„Kinder First. Westentasche Second.“ oder: Eine lustige Mail von der Digital-Partei

Kommt mal ein bisschen näher! Ich muss Euch was erzählen. Hinter vorgehaltener Hand. Ohne Ross und Reiter genauer zu nennen:

Ob die hier vorherrschenden Farben etwas mit dem Thema zu tun haben? Jedenfalls scheint es sich um einen entschieden digitalisierungsfreudigen Menschen zu handeln. (Foto: Bernd Berke)

Ob die hier vorherrschenden Farben etwas mit dem Thema zu tun haben? Jedenfalls scheint es sich um einen entschieden digitalisierungsfreudigen Menschen zu handeln. (Foto: Bernd Berke)

Es begab sich aber zu der Zeit, dass eine kleine deutsche Partei sich zur Antreiberin und Hüterin der Digitalisierung aufschwingen wollte. Ihr oberster Guru, einer mit Zweieinhalb-Tage-Bart, gab gar in schreienden Versalien und ausgefuchstem Hipster-„Denglisch“ diese Plakat-Parole aus:

„DIGITAL FIRST. BEDENKEN SECOND.“

Das konnte man schon sprachlich ein wenig bedenklich finden, vom „Inhalt“ mal abgesehen. Aber es kommt noch besser. Dieser Tage kursierte im Raum Dortmund eine E-Mail, in der eine regionale Gliederung just jener Partei zum neudeutschen „ChancenTalk“ (Wow!) mit einem gewissen „Christian Kinder“ einlud. Moment mal! Heißt der nicht etwas anders? War nicht etwa genau der Mann gemeint, der auf dem Digital-Plakat zu sehen war? Potzblitz! Das wäre ja…

Noch rätselhafter der Name der Haltestelle, an der man aussteigen sollte, sofern man zum besagten Termin den ÖPNV nutzte (was man Anhängern jener Partei nicht unbedingt als Gewohnheit zuschreibt): U-Bahn-Station „Westentasche“. Ähemm. Die findet man wohl auf keinem Dortmunder Fahr- oder Stadtplan. Allenfalls Westentor.

„Kinder First. Westentasche Second.“?

Bald darauf kam die Korrektur. Der nicht ganz einflusslose Parteifunktionär bekannte, ein neues Tablet zu haben und damit (mit diesem digitalen Biest?) noch nicht so zurechtzukommen. Einfaches Korrekturlesen vor dem Absenden hätte vielleicht segensreich sein können. Aber wer wird denn so kleinlich sein! Obwohl: Hieß eine Lieblingslosung jener Partei nicht „Leistung muss sich wieder lohnen“?

Natürlich werde ich niemals verraten, wer den Rundbrief verfasst hat. Immerhin haut er im Vorfeld des „ChancenTalks“ (Wow!) so richtig auf die Pauke: „Wir (…) wollen Europa wieder zum Leuchten bringen“. Hoffentlich haben sie auch die entsprechenden Leuchtmittel.




Sonderbare Vorfälle: Wie ich einmal Zeuge und beinahe Parteimitglied wurde

Also, das muss ich euch jetzt erzählen:

Da macht man ganz arglos Urlaub auf Rügen, bucht und bezahlt eine Schiffsfahrt entlang der berühmten Kreidefelsen. Was man da oben halt so treibt. Alles ganz normal und hundsgewöhnlich.

Doch was passiert? Der Käpt’n des Bootes, das wir ausgesucht haben, wird hochnotpeinlich von zwei (bewaffneten) Beamten der Wasserschutzpolizei verhört. Nach einiger Zeit stellt sich heraus, dass er die Fahrt nicht antreten darf. Also doch wieder runter von Bord. Wie sagt der Jurist so schön: entgangene Urlaubsfreude. Naja, wir haben dann halt ein anderes Schiff genommen.

Der Leuchtturm von Sassnitz kann doch auch nichts dafür... (Foto: Bernd Berke)

Der Leuchtturm von Sassnitz kann doch auch nichts dafür… (Foto: Bernd Berke)

Weiß der Geier, aber es ging wohl darum, ob der Schiffsführer eine handelsübliche Ausflugsfahrt oder einen Trip mit Angelmöglichkeit angeboten hat. Probleme mit der Lizenz offenbar. Jetzt stehe ich jedenfalls auf der Zeugenliste und muss eine schriftliche Aussage liefern. Ha, ich bin ja so wichtig. Zeuge der Anklage. Großes Drama. „Einspruch, Euer Ehren!“ Hihi.

