Dem Tod gefasst entgegensehen – Paul Austers Roman „Baumgartner“

Ein doppeltes Missgeschick wirft das Gedanken-Karussell des Erzählens an: Zuerst hantiert Professor Seymour T. Baumgartner (genannt „Sy“), emeritierter Phänomenologe und Schriftsteller aus Princeton (USA), höchst ungeschickt mit einem glühend überhitzten Topf. Kurz darauf stürzt er eine Treppe hinunter. Slapstick mit schmerzlichen Folgen.

Doch da ist ein bleibender, ungleich tieferer Schmerz, der phantomhaft fortwirkt: Vor einigen Jahren ist Anna, die Frau seines Lebens, wider seinen Rat abends noch einmal zum Schwimmen ins Meer gegangen und von einer tödlichen Monsterwelle erfasst worden. Wie kann der Hinterbliebene das aushalten? Zitat: „Leben heißt Schmerz empfinden, sagte er sich, und in Angst vor Schmerz zu leben, heißt das Leben verweigern.“ Für eine solche Einsicht muss das Ereignis wohl schon eine Weile zurückliegen.

Seit Annas Tod schwindet jenes Gefühl nicht mehr, dass einem immer und überall etwas zustoßen kann. Aus dem andauernden Bewusstsein von Endlichkeit und Vergänglichkeit erwächst hier mit der Zeit Gefasstheit, während die Panik sich nach und nach vermindert.

Auf schwankendem Boden

Gleichwohl: Auf unsicherem, schwankendem Boden bewegt sich Paul Austers Roman „Baumgartner“, der aus Reflexionen und Erinnerungen des nunmehr 71 Jahre alten Witwers besteht; freilich nicht in der Ich-Form, sondern distanziert in der dritten Person wiedergegeben, doch kaum minder eindringlich. Es stehen nun solche Fragen an:  Wie viel Zeit bleibt noch auf Erden? Was geschieht nach dem Tod? Besteht dann noch eine geheime Verbindung mit einst geliebten Lebenden?

„Er ist jetzt einundsiebzig, in sechs Wochen steht der nächste Geburtstag an, und ist man erst einmal in dieser Zone schrumpfender Perspektiven angelangt, muss man mit allem rechnen.“ Gekommen sind demnach die Zeiten, in denen nicht nur generell das Gedächtnis nachlässt, sondern man auch öfter vergisst, den Hosenstall zuzumachen. Das Altern als lachhaft traurige Groteske… Aber wäre es denn besser, so früh, selbstgewiss, kühn und aufrecht in den Tod zu gehen wie seinerzeit Anna?

Lektüre unter anderen Vorzeichen

Unterdessen schweifen Baumgartners Gedanken in die Vergangenheit. Es ziehen so manche Szenen aus seinem Leben noch einmal vorüber; besonders aus der Frühzeit, als er Anna kennenlernte, die damals zunächst den Ehrgeiz hatte, Baseball-Spielerin zu werden, um es den Jungs zu zeigen. Ein Paar wurden sie erst nach etlichen Jahren, vor dem Zeithorizont des Vietnamkriegs und der heftigen Proteste dagegen. Durch Zufall sind sie einander wieder begegnet, doch auch wie vorherbestimmt. Es wurde eine anfangs wild erotische, sodann zunehmend intellektuell bereichernde Partnerschaft.

Austers treue Leserinnen und Leser mögen hierbei an sein reales Leben mit der ebenfalls ruhmreichen Schriftstellerin Siri Hustvedt denken. Es bleibt ihnen unbenommen. Aber in derlei Analogien geht dieses Buch natürlich längst nicht auf. Seit Siri Hustvedt die (literarische) Welt hat wissen lassen, dass Paul Auster an einer schweren Krebserkrankung leidet, liest man einen solchen Roman allerdings unter anderen Vorzeichen und mit anderen Regungen. Je nach Lebensalter dürften sich zudem verschiedene Lektüren ergeben. Doch darunter sollte keinerlei fruchtlose Lektüre sein.

Ukraine als Zone des Schreckens

Die Rückblicke führen jedenfalls über die wechselhafte Lebensgeschichte der Eltern (welche Optionen hatten sie, welche haben sie genutzt?) bis in die Kindheit und weiter hinab zum Gedenken an den jüdischen Großvater in der Ukraine, wo Baumgartner sich viele Jahrzehnte später – am Rande einer PEN-Autorentagung – in der entsprechenden Region um Lwiw umsehen konnte. In der Gegend sind viele Gräuel des 20. Jahrhunderts kulminiert, sie war wiederholt eine Zone schrecklichen Massensterbens. Dieser Roman schildert eben keine rein persönliche Geschichte, er umgreift auch das Weltgeschehen. Übrigens erinnert sich Auster und mit ihm Baumgartner in diesem Zusammenhang an ein deutsches Gedicht, das Georg Trakl in jenen Breiten über den Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Es heißt „Im Osten“ und endet mit der Strophe:

Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.

Gegen Ende hin scheint die Handlung gleichsam ein wenig ins Schlingern zu geraten, als würde es Auster aus der Kurve tragen. Auch Baumgartner hat ein Buch mit dem Titel „Rätsel des Steuers“ vollendet, das sich zwischen Aristoteles und allerlei Erwägungen zum „autonomen Fahren“ ergeht. Er fragt sich selbst, ob etwa seine Kraft zum Schreiben nachgelassen habe. Auch hier also das Menetekel des Alterns. Doch noch einmal, ein letztes Mal, so scheint es, hat er einen Text auf eigener Höhe verfasst.

An wessen Türe klopft er schließlich an?

Es geht derweil nicht nur um Todesnähe und Zeitvergang, sondern zuinnerst auch um die Liebe. Nach Jahren der flehentlichen Trauer hatte Baumgartner jüngst eine Affäre, aus der mehr zu werden schien und aus der dann doch nichts geworden ist. Und nun? Hat sich eine junge, offenbar ausgesprochen kluge und vitale Wissenschaftlerin gemeldet, die sehr eingehend über Annas vorliegendes und verborgenes Werk forschen möchte, wobei ihr Baumgartner sicherlich am besten helfen kann. Er lädt sie auf unbestimmte Dauer ein, lässt eigens ein Einlieger-Apartment für sie herrichten, blüht auf vor lauter Vorfreude, ja Vor-Verliebtheit. Ist sie nicht gar so etwas wie eine wiedergeborene Anna? Als sie im fernen Bundesstaat losfährt, macht er sich ungeheure Sorgen wegen der Wetterverhältnisse. Ob und wann diese Beatrix („Bebe“) Coen bei ihm eintrifft, erfahren wir jedoch nicht mehr. Der Roman nimmt ein jähes Ende, das ins Leere zu laufen scheint. Ob es auch im Nichts endet, steht dahin.

An diesem Ende geschieht abermals ein Unfall, diesmal mit dem Auto, in das sich Baumgartner gegen alle Vernunft beim widrigem Winterwetter gesetzt hat. Er scheint nur leicht verletzt zu sein und selbst Hilfe in einem nahegelegenen Haus aufsuchen zu können. Doch dann klingt es in den vieldeutigen Schlusssätzen so, als habe er vielleicht nicht bei gewöhnlichen „Leuten“, sondern an die Tür des Todes geklopft. Welch ein rätselvoller Aus- und Übergang. Niemand weiß mehr.

Paul Auster: „Baumgartner“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt, 204 Seiten, 22 Euro.




„Nervös wie ein Rennpferd in der Startbox“ – Paul Auster umkreist Leben und Werk des fast vergessenen Stephen Crane

Die (post)moderne Literatur hat Paul Auster entscheidend beflügelt. Die „New-York-Trilogie“ hat ihm einen Platz in der Weltliteratur gesichert. Mit „4,3,2,1“ schrieb er sein Opus magnum. „In Flammen“ heißt sein neues Buch, das „Leben und Werk von Stephen Crane“ untersucht: die Biografie eines fast vergessenen Autors, der im Jahr 1900 – mit nur 28 – an Tuberkulose starb. Ein früh gereiftes Genie, das vielen ein Rätsel blieb.

