Mozart in der Manege: Patricia Kopatchinskaja und Teodor Currentzis loten die Freiheit des Interpreten aus

Patricia Kopatchinskaja ist auf ihrem Instrument ebenso vielseitig wie technisch überragend (Copyright: Marco Borggreve)

Im Schauspiel gehört das längst zum Alltag: Regisseure setzen Faust „nach Goethe“ in Szene oder Hamlet „nach Shakespeare“. Stücke werden zu ungefähren Handlungsanweisungen, zu Steinbrüchen, aus denen man hie und da größere Brocken heraus schlägt, um dann wieder Fremdes in sie hinein zu montieren: Nietzsche, Freud, Dostojewski, egal.

Im Konzerthaus Dortmund war jetzt freilich eine Seltenheit zu erleben: ein Violinkonzert in D-Dur nach Wolfgang Amadeus Mozart. Vom Köchelverzeichnis möchten wir erst gar nicht anfangen. Die Freiheit des Interpreten bis an die Grenzen und darüber hinaus zu treiben, haben sich die Geigerin Patricia Kopatchinskaja und der Dirigent Teodor Currentzis zusammen getan, der mit seinem 2004 gegründeten Originalklang-Ensemble „MusicAeterna“ in Dortmund gastierte.

„Bloß keine Klangschönheit!“, scheint die Kopatchinskaja sich selbst für ihre Interpretation ins Stammbuch geschrieben zu haben. Sie verpasst Mozarts galantem Stil eine Kratzbürsten-Ästhetik mit lachhaft spitzigen Staccati und einer gehörigen Portion Geräuschhaftigkeit. Wo sich Klangschönheit kaum vermeiden lässt, zumal in den Kantilenen des Andante, verhaucht sie ihren Ton bis zur Unkenntlichkeit. Sie staucht und dehnt Tempi, als wolle sie gegen die Verbindlichkeit des Metrums rebellieren.

Patricia Kopatchinskaja
(Foto: Marco Borggreve)

Für den Mut eigene, halb improvisierte Kadenzen zu spielen, mögen wir diese überragende Geigerin nicht im Geringsten tadeln. Auch nicht dafür, dass sie auf zeitgenössische Weise mit dem thematischen Material umgeht. Schließlich montierte Gidon Kremer schon in den 1970er Jahren eine Kadenz von Alfred Schnittke in Beethovens Violinkonzert hinein. Dabei blieb er freilich hoch seriös.

Die Kopatchinskaja aber versteigt sich zu Albernheiten, die im Saal Gekicher und Gelächter auslösen. Sie kaspert mit dem Solo-Oboisten herum und nimmt die Bordun-Töne im Schluss-Satz zum Anlass, eine Art Irish-Fiddler-Wettbewerb mit den Streichern des Orchesters zu eröffnen. Spiellaune schlägt um in Unfug.

Spätestens jetzt ist der Zirkus im Konzerthaus angekommen. Mozart selbst, keiner Albernheit abhold, hätte über derlei Clownerien womöglich herzlich gelacht. Das Publikum scheint sich mehrheitlich wie Bolle zu amüsieren. Ob Mozarts Werk damit gedient ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Teodor Currentzis, 1972 in Athen geboren, ist Künstlerischer Leiter der Staatsoper im russischen Perm. (Foto: Aleksey Gushchin)

Es ist am Ende Teodor Currentzis zu verdanken, dass aus diesem Konzertabend dann doch ein sehr gelungener wird. Das vermeintliche Enfant terrible der aktuellen Dirigentenszene zeigt sich in Dortmund als gewissenhafter Vertreter der historischen Aufführungspraxis, wie wir sie seit Nicolaus Harnoncourt, Sir Roger Norrington, Thomas Hengelbrock und vielen anderen kennen. Nicht viel unterscheidet Currentzis’ Interpretationen von Mozarts „kleiner“ g-Moll-Sinfonie (Nr. 25 KV 183) und Beethovens „Eroica“ an diesem Abend von den genannten Vorläufern. Charakteristisch ist ein Hang zur Überakzentuierung und zu extrem schnellen Tempi, die aus manchem Stück einen Sprint machen. Sechzehntel-Ketten der Streicher klingen unter seiner Leitung gerne hitzig erregt wie ein Fieberschauer.

Die Aura des Rebellen, der wie ein Sturmwind aus dem russischen Perm daher gefegt kommt, um die Klassik-Szene gehörig durcheinander zu wirbeln, mag von findigen Marketing-Strategen erfunden und gepflegt worden sein. Wo die Werbung einen Messias verspricht, erleben wir einen jungen, musikbesessenen Dirigenten, der sein Orchester zu erfrischend kontrast- und spannungsreichem Spiel animiert.

