Sog der wortkargen Geschwätzigkeit – Deutsche Erstaufführung von Jon Fosses „Todesvariationen“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Gibt es wortkarge Geschwätzigkeit? Normalerweise nicht. Doch beim norwegischen Dramatiker Jon Fosse erlebt man sie konkret.

Seine Personen bilden sehr einfache, knappe Sätze („Es ist nicht so“ / „Du darfst nicht“ /„Kannst du bitte gehen“). Sie quellen melancholisch aus Mündern und tropfen in ein Meer des Schweigens. Doch wie in einer Endlosschleife werden sie in wechselnden Phrasierungen wiederholt, so dass denn doch auf lakonische Art recht viel geredet wird.

Es ist vielleicht die Angst vor dem endgültigen Verstummen, vor dem Tod, welche diese Menschen umtreibt und zum bloßen Sagen am Rande der Sprachlosigkeit drängt. Dies gilt auch fürs Stück „Todesvariationen“, das jetzt in den Bochumer Kammerspielen als deutsche Erstaufführung zu sehen ist. Nach „Winter“ und „Schönes“ ist es bereits die dritte Bochumer Fosse-Premiere. Man erkennt den Autor sogleich am „Sound“ wieder. Dem rhythmischen Sog überlässt sich auch der Regisseur Matthias Hartmann.

Der ruhmreiche Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann hat (passend zum schlackenlosen Text) einen gleißend hellen, leeren Kastenraum bauen lassen. Nichts lenkt in diesem minimalistischen Umfeld von den Worten und Gesten ab, die hier äußerst plastisch hervortreten, obgleich ziemlich verhalten gespielt wird. Jede Handbewegung, jede Schrittfolge gerinnt zum Zeichen.

Familiäres Mysterienspiel

Vor der Bühne schwankt ein Schiffsmast als Signal eines wellengleich wechselhaften Schicksals. Das aber ist gnadenlos hart: Ein älterer Mann und seine Frau (ganz große Besetzung: Hans-Michael Rehberg, Barbara Nüsse) haben ihre einzige Tochter verloren. Sie hat Selbstmord begangen. Schon als Kind wollte sie nur „ihre Ruhe haben“. Doch ihre Tat wird ein Rätsel bleiben, der Text umschleicht den Freitod wie eine schrecklich leere Mitte. Neben den Eltern, die den Schmerz nicht fassen können und den Tod nicht wahrhaben wollen, geistern zwei weitere Paare über die Erinnerungsbühne: die beiden selbst, in früheren Jahren des Beginnens, der Schwangerschaft, der Ehekrisen und der Trennung (Patrick Heyn, Sabine Haupt); sodann die heranwachsende Tochter mit einem Freund (Cathérine Seifert, Johannes Zirner), der sie verlockt, aber auch stets vor sich warnt und vielleicht „der Tod“ selbst ist.

Familiäres Mysterienspiel im Schattenreich eines gleitenden Phasenwandels: Düstere Vorahnungen und verzweifelte Rückblicke kreuzen sich. Die subtil eingesetzten Schattenrisse der Figuren werden zum dramaturgischen Element. Gespenstischer Befund: Jede(r) ist für sich allein, Mitteilungsversuche schlagen fehl.

Ohne nähere Bestimmung müssen diese Gestalten auskommen. Sie sind letztlich alterslos. haben keine erkennbaren Berufe, auch Ort und Epoche des Geschehens sind nicht gewiss. Soziologische und psychologische Erklärungsversuche laufen ins Leere. Hier geht’s existenziell zu, für Interpretationen bleiben weite Spielräume.

Und so kreist der Text zuweilen etwas redundant in sich selbst. Gespielt von mittelmäßigen Darstellern, wäre dies wohl schwer erträglich. Doch in Bochum tragen sie das Stück 80 Minuten über manche Untiefen hinweg, so dass man der linguistischen Kammermusik doch atemlos lauscht. Am Ende schwindet ein leuchtendes Quadrat auf der Wand ins Nichts. Dunkel. Stille. Auslöschung.

Termine: 15. Feb., 2. und 8. März. Karten: 0234/3333-111.




Wie die Händler des Todes mobben – Matthias Hartmann inszeniert in der Sparkasse „Die Direktoren“ mit Harald Schmidt

Von Bernd Berke

Direktor Denfert trägt eine besorgte Unschuldsmiene zur Schau, doch dieser Konzern-Jurist ist ein arger Mobbing-Teufel. Dem Direktionskollegen Odéon vom Finanzressort wispert er den dringlichen Rat zu, er solle ruhig den „Kosten-Koeffizienten“ auf 45 Prozent steigern. Der arme Wicht geht darauf ein.