Vor Gericht und auf hoher See

Wer hätte gedacht, wie schnell man in Konflikte der christlichen Seefahrt verwickelt werden kann? Aber psssst! Mehr kann ich nicht verraten, es ist ein schwebendes Verfahren. Und man weiß ja: Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand.

Nur noch dies: Den Fahrpreis haben wir anstandslos zurück erhalten. Die Schiffsbetreiber schimpften dabei wie die Kesselflicker. Sie wähnten sich als Opfer einer Denunziation durch die Konkurrenz. „Ausgerechnet die! Die nehmen doch oft viel zu viele Passagiere an Bord. Mehr als sie dürfen.“ Na, und so weiter.

Sind wir da etwa zwischen die Fronten mafioser Strukturen geraten? Oder ist es nur eine Ausprägung des ganz gewöhnlichen, kleinlichen Futterneids?

Nur ein paar abendliche Klicks

Damit nicht genug. Ein paar Tage später wäre mir beinahe eine ziemliche Dummheit unterlaufen. Um ein Haar wäre ich Mitglied einer Partei geworden. Welche das war? Das wollt ihr gar nicht wissen. Ich habe ja auch gerade noch die Kurve in Richtung immerwährender Neutralität genommen. Noch nie bin ich in einer Partei gewesen. Und das soll auch so bleiben.

Aber ihr kennt das. Man sitzt abends am PC, schlürft vielleicht ein oder zwei Rotweinchen, surft umher, liest dies und das. Auf einmal bildet man sich ein, man müsse sich in diesen Zeitläuften denn doch (parteipolitisch) engagieren und schlägt im Netz einen entsprechenden Pfad ein. Dann braucht es nur noch ein schwaches Viertelstündchen und ein paar weitere Klicks, um eine Mitgliedschaft zu beantragen. So einfach, als würde man online ein Buch oder eine CD bestellen. Ich sag’s euch.

Ihr kriegt mich nicht

Alsbald kamen bereits Antwort-Mails, in denen ich herzlichst als neues Mitglied begrüßt wurde. Das Aufnahme-Prozedere werde freilich noch ein paar Wochen dauern. Gut so.

Denn anderntags rieb ich mir die Augen. Was hatte ich getan? Flugs schrieb ich dem Ortsvorsitzenden, der mir als Kontakperson benannt worden war, eine Absage. Ich sei doch nicht genügend überzeugt, um mich aktiv z. B. in Wahlkämpfe einzubringen. Ergo: Rückzug des Aufnahme-Antrags. Sorry. Bin mal gespannt, ob da noch eine beschwichtigende Antwort mit leutseligem Umarmungsversuch folgt. Aber ihr kriegt mich nicht.

Wo zum Teufel der Zusammenhang zwischen beiden Vorfällen zu suchen sei, fragt ihr? Weiß ich doch nicht. Aber es wird schon einen geben. Es hängt doch alles mit allem zusammen.

Nachtrag am 20. September 2016

Es kam, wie es kommen musste. Mit dem Ausdruck des Bedauerns nahm ein regionaler Repräsentant jener Partei zur Kenntnis, dass ich den Antrag auf Mitgliedschaft doch noch zurückgezogen hatte. Ich solle halt einfach mal so vorbeikommen. Ganz unverbindlich. Damit hielt ich die Angelegenheit für erledigt.

Ein paar Wochen später folgte gestern die Überraschung. Derselbe Mann gratulierte mir herzlich zur Aufnahme in seine Partei. Eine eigens für Neumitglieder zuständige Dame werde Kontakt zu mir aufnehmen. Diese meldete sich auch schon fast im gleichen Atemzug, wobei sie – gleichsam als Willkommensgruß – gleich mal meinen Namen falsch schrieb.

Missverständnis. Bedauerliches Versehen. Mitarbeiter erkrankt. Die Ausflüchte waren die üblichen.

Soll ich jetzt Rückschlüsse auf die Parteiarbeit ziehen?

 




Heute Außenseiter, morgen Hoffnungsträger: Tuomas Kyrös Roman „Bettler und Hase“

Wenn eine Geschichte von einem rumänischen Roma als Hauptfigur handelt, der sein Land verlässt, um in der Ferne sein Glück zu versuchen, dann scheint der Ablauf schon irgendwie programmiert zu sein. Der Emigrant wird sich schwer tun, womöglich scheitern und am Ende auf der Verliererstraße landen.

Doch Vatanescu ist da doch von ganz anderem Schlag, was natürlich daran liegt, dass sein Erschaffer, der finnische Autor Tuomas Kyrö, hintersinnig, ironisch und zugleich humorvoll zu erzählen weiß.