Auster will Crane dem Vergessen entreißen, spiegelt sich im geheimnisvollen Leben und disparaten Werk des Autors, ohne den die US-Literatur und seine eigene nicht denkbar wären. Auster hat sich unter Kollegen und Kritikern umgehört und war verblüfft: Kaum jemand kennt heute noch den Namen des Autors, der wie ein Komet am Literaturhimmel erschien und dem Naturalismus und Realismus neue Dimensionen eröffnete. Kaum jemand hat je einen Roman oder eine Novelle des Autors gelesen, der eine zeitlang im tiefsten Elend in den Slums von New hauste und sich, weil er notorisch pleite war, als Kriegsreporter verdingte und mehrmals in Lebensgefahr geriet.

Im Roman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ hat Stephen Crane den Krieg auf radikal neue Weise beschrieben. Die vom eigenen Schiffsuntergang und Überlebenskampf handelnde Novelle „Das Offene Boot“ hat später Hemingway zu seiner Erzählung „Der alte Mann und das Meer“ inspiriert. Crane ist „Amerikas Antwort auf auf Keats und Shelley, auf Schubert und Mozart“, sein Werk, so Auster, sei nicht gealtert: „Hundertzwanzig Jahre nach seinem Tod leuchtet die Flamme Stephen Cranes noch immer.“

Gealterter Schriftsteller bewundert junges Genie

Auster umzingelt Crane nicht als Wissenschaftler, sondern als alter Schriftsteller, der das Genie eines jungen Schriftstellers bewundert, der fasziniert ist vom widersprüchlichen Leben, den spontanen Wagnissen, der starrsinnigen Hingabe an die Berufung als Schriftsteller, an der Crane festhielt: vom ersten Gedicht, das er als Kind schrieb, über die ersten Zeitungsreportagen, die er als Jugendlicher verfasste, bis zum letzten Atemzug, den Crane in Deutschland tat: Gestorben ist Crane im Kurort Badenweiler, wo er vergeblich hoffte, die Flamme seines Lebens vor dem Verlöschen zu retten, und wo nur eine kleine Zeitungsnotiz von seinem Tod Kenntnis gab.

Als Joseph Conrad, Henry James und H. G. Wells, die Crane bewunderten, von seinem Tod erfuhren, waren sie tief erschüttert. Und Willa Cather, die mit Crane eine wilde, von einem Schneesturm umtoste Nacht verbrachte, meinte: „Er wirkte so nervös wie ein Rennpferd in der Startbox. Er war ein Mann, der mit einer plötzlichen Abreise rechnet. Nie habe ich einen Mann mit so bitterem Herzen gekannt, wie er es mir in dieser Nacht enthüllte. Es war eine Abrechnung mit dem Leben, eine Anrufung des Hasses.“

Unter Tage und in den Slums von New York

Wenn Crane einen Artikel über die Ausbeutung der Bergbauarbeiter schreibt, fährt er mit ihnen in die Schächte hinunter und atmet Staub. Wenn er seinen Roman über „Maggie, das Straßenmädchen“ schreibt, lässt er sich durch New Yorker Slums treiben. Auster zitiert Crane ausführlich, kommentiert jedes Wort und jedes Stilmittel, verbeugt sich vor der Genialität. Wenn Auster ein Foto abdruckt, ist das nicht bloße Illustration, sondern Anlass, sich in das Kind, den Jugendlichen, den Mann hinein zu fantasieren: Warum sind die Augen so düster, warum ist das Gesicht so grimmig? Was hat er gedacht, wie hat er gelebt, als diese Fotos gemacht wurden?

Auster gräbt sich in die Bücher hinein, liest „Die rote Tapferkeitsmedaille“ nicht als Roman über den Krieg, sondern als Studie über die Auswirkungen des Krieges auf einen jungen Mann, als psychologisches Porträt der Angst, die von Feigheit in Hass umschlägt. Alles, was einen Kriegsroman eigentlich ausmacht, lässt Crane weg: Wer warum und gegen wen kämpft, politische Fakten, militärische Ziele, nichts davon wird berichtet. Von Interesse ist nur das Innenleben von Henry Fleming, was in ihm vorgeht, während die Kameraden sterben, warum er die Flucht ergreift und dann doch voller Scham zurück in die Schlacht stolpert, sich nach einer blutenden Wunde sehnt, eben nach einer „roten Tapferkeitsmedaille“. Auster zeigt, wie Crane eine neue Ästhetik in die Literatur einführt, eine reale Schlacht des amerikanischen Bürgerkrieges in ein mythisches Ritual verwandelt, so wie er auch das reale New York in eine mythische Stadt verwandelt, einen fiktiven Ort des Grauens, durch den das Straßenmädchen „Maggie“ bei ihrem Überlebenskampf ziel- und sinnlos taumelt.

Ein atemloses Kapitel über 600 Seiten

Paul Auster rätselt, wie Crane es schafft, vieles gleichzeitig zu machen: reiten, reisen, schreiben, lesen, sich verlieben, rauchen, trinken, sich prügeln, einen Roman und nebenher unzählige Zeitungsartikel und Gedichte schreiben. Auster versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen. Doch dann schreibt auch er alles gleichzeitig und ohne jede Pause: Im Kapitel „Tempo der Jugend“ werden über 600 Seiten atemlos die kreativsten Jahre Cranes und viele seiner Werke abgehandelt. Ohne irgendeine Zwischen-Überschrift. Als Leser versinkt man im Literaturmeer, so wie Crane, als sein Dampfer bei der Überfahrt nach Kuba unterging und er tagelang in einem Rettungsboot übers Meer trieb. Wer mit der Biografie arbeiten, etwas nachschlagen will, hat es nicht leicht. Aber wahrscheinlich will Auster zeigen, dass wir Crane nur verstehen, wenn wir nicht in der Asche herumstochern, sondern die ganze Flamme lodern lassen.

Paul Auster: „In Flammen. Leben und Werk von Stephen Crane.“ Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 1184 Seiten, 34 Euro.

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  • Geboren wurde Paul Auster 1947 in Newark/New Jersey.
  • Seit vielen Jahren lebt der mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratete Auster in New York.
  • Sein preisgekröntes Werk umfasst zahlreiche Romane, Essays, Gedichte und Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik.
  • Bekannt wurde der Autor, der auch als Filmemacher („Smoke“, „Lulu On The Bridge“) arbeitet, mit einer Serie von experimentellen Kriminalromanen („New-York-Trilogie“).
  • Immer wieder umkreist er in seinen vom französischen Strukturalismus beeinflussten Büchern die Rolle des Zufalls, der unser Schicksal bestimmt: In „4,3,2,1“ nimmt das Leben des Helden, je nachdem, wie der Zufall es will, vier verschiedene Richtungen und wird aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt.



„…weil man keine Wahl hat“ – ausgewählte Essays von Paul Auster aus 50 Jahren

„New-York-Trilogie“, „Brooklyn-Revue“, „Buch der Illusionen“, „Nacht des Orakels“: Die Liste der Romane, mit denen der amerikanische Schriftsteller Paul Auster seit Jahrzehnten ein großes Publikum erreicht, ist lang. Zuletzt veröffentlichte Auster unter dem Titel „4,3,2,1“ sein 1200-seitiges Opus Magnum. Jetzt hat er „Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren“ zusammengestellt. Titel: „Mit Fremdem sprechen“.

Zwar sind einige Texte bereits im Band „Die Kunst der Hungers“ (2000) hierzulande veröffentlicht worden, aber die Hälfte (22 von 44) sind „Deutsche Erstveröffentlichungen“. Mit dem Begriff „Essay“ sollte man großzügig sein, denn eigentlich versucht Auster in den meisten kein Problem oder Thema einzukreisen, sondern sich selbst als Leser und Autor in Beziehung zu setzen zu einem anderen Künstler. Er überprüft Leben und Werk dieser Künstler darauf, was sie für ihn und für seine Art des Denkens und Schreibens bedeuten, was er dabei gelernt hat und für sein Werk fruchtbar machen konnte, das ja vor allem auf zwei Grundpfeilern steht: Das Leben besteht aus Zufällen und Literatur spiegelt nicht die Welt und erklärt nicht die Realität, sondern schafft mit Sprache eine eigene Wirklichkeit.