Größere Schockwirkungen bleiben aus: Weder gibt es einen Brachial-Mozart zu bestaunen noch einen Rüpel-Beethoven. Und das wilde und lautstarke Fußstampfen auf dem Podium scheint er sich mittlerweile weitgehend abgewöhnt zu haben. Begeisterter Beifall.

Informationen zum Programm des Dortmunder Konzerthauses: http://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/?layout=grid

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Gezähmte Wildheit: Patricia Kopatchinskaja in der Essener Philharmonie

Patricia Kopatchinskaja. Foto: Marco Borggreve

Patricia Kopatchinskaja. Foto: Marco Borggreve

Auf die wohlige Sphäre berührungslosen Genusses war die in Moldawien geborene und in Wien aufgewachsene Geigerin Patricia Kopatchinskaja noch nie abonniert. Auch nicht auf die hochgezüchtete Virtuosität oder die augenzwinkernde Barbie-Erotik irgendwelcher geigenden höheren Töchter. Das hat ihr den zweifelhaften Titel der „jungen Wilden“ eingebracht, den sie selbst einmal scherzhaft übersteigert hat: „Wildsau unter Hausschweinen“.

Wenn die Kopatchinskaja spielt, geht es um Wahrhaftigkeit und Tiefenschichten. „Wir spielen ja keine Noten, sondern Emotionen“, sagte sie einer Interviewerin. Ihre Diskografie zeigt, wo sie diese findet: Beethoven ist der einzige „Klassiker“, alle andere Musik für Violine und Orchester stammt von unbekannten oder zeitgenössischen Komponisten: Johanna Doderer, Gerd Kühr, Gerald Resch, Otto Zykan. Oder vom Klavierkollegen und -begleiter Fazil Say. Da ist ihre neueste Aufnahme – erschienen im Oktober – beinahe schon Mainstream: Konzerte von Igor Strawinsky und Sergej Prokofjew.

Im Konzert des London Philharmonic Orchestra in der Essener Philharmonie stand eben jenes Zweite Prokofjew-Konzert in g-Moll auf dem Programm. Schon der Einstieg ließ aufhorchen. Man kann es ganz anders beginnen als die moldawische Geigerin. So wie Jascha Heifetz etwa, der eine rasche, klare Introduktion spielt, orientiert am Ideal der vom Komponisten propagierten „neuen Einfachheit“. Oder wie Geneviève Laurenceau: Sie formt eine russische Seelen-Kantilene, dunkel-vibrierend und voller Schmerzenslust.

Konzert in der Philharmonie: Patricia Kopatchinskaja und Dirigent Vladimir Jurowski. Foto: Sven Lorenz

Konzert in der Philharmonie: Patricia Kopatchinskaja und Dirigent Vladimir Jurowski. Foto: Sven Lorenz

Patricia Kopatchinskaja sieht diese schlichte Intervallfolge in einem anderen Licht: Sie startet leise, als habe sie einen Fetzen einer Melodie wie zufällig aus der Luft gefangen und banne ihn nun in den Zauberkreis ihrer Geige. Das Orchester unter seinem grandiosen Dirigenten Vladimir Jurowski – einem der Aufsteiger des neuen Jahrtausends – folgt dieser fragend formulierten, im Ton sanft, aber aufgerauten Kantilene in leisen Schatten, behutsam erblühenden Bläsermomenten, lässt die barfüßige Geigerin auf sattfarbige Bassklarinetten- und Fagott-Teppichen traumwandeln. Auch der erste Höhepunkt bleibt diskret: Prokofjew schreibt gedämpfte Lautstärken zwischen Pianissimo und Mezzoforte vor.

Mit der „Wildsau“ war es da nix. Auch wenn die Geigerin in Figurationen, Doppelgriffketten und Arpeggien zur Sache geht, mit feurig-risikobereitem Strich, mit unglaublichen Farben, mit expressiven hohen Tönen auf den tiefen G- und D-Saiten. Aber Kopatchinskaja sucht nicht exzentrisch nach dem Effekt eines wilden, rauen Tons. Sie verzärtelt auch nichts, sondern bricht den Ton im zarten figurierten Spiel, in der Dichte der Details, in den zugespitzten, virtuosen Parforce-Momenten des dritten Satzes.

Aber die Geigerin opfert deshalb nicht auf den rissigen Altären des kompromisslos „hässlichen“ Zugriffs. Sie hält auch das Überdrehte, die Anflüge des Grotesken stets im Zaum. Das ist keine faule Kompromissbereitschaft, um den Zuhörern die Zumutung der Musik zu ersparen. Es ist dem Blick auf Prokofjews Intention geschuldet: „Neue Einfachheit“ heißt ja auch, sich in der expressiven Wut nicht zu verlieren. Wunderbar ist, wie Kopatchinskaja ihr Spiel-Temperament in Bezug zu den Farben des Orchesters setzt. So erreicht sie gemeinsam mit den vortrefflichen Londoner Künstlern die emotionale Tiefenschicht einer Musik, die andere eher kühl-artistisch verstehen.

