stück des Verschweigens und der abgerungenen Geständnisse, beides mit auswegloser Tragik beladen: Reden heißt bereits irren, Schweigen bereits ein Übel zulassen. Und die Worte scheinen schmerzvoll einem Urgrund der Sprachlosigkeit zu entsteigen.

Zurück ins Jetzt: Die Jahrhunderthalle, deren gläserne Front an ein Flughafenterminal gemahnt, erweist sich als rechter Ort fürs Abheben mit Bühnenkunst. In diesem Falle ist es großes, denkbar würdiges Festtagstheater, keines für alle Stunden.

Weitere Termine: 3., 4.. 7., 8., 9., 10. und 11. Mai. Karten-Hotline: 0700 / 2002 3456.