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Schon das Motiv, das den Roma bewegt, sich außer Landes zu begeben, scheint recht schräg zu sein, will er doch Geld verdienen, um seinem Sohn Stollenschuhe kaufen zu können. Ob es denn da wohl nichts Wichtigeres gibt, als ausgerechnet einen solchen Sportartikel, mag man sich als Leser fragen. Zumal der Preis, den Vatanescu schon zu Beginn des Abenteuers zu bezahlen hat, äußerst hoch ist, begibt er sich doch in die Fänge der russischen Mafia. Nur die verspricht ihm, in ein gelobtes Land des Westens zu gelangen.

Der Roma findet sich schließlich in der finnischen Hauptstadt Helsinki wieder und zwar in einer Behausung, die ihm ein Drogen- und Menschenhändler zuweist. Doch Vatanescu wäre nicht Vatanescu, wenn er sich mit seinem Schicksal einfach abfinden würde. Ihm gelingt es auszubüxen. Damit aber noch nicht genug: Jener Igor, der ihn in einem Wohnwagen eingepfercht hatte, soll seines Lebens nicht mehr froh werden, war doch die Flucht eines gewissen Roma aus Rumänien ein Fanal für viele andere, die unter Igors Knute standen, dem Beispiel zu folgen.

Für Vatanescu beginnt eine Zeit des Vagabundierens, in der er Finnland von ganz anderen Seiten kennenlernen soll. Er trifft auf vietnamesische Einwanderer, die ein Restaurant eröffnet haben, auf einen glücklosen Magier und auf einen echten Haudegen, der ihn zum Saunieren einlädt. Doch wie sich Vatanescu auch drehen und wenden mag, seine neue Heimat will ihm doch fremd bleiben – bis er irgendwann zu spüren meint, was den gemeinen Finnen wohl am ehesten antreibt, nämlich die eigene Schaffenskraft, die tägliche Arbeit.

Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf gewinnt er erst das Vertrauen eines Vertrauten des Ministerpräsidenten und schließlich das des Politikers selbst, der längst amtsmüde geworden ist. Und urplötzlich ist dem Einwanderer Vatanescu der Durchmarsch gelungen, gilt er doch fortan als „Thronfolger“ in einer politischen Gruppierung, die den schönen Namen trägt „Partei der gewöhnlichen Menschen“. Einen politischen Hoffnungsträger zeichnet vor allem aus, dass er neu ist und Schläue mit sich bringt, von Wissen oder Sachverstand spricht Autor Tuomas Kyrö eher nicht.

Das Buch lebt von kuriosen Szenen. Zu ihnen gehört der Moment, als der Rumäne seinen Begleiter findet. Er rettet einem Hasen, der von mehreren Jungen gejagt wird, das Leben, indem er ihn in seine Jacke springen lässt. Vatanescu weiß zu dem Zeitpunkt schon, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Von brillanter Situationskomik geprägt ist die Passage, als er einem Arbeitsvermittler gegenübersitzt und plötzlich sein Hase, den er versteckt hält, loshoppeln will. Einem Büromenschen können da schon mal mehr als nur die Gesichtszüge entgleiten.

Gerade in der Debatte um Sinti und Roma kann das Buch von Tuomas Kyrö zu neuen Denkansätzen beitragen, werden doch Klischees und gesellschaftliche Normen amüsant und erfrischend hinterfragt.

Tuomas Kyrö: „Bettler und Hase“. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, 320 Seiten, 19,99 Euro.




Entnazifizierung im Revier: „Darum war ich in der Partei“

Über die Befreiung des Ruhrgebiets vom Nationalsozialismus durch alliierte Truppen habe ich hier vor einiger Zeit einige Hintergründe dargelegt. Nun soll es um die Entnazifizierung nach 1945 gehen.

Wenn die Amerikaner und ihre Verbündeten eine Stadt oder Gemeinde befreit hatten, dann setzten sie in der Regel sofort einen unbelasteten Bürgermeister ein. Manchmal brachten sie ihn sogar mit. Gleichzeitig hatten sie genaue Vorstellungen über die geplante „Denazification“. Noch vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht hatten die Besatzungsmächte am 25. April dazu eine Direktive erlassen, die vor Ort durch provisorisch eingerichtete Behörden und den Militärkommandanten umgesetzt wurde. In der britischen Zone, zu der auch das Ruhrgebiet gehörte, arbeitete die Besatzungsmacht mit einem Skalensystem von 1 bis 5. Die Kategorien 1 und 2 landeten vor Spruchgerichten. Dazu gehörten insbesondere Angehörige der verbrecherischen NS-Organisationen wie SS, Waffen-SS und des SD. Später kam die Unterscheidung zwischen A und B hinzu, nach welchen Kriterien Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, aber auch aus „finanziellen Unternehmen“ vorzunehmen seien. Wer unter A fiel, gehörte zu den „zwangsweise zu entlassenden Personen“. Solche Listen gab es wenige Wochen nach Kriegsende auch für Journalisten.