Auster ging nach seinem Literatur-Studium an der Columbia University in New York von 1971 bis 1974 nach Frankreich, versuchte sich als Lyriker und Übersetzer, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und entdeckte die europäische Literatur. In den Beiträgen, die er damals für Zeitschriften und Anthologien schrieb, beschäftigt er sich mit Baudelaire und Mallarmé, Apollinaire und Artaud, Samuel Beckett, Franz Kafka, Paul Celan, Hugo Ball, Knut Hamsun. Manchmal auch schaut er auf die amerikanischen Klassiker, Nathaniel Hawthorne, Edgar Allen Poe, Henry David Thoreau.

Schreiben ist Askese und manchmal Raserei

Leben und Werk von Frauen scheinen ihn nicht zu interessieren, um sich als ein Autor zu definieren, der in der Tradition der europäischen Moderne steht, der mit Postmoderne, Poststrukturalismus und Psychoanalyse bestens bekannt ist und sich im „Hungerkünstler“, wie er bei Hamsun oder Kafka auftaucht, wiedererkennt. Schreiben ist für ihn Ausdruck von Askese und Verzicht, ist schiere Notwendigkeit und trägt Züge des Irreseins, transportiert Momente der Raserei. Kunst ist ein ständiger Kampf mit der Einsamkeit, Schreiben ist ein Überlebensmittel. Sprache ordnet die Erfahrung und schafft eine eigene Wirklichkeit: „Von Sprache entfremdet zu sein“, schreibt er, „ist nichts anderes, als seinen Körper zu verlieren. Wenn dir die Worte versagen, zerfällst du in ein Bild von Nichts. Du verschwindest.“

Politische Beobachtungen nur am Rande

Der politische Beobachter Paul Auster kommt nur am Rande vor. Es gibt nur ein paar kleine Zwischenrufe. Einmal betet er für Salman Rushdie und ruft zur Solidarität mit dem damals von islamischen Fundamentalisten mit dem Tode bedrohten Autor auf; ein anderes Mal beobachtet er einen Mann, der durchs soziale Raster gefallen ist, der alles verloren hat und in einem Pappkarton haust; einmal erinnert er sich an den damaligen New Yorker Bürgermeister Giuliani, der eine provokative Ausstellung britischer Kunst verbieten lassen will, daran, dass Amerika eine Demokratie ist, in der Meinungs- und Kunstfreiheit herrscht.

Am Tage der Terroranschläge vom 11. September sitzt Auster nachmittags wie betäubt in Brooklyn am Schreibtisch und notiert: „Der Wind weht heute Richtung Brooklyn, und der Brandgeruch hat sich in allen Zimmern des Hauses festgesetzt. Ein entsetzlicher, beißender Gestank: brennende Kunststoffe, Stromkabel, Baumaterialien, eingeäscherte Leichen. (…) Es gibt kein Beispiel für das, was heute geschehen ist, und die Folgen dieses Anschlags werden zweifellos furchtbar sein. Mehr Gewalt, mehr Tod, mehr Schmerz und Leid für alle.“ Auster sollte recht behalten.

„Zweifellos eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen“

„Mit Fremden sprechen“ hat Auster seine Rede überschrieben, die er zur Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises 2006 in Oviedo gehalten hat. Er versucht zu ergründen, was ihn um- und antreibt, warum er mit den Lesern, die er meistens gar nicht kennt und ihm völlig fremd sind, meint sprechen zu müssen: „Ich weiß nicht“, schreibt Auster, „warum ich tue, was ich tue. (…) Zweifellos eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen: Allein in einem Zimmer sitzen, einen Stift in der Hand, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr, mühsam Worte zu Papier bringen, um etwas entstehen zu lassen, das es nicht gibt – außer im eigenen Kopf. Warum nur sollte jemand so etwas tun wollen? Die einzige Antwort, die ich darauf gefunden habe, lautet: weil man muss, weil man keine Wahl hat.“

Wir aber haben die Wahl: Wir können, indem wir seine Bücher lesen, ein Zwiegespräch mit ihm beginnen. Wir sollten es tun. Denn es gibt kaum einen anderen Autor, der uns so viel zu sagen hat und uns auf so viele neue Ideen bringt.

Paul Auster: „Mit Fremden sprechen.“ Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren. Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Robert Habeck, Andrea Paluch, Alexander Pechmann und Marion Sattler Charnitzky. Rowohlt Verlag, 412 Seiten, 26 Euro.




Die wundersame Macht des Zufalls: „Das rote Notizbuch“ von Paul Auster liegt endlich vollständig auf Deutsch vor

Das Leben hängt am seidenen Faden, der Zufall regiert die Welt, und wer du bist und was du wirst, hängt oft allein davon ab, welche Entscheidung du an einer unscheinbaren Wegmarke triffst oder ob du die Telefonnummer wählst, die auf einem Zettel notiert ist, den du im Hotel unter einem Stuhl findest.

Es gibt wohl kaum ein Buch des jüdisch-amerikanischen Autors Paul Auster, in dem der Zufall nicht eine entscheidende Rolle spielt und darüber wacht, ob die Protagonisten weiter in einer Welt leben dürfen, die ohnehin nicht aus Wirklichkeit, sondern aus Sprache gebaut ist.

Zuletzt hatte Auster in seinem 1200-seitigen Opus Magnum „4, 3, 2, 1“ sein Lebensmotto und den Schreibimpuls („Was wäre geschehen, wenn…“) am Beispiel von Archibald Ferguson gleich viermal durchgespielt und furios vorgeführt, welche Variationen möglicher Identitäten eine Lebensgeschichte haben kann, wenn man an einer bestimmten Stelle aus dem Tritt gerät, dem Schicksal in die Quere kommt oder dem Tod noch einmal von der Schippe springt.

Als der Jugendfreund vom Blitz erschlagen wurde

Paul Auster war 14, als ihm schmerzlich bewusst wurde, wie wenig ein Leben wiegt und wie schnell es vorbei ist: Bei einer Jugendfreizeit geraten er und ein Freund in ein heftiges Gewitter. Während sein direkt neben ihm stehender Freund vom Blitz erschlagen wird, kommt Paul mit dem Schrecken davon. Auster hat dieses traumatische Erlebnis oft erzählt und vielfach literarisch variiert. Natürlich findet sich diese Geschichte auch in der Sammlung seltsamer Wechselfälle des Lebens, die er schon vor Jahren unter dem Titel „Das rote Notizbuch“ veröffentlichte und die jetzt erstmals vollständig auf Deutsch erscheint: Auster berichtet von kuriosen Begegnungen und oft bizarren Zufällen, vollkommen verrückt erscheinenden Ereignissen, die jeder Logik spotten und doch, darauf besteht er mehrfach, nicht erfunden, sondern wahr sind.

Das unverhoffte Erscheinen eines Retters

Als es ihm in jungen Jahren einmal besonders dreckig geht und er als unbekannter Autor fast verhungert, taucht im letzten Moment eine Retter am Horizont auf und will ihn unbedingt – warum eigentlich? – zum Essen einladen. Als er sich einmal abends im Stadion bei einem Baseballspiel bückt, um eine am Boden liegende Münze aufzuheben, ist es – das kann doch nicht sein! – dieselbe Münze, die er morgens vor seinem Haus in Brooklyn verloren hat. Das vergriffene Buch, nach dem sein Freund seit langem vergeblich sucht, taucht plötzlich in den Händen einer fremden Frau auf, die es gerade auf der Straße, lässig an ein Marmorgeländer gelehnt, liest. Als der Freund die Frau ansprichst, und ihr erzählt, wie sehr ihm an diesem Buch liegt, antworte sie: „Nehmen Sie meins.“ Und als der überraschte Mann zur Frau sagt: “Aber das gehört doch Ihnen“, meint die Frau nur lächelnd: „Es hat mir gehört, aber jetzt bin ich damit fertig. Ich bin heute hierher gekommen, um es Ihnen zu schenken.“

Die Welt ist klein, die Literatur ist groß

Es sind nicht nur unglaubliche, sondern auch unglaublich schöne und verwirrende Geschichten, die Auster aus seinen Erinnerungen ans Tageslicht zieht und die von Menschen erzählen, die auf wundersame Weise mit seinem Leben verbunden sind. Eine handelt von zwei jungen amerikanischen Frauen, die in Taiwan Chinesisch studieren und feststellen, dass ihre in New York lebenden Schwestern sich zwar (noch) nicht kennen, aber im gleichen Haus wohnen. Eine heißt Siri Hustvedt. Auster wird sie kennen lernen und heiraten. Beide werden viele Jahre später von einer fremden Frau in einer Buchhandlung angesprochen, die ihnen erklärt, dass ihre Schwester und Siris Schwester zusammen in Taipeh studiert haben.