Nun erzählt Denfert allen anderen, Odéon sei offenkundig verrückt geworden. Der wolle doch tatsächlich den Koeffizienten steigern. Wenn die Firma so teuer anbiete, bekomme sie nie Aufträge . .. Der Mann will nach oben, will hinauf zur Vorstandsebene – dorthin, wo sich Montparnasse (Harald Schmidt in seiner zweiten Bochumer Rolle) bereits befindet.

Denfert (aus der Deckung attackierend: Martin Hörn) hat noch viele Giftpfeile im Köcher. Seine Strategien treiben das Stück „Die Direktoren“ an, für das der Franzose Daniel Besse zwei Molière-Preise kassiert hat. Es geht nicht nur um Postenjagd, sondern auch um brisante Rüstungsgeschäfte von „Delta Espace“. Den Briten will man Raketen verkaufen und dabei die US-Konkurrenz ausstechen.

Handlung direkt und via Bildschirm

Bochums Bühnenchef Matthias Hartmann bringt die deutschsprachige Erstaufführung des tragikomischen Inüigen-Reigens nicht etwa im Schauspielhaus, sondern in der Sparkasse heraus: Mit dem Aufzug geht’s in den vierten Stock. Es ist just die trostlos gediegene Chefetage. Dort verteilen sich die Zuschauer auf drei Räume. Vom Geschehen sehen sie je etwa ein Drittel leibhaftig, den Rest nur per Direktübertragung – schwarzweiß auf großen Bildschirmen. Liegt es nur daran, dass man sich in einem recht konventionellen Konversationsstück fürs ambitionierte Fernsehspiel wähnt?

Von avantgardistischen Mühen ist der Text sternenweit entfernt. Doch er bietet eine solide Basis für Schauspielkunst der angenehm traditionellen Art. Kameras folgen den Schauspielern bis auf die Toilette. Die Bildschirmdarstellung, in nahtloser Abfolge mit Realszenen eine logistische Leistung, bewirkt auch diesen Eindruck: Die Figuren (alle nach Pariser Metro-Stationen benannt) scheinen einem Schattenreich zu entstammen.

Gestalten huschen vorbei, um plötzlich via „Fernsehen“ aufzutauchen. Ganz so, als überwache sie ein allgegenwärtiges Auge. Vielleicht ist’s ja das göttliche Auge der Historie, das schon alles gesehen hat und dessen Blickwechsel Hartmann so beschwört: Mittendrin tragen auf einmal alle Bosse barockisierende Kostüme und Perücken. Derart im Kerzenlicht verfremdet, gleitet die Handlung in kunstreich verschnörkelte Ränkespiele à la Marivaux hinein. Mobbing als Phänomen der Hochkultur.

Kultivierte Form der Gemeinheit

Im Gegensatz zu Becketts „Godot“, wo er als Prominenter in den Hintergrund trat, ist Harald Schmidt diesmal kenntlich. Sein Wein- und Golf-Kenner Montparnasse verkörpert eine ähnlich luzid-luziferische Mischung aus Kultiviertheit und Gemeinheit, wie sie Schmidt in seiner TV-Show pflegt. Die Rolle passt ihm wie angegossen.

Und erneut fügt er sich zum Ensemble, als habe er stets dazugehört. Herausragend neben ihm und Martin Hörn: Felix Vörtler als serviler Generaldirektor Bercy, zu jeder Demutsgeste bereit; Patrick Heyn als großmäulig-sexbesessener Châtelet, im Grunde ein ganz einsames Würstchen. Und Martin Rentzsch, der als Mobbing-Opfer Odéon flackert zwischen um Schonung bettelnder Zutraulichkeit, bodenloser Wut und Verzweiflung. Er endet bitterlich. Geschäfte und Karrieren gehen weiter. Es sind letztlich ganz normale Charakter-Fieslinge, die da mit dem Tod handeln. Unvorstellbar? Nein, jetzt höchst vorstellbar.

Nächste Termine in der Sparkasse Bochum (Massenbergstr. 4-6, Nähe Hauptbahnhof): 3., 9., 10. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Leise kommt der Jammer – Jürgen Kruse inszeniert Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Da hat man vorher gewettet, welche Schätze der Regisseur Jürgen Kruse diesmal aus Rock- und Pop-Archiven heben würde, um sie mit ordentlichen Dezibel-Werten von der Bühne schallen zu lassen. Doch an dem fast vierstündigen Abend kommt es ganz anders.