Wie das im Revier praktisch ablief, zeigen die Erlasse des Regierungspräsidenten in Arnsberg. Am 3. Juni 1945 verlangt er, dass sich die noch vorhandenen Mitglieder der Ortsgruppenstäbe der aufgelösten NSDAP „unter Aufsicht zu versammeln“ haben. An Ort und Stelle musste dann eine Liste aller ehemaligen männlichen und weiblichen Mitglieder der NSDAP in der jeweiligen Gemeinde angefertigt werden. Die beteiligten Funktionäre mussten eine eidesstattliche Erklärung abgeben, außerdem waren die Parteimitglieder nach dem Grund ihres Eintritts in die NSDAP zu befragen. Am 15. Juni seien die Listen abzugeben, eine Abschrift erhielt der Militärkommandant, bei wahrheitswidrigen Angaben drohte „strengste Bestrafung“.

Für das damalige Amt Milspe-Voerde – heute das Gebiet der Stadt Ennepetal – sind im Stadtarchiv diese Listen der einzelnen Ortsgruppen, nach Zellen geordnet, erhalten geblieben. Daraus ergibt sich zum einen, wie stark die Bevölkerung mit Funktionären der NSDAP und ihrer Gliederungen durchsetzt war, und zum anderen, wie feige die Menschen nach der Befreiung mit ihrer persönlichen Geschichte umgingen. Als Gründe für den Parteieintritt am häufigsten genannt wurden: Zwang der Behörden, Überredung durch die eigenen Kinder, Übernahme durch den BDM, wegen der Arbeitsstelle, wegen langjähriger Erwerbslosigkeit, Überredung durch die Frauenschaftsleiterin, aus taktischen Gründen (sehr oft genannt), wegen Aufforderung durch den Ortsgruppenleiter, um den Ehemann vor Angriffen seitens der Partei zu schützen, weil man es für einen guten Zweck hielt, um eine sichere Existenz zu bekommen, aus geschäftlichen Gründen, um im Beruf zu bleiben, weil man ohne Wissen übernommen worden sei.

Seltener werden die Gründe genannt, die wahrscheinlich für die meisten ehemaligen Parteimitglieder eher zutrafen: aus politischer Dummheit (mehrfach genannt), aus Überzeugung (nur wenige Nennungen), weil man Fanatiker war oder einfach „aus Dummheit“.
Einige Befragte machten auch persönliche Angaben: Ein Gastwirt sei nur eingetreten, um eine Konzession zu bekommen, ein anderer war Blockwart und eingetreten, „um meine Familie zu schützen“, ein dritter war körperbehindert und fühlte sich gezwungen, der Partei beizutreten, ein vierter sei „nur auf Anordnung des Dienstvorgesetzten“ beigetreten. Ein Unternehmer schrieb: „Weil ich im Anfang die Sache für gut und ehrlich hielt.“

Wie man sieht, wurde in den meisten Fällen der Parteieintritt als unausweichlich dargestellt. Einige ehemalige NSDAP-Mitglieder versuchten in dieser Befragung sogar, einen angeblichen Austritt zu konstruieren. Ein Unternehmer aus Gevelsberg schrieb, er sei im August 1944 aus der Partei ausgetreten, und das habe er auch in einem Schreiben am 10. Mai 1945 dem Herrn Amtsbürgermeister mitgeteilt. Zu dem Zeitpunkt war das Ruhrgebiet jedoch bereits mehrere Wochen besetzt, und das Deutsche Reich hatte am 8. Mai bedingungslos kapituliert.

Warum sich zahlreiche Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch engagierte Christen dem verbrecherischen Regime widersetzten und dafür Verfolgung und Tod in Kauf nahmen, die meisten Bürger der Hitler-Partei jedoch mit Überzeugung nachrannten, das bleibt ein großes Rätsel. Wenn man den persönlichen Notizen im Ennepetaler Stadtarchiv glaubt, dann waren es überwiegend sehr egoistische Motive – ohne Rücksicht auf die angekündigten Opfer.

Feierstunde zur Gründung der Stadt Ennepetal 1949