Die Welt ist ein Dorf. Der Mensch ist klein. Aber die Literatur ist groß. Und Paul Auster ist einer der ganz großen Autoren, einer, der in den Falten der Zeit das Verdrängte und in den Schwarzen Löchern der Fantasie das Vergessene sucht und uns davon erzählt, warum das Schicksal ungewiss ist, aber doch einen Namen hat: Zufall.

Paul Auster: „Das rote Notizbuch. Wahre Geschichten“. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek. 112 Seiten, 15 Euro.




Fiktion und Realität der Geschlechterrollen: Siri Hustvedts „Die gleißende Welt“

Ein Roman als fingierte Spurensuche und literarische Schnitzeljagd: Die Autorin Siri Hustvedt verkleidet sich als Herausgeberin und präsentiert Dokumente, Notizhefte, Interviews, um Leben und Werk der (fiktiven) Künstlerin Harriet Burden zu rekonstruieren.

Die 2004 verstorbene Harriet Burden hat zeitlebens mit Geschlechterrollen und Identitäten jongliert und kurz vor ihrem Tod ein entlarvendes künstlerisches Experiment gemacht: Um zu zeigen, wie frauenfeindlich die Kunstwelt ist, wie sehr die öffentliche Wahrnehmung von Kunst vom Geschlecht und der vermeintlichen Berühmtheit des Künstlers abhängt, hat sie mit Hilfe von Strohmännern ein Kunst-Projekt mit dem Titel „Maskierungen“ entworfen: Hinter den von drei männlichen Künstlern in New York ausgestellten Werken hat sich in Wahrheit Harriet Burden verborgen.

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Was hat die Künstlerin umgetrieben, wie funktionierte ihr Experiment, und was haben all die unter dem Titel „Die gleißende Welt“ veröffentlichten (fiktiven) Dokumente mit der fast vergessenen (realen) englischen Schriftstellerin, Philosophin und Herzogin von Newcastle, Margaret Cavendish, zu tun, die 1666 einen utopischen Roman über „Die gleißende Welt“ herausbrachte?

Siri Hustvedt (geboren 1955) ist eine der bedeutendsten amerikanischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Verheiratet ist sie mit dem – nicht minder bekannten – Autor Paul Auster. Mit „Was ich liebte“ gelang ihr der Durchbruch als international anerkannte Schriftstellerin. Auch mit brillanten Essays sorgt sie immer wieder für Aufsehen: In ihrem autobiografischen Buch „Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven“ versucht sie mit Hilfe von Neurologie und Psychologie der Ursache ihres Zitterns auf die Spur zu kommen.

Ihr neuer Roman „Die gleißende Welt“ ist ein Konzert widerstreitender Stimmen und führt uns in die New Yorker Kunstwelt. Es geht um Macht und Begierde, Geld und Ruhm und darum, dass die Realität oft nicht so ist, wie wir sie gern hätten und uns mit unseren Vorurteilen zurechtzimmern.

Siri Hustvedt zieht alle Register postmoderner Erzählweisen, tut es ihrer fiktiven Heldin Harriet Burden gleich und verbirgt sich hinter immer neuen Masken: ein furioses Spiel mit Rollenklischees und ästhetischen Kategorien, utopischen Fantasien und dem alltäglichen Sexismus, der unsere Wahrnehmungen und Wünsche beherrscht. Heute wie zu Zeiten von Margaret Cavendish, die nicht wegen des Inhalts ihrer Bücher angefeindet wurde, sondern weil sie es wagte, als Frau in eine Männerwelt einzudringen.

„Alle intellektuellen und künstlerischen Unterfangen, sogar Witze, ironische Bemerkungen und Parodien“, schreibt Siri Hustvedt alias Harriet Burden, „schneiden in der Meinung der Menge besser ab, wenn die Menge weiß, dass sie hinter dem großen Werk oder dem großen Schwindel einen Schwanz und ein paar Eier ausmachen kann.“

Siri Hustvedt: „Die gleißende Welt“. Roman. Aus dem Englischen von Uli Aumüller. Rowohlt Verlag, 491 S., 22,95 Euro.




Wie die Welt in den Kopf gekommen ist – Paul Austers „Bericht aus dem Inneren“

U1_XXX.indd„Am Anfang war alles lebendig. Die kleinsten Gegenstände waren mit pochenden Herzen ausgestattet, und selbst die Wolken hatten Namen. Steine konnten denken, und Gott war überall.“

Paul Auster gehört zu den bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Ob mit seiner „New-York-Trilogie“ oder seiner „Brooklyn-Revue“, mit „Der Mann im Dunkel“ oder „Sunset Park“: Immer wieder hat Auster die Möglichkeiten der postmodernen Literatur neu vermessen, furios mit Erzählweisen jongliert. Das neue Buch des 1947 geborenen und seit vielen Jahren mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheirateten Autors heißt „Bericht aus dem Inneren“.

Auster spricht von seiner Kindheit und Jugend und davon, wie es war, allmählich erwachsen und Schriftsteller zu werden. Vor einem Jahr, in seinem „Winterjournal“, ging es um eine erste, vorsichtige Lebensbilanz, um wichtige Stationen, um Todes-Erfahrungen, lebensbedrohliche Krankheiten, den allmählichen Verfall, die Nöte des Alters und um den Zufall, der so oft darüber entscheidet, ob und wie wir weiterleben dürfen.

Im „Winterjournal“ erzählte Auster die „Geschichte seines Körpers“, im „Bericht aus dem Inneren“ erzählt er jetzt die „Geschichte seiner Bewusstwerdung“: Er will herausfinden, wie die Welt ihn seinen Kopf gekommen ist und wie er sich seiner selbst und seiner Identität bewusst wurde. Er durchforstet die Gedankenwelt seiner Kindheit, erinnert sich, wie er mit acht Jahren angefangen hat, Romane zu lesen und Biografien über Baseball-Stars und historische Helden.

Immer wieder stellt sich schon beim Kind das Gefühl ein, in ein anderes Raum-Zeit-System zu gleiten, sonderbar benebelt und ausgehöhlt zu sein und das eigene Sterben zu proben. Schmerzlich kommt ihm in Kindertagen zu Bewusstsein, dass er Teil einer kaputten Familie ist, in der es zwar keinen Streit, aber permanentes Schweigen und Gleichgültigkeit gibt. Mit sieben oder acht Jahren kapiert er, dass er Jude ist, was bedeutet, abseits zu stehen und Außenseiter zu sein.

Während er dabei ist, die Bücher und Filme zu beschreiben, die ihn als Kind besonders beschäftigt und sein Bewusstsein geprägt haben, schickt ihm seine Ex-Frau, die Schriftstellerin und Übersetzerin Lydia Davis, einen dicken Packen Papier. Es sind Kopien der Briefe, die er ihr in den 1960er und 70er Jahren geschrieben hat: Sie kommen ihm wie eine Zeitkapsel vor, wie ein kostbares Geschenk und Ersatz für ein Tagebuch, das er nie geführt hat.

Mit den Briefen kann er rekonstruieren, wie er eine Zeitlang in Paris lebte, Drehbücher schrieb und von einer Karriere beim Film träumte, wie er 1968, zurück in New York, Teil der Studentenrevolte war, von der Polizei verprügelt wurde, Angst hatte, zur Armee einberufen und nach Vietnam geschickt zu werden. Und wie er dann irgendwann beschließt, sich ganz darauf zu konzentrieren, Künstler zu werden. Und Romane zu schreiben, die immer auch davon handeln, wie das Denken die Realität verändert und die Fantasie sich eine eigene Welt erschafft. Schon als Kind begreift er: „Die Welt ist in meinem Kopf.“

Paul Auster: „Bericht aus dem Inneren“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek. 289 Seiten, 19,95 Euro.