Das London Philharmonic und sein russischer Dirigent verstehen sich gut: Sergej Rachmaninows letztes Orchesterwerk, die „Sinfonischen Tänze“, gibt dem Orchester jede Chance, von prächtigen Soli bis zu satten Klangflächen alle Facetten seiner Kultur zu zeigen. Und für Nikolai Rimski-Korsakows Suite aus der Oper „Die Nacht vor Weihnachten“ findet es die glitzernde Helle der oberen Register, die teuflische Tiefe des gedämpften Blechs, den aggressiven rhythmischen Prunk in der scharfkantigen Polonaise. Und man fragt sich, warum es in den Theatern zu Weihnachten immer nur „Hänsel und Gretel“ gibt: Russland bietet bezaubernde Opern fürs Fest – es müsste sie nur mal jemand auf die Bühne bringen!




Anti-Ideal zur höheren Geigen-Tochter: Patricia Kopatchinskaja und Fazil Say in Essen

Patricia Kopatchinskaja Photo: Marco Borggreve

Patricia Kopatchinskaja Photo: Marco Borggreve

An Patricia Kopatchinskaja scheiden sich die Geister. Die moldawische Geigerin pflegt einen radikalen Stil. Ihr Spiel geht an die Grenzen, die intensiven Ausdruck von schierer Brutalität scheiden. Die Kritik sagt ihr nach, den „Schmutz“ in der Musik zu lieben – das Geräuschhafte, den bis zur Schmerzgrenze aufgerauten Ton. Die sie mögen, bewundern ihre unbedingte Wahrhaftigkeit, ihre kompromisslose Ausdruckssuche. Die sie ablehnen, kritisieren an ihr ungenierten Subjektivismus, gepaart mit dem Abschied von jeder traditionellen Ästhetik.

Nach dem bemerkenswerten Konzert in der Philharmonie in Essen lässt sich feststellen: Beide Sichtweisen haben gute Gründe. Aber: Was ist dann von der geigenden „Wildsau“ – wie sie sich selbst einmal bezeichnet hat – zu halten? Steht sie für den Auswuchs eines nach immer exaltierteren Novitäten gierenden Kunstbetriebs, in dem nur Aufmerksamkeit erzielt, was schräg, extrem und unerhört ist? Oder für einen kompromissloser Zugang zu Musik, die sich allzu leicht ins Ohr schmeichelt, weil ihre ursprünglichen Ausdrucks-Intentionen nicht mehr wahrgenommen werden?

Schon vor gut zwei Jahren hat die moldawische Geigerin gemeinsam mit ihrem Klavierpartner Fazil Say auf einer beim Label naїve erschienenen Disc demonstriert, dass sie von Beethoven und Ravel Politur und Perfektion abkratzt. Wer sich gelegentlich mal ins Konzerthaus Dortmund aufmacht, konnte dort schon 2006/2007 die Kopatchinskaja als „junge Wilde“ bestaunen. Ein Ruf, der ihr von einigen Musikkritikern auch willig vorausposaunt wird.

In Essen waren die Reaktionen im beachtlich gefüllten Parkett des Alfried-Krupp-Saales meist enthusiastisch, teils auch reserviert. Sie spiegeln getreu, wie die so gar nicht dem Ideal der geigenden höheren Töchter entsprechende Musikerin wahrgenommen wird. Nach dem ersten Satz von Schuberts a-Moll-Sonate dürfte klar gewesen sein: Es geht Say und Kopatchinskaja nicht um die Show. Auch nicht um den „Schmutz“ in der Musik. Sondern darum, eine Musik zu vergegenwärtigen, deren Tiefe sich heute in der Masse des Gehörten zu eben jener gepflegten Glätte nivelliert hat, mit der sie als erschütterungsloses akustisches Dessert niemanden verstört. Die nicht mehr aus der Ruhe bringt, es sei denn, es verspielt sich jemand.

Dieses gegenwärtig Setzen geschieht schon in den ersten Perioden: Say entwickelt die weichen Linien des Klavierparts aus dem Nichts. Die Geigerin fährt mit dem eröffnenden Vier-Ton-Motiv unwirsch in die Idylle. Aber im Nachsatz zieht sie sich wie erschrocken ins Träumerische zurück. Ein paar Sekunden machen klar, aus welchen Extremen Schuberts Stück besteht. Say spinnt in seinem ersten Solo den Gegensatz aus: Er lässt ein schwärmerisches Legato fließen, das für sich genommen reinster Kitsch wäre – würde nicht seine Geigenpartnerin die ätherische Schönheit mit dem erneuten Einwurf des verstörenden Anfangsmotivs als Illusion entlarven.