Zwar setzt Kruse auch diesmal allerlei Musik (von Brenda Lee bis zu den Byrds) ein, doch nur als weiche Einbettung für den Text, den er mit großem Respekt vor dem Wortlaut inszeniert hat.

Auf dem Plan steht Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ (Uraufführung 1949), jenes tragische, manchmal auch ein klein wenig sentimentale Spiel vom Scheitern des „kleinen Mannes“ und seines amerikanischen Traums vom ungehinderten Fortkommen.

Ärmliche Wohnung in Brooklyn; lauter noch nicht abbezahlte Ratenkäufe. Trotzdem wirken die Möbel schon aufgebraucht. Wie in eine Puppenstube schauen wir in die zwei Etagen dieser Behausung (Bühnenbild: Steffi Bruhn). „Draußen“ dräut eine Hochhaus-Silhouette, man hört hektisches Hupen. Keine gute Gegend. Links von der Bühne, grinst „Uncle Sam“, der das Dach von einem Hause hebt und so in die Privatsphäre dringt.

Den Träumen folgen keine Taten mehr

Hierher kehrt der Handlungsreisende Willy Loman (stille Größe im Leid: Jürgen Rohe) von einer kläglich erfolglosen Verkaufstour zurück. Er trägt einen verschlissenen braunen Anzug. Der Mann spricht leise, mit brüchiger Stimme, die Schultern hängen herab. Sein ganzes Wesen ist nur noch ein mühsam wankendes Aufrecht-Erhalten, steifbeiniger Rest einer längst verbrauchten Würde. Ein Satzfetzen wird immer wieder gemurmelt: „Waagerecht oder senkrecht“. Ja, das ist hier die Frage: Wie sich einer im Kreuzworträtsel des Lebens noch behaupten kann, wenn alle Felder falsch ausgefüllt sind.

40 Jahre lang hat Willy der Firma gedient, nun kann er nicht mehr. Die beschädigten Träume ergießen sich nicht mehr in Taten, sondern bloß noch in (Selbst-)Gespräche. Phantasien von Großartigkeit („Ich bin überall beliebt“) wechseln mit Jammer („Man findet mich lächerlich“). Was einst Selbstentwurf war, ist nur noch Selbstbetrug und mündet schließlich in Selbstaufgabe. Ein „Versager“ in den Zeiten des Börsenwahns. Rings um ihn verdichtet sich ein simultanes Geisterspiel, eine Art „Gespenstersonate“. Die Traumlicht-Erscheinung des „im Dschungel“ reich gewordenen Bruders Ben (Ralf Dittrich) lockt Willy ins gefährlich Ungefähre.

Kruse lässt Millers Text in aller Ruhe dahin rinnen, er zerfleddert nichts, sondern lotet leise, umsichtig und mitleidend aus. So sehr hat er sich als Regisseur zurückgenommen, dass man gelegentlich gar ein paar rhythmische Akzente vermisst, die den Energiefluss stauen und wieder freisetzen könnten.

Am Ende tobt sich doch noch die Spaßgesellschaft aus

Präzise sezieren Kruse und seine Darsteller auch das freilich nicht rein „private“ Familien-Syndrom der Lomans: Da ist Linda (Veronika Bayer), die ihren Mann, trotz all‘ seiner Schwächen liebt, eine Heroine des Alltags im Morgenrock; da sind die Söhne Biff und Happy (Patrick Heyn, Johann von Bülow), noch jugendlich hitzig und albern, doch auch schon gebrachen. In ihrem Widerspiel mit dem Vater spürt man schaudernd die allzu kurze Spanne des Lebens: kaum gehofft, schon halb gescheitert. Generation für Generation.

Und die Musik? So behutsam verwendet wie hier, nimmt sie Stimmungen auf und trägt sie sanft weiter. Nur ganz am Schluss dröhnt, nach Willys Autounfall-Tod, eine Party mit dem „Starfucker“ der Rolling Stones. Fühllos stampft die Generation der Lebensversicherungs-Erben übers triste Schicksal des Handlungsreisenden hinweg. Da tobt sich die Spaßgesellschaft im Jugendwahn aus.

Frenetischer Beifall für alle.

Termine: 28. Mai, 17., 25. Juni. Karten: 0234/3333-111.