Eine schonungslose Lebensbilanz – Paul Austers „Winterjournal“

Im „Winterjournal“ zieht Paul Auster eine Bilanz seines Lebens. Der Autor, er ist jetzt Mitte 60, spürt, dass sein Körper allmählich schwächer wird. Dass all die Krankheiten, Unfälle und Panikattacken, die ihn sein ganzes Leben heimgesucht haben, nicht spurlos an ihm vorbei gegangen sind.

Es wird Zeit, ehrlich und schonungslos zurückzublicken, sich ein paar vielleicht unangenehme Wahrheiten einzugestehen und – anders als in all seinen Romanen, in denen er mit autobiografischen Facetten fintenreich spielt – sein wahres Ich zu offenbaren: „Sprich jetzt, bevor es zu spät, und hoffentlich kannst du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist. Schließlich verrinnt die Zeit.“

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Paul Auster gehört zu den bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Ob mit der „New-York-Trilogie“ oder der „Brooklyn-Revue“, ob mit „Der Mann im Dunkel“ oder „Sunset Park“: Immer wieder hat Auster die Möglichkeiten der Literatur neu vermessen und furios mit Erzählweisen jongliert. Jetzt lässt der 1947 in Newark/New Jersey geborene Autor Stationen seines Lebens Revue passieren, sucht nach Fixpunkten und zentralen Motiven, die sein Leben und sein Werk geprägt haben. Er lässt Kindheit und Studienjahre, gescheiterte Liebesbeziehungen und Auslandsreisen aufleben, seine Gedanken drehen sich um Todes-Erfahrungen, gefährliche Stürze und lebensbedrohliche Krankheiten, plötzliche Herzattacken und seltsame Unfälle.

Es geht um den allmählichen Verfall, die Nöte des Alters, die Schicksalhaftigkeit des Lebens und um den Zufall, der so oft darüber entscheidet, ob und wie wir weiterleben dürfen. Auster sagt „Du“, spricht mit sich wie mit einem Fremden, sucht zugleich Nähe und Distanz zu den Geheimnissen und Abgründen seines Lebens: Das „Winterjournal“ ist keine konventionelle Autobiografie, sondern eine kunstvolle Collage aus philosophischen Betrachtungen, poetischen Impressionen und intimen Bekenntnissen, ein emotional mitreißendes, gedanklich vertracktes und literarisch subtiles Buch.

Nach der Lektüre des „Winterjournals“ liest man die Romane Austers vielleicht nicht neu und anders, aber man versteht jetzt viel besser, wie tief seine Bücher im Autobiografischen wurzeln, dass er all die Zufälle, Unfälle und Todes-Ängste, die seine Protagonisten erleiden, auch selbst erlebt hat. Aber während er das Autobiografische im Roman literarisch kunstvoll tarnt und vernebelt, entblößt er im „Winterjournal“ wirklich sein Ich: Er beschreibt sich als einen „verwundeten Menschen“ mit einem „verkrüppelten Ich“, der sich bei existenziellen Gefahren in Krankheiten flüchtet.

Auster gesteht, dass er ein „Sklave des Eros“ ist, dass er zu viel Alkohol trinkt und zu viele Zigarillos raucht: eine schonungslose Reise zu sich selbst und zugleich eine zärtliche Liebeserklärung an seine Frau, die Schriftstellerin Siri Hustvedt, mit der er jetzt schon seit 30 Jahren glücklich verheiratet ist.

Auster erinnert sich, wie er als Kind nur knapp dem Tod entkam, als ein Blitz direkt neben ihm einschlug und seinen Freund tötete; er erzählt, wie er als junger Schriftsteller in Paris herumlungert und bei einer Prostituierten landet, die Baudelaire-Gedichte auswendig rezitieren kann; er denkt daran, wie seine erste Ehe kläglich scheitert und wie er das Leben seiner zweiten Frau bei einem von ihm verschuldeten Autounfall fast aufs Spiel setzt.

Während Auster berichtet, wie oft er dem Tod schon knapp entkommen ist, haben draußen, vor seinem Haus in Brooklyn, Nebel, Schnee und Eis New York fest im Griff. Er schaut auf seinen Körper und fragt sich, „wie viele Morgen“ ihm noch bleiben, jetzt, wo er „in den Winter seines Lebens eingetreten“ ist.

Paul Auster: Winterjournal. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reineck 2013, 254 S., 19,95 Euro.
(Auch als Hörbuch: Gelesen von Burghart Klaußner. Der Audio Verlag, 6 CDs).




„Sunset Park“ – Paul Austers Krisenbewältigungsroman

Die Welt ist ein Gemenge aus wüsten Kräften, welche wir nicht beherrschen können: „Wieder einmal sind also die Würfel gerollt, wieder einmal wurde ein Los aus der schwarzen Eisentrommel gezogen, noch so ein Zufall in einer Welt voller Zufälle und unaufhörlichem Chaos.“

Das Zitat von Seite 59 darf als eine Kernaussage von Paul Austers neuem Roman „Sunset Park“ gelten. Niemand hat hier sein Leben in der Hand, durch- und aushalten heißt allenfalls die Devise, vom „Ankommen“ darf man wohl nicht einmal träumen. Zumal in der Wirtschaftskrise sind die Menschen nur Spielbälle. Doch Auster schickt sich an, Möglichkeiten des Glücks im offenbar unvermeidlichen Chaos zu erkunden. Wo lassen sich noch Reservoire und Ressourcen der Hoffnung finden?

Auster schildert die Verwerfungen vornehmlich aus Sicht von Miles Heller (28), der den College-Besuch abgebrochen hat und sich bei Haushaltauflösungen im Zuge der Immobilienkrise mit dem Fotografieren aufgegebener Dinge befasst, bevor die robusteren Kollegen das Zeug kurzerhand mitgehen lassen. Er betrachtet also tagtäglich Relikte gescheiterter Lebensentwürfe. Miles selbst lebt ohne jede Gier und ohne jeden Plan – eine der Haltungen, um in schlechten Zeiten einigermaßen durchzukommen. Der Spross einer desolaten Verlegerfamilie hat vor Zeiten bei einer Rauferei unwillentlich seinen Bruder vor ein Auto gestoßen – mit tödlicher Folge. Auch er selbst schien innerlich abgestorben zu sein, bis ihn die blutjunge Latina Pilar gleichsam ins Leben zurückgeholt hat. Freilich leben die beiden unter ständiger Bedrohung, bei den Behörden angeschwärzt zu werden, denn das Mädchen ist noch minderjährig.

Miles Heller flüchtet deshalb einstweilen von Florida nach New York, wo sich sein Lebensweg mit denen von Alice Bergstrom, Ellen Brice und Bing Nathan lose verknüpft. Sie alle haben keine oder keine einträglichen Jobs und besetzen aus schierem Geldmangel in Sunset Park (Brooklyn) ein heruntergekommenes Haus.

Wie beschädigt diese Biographien schon in frühen Jahren sind! Was sich da an Einsamkeit, Verschrobenheit und Entfremdung angesammelt hat! Wie mühselig sie ihre verkorksten Lebensläufe zusammenzuhalten und ein wenig zu „heilen“ suchen! Immerhin: Ellen findet Glücksversprechen in der geradezu verbissen ausgeübten Malerei, Alice als freie Mitarbeiterin des P.E.N. im Einsatz für verfolgte Autoren. Bing betreibt unterdessen eine „Klinik für kaputte Dinge“, also einen Reparaturbetrieb. Auster signalisiert, zuweilen fast schon penetrant: Man muss etwas tun! Und ohne Schmerzen ist erwachsenes Leben sowieso nicht zu haben.

Über weite Strecken haben wir anfangs einen Roman übers Nichtgeschehene gelesen, über verpasste Gelegenheiten; übers ziellose Begehren, das (nicht nur) zwischen den Figuren hin und her zu irren scheint, doch zumeist ins Leere läuft. Auch scheint da eine prinzipielle, existenzielle Seltsamkeit des Lebendigseins auf.