Patricia Kopatchinskaja gibt aber nicht die Hexe vom Dienst: Auch sie kennt die traumverlorenen Arielstöne, veredelt mit feinstem Vibrato. Auch sie kennt den „heiligen Gesang“ des zweiten Satzes, die sanfte Steigerung ins Hymnische, an die sich Fazil Say schüchtern herantastet. Aber sie kennt auch das heftige Temperament zu Lasten der makellosen Politur des Tons.

Bei Beethovens „Frühlingssonate“ hört man, was ein exponiertes Sforzato eigentlich ist. Die Musik drängt im Kopfsatz geradezu verzweifelt vorwärts, als sei ihr ein Dämon auf den Fersen. Kopatchinskaja lässt die Skalen blitzen, Say die Bässe dröhnen – aber man findet schwerlich einen Moment, der sich aus lauter Selbstgefälligkeit gegen die Musik richten würde. In den ruhevollen Kantilenen des „Adagio molto espressivo“ schnurrt der Tiger: Bei allem Furor ist Kopatchinskaja zur erfüllten Sanglichkeit fähig.

Das Programm ist sinnig zusammengestellt: Verbinden sich Beethoven und Schubert durch ihre Suche nach expressiver Erweiterung der Formmodelle, teilen Brahms‘ d-Moll-Sonate und Ravels „Tzigane“ die Idee des „Zigeunerischen“. Brahms‘ Allegro verschwimmt unter Fazil Says Händen in einem zu weichen Wattebett, aber nach der Exposition toben sich die beiden Musiker in erregter Passion aus: Doch selbst wenn Kopatchinskaja den Zusammenhalt der Phrasierung in Frage stellt, bleibt der Eindruck, hier gehe es einer Künstlerin um den unbedingten, selbst im gewagtesten Risiko verantworteten Ausdruck. Man kann diesen Kopfsatz ganz anders auffassen, schwerlich aber authentischer und persönlicher.

Das Adagio stellt in der Musizierhaltung die Rückbindung zu Schubert her: Die Geigerin spinnt hinreißend weite, doch mit Spannung erfüllte Phrasen aus. Im dritten Satz lässt sie hören, wie sie die Töne „reißen“ kann, doch nie überschreitet Kopatchinskaja die Grenze, jenseits derer der Kunst-Charakter des Klangs an die bloße Sensation des Geräuschhaften verraten würde. Und der Beginn von Ravels „Tzigane, rapsodie de concert“ ist wie ein ferner, rauchiger Reflex auf die Folklore, die der Komponist im Ohr gehabt haben mag, als er sich von der Geigerin Jelly d’Arányi und ihren ungarischen Weisen anregen ließ.

Es sind die Aspekte des Gebrochenen, nicht die Imitation des Folkloristischen, die Say und Kopatchinskaja interessieren – bis hin zur furiosen Steigerung und zum gespenstischen Klang-Irrlicht. Dass die beiden Musiker als Zugabe einen rumänischen Tanz Béla Bartóks wählen, steht in der Linie des Programms. Dass Kopatchinskaja in Jorge Sanchez-Chiongs „Crin“ (1996) mit ihrer Geige „schimpft“, amüsiert das Publikum. Und die Lacher haben beide auch mit der überraschenden Bearbeitung von „Für Elise“ von Fazil Say auf ihrer Seite.

Fazit des Konzerts: Der Anspruch der Kunst wird nie aufgegeben zugunsten einer exaltierten Selbstdarstellung. So riskant, so glühend, so entfesselt die beiden auch spielen mögen: Hinter jeder Note steht die Demut vor dem Werk. Ein bedeutendes Konzert, das hörbar macht, wie aufregend gegenwärtig Musik sein kann, wenn man sie aus der wohligen Sphäre berührungslosen Genusses befreit.

Patricia Kopatchinskaja ist in der Region wieder zu erleben: Am 11. November spielt sie im Konzerthaus Dortmund mit dem Philharmonia Orchestra London das Violinkonzert von Esa-Pekka Salonen. Am 29., 30. und 31. Januar ist sie in Köln zu Gast und spielt mit dem Gürzenich-Orchester unter Ulf Schirmer Mozarts D-Dur-Violinkonzert. Nach Essen kommt sie wieder ab 31. Mai zu einer Meisterklasse mit Sol Gabetta (Cello) und Henri Sigfridsson (Klavier). Die drei spielen am 2. Juni 2012 in der Philharmonie Klaviertrios. Mehr auf der offiziellen Webpage der Geigerin: http://www.patkop.ch/