Weitere zentrale Gestalt des Krisen- und Krisenbewältigungsromans ist Miles’ Vater Morris Heller, dessen Verlag ins Schlingern geraten ist. Seitenblicke lassen ahnen, wie diverse Autoren des Hauses zwar künstlerisch reüssiert, aber gleichfalls ihr Leben verpfuscht haben. Morris selbst ist heillos geschieden und spioniert seit Jahren seinem Sohn nach, der sich von ihm losgesagt hat. Nun aber kommt es zum quälend hoffnungsvollen Wiedersehen. Ein Licht am Ende des Tunnels?

Konstellation und Konstruktion sind keineswegs frei von Klischees und Rührsamkeit. Wie schon in so vielen US-Filmen und Büchern, müssen Erzählungen über Baseball-Legenden einmal mehr als Leitsterne für gelingende oder als gültige Bilder fürs scheiternde Leben herhalten. Kaum denkbar, dass Fußball in der europäischen Literatur eine vergleichbar konstitutive Rolle spielte – aller „Ersatzreligion“ zum Trotz. Andere Fixpunkte, an denen man sich offenbar aufrichten soll, sind quasi mythische Momente der US-amerikanischen Geschichte und William Wylers Film „Unsere besten Jahre“ (1946). Dieses Kriegheimkehrer-Drama haben alle Figuren des Romans je auf ihre Weise gesehen, es ist wie ein Brennglas, das alle vereinzelten Schicksale in einem Punkte bündelt und kenntlich macht.

Auf Dauer ermüden die ständigen, eher additiven denn verdichtenden Perspektivwechsel zwischen den einzelnen Personen. Das ändert sich – als sei’s eine gewaltsame Katharsis – mit der brutalen polizeilichen Räumung des besetzten Hauses, in deren chaotischem Verlauf Miles einem Cop einen Kinnhaken verpasst und flüchtet. Doch sein Imperativ lautet: Stelle dich! Stehe für deine Taten ein!

Was bleibt ihm, abseits von Schuld und Sühne, jenseits von Glaube, Liebe und Hoffnung, noch übrig? Die Schlusssätze lassen es wolkig ahnen: „…nur noch für das Jetzt leben, für diesen Augenblick, diesen flüchtigen Augenblick, das Jetzt, das hier ist und dann nicht mehr hier ist, das Jetzt, das für immer verschwunden ist.“

Carpe diem also, im Bewusstsein des Verglühens. Womöglich ein stets angebrachtes, ja geradezu ein Allerwelts-Lebensmuster, nicht nur für Krisenzeiten.

Paul Auster: „Sunset Park“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag. 315 Seiten. 19,95 Euro.




Paul Auster: Aufregend ungewiss

Schon die Umschlaggestaltung des Buches deutet auf vergangene Zeiten hin. Doch die können bekanntlich weiter wirken. Paul Austers neuer Roman „Unsichtbar“ führt zurück bis 1967. Da ist der hochbegabte Schönling Adam Walker gerade mal 20 Jahre alt, studiert an der Columbia University in New York und träumt von einer Laufbahn als Schriftsteller.

Auf einer Party spricht ihn ein mephistophelischer Typ an. Der sonst in Paris lebende, 36-jährige Rudolf Born ist Gastprofessor für Politik und bietet Walker einen geradezu faustischen Pakt an, bei dem vielleicht die Seele auf dem Spiel steht: 25000 Dollar für eine Literaturzeitschrift, die Walker weitgehend nach Gusto gestalten darf. Einfach so. Weil Born erklecklich geerbt hat und der Novize ihm gefällt. Oder treibt er etwa nur ein hinterhältig zynisches Spiel mit ihm? Auch auf diese Idee könnte man verfallen, wie auf so viele andere, die einander irritierend überlagern. Der Leser muss hier vielen Fährten folgen.

Virtuos und postmodern zirzensisch spielt Auster die Möglichkeiten durch: Die kunstvoll angerichtete Fiktion will es, dass der inzwischen todkranke Walker im Jahr 2007 autobiographisch zurückblickt. Einem Jugendfreund, der es zum prominenten Schriftsteller gebracht hat, sendet er die Manuskripte zur Prüfung und Bearbeitung. Schon dadurch kommen Verschiebungen und Brüche in Spiel. Jede Aussage wird relativiert, beginnt gleichsam zu flimmern und zu funkeln.

Die drei großen Teile der Geschichte werden aus verschiedenen Perspektiven erzählt, die immer mehr Distanz zum Geschehenen schaffen: zuerst aus Ich-zentriertem Blickwinkel, dann aus halbnaher Du-Draufsicht, schließlich aus fahrigem, nur noch skizzenhaftem Er-Abstand. Zitat nach dem ersten Drittel der Erzählstrecke, mit Bezug zum Titel: „Indem ich von mir selbst in der ersten Person schrieb, hatte ich mich lahmgelegt, mich unsichtbar gemacht…“ Wie denn überhaupt der Erzählende hier mal sichtbar und mal im Verborgenen Fäden zieht. Sinnfälliges Beispiel aus einer Bibliothek, in der Walker als Student jobbt: Wird dort ein Buch an falscher Stelle eingeordnet, bleibt es auf Jahre hinaus oder für immer unauffindbar, also gleichsam „unsichtbar“. Ähnliches dürfte auch für Verdrängtes im Leben gelten.

Die Formenspiele mit Erzählmustern könnten ins Akademische oder Metaliterarische abdriften, doch Auster meidet diese Klippen. Die Ortsmarken (New York, Columbia University, Paris) liegen auf seiner eigenen Lebenslinie. Aber sein Buch ist ein zuweilen teuflisches Vexierspiel, das realistische Vorgaben weit hinter sich lässt.

Verstörende Vorfälle rufen die gewaltigen Urthemen Eros und Tod auf. Rudolf Borns rätselhaft schweigsame Geliebte Margot lässt sich auf eine mehrwöchige Affäre mit Adam Walker ein. Weiß Born davon, hat er die sexuelle Gelegenheit gar herbeigeführt? Und wie riskant ist es, wenn Walker die Beziehung zu Margot bei einem Studienaufenthalt in Paris wieder anknüpft? Sein Credo ist jedenfalls eindeutig: „Sex ist der Herr und Heiland, die einzige Erlösung auf Erden.“

Doch der Tod ist eine mindestens ebenbürtige Kraft: Ein Farbiger will in einer New Yorker Nacht einen Raubüberfall auf Walker und den sinistren Born verüben. Letzterer hat den Kleingangster nicht nur in vermeintlicher Notwehr erstochen, sondern ihn (als Walker einen Arzt rief) hernach in der Finsternis offenbar regelrecht abgeschlachtet. Dabei war die Waffe des Schwarzen nicht einmal geladen. Hätte Walker die Tat verhindern können? Um nicht in Selbstvorwürfen zu ersticken, ist er fortan wie besessen von dem Gedanken, dass Born seine Tat sühnen müsse. Er schickt sich an, das Leben des Professors zu zerstören…

Der Mord wird im Laufe des Buches ebenso wenig „aufgeklärt“ wie etwa die Inzest-Orgien, die Walker eine Zeitlang mit seiner geliebten Schwester Gwyn zelebriert haben will. Hier wetterleuchtet auch noch die fatale Familiengeschichte hinein: Der kleine Bruder der beiden ist vor Jahren ertrunken.

Die mit Inbrunst betriebene, doch vielfach prismatisch gebrochene und letztlich vergebliche Suche nach „Wahrheit“ beschreibt den Spannungsbogen dieses grandiosen Romans. Auch zwischenzeitlich eingestreute Gerüchte, Born sei vielleicht Geheimdienstler (also auch so ein „Unsichtbarer“) und habe im Algerienkrieg für Frankreich gefoltert, bleiben bloße Spekulation, fügen der Handlung jedoch weitere Energiefelder hinzu. Elektrisierende Ungewissheit allenthalben.

Unauslotbar geheimnisvoll sind auch die Charaktere. Wie Gespenster irrlichtern sie durch ihr Dasein, manchmal nahezu unsichtbar. Rückblickend betrachtet, sind sie vielleicht nur ein Hauch auf Erden gewesen.

Ohne seine Figuren jemals zu überfrachten, gelingt es Auster überdies, an ihrem Beispiel wechselnde geschichtliche Verhältnisse darzulegen, zumal vor dem Horizont des Vietnamkriegs und der anschwellenden Proteste in den USA und Europa, wo man um 1967/68 schon mit anderen Wassern gewaschen zu sein scheint als in den Staaten.

Auch bei der Historie hat es nicht sein Bewenden. Überzeitliche Fragen klingen an: Wie viel Grausames darf und muss man Mitmenschen im Namen der Gerechtigkeit zumuten? Welche Spuren kann jemand in der Welt hinterlassen? Wann wird eine Tat unverzeihlich und ist nie wieder gutzumachen? Stoff für eine halbe Ewigkeit.

Paul Auster: „Unsichtbar“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Rowohlt. 316 Seiten, 19,95 Euro.




Ganz einfach durch die Lüfte schweben – Paul Austers neuer Roman „Mr. Vertigo“

Von Bernd Berke

„Da habe ich es zum erstenmal getan… Ganz langsam hob sich mein Körper… Ich war nicht weit vom Boden höchstens ungefähr eine Handbreit – , aber dort hielt ich mich ohne Mühe.“ Staunend stammelt dies ein kleiner Junge namens Wait. Er hat soeben einen Menschheitstraum verwirklicht: Fliegen aus eigener Kraft, ohne Hilfe von Maschinen.

Er ist nicht etwa ein Gaukler oder Scharlatan, sondern überwindet wirklich die Grenzen der Physik. Doch welch einen dornenreichen Weg hat der Ich-Erzähler in Paul Austers Roman „Mr. Vertigo“ bis dahin zurücklegen müssen! Sein Lehrmeister, der geheimnisumwitterte „Mister Yehudi“, hatte den vogelfreien Neunjährigen 1924 in St. Louis von der Straße aufgelesen und dann in Kansas jahrelangen Torturen unterworfen.

Harte Strecke bis zur Leichtigkeit

Wait, der eigentlich viel lieber Boogie hören und Baseball spielen möchte, lebt dort – völlig isoliert von Altersgenossen – in einer Art Minderheiten-Kommune. Yehudi selbst ist ungarischer Jude. Hinzu kommen eine alte Indianerin und ein behindertes farbiges Genie namens Äsop. Diese Gemeinschaft wirkt wie ein Humus für das Außerordentliche.

33 Stufen des Bewußtseins, so Yehudi, müsse Wait überwinden, um sein Ich zu reinigen und die nötige Trance zu gewinnen. Brutale Methoden: Wait muß schuften bis zum Umfallen, er wird geprügelt, wird lebendig eingebuddelt, und Yehudi amputiert ihm ohne Narkose einen Finger. Mit einer seltsamen Mixtur aus Verzweiflung und Schnoddrigkeit quittiert Wait diese Qualen. Später wird er den strengen Meister verehren, denn der hat ihn durch Heulen und Zähneklappern auf den Pfad der wundersamen Leichtigkeit geführt.

Eines Tages ist es nämlich soweit: Wait hebt wirklich ab. Alsbald vollführt er Saltos und besteigt imaginäre Treppen in den Lüften. Und der Meister geht mit dem Wunderknaben auf triumphale Tournee.

Schutzgeldkassierer in Chicago

Paul Auster, zuletzt als Drehbuchautor des exzellenten Films „Smoke“ erfolgreich, hat auch mit „Mr. Vertigo“ einen Stoff gleichsam aus dem Nichts gewoben. War dort der verwehende Rauch das Medium des Lebens, so ist es hier die schiere Luft. Auch den neuen Roman kann man sich gut und gerne verfilmt vorstellen: Schon die Tournee durch die US-Provinz der 20er Jahre ist gesättigt mit bildkräftiger Atmosphäre. Und bevor Wait das Schweben wegen ungeheurer Kopfschmerzen aufgeben muß (sein Preis für den Sieg über die Schwerkraft), fügt Auster noch eine Kriminalgeschichte (Entführung Waits und Lösegeldforderung durch dessen Onkel) hinzu.

Auch damit nicht genug: Nach dem Ende seiner Flugkarriere, das mit der Weltwirtschaftskrise („Schwarzer Freitag“) zusammenfällt und sozusagen die bessere alte Zeit beschließt, verdingt sich Wait in den Jahren der Alkohol-Prohibition ganz erdenschwer und bodennah als Schutzgeldkassierer bzw. Nachtclubbetreiber der Mafia von Chicago. Das Lokal heißt sinnigerweise „Mr. Vertigo“, übersetzt etwa: „Herr Höhenangst“.

Alle Fühler ausgestreckt

Auster verästelt die Handlung derart, als wolle er lauter kleine Fühler ausstrecken, um jeden Aspekt des damaligen Amerika zu ertasten. Dabei scheint ihm zuweilen die Autoren-Herrschaft zu entgleiten, es weht ihn hierhin und dorthin, als fliege er tatsächlich haltlos durch sein Werk.

Am Schluß läßt Auster mal eben rund fünfzig weitere Lebensjahre Waits im Zeitraffer abschnurren. Da franst die Story vollends aus. Der Autor hat uns endgültig schwindelig geschrieben. Gespannt und willig ist man all dem Auf und Ab, ist man all den Windungen dieses Romans gefolgt.

Und am Schluß erfährt man, daß doch eigentlich jeder Mensch das Zeug zum Fliegen habe. Na schön. Worauf warten wir noch? Legen wir das Buch beiseite. Breiten wir die Schwingen aus.

Paul Auster: „Mr. Vertigo“. Roman. Übersetzt von Werner Schmitz. Rowohlt-Verlag. 319 Seiten. 34,80 DM.




Rauchzeichen der Seele – Wayne Wangs Film „Smoke“

Von Bernd Berke

Was wiegt eigentlich der Rauch einer Zigarette? Schwer zu sagen. Da könnte man sich ebensogut gut fragen, wie gewichtig eigentlich die menschliche Seele sei.

In Wayne Wangs neuem Film ‚ „Smoke“ (Drehbuch vom New Yorker Romancier Paul Auster) gerät das Leben beinahe unmerklich auf die Feinwaage. Zentrum des zunächst ganz zerstreut und episodisch wirkenden Erzähl-Kosmos, der jedoch insgeheim von sinnreich verknüpften Zufällen gelenkt wird, ist ein kleiner Tabakladen in Brooklyn.

Hier trifft man sich, quatscht ein bißchen über dies und das. hier kauft man seinen Rauchbedarf. Der leicht zerknautscht wirkende Auggie (Harvey Keitel), der hinter der Theke steht, ist der gute, wenn auch gelegentlich etwas mürrische Geist: Sozialhelfer, Weltweiser, Philosoph. All dies. Und ein herzhafter Mensch obendrein.

Auggie hegt eine archivarische Leidenschaft: Jeden Morgen, pünktlich um 9 Uhr, geht er zur anderen Straßenseite ‚rüber, baut sein Stativ auf und fotografiert den Laden. Über 4000 Bilder hat er schon in Alben gesammelt.

Was täglich unbemerkt geschieht

Gleichen sich diese Zufalls-Schnappschüsse wie ein Ei dem anderen? Ansichtssache. Auggie findet, es seien Sinnbilder dessen, was tagtäglich überall auf Erden geschieht und was man sonst kaum bemerkt. Unscheinbares menschliches Treiben und vergehende Zeit sind darin eingefangen. Manchmal auch bedeutend mehr: Eines Abends entdeckt der Zigarren-Kunde und Schriftsteller Paul (William Hurt), dem Auggie die Alben zeigt, seine Frau auf einem der Fotos. Paul bekommt einen Weinkrampf, denn sie ist inzwischen bei einem Überfall erschössen worden – mit ihrem Baby im Bauch,

Als schwebe die Handlung auf spiraligen Rauchschwaden hin und her, ist fortan oft von Verlusten und Wiederkehr die Rede. Auggies Ex-Freundin Ruby taucht nach 18 Jahren auf und erbettelt Geld für eine angeblich gemeinsame Tochter, die schwanger und dem Rauschgift Crack verfallen sei. Ein schwarzer Jugendlicher begibt sich auf den Weg zu seinem lang vermißten Vater. Suche nach verlorener Zeit, nach entbehrtem Zusammenhang. Da wird auch schon mal biographisch geflunkert. Wer keinen Halt mehr hat, denkt sich einen aus. Der Film ist gesättigt mit lauter kleinen Geschichten, die daraus entspringen.

Versteht sich, daß durchweg geraucht wird, was die Lunge hält. Schon darin ist’s ein Werk gegen den amerikanischen Trend zur Abstinenz. Vor allem aber zeigt Wayne Wang eine engelhafte Geduld beim Aufspüren von Nuancen, beim Beobachten von Gesichtern und Gesten. Kurz: Bei der Herstellung von Wahrhaftigkeit.

„Smoke“ hüllt den Zuschauer ein wie sanfter Rauch: schwerelos und doch von etlichem Gewicht.




Ein Lebenslauf als explosive Kettenreaktion – Paul Austers Roman „Leviathan“

Von Bernd Berke

„Vor sechs Tagen hat sich im nördlichen Wisconsin ein Mann am Rande einer Straße in die Luft gesprengt.“ So explosiv läßt der Amerikaner Paul Auster seinen Roman „Leviathan“ beginnen.

Was war das für ein Mann, der der Sprengladung zum Opfer fiel? Diese Frage umkreist das Buch. Denn der Ich-Erzähler und Schriftsteller Peter Aaron hat ihn gekannt, jenen Benjamin Sachs. Doch hat er ihn wirklich gekannt? Zitat: „Wenn es jedoch stimmen sollte, würde dies bedeuten, daß menschliches Verhalten undurchschaubar ist. Es würde bedeuten, daß niemals irgend etwas verständlich ist.“

Alles geschieht, und sei es noch so unwahrscheinlich. Immer wieder muß Peter Aaron seine Vermutungen widerrufen, wenn er – im Wettlauf mit staatlichen Stellen – das Leben von Sachs nachzeichnen will. Dessen Biographie scheint undurchschaubaren Regeln gefolgt zu sein. Es gibt in diesem Roman ständig Wendepunkte, die vom puren Zufall regiert werden. Die Mechanik dieser Zufälle wirkt jedoch so vielsagend, als habe ein großer Konzeptkünstler seine planende Hand im Spiel. Tatsächlich taucht eine Künstlerin, die mit neurotischer Beharrlichkeit in fremde Lebenslaufe eingreift und Chaos heraufbeschwört, als Maria Turner (sprechender Name: eine, die für Wendungen sorgt) auf.

Das Privatleben des Schriftstellers Sachs wird von seiner Kindheit bis zur Ära Ronald Reagan aufgefächert: seine sonderbare Ehe mit Fanny, seine schwierige Freundschaft mit dem Erzähler Aaron, sein stetes Getriebensein, seine düster-komplizierten Büßerphantasien, in denen er für alles und jedes die Verantwortung übernehmen und notfalls unter Einsatz seines Lebens Abbitte leisten will. Ein seltsamer Heiliger. Im Lauf der Erzählung wird Sachs zu einer Art Monument. Er gleicht manchmal fast seiner Lebens-Leitfigur, der Freiheitsstatue.

Sachs, der als Instanz nur den Naturapostel H. D. Thoreau gelten läßt und meint, der „Leviathan“ (apokalyptischer Drache, totalitärer Staat) namens Amerika habe alle Ideale verraten, wird in der Ellenbogen-Ära Reagan zum waidwunden Außenseiter. Ihm geschehen wildeste Dinge: Da erschlägt er in einer nahezu alttestamentarischen Situation eineu Mann, nistet sich bei dessen Witwe ein, gibt ihr jeden Tag 1000 Dollar und schläft mit ihr. Da stürzt er bei einer Party vom Dach und bricht sich beinahe das Genick – ein vertrackter Vorfall, aus dem er eine ganze Todes-Philosophie schmiedet. Schließlich driftet er in eine sonderbare Form des Terrorismus‘ ab. Ein Leben wie eine Kettenreaktion.

Paul Austers (von Werner Schmitz sehr flüssig übersetzter) Roman nimmt uns mit auf eine irritierende und spannende Such-Reise nach der Wirklichkeit eines Lebens. Eine Ankunft gibt es nicht. Aber immer neue Anläufe und Aufbrüche.

Paul Auster: „Leviathan“. Roman. Rowohlt-Verlag, Reinbek. 320 Seiten, 42 DM.




Doppelte Urangst des Schriftstellers – Schrecken der Leere und der Überfülle in Paul Austers „Die Erfindung der Einsamkeit“

Von Bernd Berke

Es ist ein Standardthema der Literatur: Wenn die Eltern sterben, treibt es Schriftsteller in die Krise, drängt es sie zur Selbstschau: Wie bin ich geworden, was ich bin? Der Weg führt dann durch (Un-)Tiefen der Kindheit.

Der US-Autor Paul Auster findet in seiner Erinnerung einen Vater, der sich allen entzogen hat, der gar kein Innenleben zu haben schien, bei dem man ihn hätte „packen“ können. Einen Menschen, der immer fühllos abwesend zu sein schien: „Die Welt ist für ihn wohl ein ferner Ort gewesen, ein Ort, den er nie richtig hat betreten können…“

Das Unterfangen, sich auf die Spuren eines solch undeutlichen Menschen zu setzen, scheint von vornherein zum Scheitern verdammt. Gewiß, Auster (bzw. der Ich-Erzähler) kann ein paar Eigenschaften oder Verhaltensweisen benennen: des Vaters jüdische Herkunft, seine Emigration aus Österreich, seinen Immobilien-Job im Clan-Verbund mit den Brüdern, seine Arbeits- und Sparwut usw. Doch all das fügt sich nicht zum Bilde. Es erwacht eine Urangst des Schriftstellers: Versagt die Sprache vor dem Leben? „Porträts eines Unsichtbaren“ heißt dieser erste Teil des Buches. Das Bedürfnis, den verstorbenen Vater schreibend herbeizubeschwören, führt zur Resignation. Zitat: „… der leere Wahn, irgend etwas über irgend jemanden sagen zu wollen.“

Der zweite Teil heißt „Das Buch der Erinnerung“. Wir sehen den Autor in erbärmlicher Schreib-Einsamkeit, unbehaust in einer kalten Bruchbude in New York. Da setzt wiederum einer, dessen Vater gestorben und dessen Ehe gescheitert ist, das Puzzle seines Lebens zusammen. Je mehr der Erinnerungsstrom fließt, desto mehr häufen sich „Zufälle“, unterschwellige Anklänge: Alles reimt sich aufeinander, alles hängt zusammen, jedes Geschehen scheint eine Anspielung auf ein anderes Geschehen (gewesen) zu sein. Ist das tröstlich oder bedrohlich?

Die Phantasie bevölkert das einsame Zimmer bis zur Überfülle mit persönlichen Erinnerungen und Zitaten aus der Geistesgeschichte. Doch auch diese beinahe wahllose Fülle von Gedächtnis führt, wie anfangs die Leere angesichts des Vater-Porträts, in die Resignation des Schreibenden: „Nie wird die Feder sich schnell genug bewegen können, um jedes Wort aufzuschreiben, das im Raum der Erinnerung entdeckt wurde. Manches ist für immer verloren… Und über nichts davon kann man irgend sicher sein.“ Vergeblichkeit, wohin man blickt!

Entstanden in den späten 70er Jahren und 1982 in den USA erschienen, wird das Buch hierzulande an jene „nachgereicht“, die von Austers Romanen wie „Im Land der letzten Dinge“ angetan waren. Der Autor hat wohl versucht, eine Lebens- und Schreibkrise zu überwinden. Diese Selbsttherapie wird für den Leser jedoch nie penetrant. Und sie bildet das Fundament seiner Romane.

Paul Auster: „Die Erfindung der Einsamkeit“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt. 256 S., 36DM.